EINS: ZIEMLICH BESTE FEINDE – Der Fall (von) Christian Wulff

EINS

Ziemlich beste Feinde

Der Fall (von) Christian Wulff

Da war die Welt noch in Ordnung: Mit dem damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff beim BILD-Sommerfest 2008

DER ANRUF

Guten Abend, Herr Diekmann. Ich rufe Sie an aus Kuwait. Bin grad auf dem Weg zum Emir und deswegen hier sehr eingespannt, weil ich von morgens acht bis abends elf Termine habe. Ich bin in vier Golfstaaten unterwegs und parallel plant einer Ihrer Journalisten seit Monaten eine unglaubliche Geschichte, die morgen veröffentlicht werden soll und die zum endgültigen Bruch mit dem Springer-Verlag führen würde …

Ich starre auf meinen Blackberry und weiß nicht so recht, was ich denken soll. Dabei habe ich üblicherweise zu allem eine Meinung.

Habe ich richtig gehört?

Hat da gerade der Bundespräsident auf meine Mailbox gesprochen? Um eine Geschichte in BILD zu verhindern? Über sich und seine fragwürdige Hausfinanzierung?

Es ist Montag, der 12. Dezember 2011, 12.30 Uhr mittags. Ich sitze am Schreibtisch meines Hotelzimmers im New Yorker Waldorf Astoria, einem etwas altmodischen Art-Déco-Prachtbau aus den frühen 1930er Jahren. Blasse Wintersonne fällt durch die dicken Vorhänge.

Das kann doch nicht sein … Der Bundespräsident droht mir? Ein Telefonstreich?

Nein. Die Nummer auf dem Display ist eindeutig die von Christian Wulff.

Und das ist auch seine Stimme.

Was ist passiert?

BILD-Vize Martin Heidemanns, der bei uns sehr erfolgreich das Ressort Investigativ leitet und von dem ich immer sage, ich möchte um Gottes willen niemals Ziel seiner Recherche werden, hat mit seinem Team in akribischer Kleinarbeit herausgefunden, dass Wulff – damals noch niedersächsischer Ministerpräsident – für seinen privaten Hauskauf ein Darlehen von einer halben Million Euro aufgenommen hat. Darlehensgeberin: Edith Geerkens, Ehefrau von Egon Geerkens, einem Unternehmer, der sein Vermögen mit Schrott und Schmuck gemacht hat und ein enger Freund von Wulff ist. Als Wulff im Jahr 2010 im Niedersächsischen Landtag öffentlich gefragt wurde, ob es zwischen ihm und jenem Egon Geerkens in den vergangenen zehn Jahren eine geschäftliche Beziehung gegeben habe, ließ er mit Nein antworten.

Die Geschäftsbeziehung zur Ehefrau blieb unerwähnt.

Damit hatte Wulff zwar nicht gelogen, aber eben auch nicht die Wahrheit gesagt. Nun ist unser Bundespräsident die höchste moralische Instanz im Staat. Er muss Vorbild sein. Zudem steht zu Hause in meinem Bücherregal ein Buch mit dem sehr schönen Titel Besser die Wahrheit . Autor: Christian Wulff. Wie geht das alles zusammen?

Ich springe auf und trete ans Fenster. Elf Stockwerke unter mir glitzert die Park Avenue in vorweihnachtlichem Glanz. Friede auf Erden . Nur offensichtlich nicht im fernen Schloss Bellevue.

Ich drücke auf Play, um mir die Voicemail ein zweites Mal anzuhören. Habe ich da was missverstanden?

Knapp vier Minuten dauert Wulffs Nachricht auf meinem Band. Genügend Zeit, um von Bottrop nach Oberhausen zu fahren oder sich ein Ei zu kochen.

Die Stimme des Präsidenten klingt angespannt.

… Ich bin in vier Golfstaaten unterwegs und parallel plant einer Ihrer Journalisten seit Monaten eine unglaubliche Geschichte, die morgen veröffentlicht werden soll und die zum endgültigen Bruch mit dem Springer-Verlag führen würde. Weil es einfach Methoden gab, mit Dingen im Nachbarschaftsumfeld, die über das Erlaubte hinausgehen, und die Methoden auch öffentlich gemacht werden von mir.

Ich habe alles offengelegt, Informationen gegeben, gegen die Zusicherung, dass die nicht verwandt werden. Die werden jetzt indirekt verwandt, das heißt, ich werde auch Strafantrag stellen gegenüber Journalisten morgen, und die Anwälte sind beauftragt.

Und die Frage ist einfach, ob nicht die BILD-Zeitung akzeptieren kann, wenn das Staatsoberhaupt im Ausland ist, zu warten, bis ich Dienstagabend wiederkomme, also morgen, und dann Mittwoch eine Besprechung zu machen, wo ich mit Herrn …, den Redakteuren und Ihnen, wenn Sie möchten, die Dinge erörtere, und dann können wir entscheiden, wie wir die Dinge sehen, und dann können wir entscheiden, wie wir den Krieg führen.

Aber so, wie das gelaufen ist in den letzten Monaten, ist das inakzeptabel, und meine Frau und ich werden Mittwochmorgen eine Pressekonferenz machen zwischen dem japanischen Ministerpräsidenten und den weiteren Terminen und werden dann entsprechend auch öffentlich werden, weil diese Methoden Ihrer Journalisten, des investigativen Journalismus nicht mehr akzeptabel sind.

