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Am nächsten Morgen, nach einer kurzen, unruhigen Nacht, fuhr Thomas zu Alexis, in der Hoffnung, etwas Neues von Peggy zu erfahren. Leider war kein Brief von ihr eingetroffen. Zu gern hätte er mit ihr über die Dinge gesprochen, die ihn bewegten – und natürlich war er neugierig auf ihr neues Leben in Amsterdam. Er vermisste Peggy. Ihre Stimme, ihre Gedanken, ihre Haut. Aber es half nichts, er musste allein klarkommen. Gerade als er in seinem Notizblock die nächsten Schritte seiner Ermittlungen skizzieren wollte, betrat Elke die Bar. Sie sah übernächtigt aus, hatte offensichtlich eine arbeitsreiche Nacht hinter sich. Sie bestellte sich einen Kaffee und setzte sich zu Thomas »Hier steckst du also! Ich habe dich schon gestern gesucht.«
»Ich war unterwegs, wie geht’s dir?«, antwortete Thomas, der über den Notizblock gebeugt war.
»Es gibt Neuigkeiten über den Perversen, den du suchst.«
Sofort schnellte Thomas’ Kopf nach oben.
»Eines der Mädchen hatte so einen Freier«, begann sie und verzog leicht angewidert das Gesicht. »Sie musste ein kleines Mädchen spielen, mit niedlicher Stimme sprechen und so. Dann musste sie den Kopf mit einem Handtuch bedecken, während er sich befriedigte.
«
Als Thomas das hörte, nickte er eifrig. »Das könnte passen, Elke. Das könnte der Kerl sein!«
»Sie fand das zwar abartig, aber er zahlte gut«, ergänzte Elke. »Außerdem hat er sie nicht angefasst.«
»Ich muss das Mädchen sofort sprechen!« Thomas sprang auf, packte den Notizblock ein.
Leider bremste Elke seinen Eifer.
»Bist du verrückt? Normalerweise spricht sie nicht über ihre Freier. Mir zuliebe hat sie eine Ausnahme gemacht.«
»Bitte, Elke, es ist wichtig! Du musst mir helfen«, flehte Thomas, biss aber auf Granit.
»Wenn herauskommt, dass ich mit jemanden darüber gesprochen habe, kann ich meinen Job an den Nagel hängen! Dann bin ich weg!«
»Kannst du sie nicht fragen, wie er heißt? Oder wie er aussieht? Bitte, Elke, es ist wichtig!« Thomas begann regelrecht zu betteln, er stand dicht vor dem Ziel, aber Elke schüttelte den Kopf.
»Davon abgesehen bin ich sicher, dass sie seinen Namen gar nicht kennt.«
Natürlich konnte diese Antwort Thomas nicht zufriedenstellen.
»Vielleicht will sie ja doch was sagen.«
»Du weißt offenbar nicht, wie Huren ticken. Wir sind absolut diskret. Das ist wie das Beichtgeheimnis. Kannst also froh sein, dass ich dir diese Information besorgt habe!«, sagte sie mit Nachdruck. Seine Hartnäckigkeit machte sie wütend.
»Ist ja gut, ich bin dir wirklich sehr dankbar, Elke«, versuchte er, sie zu beruhigen.
»Das will ich auch hoffen. Und jetzt muss ich ins Bett!«
Bevor sie ging, fiel ihr noch etwas ein. »Da ist doch noch etwas, was sie gesagt hat. Er fährt einen roten Porsche.«
In der Hoffnung, mit keinen weiteren Fragen belästigt zu werden, verließ sie die Bar
.
Doch Thomas war mehr als zufrieden. Einen roten Porsche fuhr nicht jeder, sagte er sich. Der Halter müsste relativ leicht zu ermitteln sein. Das Straßenverkehrsamt hatte zwar nicht die Farben der zugelassenen Autos registriert, aber dafür die Automarken. Und die Anzahl der Halter von einem Porsche in der Stadt müsste überschaubar sein. Nun ärgerte es ihn, dass er als Privatperson keine Information vom Straßenverkehrsamt erhalten konnte. Er wollte trotzdem ins Präsidium. Er würde einfach einen Beamten aus der Verkehrsabteilung ansprechen und so tun, als ob er noch bei der Kripo sei. Ein Versuch war es wert. Die Spur war heiß, und Thomas war durchaus stolz, dass er Elke gebeten hatte, sich im Puff umzuhören. Bevor er die Bar verließ, wurde er von Otto angesprochen, der gerade hereinschneite.