Und Sie werden ja voll umfassend im Bilde sein. Ich vermute, nicht voll richtig objektiv informiert sein – aber im Bilde sein. Und ich wollte einfach, dass wir darüber sprechen, denn wenn das Kind im Brunnen liegt, ist das Ding nicht mehr hochzuholen – das ist eindeutig, nach den Erfahrungen, die wir die letzten Wochen gemacht haben. Es gab immer dieses jahrelange Gerücht, Maschmeyer hätte was damit zu tun. Wir haben dargelegt, dass das alles Unsinn ist.

Und jetzt werden andere Geschichten behauptet, die Unsinn sind. Und da ist jetzt bei meiner Frau und mir einfach der Rubikon in dem Verhalten überschritten.

Und ich erreiche Sie leider nicht. Ich höre, Sie sind in New York – insofern ist es da jetzt ja Mittag, und hier ist natürlich schon Abend. In Berlin ist es jetzt 18 Uhr. Es wäre nett, wenn Ihr Büro versuchen kann, Herrn Glaeseker oder Herrn Hagebölling, den Chef des Bundespräsidialamtes, oder mich zu erreichen.

Ich bin nur jetzt im Gespräch, und dann hab ich hier eine Rede zu halten, und ich bin also erst wieder etwa in eineinhalb Stunden in der Lage, dort in der deutschen Botschaft zu sprechen. Ich würde aber dann natürlich gern mit Ihnen sprechen.

Denn dass man nicht bis Mittwoch wartet, die Dinge bespricht und dann sagt: Okay, wir wollen den Krieg und führen ihn, das finde ich sehr unverantwortlich von Ihrer Mannschaft, und da muss ich den Chefredakteur schon jetzt fragen, ob er das so will, was ich eigentlich mir nicht vorstellen kann.

Vielen Dank … und … bis … dann … wo wir uns dann sprechen. Ich hoffe, dass Sie die Nachricht abhören können, und bitte um Vergebung, aber hier ist jetzt für mich ein Punkt erreicht, der mich zu einer Handlung zwingt, die ich bisher niemals in meinem Leben präsentiert habe. Die hatte ich auch nie nötig.

Die Dinge waren immer ordentlich sauber, bei allen Vorbehalten und Gerüchten, die es immer verbreitet gab, die alle falsch waren. Und jetzt würde ich diese Dinge dieser investigativen Journalisten dieses Netzwerkes offenlegen. Und … insofern – ja … denke ich mal, es gibt jetzt noch ’ne Chance, und die sollten wir nutzen.

Danke schön. Wiederhören Herr Diekmann.

Hat er wirklich Krieg gesagt?

Ja, hat er.

Und mit Strafantrag gedroht?

Auch das.

Kann ein erfahrener Politiker wie Wulff wirklich so unprofessionell sein und einem Chefredakteur einen solch gefährlichen Unsinn auf die Mailbox sprechen? Schließlich hat er – erst als Ministerpräsident, dann als Bundespräsident – einen Eid auf die deutsche Verfassung und damit auch auf Artikel 5 des Grundgesetzes geleistet:

Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Wie stellt er sich das in seiner Welt vor?

Pressefreiheit ja, aber nicht, wenn sie den Bundespräsidenten betrifft?

Und hat Wulff nicht gerade gestern in Katar seinem geneigten arabischen Publikum erklärt, wie nötig es ist, Presse- und Meinungsfreiheit zu garantieren? Irgendwo in den Weiten der Wüste muss ihm die Bedeutung von unabhängiger Presse fürs eigene Land abhandengekommen sein.

Worte sind wie Kugeln. Einmal abgeschossen, kriegt man sie nicht zurück in den Lauf.

DER ANFANG VOM ENDE

Wie mich der Präsident gebeten hat, rufe ich seinen Staatssekretär an. Ich wähle die Nummer des Bundespräsidialamts.

»Hagebölling«, meldet er sich mit knarzender Stimme. Bis auf einen kleinen Schriftwechsel, auf den ich später noch kommen werde, haben wir bisher nicht persönlich miteinander zu tun gehabt. In Berlin gilt Lothar Hagebölling als Aktenfresser und hyperkorrekter Jurist, der in der Vergangenheit als Chef der Staatskanzlei Hannover dafür Sorge getragen hat, dass die rechte Hand weiß, was die linke tut.

Ich beschließe, mich kurz zu fassen: »Herr Hagebölling, ich habe da gerade einen ziemlich unsortierten Anruf Ihres Chefs auf meiner Mailbox vorgefunden.«

Vielsagendes Schweigen.

Ich fahre fort: »Wir werden die für morgen geplante Geschichte über die Finanzierung des Hauses von Christian Wulff in Großburgwedel auf keinen Fall ein weiteres Mal verschieben.«

Wieder vielsagendes Schweigen.

Ich hole tief Luft. »Das wollte ich Ihnen nur mitteilen, Herr Hagebölling.« Der ringt sich nun doch noch zur Antwort durch: »Besten Dank für Ihren Anruf, Herr Diekmann. Ich habe die Botschaft vernommen.«

Jetzt muss ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, kurz mal erklären, warum ich eigentlich gerade in New York bin:

Heute Abend wird hier dem Künstler Anselm Kiefer die Leo-Baeck-Medaille verliehen – und zwar in Anerkennung seiner Verdienste um die deutsch-jüdische Aussöhnung. Es ist die höchste Auszeichnung des Leo Baeck Instituts. Außenminister Guido Westerwelle hält die Laudatio. Eigentlich war ursprünglich Christian Wulff als Laudator geplant. Warum weiß ich das so genau? Weil ich ihn selbst vorgeschlagen habe, als das Leo Baeck Institut im Frühjahr angekündigt hatte, Anselm Kiefer die Auszeichnung verleihen zu wollen, und mich bat, bei der Wahl des Laudators behilflich zu sein – in der nicht unberechtigten Annahme, dass ein BILD-Chefredakteur im politischen Berlin über die entsprechenden Kontakte und Zugänge verfügt.