»Hallo, Herr Kommissar, ich habe dich schon vermisst! Kann ich heute Abend den Borgward haben? Ich würde gerne eine Spritztour nach Köln machen, einige Freunde besuchen.«
Während Thomas ihm den Schlüssel aushändigte, fiel ihm eine Frage ein.
»Weißt du zufällig, ob Prof. Humbold einen roten Porsche fährt?«
Otto wusste es nicht. Er kannte auch niemanden, der einen roten Porsche fuhr.
Thomas setzte jetzt seine ganzen Hoffnungen auf die Recherche im Präsidium. Doch dort erwartete ihn eine Überraschung. Die Eingangshalle war voller Menschen. Es fand offenbar eine Veranstaltung statt, obendrein spielte das Polizeiorchester. Einige Kellner verteilten emsig Bier. Thomas entdeckte unter den zahlreichen Anwesenden einige vertraute Gesichter: Prof. Humbold, Borsig, Strobel, Schäfer, Baumgarten und weitere Beamte, unter anderem den alten Kommissar Fischer vom Archiv und den mürrischen
Kommissar Drezko. Und mittendrin wuselte Conny mit ihrem Fotografen Breuer umher, der von Thomas bestimmt das Foto zurückhaben wollte, wenn er ihn entdeckte. Warum hatten sich alle hier versammelt, fragte Thomas sich.
Die Antwort gab Strobel, der auf ein kleines Rednerpult zuging und mit seinem Zeigefinger auf das Mikro tippte. Sofort wurde es ruhig im Saal.
»Meine Damen und Herren, sehr geehrte Kollegen, ich darf mich recht herzlich für Ihr Kommen bedanken. Nun ist es leider amtlich. In einer Woche werde ich mein Wohnzimmer, wie ich das Präsidium immer gerne genannt habe, verlassen. Ich werde beim Landeskriminalamt das werden, was viele als Sesselfurzer bezeichnen.«
Seine Bemerkung sorgte für Gelächter, viele Anwesende applaudierten, und Thomas bemerkte, wie schnell Strobel seine Zuhörer um den Finger wickelte. Wie immer hatte er alles im Griff. Thomas ertappte sich dabei, dass er ihn fast dafür bewunderte.
»Nein, im Ernst, wer mich kennt, weiß, dass ich mich als einfachen Kriminalkommissar betrachte. Einbrecher, Sittenstrolche und Mörder habe ich zur Strecke bringen können, das war meine Welt. Aber nun habe ich ein neues Revier, ein viel gefährlicheres. Aktenberge besteigen, Gesetzestexte entziffern …«
Strobel unterbrach sich. Er hatte unter den Anwesenden Thomas entdeckt. Für einen Moment wusste er nicht, was er sagen sollte, es war, als hätte ihm jemand beim Laufen ein Bein gestellt. Irritiert schaute er zu Thomas, der mit verschränkten Armen dastand und ihn beobachtete. Strobel faltete seinen Zettel zusammen und kürzte seine Rede ab: »Ja, meine Damen und Herren, ich mag zwar ein guter Kriminalist sein, aber ein ganz schlechter Redner. Daher möchte ich das Wort dem Herrn Polizeipräsidenten geben, der viel redegewandter ist. Vielen Dank!
«
Die kurze Rede kam gut an, und der Einzige, der nicht applaudierte, war Thomas, der sich nicht wunderte, dass Strobel geradewegs auf ihn zukam.
»Hallo, mein Junge, schön, dass ich dich sehe. Wir müssen uns unterhalten.«
»Ich denke auch, dass ein Gespräch sinnvoll wäre«, antworte Thomas, der sich vornahm, nervenstark zu reagieren und sich keine Blöße zu geben. Er wollte Strobel keine Angriffsfläche bieten.
»Du warst in Polen, habe ich gehört.«
Thomas reagierte nicht auf diese Eröffnung.
Strobel, leicht irritiert, holte seine Bonbondose hervor und bot Thomas einen Drops an.