Ich empfahl den gerade erst seit sieben Monaten amtierenden Bundespräsidenten: Es wäre sein erster Auftritt als Staatsoberhaupt in den USA – die öffentliche Aufmerksamkeit wäre ihm damit sicher. Wulffs und mein Verhältnis war zu diesem Zeitpunkt ein freundlich-professionelles.

Natürlich hatte ich den Vorschlag nicht einfach nur blind gemacht, sondern vorher dazu mit Wulffs Pressesprecher Olaf Glaeseker Kontakt gehabt. Der hatte signalisiert: Ja, der Bundespräsident kann sich sehr gut vorstellen, Anselm Kiefer in New York zu laudatieren.

Also schrieb ich, wie zwischen uns verabredet, Wulff einen Brief:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

aus Anlass der Verleihung der Leo-Baeck-Medaille an den deutschen Künstler Anselm Kiefer möchte ich Sie sehr herzlich einladen, im Rahmen der Verleihungszeremonie im Leo Baeck Institut in New York eine Ansprache zu halten. Sie wären – nach dem Preisträger Johannes Rau und dem Laudator Horst Köhler – der dritte Bundespräsident, der mit einem Auftritt im New Yorker Leo Baeck Institut im Namen aller Deutschen dessen Arbeit würdigt. Deshalb würde ich mich aus den genannten Gründen sehr freuen, wenn Sie meine Anregung überdenken.

Sechs Wochen später kam die Absage, verfasst und unterschrieben von Lothar Hagebölling. Jenem Hagebölling, mit dem ich gerade telefoniert habe.

Der Herr Bundespräsident hat sich über die freundliche Einladung sehr gefreut und hätte die Rede sehr gern gehalten. Leider ist es jedoch dem Herrn Bundespräsidenten auf Grund seines dicht gedrängten Terminkalenders nicht möglich, Ihrer Bitte, eine Ansprache im Leo Baeck Institut in New York zu halten, zu entsprechen. Ich bitte dafür um Verständnis. Der Herr Bundespräsident wünscht der Veranstaltung gutes Gelingen, mit freundlichen Grüßen.

Lothar Hagebölling

Ironie des Schicksals: Hätte Wulff Zeit gehabt, wären wir jetzt gemeinsam in New York. Mit Sicherheit hätte es ein persönliches Gespräch gegeben unter vier Augen. Ein Gespräch, das vermutlich nichts an der Veröffentlichung geändert hätte. Aber ziemlich sicher gäbe es dann nicht diesen Unsinn auf meiner Mailbox, von dem man rückblickend weiß, dass dieser Anruf den Anfang seines Scheiterns als Bundespräsident markiert.

BERUFSKRANKHEIT DER MÄCHTIGEN

Dass Wulff gern zum Telefonhörer greift, ist nichts Neues. Beschwerdeanrufe bei Journalisten sind sein Ding. Dafür war er bereits als Ministerpräsident berühmt. Und auch berüchtigt.

»Sie sollten nicht persönlich in irgendwelchen Redaktionen anrufen, um Ihr Missfallen über Berichterstattungen zu äußern, Herr Bundespräsident«, hatte ich Wulff nahegelegt, als wir uns zu Beginn seiner Amtszeit zufällig am Rande einer Veranstaltung trafen. Nun mag man sich wundern, wie ich dazu komme, dem Bundespräsidenten Telefon-Tipps zu geben. Ganz einfach: Weil er mich fragte. Der höchste Mann im Staat und der Chefredakteur von Europas größter Zeitung stehen ja nicht zusammen und reden übers Fernsehprogramm. Rückblickend würde ich sagen, dass mir Wulff mit seiner Frage natürlich auch das Gefühl geben wollte, zwischen uns bestünde ein besonderes Vertrauensverhältnis.

»Und Sie brauchen dringend eine neue Telefonnummer!«, ergänzte ich.

Das war nämlich gerade Wulffs großes Thema: Dass er als Bundespräsident fröhlich da weitermachte, wo er als Ministerpräsident aufgehört hatte – für alle möglichen Leute erreichbar zu sein. Er war eben ein verdammt junger Bundespräsident, der gedanklich immer noch im heimeligen Hannover unterwegs und noch nicht im Dschungel von Berlin angekommen war.

Wulff zeigte sich von meinem Hinweis angetan. Glaubte ich jedenfalls.

Die folgenden Monate förderten dann allerdings einen ganz anderen Wesenszug zutage: Er wusste alles besser.

Gerüchte, dass bei der Finanzierung des Hauskaufs ein Unternehmer aus Niedersachsen geholfen habe, gab es bereits seit 2009.

An dieser Stelle ist es Zeit, mit einer Legende aufzuräumen: Wir Journalisten sind manchmal gar nicht so investigativ, wie alle denken. Nicht selten erledigen andere den Job: Düpierte Geliebte, geschasste Mitarbeiter, sie alle sorgen dafür, dass Dinge ans Licht kommen, lange bevor wir Journalisten davon erfahren.