»Dein Vater macht sich große Sorgen. Aber ich habe ihn beruhigt. Ich habe ihm gesagt, dass du sehr vernünftig bist.«
Thomas, der das Bonbon ignorierte, sah aus den Augenwinkeln, dass Drezko sie beide beobachtete. Auch Strobel entging das nicht. Demonstrativ legte er freundschaftlich den Arm um Thomas’ Schulter, dem die Zweideutigkeit der Situation durchaus bewusst war.
»Der hält uns beide für beste Freunde«, schmunzelte Strobel. »Und da ist ja auch was Wahres dran. Mitgegangen, mitgehangen!«
»Nein, ich bin nicht mitgegangen«, stellte Thomas klar und ging einen Schritt zurück.
»Wird schon werden, mein Junge«, winkte Strobel ab. »Wenn der Zirkus hier gleich vorbei ist, sprechen wir uns in aller Ruhe bei mir im Büro!«
Strobel wandte sich an Prof. Humbold, der auf beide zukam.
»Hallo, Herr Professor, kennen Sie meinen talentierten jungen Kollegen, Thomas Engel?«
»Wir haben schon das Vergnügen gehabt«, schmunzelte der Professor durch einen gekonnt abgesonderten Rauchring seiner
Havanna. Hinter seinem charmanten Lächeln erkannte Thomas ein verächtliches Grinsen.
»Heute allein, Professor? Wo ist denn Ihr werter Kollege Dr. Nikasius?«, fragte Thomas spitz und erntete einen eisigen Blick von Humbold.
Strobel dagegen machte auf Ironie: »Warum fragst du? Ich hätte nicht gedacht, dass du ihn vermisst.«
»Vermisst du ihn nicht?«, fragte Thomas keck zurück.
»Nikasius hat gekündigt, und damit ist das Thema erledigt«, sagte Strobel und winkte Schäfer herbei, der sich gerade eine Bockwurst geholt hatte.
»Schäfer, mach dich doch mal nützlich und bring Thomas in mein Büro!«
Schnell stopfte sich Schäfer die Wurst in den Mund und griff Thomas am Arm.
»Willkommen zurück, Junior«, presste Schäfer mit vollem Mund hervor und zog spöttisch die Augenbrauen hoch.
»Lassen Sie mich los«, zischte Thomas, hatte aber keine Chance gegen Schäfers Eisengriff. Der bullige Kommissar schob ihn recht unsanft an den spöttisch lachenden Professor vorbei zum Paternoster.
In diesem Moment begann der Polizeipräsident seine Rede, und Schäfer blieb stehen, dachte jedoch nicht daran, seinen Griff von Thomas zu lösen.
»Mein lieber Kollege Strobel, ich weiß gar nicht, ob ich Sie ziehen lassen soll. Sie hinterlassen derart große Fußspuren, dass da mindestens zehn Kommissare hineinpassen würden. Wenn ich Ihre Verdienste aufzählen würde, säßen wir noch nächste Woche hier. Womit soll ich anfangen? Vielleicht damit, dass Sie mutig gegen das Unrechtsregime gekämpft haben? Und dass Sie Ihr Leben aufs Spiel gesetzt und hinter dem Rücken der braunen Machthaber mit den Amerikanern verhandelt haben?
«
Applaus brandete auf, und Schäfer grinste breit. Zufrieden schob er Thomas weiter vor, mit dem Blick auf den Paternoster.
»Angst, mit dem Ding zu fahren? Keine Sorge, ich halte deine Pfötchen, Kleiner!«, scherzte Schäfer und wollte mit Thomas auf die ankommende Aufzugskabine springen. Doch der machte nicht mit. Er drehte sich blitzschnell zur Seite und rammte sein Knie in Schäfers Unterleib. Der bullige Kommissar ging vor Schmerzen in die Knie, wurde obendrein von Thomas in die Kabine geschoben. Während Schäfer mit schmerzerfülltem Gesicht nach oben fuhr und sich ärgerte, dass er sich so leicht hatte austricksen lassen, wünschte ihm Thomas »eine gute Reise«. Auf dem Weg zum Ausgang rempelte er den einen oder anderen Besucher um, während im Hintergrund ein Musiker der Polizeikapelle Il Silenzio
trompetete.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Strobel die Szene vor dem Paternoster beobachtet hatte. Mit Sicherheit würde er Schäfer zur Sau machen. Und ein zweites Mal würde Schäfer sich nicht so leicht austricksen lassen.