Jemand aus Wulffs engstem politischen Umfeld hatte gezielt Informationen über seine dubiose Hausfinanzierung verschiedenen Medien zugespielt, auch der BILD-Redaktion in Hannover. Sollten die Gerüchte stimmen, hätte Wulff klar gegen das niedersächsische Ministergesetz verstoßen. Demnach dürfen Mitglieder der Landesregierung weder Belohnungen noch Geschenke annehmen. Eine Verwaltungsvorschrift verbietet außerdem besondere Vergünstigungen bei Privatgeschäften wie zinsgünstigen oder zinslosen Darlehen. Da das Amtsgericht Großburgwedel jedoch den Einblick ins Grundbuch verwehrte, wurden die Recherchen seinerzeit erst mal auf Eis gelegt.

Hätte der Vorgang Wulff eine Warnung sein müssen, beizeiten reinen Tisch zu machen, was seine fragwürdige Hausfinanzierung anging? Darüber habe ich bis heute viel nachgedacht. Und mir ist immer wieder ein Satz Ludwigs XIV. in den Sinn gekommen:

»L’État, c’est moi.«

Der Staat, das bin ich.

Die Berufskrankheit der Mächtigen ist die Hybris.

Mir selbst übrigens waren die Details der Recherchen von Martin Heidemanns und seinem Recherche-Zwilling Nikolaus Harbusch lange nicht bekannt. Das hat einen Grund: Nicht selten werden in Redaktionen weiße Mäuse gejagt. Und nicht jede Recherche führt am Ende zum erwarteten Ergebnis. Lassen Sie mich ein Beispiel erzählen: Ich vermute, dass es kaum einen Politikkorrespondenten gibt, der nicht irgendwann mal von dem Foto gehört hat, auf dem angeblich ein bekannter deutscher Spitzenpolitiker nackt auf allen vieren mit einer Pfauenfeder im Allerwertesten zu sehen ist. Fakt ist: Ich kenne keinen, der dieses Foto wirklich jemals persönlich gesehen hätte. Und von diesem Quatsch ist viel im Umlauf.

Heidemanns’ Recherchen über den Hauskauf hatten sich hingegen als hieb- und stichfest erwiesen, und die Geschichte hätte eigentlich schon heute erscheinen sollen. Erst gestern hatte er abschließend eine E-Mail an Wulffs Sprecher Olaf Glaeseker mit sechs konkreten Fragen geschickt, um dem Präsidenten Gelegenheit zu geben, sich zu äußern und die Vorwürfe gegebenenfalls zu entkräften. Glaeseker, Ex-Mehrkämpfer und markantester Glatzkopf im Berliner Regierungsviertel, ist Wulffs Intimus und ein gewiefter Medienprofi. Aber Martin Heidemanns ist eben auch nicht von schlechten Eltern. Auf einer Skala zwischen Hering und Hai ist er ziemlich dicht am Hai.

Sehr geehrter Herr Glaeseker,

im Zusammenhang mit unserer Recherche bitten wir Herrn Bundespräsident Wulff freundlich um Beantwortung folgender Fragen:

Am 18. Februar 2010 ließen Sie als Ministerpräsident auf die Anfrage, ob es »geschäftliche Beziehungen« zwischen Ihnen und Herrn Egon Geerkens gegeben habe, durch Ihre Staatskanzlei wörtlich erklären: »Zwischen Ministerpräsident Wulff und den in der Anfrage genannten Personen und Gesellschaften hat es in den letzten 10 Jahren keine geschäftlichen Beziehungen gegeben.«

1. Warum haben Sie dem Landtag verschwiegen, dass eine »geschäftliche Beziehung« zwischen Ihnen und der mit Egon Geerkens in Gütergemeinschaft lebenden Ehefrau Edith durch einen im Oktober 2008 geschlossenen Darlehensvertrag über 500.000 Euro besteht?

2. Teilen Sie die Auffassung, dass Sie den Landtag in diesem Zusammenhang bewusst getäuscht haben?

3. Wie haben Sie die 500.000 Euro erhalten? Per Überweisung aus Deutschland, der USA, der Schweiz – oder bar? Oder auf welche andere Weise?

4. Warum haben Sie den im Oktober geschlossenen Darlehensvertrag wenige Wochen nach der parlamentarischen Anfrage gekündigt und durch einen Darlehensvertrag mit der BW Bank abgelöst – obwohl der Darlehensvertrag noch bis November 2013 lief?

5. Wann und in welcher Form haben Sie das Darlehen zurückgezahlt?

6. Gab es vor dem Jahr 2000 geschäftliche Beziehungen zwischen Ihnen, dem CDU-Kreisverband Osnabrück, dem CDU-Landesverband Niedersachsen bzw. dem Land Niedersachsen und Herrn Egon Geerkens oder irgendeiner Firma, an der Herr Geerkens und/oder Frau Geerkens als Gesellschafter beteiligt waren?

Heidemanns hatte um Beantwortung der Fragen bis 16 Uhr gebeten. Zwei Stunden später reagierte Glaeseker per SMS:

Seien Sie sicher, dass ich mich um eine zeitnahe Beantwortung der Fragen bemühe. Ob es allerdings bis 16 Uhr gelingt, bezweifele ich. Wie ich Ihnen gesagt habe, befinden wir uns auf Golfreise und haben ein dichtgedrängtes Programm. Ihr gl.

Als Heidemanns die Fragen schickte, war ich zu Hause in Potsdam gerade dabei, meinen Smoking für die Preisverleihung in New York in einen Kleidersack zu packen, und nahm noch ein paar nervöse Schluck Kaffee im Stehen, bevor mich mein Fahrer zum Flughafen bringen würde. Mieses Timing.

Wenn die Antworten des Präsidenten eintreffen würden, wäre ich gerade 10000 Meter über dem Atlantik. Das schmeckte mir gar nicht. Dies war die vielleicht größte Geschichte des Jahres – und ich als Chefredakteur nicht erreichbar.

Ich marterte mir das Hirn, ob ich irgendetwas übersehen hatte, die Story auch ohne mich in Druck gehen könnte, sollte Wulff die Fragen nicht schlüssig beantwortet haben. Bloß jetzt keinen Fehler machen. Wir legten uns mit dem Mann im höchsten Amt im Staat an. Alles musste sitzen. So schnell würde ich gar nicht meine Umzugskartons packen können, wie mich Zorn und Häme aus meinem BILD-Büro spülen würden. Das wär’s dann gewesen als BILD-Chefredakteur.

An Bord des Flugzeugs atmete ich dann erleichtert auf. Ich hatte Glück. In der Lufthansa-Maschine gab es ein Satellitentelefon, und um die vereinbarte Zeit wählte ich mit feuchten Handtellern Martins Nummer.

»Wo stehen wir?«, flüsterte ich aufgeregt in den Hörer.

»Die mauern«, antwortete Martin mit gespielter Gelassenheit. Ich kannte ihn, innerlich kochte er.

»Glaeseker will Aufschub, bis er und der Bundespräsident Dienstagabend wieder in Deutschland sind.«

»Was schreibt er genau?«, hakte ich nach.

»Lassen Sie uns unmittelbar nach meiner Rückkehr nach D treffen. Wir werden Ihnen dann umfassend Rede und Antwort stehen. Ihr gl«, las mir Martin vor.

»Okay.«

Ich spürte eine paradoxe Erleichterung.

»Das nimmt etwas Druck aus dem Kessel. Gut so. Es ist eh besser, wenn ich erreichbar bin, wenn wir mit der Geschichte rausgehen.«

»Zu lange sollten wir aber nicht warten«, warf Heidemanns ein. »Höchstens einen Tag. SPIEGEL und Stern und ein paar andere sind auch schon dran.«

Wir verabredeten folgende Antwort:

Lieber Herr Glaeseker, nach Rücksprache mit dem Chefredakteur sind wir gerne bereit, die Berichterstattung um einen Tag zu verschieben. So haben Sie die Gelegenheit, die Fragen bis morgen 16 Uhr (MEZ) zu beantworten. Wir bitten um Verständnis, dass ein weiterer Aufschub der geplanten Berichterstattung nach Ablauf dieser Frist nicht mehr möglich ist.

© Daniel Biskup

Telefonat mit der BILD-Redaktion: Am Satellitentelefon der Lufthansa-Maschine nach New York

VERÖFFENTLICHEN ODER NICHT VERÖFFENTLICHEN?

In der Redaktion gab es zu diesem Zeitpunkt nicht nur Zustimmung zur geplanten Veröffentlichung. Alfred Draxler, unser erfahrener BILD-Sportchef, hatte aus nachvollziehbaren Gründen Vorbehalte. Er war mit Martina Krogmann verheiratet, einer engen Vertrauten von Wulff und zu dessen Zeiten als Ministerpräsident Parlamentarische Geschäftsführerin und Mitglied im Vorstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Okay, ich bin befangen , simste er mir, deshalb zwei Punkte zum Nachdenken: Niemand ist geschädigt worden. Und wird es morgen einen Sturm der Entrüstung geben? Aber natürlich trage ich deine Entscheidung mit!

Stimmt. Wen juckte es, wie ein biederer Ministerpräsident sein spießiges Rotklinker-Häuschen finanziert hatte? Man konnte doch auch zwei Augen zudrücken. War ich gerade dabei, einen Fehler zu machen? Es liegt in der Natur der Sache, dass man mit dem Wissen von heute gestern keine Fehler machen würde. Aber weiß ich in diesem Moment, was richtig ist? Was morgen ist? Wie diese Geschichte mit Wulff ausgehen wird? Schieße ich mich gerade beruflich ins Aus? Versteige ich mich? Mein Gegner ist nicht nur Bundespräsident, er ist ein Mensch, der einen Traum träumt, den wir alle träumen: das eigene Haus, die schöne Reise, Rampenlicht. Nicht, dass ich das nicht verstehe. Aber als Journalist bist du auch Chirurg. Du musst ins Fleisch schneiden, selbst wenn’s wehtut und Narben macht.

Oder wie es Gabor Steingart, Journalist und Bestsellerautor, immer formuliert: »To tell bad things even about the good guys. So lautet das erste Gebot für den kritischen Journalisten!«

Und von SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein stammt der Satz: »Wir sind zuständig für die andere Seite der Medaille.«

Heißt übersetzt: Als politischer Journalist ist es deine Aufgabe, Fällen von Korruption, Bestechlichkeit, Kumpanei und Intransparenz nachzugehen – ungeachtet der Person und des Amts und dessen Gegenwinds. Das ist, warum wir Medienleute als die Vierte Macht im Staat gelten. Ohne Journalismus funktioniert die Demokratie nicht.