»Nicht so schnell, junger Mann«, hörte er plötzlich Baumgarten, der die Hand auf seine Schulter legte. »Der Chef will doch mit dir sprechen!«
Thomas drehte sich um und sah, dass sein Ex-Kollege eine Walther in der Hand hielt. »Mach jetzt keine Mätzchen«, zischte Baumgarten leise und stieß ihm die Pistole in den Rücken.
Bevor Thomas etwas darauf erwidern konnte, schob ihn Baumgarten zur Treppe. »Ab in den Keller!«
Thomas nickte und ging wie befohlen die Treppen hinunter, dicht gefolgt von Baumgarten, die Pistole im Anschlag. Sie durchquerten mehrere Kellerräume, bis sie vor einer Eisentür standen. Entschlossen drückte Baumgarten die Tür auf, schubste Thomas in den kahlen Kellerraum
.
»Hier warten wir beide auf den Chef.«
»Wo sind wir hier?«
»Im Bauch des Präsidiums. Hier verhörte früher die SS ihre Häftlinge«, erklärte Baumgarten emotionslos.
»Und ihr wollt diese Tradition weiterführen«, kommentierte Thomas sarkastisch.
»Rede keinen Scheiß, Junge!«, winkte Baumgarten ab, während er Thomas Handschellen anlegte. »Wir warten jetzt, bis der ganze Zirkus oben vorbei ist.«
»Wo warst du eigentlich im Krieg? Freund und Helfer in Polen gespielt?«, fragte Thomas provokant.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Davon, dass Strobel im Krieg in Polen stationiert war. Und davon, dass er sich schuldig gemacht hat.«
»Ich lasse auf den Hauptkommissar nichts kommen, merk dir das. Im Krieg hat jeder seine Pflicht getan. Versuch also nicht, einen Keil zwischen uns zu treiben!«
Ärgerlich steckte sich Baumgarten eine Zigarette an, und Thomas, der ihn nicht weiter provozieren wollte, schwieg lieber. Schließlich wollte er so schnell wie möglich aus diesem Loch herauskommen. Allerdings ärgerte es ihn auch, dass er sich von Baumgarten so leicht hatte überrumpeln lassen. Er brannte auf Revanche. Als sich Baumgarten einen tiefen Zug aus seiner Zigarette gönnte, kam ihm eine Idee.
»Wer wird eigentlich Nachfolger von Strobel?«
»Schäfer wird die Abteilung kommissarisch übernehmen.«
»Was heißt denn kommissarisch?«
»Es stehen noch andere Kollegen zur Auswahl.«
»Heißt das etwa, dass es durchaus sein kann, dass Schäfer am Ende der Kripochef wird?«
»Richtig!
«
Thomas musste lachen, was Baumgarten nicht ganz verstand. »Was ist daran so witzig?«
»Ich will ja nichts sagen, aber Schäfer ist bis jetzt nicht als kriminalistische Leuchte aufgefallen.«
»Das kannst du ihm selbst sagen, der taucht bestimmt gleich auf«, grinste Baumgarten.
»Auch wenn Sie mir nicht sympathisch sind, Baumgarten, Sie sind allemal fähiger als Schäfer.«
»Kümmere dich lieber um deine Sachen«, winkte Baumgarten ab.
»Na ja, Schäfer bringt es trotzdem nicht«, meinte Thomas. »Haben Sie eine Zigarette für mich?«
»Du rauchst doch gar nicht.«
»Ich habe es mir angewöhnt.«
Baumgarten seufzte, reichte Thomas eine Zigarette.
»Sie sollten sich auch um den Posten bewerben.«
Baumgarten schüttelte den Kopf, während er Streichhölzer aus der Tasche holte.
»Sie würden sich bestimmt nicht so leicht austricksen lassen wie Schäfer.«
»Da hast du recht«, lachte Baumgarten, während er Thomas Feuer gab.
Darauf hatte der aber nur gewartet. Unvermittelt rammte er sein rechtes Knie zwischen Baumgartens Beine, ballte dann seine Hände zusammen und schlug seitlich gegen die Schläfe des Kommissars. Baumgarten taumelte noch ein wenig, dann fiel er ohnmächtig zu Boden. Thomas verlor keine Zeit. Die Schlüssel für die Handschellen waren schnell gefunden. Wenige Sekunden später eilte er durch den Kellergang und gelangte unbehelligt nach draußen. Er wunderte sich, dass er Baumgarten so schnell überwältigt hatte. Eine Bewerbung für die Leitung der Kripo konnte der sich jedenfalls sparen
.