Wenn also später immer wieder behauptet werden würde, dass mich eine persönliche Fehde in die Auseinandersetzung mit Wulff getrieben habe, muss ich sagen, es war viel schlichter: Wulff verfügte über das bemerkenswerte Talent, sich selbst die Pistole zwischen die Schulterblätter zu drücken und »Hände hoch« zu rufen.

EIN KOMMUNIKATIVER KARDINALFEHLER

Vor zwei Stunden hat Glaeseker die Antworten nun endlich in die Redaktion nach Berlin gefaxt und Martin Heidemanns hat sie mir sofort auf meinen Blackberry weitergeleitet. Um im nächsten Augenblick persönlich anzurufen:

»Also Kai, die gute Nachricht: Die Faktenlage ist in allen Punkten bestätigt. Wie wir es erwartet haben, wird auf Frau Geerkens als Kreditgeberin verwiesen …«

»Und die schlechte?«, grätschte ich dazwischen.

»… hätte, möglicherweise, in Anbetracht dessen …«, begann Martin laut vorzulesen. »Das ist alles unglaublich umständlich und langatmig formuliert.«

Ich las parallel auf dem Display mit und begriff augenblicklich das Problem: Nach Lektüre des Artikels mit diesen Wischiwaschi-Antworten des Bundespräsidenten würde kein Leser verstanden haben, worum es überhaupt geht. Welch ungeheurer Vorwurf da eigentlich im Raum steht.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Martin Heidemanns und legte eine kurze Pause ein. »Das sind keine Antworten! Das sind Nebelgranaten! Da lacht doch die dpa! Das wandert vom Ticker direkt in den Müll.« Er klang aufrichtig empört.

An dieser Stelle muss ich ein wenig ausholen: dpa, Associated Press, Reuters – das sind die wichtigsten Nachrichtenagenturen. Sie sind die heimlichen Großmächte im Reich der Medien. Sie verdichten, sie multiplizieren. Ob es uns gelingen würde, mit dieser wässrigen Antwort-Suppe die Kollegen vom brisanten News-Wert unserer Geschichte zu überzeugen? Fraglich.

»Lass uns den Schmus kürzen«, schlug Martin angriffslustig vor. »Da braucht man ja einen Uni-Abschluss in Germanistik, um zu checken, was der meint. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich nicht mal Abitur habe.«

Das mag ich so an Martin. Der ist eins zu eins.

Dennoch widersprach ich energisch. »Nein, Martin, das geht nicht. Wenn wir den Bundespräsidenten derart angreifen, muss er die Chance haben, voll umfänglich zu antworten. Wir müssen seine Antworten in ganzer Länge drucken. Egal, wie verquast die sind. Sonst laufen wir Gefahr, dass es wieder heißt: ›Na klar, typisch die BILD. Alles aus dem Zusammenhang gerissen.‹«

»Du bist der Chef«, merkte Martin trocken an.

Was tun?

Ich wusste, dass wir mit diesem Text keinen Blumentopf gewinnen würden. 20 Minuten später klingelte mein Blackberry erneut.

»Hey Kai, der Glaeseker hat sich gerade bei mir gemeldet.« Martins Stimme klang atemlos. »Wulff zieht seine Antworten zurück!«

»Wie bitte? Was?« Ich war völlig perplex. »Wieso?«

»Weiß nicht, gibt keine Begründung.«

Mein Hirn ratterte. Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung. Dann begann ich laut zu denken: »Okay, was heißt das jetzt für uns …? Wulffs Antworten sind nicht autorisiert, und wir können sie nicht veröffentlichen. Korrekt?«

»Korrekt«, antwortete Martin, und der Missmut in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Aber eigentlich …«, grübelte ich laut, »spielt uns Wulff doch in die Karten. Schau, Martin, wir haben ihn mit den Vorwürfen konfrontiert, ihm Gelegenheit gegeben, sich zu äußern, sind unserer journalistischen Sorgfaltspflicht nachgekommen. Er lehnt eine Beantwortung unserer Fragen ab. Seine Entscheidung. Punkt. Dann steht da halt ganz fett unterm Artikel: ›Wollte sich auf BILD-Anfrage nicht zu den Vorwürfen äußern.‹«

»Genau. Der versucht doch, uns an der Nase herumzuführen wie kleine doofe Jungs«, war Martin wieder bester Laune.

Mir war, als hätte ich gerade einen komplizierten Mathedreisatz hergeleitet, und jetzt stand da ein Ergebnis. Ich war erleichtert, der Boden unter meinen Füßen fühlte sich wieder ein wenig dicker an. Ohne dass wir es aussprachen, war uns beiden klar, dass der Bundespräsident mit seiner Vogel-Strauß-Politik – ich stecke den Kopf in den Sand und tue so, als ob mich das alles nicht betrifft – einen kommunikativen Kardinalfehler begangen hatte. Er hatte den Grundstein dafür gelegt, dass die Geschichte groß würde. Sehr groß.

An dieser Stelle kam nämlich nun ein journalistischer Mechanismus ins Spiel, den ich Ihnen gerne erklären möchte: In den frühen Morgenstunden würden die Nachrichtenagenturen unsere Berichterstattung über den Hauskauf aufgreifen und an Zeitungsredaktionen, Radiostationen und TV-Sender schicken:

»Berlin. Der Bundespräsident steht nach BILD vorliegenden Dokumenten im Verdacht, am 18. Februar 2010 den Landtag in Hannover getäuscht zu haben – und das vier Monate vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten.«

Anschließend würden die Kollegen von den Nachrichtenagenturen dem Bundespräsidialamt dieselben Fragen stellen, die er BILD nicht hatte beantworten wollen. Und das würde im Ergebnis dazu führen, dass aus vielen einzelnen Agenturmeldungen schließlich die sogenannten »Agenturzusammenfassungen« würden, denen allein schon wegen ihres Umfangs eine besondere Bedeutung zukommt und die deshalb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu den Topmeldungen des Tages zählen. Tagesschau und heute journal ließen schon jetzt grüßen.