Aber das konnte Thomas egal sein, er war froh, dass Strobel ihn nicht durch die Mangel drehen konnte. Momentan trieb ihn nur um, dass er nicht so ermitteln konnte, wie es notwendig war. Er war vom gesamten polizeilichen Instrumentarium abgeschnitten. Seine momentan heißeste Spur, der rote Porsche, lag brach. Er konnte nicht den Halter ermitteln. Obwohl er davon ausging, dass Schäfer und Baumgarten nach ihm suchten, lief er über den Parkplatz des Präsidiums, in der vagen Hoffnung, den Porsche zu entdecken. Er fand ihn nicht vor. Stattdessen fiel ihm Prof. Humbold auf, der das Präsidium verließ und in ein Taxi stieg. Er fragte sich, warum der Arzt der Abschiedsfeier von Strobel beigewohnt hatte. Die beiden schienen gute Freunde zu sein, jedenfalls gingen sie vertraut miteinander um. Und als Thomas Dr. Nikasius erwähnte, sprachen beider Mienen Bände. Humbolds Rolle blieb undurchsichtig. Der Professor liebte, wenn man Otto glauben sollte, pädophile Motive in der Kunst. Warum sollte sich seine Vorliebe für nackte Mädchen auf Bilder beschränken? Dass Thomas ihn nicht mit den Kindermorden in direkten Zusammenhang brachte, erklärte sich aus seiner Tätigkeit während des Krieges. Humbold, als Leiter der Psychiatrie, war wohl kaum in Polen gewesen. Aber stimmte das überhaupt? Konnte es nicht sein, dass er genauso wie Strobel zur Front musste? Er war Mitglied der NSDAP gewesen, vielleicht auch der SS? Thomas musste Humbold genauer unter die Lupe nehmen.
Auf die Schnelle fiel Thomas die freundliche und kompetente Archivarin ein, die im Stadtarchiv arbeitete. Er traf sie diesmal im Eingangsbereich. Sie stapelte gerade einige Akten auf ein Wägelchen und wunderte sich nicht, als sie Thomas wiederkommen sah.
»Junger Mann, wie kann ich Ihnen diesmal behilflich sein?
«
»Es geht wieder um Prof. Humbold von der Landesklinik. Ich würde gerne wissen, ob er Mitglied bei der SS war«, antwortete Thomas, während er ihr die Arbeit abnahm und die schweren Akten hob.
»Und ich würde zu gerne wissen, warum Sie das wissen wollen!«
»Ich ermittle in einem Kriminalfall. Es wäre gut, wenn Sie das für sich behalten würde«, sagte er leise.
»Hier haben die Wände keine Ohren«, beruhigte sie ihn und setzte sich mit dem Wägelchen in Bewegung. »Kommen Sie mit, mal sehen, was ich für Sie tun kann.«
Thomas folgte ihr in einen großen Raum, in dem es muffig roch. Unzählige Akten lagerten auf Eisenregalen. Die Frau schloss hinter ihnen die Tür zu.
»Personenbezogene Unterlagen aus der Zeit des Nationalsozialismus lagern in Berlin, im sogenannten Berlin Document Center. Das wird von den Amerikanern verwaltet. Dort befindet sich der Großteil der SS-Personalakten.«
»Das heißt, ich müsste nach Berlin?«
»Beispielsweise. Aber das würde sehr lange dauern, bis man Ihnen helfen würde, und ich vermute mal, dass Sie dafür keine Zeit haben.«
Thomas nickte.
»Aber vielleicht kann ich trotzdem Ihre Frage beantworten. Mal sehen, was wir hier über den guten Humbold finden.«
Sie nahm ihre Lesebrille und überflog die Akten, ohne Thomas etwas zu erklären. Plötzlich fasste sie sich an den Brustkorb und begann zu husten. Ihr Atem pfiff dabei, offenbar bekam sie keine Luft. Sie stieg von der Leiter und setzte sich auf einen Hocker, stützte die Arme auf die Beine. Dabei hustete sie gelbliches Sputum aus. Das sah für Thomas beängstigend aus, und er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte
.