Journalismus ist eine Maschine, die über viele kleine Rädchen das ganz große Rad dreht.

Ob Wulff niemanden hatte, der ihm das erklärt und ihn gewarnt hatte? Ich fürchte, auch das gehört zur Logik seines späteren Scheiterns: Er gefiel sich in der Rolle des Lonesome Rider, der alles alleine lösen wollte.

Es folgte eine Vielzahl hektischer Telefonate mit meiner Redaktion. Wie machen wir die Geschichte auf? Wie lautet die Schlagzeile? Wie die Unterzeile? Wir entschieden uns gegen die Hauptschlagzeile und für einen kleinen Anreißer mit Foto von Wulff auf Seite eins. Die große Aufmachung sollte auf Seite zwei folgen. Bei mir hier in New York war es 12 Uhr mittags, in Berlin 18 Uhr. Nur noch zwei Stunden bis Redaktionsschluss. Uns saß die Zeit im Nacken.

Und wieder klingelte mein Telefon: Mathias Döpfner wollte mich sprechen. Wenn dein Vorstandsvorsitzender anruft, während du gerade an der größten Geschichte der letzten Jahre sitzt, dann sicherlich nicht, weil er mit dir übers Wetter plaudern will. Doch zu meiner Überraschung ging es nicht um Wulff. »Hallo Kai, ich habe dir gerade ein Interview geschickt, das ich zu Günter Wallraff gemacht habe. Die warten auf die Freigabe meiner wörtlichen Zitate. Können wir die mal durchgehen? Wäre wichtig.«

So ist das eben: 1000 Themen, die gleichzeitig wichtig sind. Und als ich 20 Minuten später auflegte, hatte mir der Bundespräsident auf die Mailbox gesprochen.

Und damit sind wir nun also zurück im Hier und Jetzt, im Waldorf Astoria in meinem Hotelzimmer hoch über der Park Avenue.

Und von einer Sekunde auf die andere geht es nicht mehr nur um seinen dubiosen Hauskauf, sondern um etwas viel Größeres.

UND NOCH EINE MAILBOXNACHRICHT

Der Geist ist aus der Flasche.

Doch wie umgehen damit?

Ich kann ja nicht so tun, als gäbe es diesen Anruf nicht. Das ist ein ziemlich einmaliger Vorgang, dass ein Staatsoberhaupt einem Chefredakteur droht. Ich muss damit rechnen, dass sich Wulff intern brüsten wird mit seinem Anruf bei mir, die Geschichte Kreise zieht und irgendwann gegen mich verwendet wird. Wenn ich den Vorgang ignoriere, verliere ich als BILD-Chefredakteur meine Glaubwürdigkeit und bin für immer erpressbar. Zuallererst will ich die Mailboxansage sichern und schicke die Audiodatei per E-Mail-Anhang zur Abschrift an meine Büroleiterin nach Berlin. Danach versuche ich, Mathias Döpfner erneut zu sprechen. Vergeblich. Ich bitte um Rückruf.

Und wieder vibriert mein Blackberry. Vielleicht schüttelt es sich auch. Weiß man’s? Eine frische Textnachricht vom Bundespräsidenten ploppt auf:

Sorry. Ich musste ihnen auf die mailbox sprechen. Es ist dringend. Gefahr im verzug und nicht wiedergutzumachender schaden steht bevor. Ich bitte sie um anruf. Oder sms, wie ich sie erreichen kann. HG ihr christian wulff.

Ja, in einer Sache stimme ich ihm auf der Stelle zu: Der Schaden ist schon jetzt nicht wiedergutzumachen.

Fast zeitgleich ruft Mathias Döpfner zurück. »Ich weiß Bescheid, Kai, auch mir hat der Präsident auf die Mailbox gesprochen.« Er klingt nicht wirklich aufgeregt. Zu diesem Zeitpunkt bringt ihn die Geschichte offensichtlich nicht sonderlich aus der Fassung. »Pass auf Kai, ich spiel’s dir kurz vor.« Er drückt auf Replay:

Guten Abend, Herr Döpfner. Es wäre toll, wenn wir telefonieren könnten, weil sich die Redaktionskonferenz der BILD entschieden hat, eine Sache zu skandalisieren, die nicht zu skandalisieren ist, und das würde den endgültigen Bruch bedeuten zwischen diesen investigativen Journalisten und ihren Methoden der letzten Monate, und mir als Bundespräsident …, und ich finde, dass man darüber in solch einem Falle reden sollte und reden müsste, wenn die Redaktion der BILD mehrheitlich entscheidet, diese Konfrontationskampagne jetzt morgen zu fahren, dann ist das nicht wieder zurückzuholen und der Schaden dauerhaft und hat dann eben auch Konsequenzen, und deshalb wäre ich dankbar, wenn wir darüber sprechen könnten. Ja, das war’s, ich gehe davon aus, dass Sie umfassend darüber informiert sind, Diekmann war wohl zugeschaltet, und dass es nicht hinterher heißt: Hätten wir doch angerufen, dem wollte ich jetzt vorbeugen. Ich bin gerade in Kuwait, hier in ständigen Terminen, die BILD war aber nicht bereit, meine Rückkehr abzuwarten aus der sechstägigen Reise in die Golfstaaten, und auch das kann man interpretieren, wie man will, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das abhören und mich anrufen. Danke schön. Wiederhören.