»Sollen wir nicht an die frische Luft?«
Sie schüttelte energisch den Kopf, konnte aber nicht antworten, weil sie nach Luft schnappte. Erst nach einer Weile fand sie die Sprache wieder.
»Die Luft ist hier gesundheitsgefährdend, das ist nicht gut für die Bronchien.«
Ihr Gesicht war ganz bleich geworden. Eigentlich hätte sie jetzt eine Pause benötigt, aber sie stieg wieder auf die Leiter und suchte weiterhin in den Akten.
Thomas war das nicht recht.
»Lassen Sie doch, das ist nicht so wichtig.«
»Und dann? Wer soll dann die Akten finden? Glauben Sie, dass meine Kollegen Ihnen einfach so weiterhelfen würden?«
Die Frau schlug eine bestimmte Akte auf und überflog sie.
»Warum sollten sie es nicht tun?«
»Weil sie keinen schriftlichen Antrag haben«, antwortete sie, ohne aufzuschauen. »Sie sind doch nicht offiziell hier, junger Mann. Mir können Sie nichts erzählen.«
»Und warum helfen Sie mir dann?«
Die Frau stieg mit einer Akte von der Leiter herunter.
»Vielleicht weil ich ein schlechtes Gewissen habe? Ich hätte in der Zeit, für die Sie sich interessieren, keinem geholfen.«
»Warum nicht?«
»Bequemlichkeit. Feigheit. Angst. Eine einfache Mitläuferin, wenn Sie wollen.«
Die Frau ging mit der Akte zu einem Eisentisch, und Thomas folgte ihr.
»Waren Sie damals im Archiv?«
»Ich war Beamtin«, lautete die knappe Antwort.
Thomas wusste nichts von ihr, nicht einmal ihren Namen, aber scheinbar hatte sie auch dem damaligen Staat gedient. Doch im
Unterschied zu seinem Vater war sie selbstkritisch und kein bisschen selbstgerecht.
»Hier haben wir eine Festschrift der psychiatrischen Klinik aus dem Jahr 1940«, erklärte sie und zeigte auf ein Blatt. »Die Rede hielt Prof. Humbold. Und was lesen wir über ihn? Er war nicht nur Mitglied der NSDAP, sondern auch Oberscharführer der SS!«
»Das ist sehr aufschlussreich, vielen Dank!«
»Noch Fragen?«
»Wie könnte ich erfahren, ob er während des Kriegs an die Front abkommandiert wurde?«
»Sie sprechen von Auslandseinsätzen?«
»Genau!«
Die Archivarin begann zu überlegen, hüstelte zwischendurch erneut.
»Da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Entweder Sie müssten nach Berlin zum dortigen Archiv, oder man müsste die Akten der Landesklinik durchforsten, um zu sehen, ob er die ganze Zeit über seinen Dienst geleistet hat.«
»Ich schätze, Sie haben keinen Zugang zu diesen Akten?«
»Nein! Die Landesklinik ist keine städtische Einrichtung. Und ich bezweifle, dass dort die Akten ordnungsgemäß archiviert worden sind, da ist noch eine Menge zu tun.«
Thomas sah ein, dass er momentan in einer Sackgasse steckte.
»Ich muss mich noch mal bei Ihnen bedanken!«
»Schon gut«, sagte sie leise, während sie ihn zur Tür führte.
»Warum fragen Sie Humbold nicht selbst?«, wollte sie noch wissen.
»Weil er kein Mitläufer war, sondern Täter!«
Thomas fiel dann doch noch etwas ein.
»Sie hatten mich doch neulich gefragt, ob ich für die Sonderkommission zur Bekämpfung der nationalsozialistischen
Gewaltverbrechen arbeite. Dann kennen Sie bestimmt Kommissar Drezko?«
»Oh ja, den kenne ich, der ist ein Stammgast hier«, antwortete die Frau. »Aber glauben Sie mir, er ist nur halb so liebenswürdig wie Sie, obwohl er doppelt so alt ist.«
»Warum ist der eigentlich so verbissen? Ich habe mit dem auch zu tun gehabt.«
»Er redet nicht gerne darüber, aber ich weiß, dass seine Familie inhaftiert gewesen war. Sein Vater war ein kommunistischer Abgeordneter.«