Glaubte Wulff ernsthaft, mit der Petzerei bei meinem Chef Erfolg zu haben und die Geschichte aus dem Blatt kegeln zu können?

»Und? Hast du ihn schon zurückgerufen?«, will ich angepiekst wissen.

»Ja«, antwortet Döpfner nüchtern, »er war komplett aufgebracht. Hat wiederholt, dass die Veröffentlichung Krieg zwischen dem Bundespräsidialamt und dem Springer-Verlag bedeutet, und zwar bis zum Ende seiner Amtszeit.«

Einfach irre.

Kann es sein, dass dem Bundespräsidenten gleich zweimal hintereinander die Pferde durchgegangen sind? Das wäre ja, wie zweimal auf derselben Bananenschale ausrutschen. Nein, seine Aufsprache ist kein Affekt, das ist Vorsatz.

Mir kommt ein berühmter Sketch von Loriot in den Sinn: Der wartet in einem Zimmer und will ein Bild gerade rücken. Am Ende hat er die gesamte Einrichtung verwüstet. So kommt mir in diesem Moment das Verhalten von Christian Wulff vor. Es hat etwas Tragisches.

DER PRÄSIDENT HAT EIN PROBLEM

»Wirbel um Privatkredit über 500.000 Euro. Hat Wulff das Parlament getäuscht?«

So ist es ab 22.02 Uhr deutscher Zeit auf BILD.de zu lesen:

Christian Wulff (52) wird von einer Affäre aus seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident eingeholt. Der Bundespräsident steht nach BILD vorliegenden Dokumenten im Verdacht, am 18. Februar 2010 den Landtag in Hannover getäuscht zu haben – und das vier Monate vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten. 1

Im BILD-Kommentar heißt es:

Der Präsident hat ein Problem. Das Verschweigen des Kreditvertrags mit Edith Geerkens ist zwar keine Lüge im juristischen Sinne. Aber die Wahrheit eben auch nicht. Also hat Wulff den Landtag getäuscht. Für Politiker gelten beim Umgang mit der Wahrheit zu Recht besondere Maßstäbe. Und für einen Bundespräsidenten erst recht . 2

Als die Wulff-Geschichte online geht, sitze ich in einem indischen Restaurant in Soho über Chicken-Curry extrascharf. Bei jeder Gabel treten mir Tränen in die Augen. Manchmal brauche ich das. Heute zum Beispiel.

Super Scoop! , ploppt die erste SMS auf meinem Blackberry auf. Eine Minute später ein weiterer Kollege: Auch wenn uns alle dafür hassen werden, die Geschichte ist so stark und faktisch erzählt, da werden wir nicht alleine bleiben. Glückwunsch!

Und nach nur wenigen Sekunden eine dritte: Wulffs Fehler ist nicht das Darlehen, sondern der Umgang mit der Wahrheit im Moment der Wahrheit. Richtig gemacht!

Chefredakteure sind einsam in ihren Entscheidungen, und das wird sich auch niemals ändern. Aber in diesem seltenen Moment fühle ich so etwas wie gesellige Einsamkeit.

Das erste Mal, seit ich vor 48 Stunden meinen Smoking in den Kleidersack gepackt habe, lässt die Anspannung ein kleines bisschen nach. Übrigens hat es mein Gepäck nicht nach New York geschafft, für die Leo-Baeck-Verleihung werde ich mir noch was zum Anziehen organisieren müssen. Aber das nur als Randnotiz.

Mittlerweile wissen von Wulffs Anruf bei mir Kollegen in der BILD-Politikredaktion, denen ich unmittelbar berichtet hatte: »Der Präsident hat mir auf die Mailbox gesprochen und gedroht. Seine Wortwahl war speziell.«

Nun macht sein Wutausbruch offenbar die Runde.

Sven Gösmann, Chefredakteur der Rheinischen Post in Düsseldorf, schreibt: Chapeau für die Story. Wie unfreundlich war CW denn am Telefon? Man sagt, er habe die Contenance verloren …

In der Nacht mailt Maike Kohl-Richter: Dieser Mensch, der sich dauernd aushalten lässt und dann auch noch lügt, stand in der ersten Reihe der Empörten in der sogenannten Spendenaffäre, ganz übel, sprach der Dübel, und verschwand in der Wand …

Christian Wulff ist an diesem Montag 529 Tage im Amt, 51 Jahre alt, Deutschlands jüngster Bundespräsident ever. An seiner Seite eine 14 Jahre jüngere, schöne blonde Frau namens Bettina. Die beiden sind vor zwei Jahren Eltern geworden. Aus früheren Beziehungen hat Wulff eine Tochter, Bettina einen Sohn. Eine moderne Patchwork-Familie. In Hannover nannte man sie die Kennedys von der Leine . Bislang waren diesem strahlenden Paar Tür und Tor offen gestanden.

Wenn es in der Vergangenheit um die Verfehlungen anderer ging, war der junge Christian Wulff immer sehr schnell mit Verurteilungen zur Stelle. Im Januar 2000 forderte er, damals CDU-Parteivize, den Rücktritt seines Vorvorgängers Johannes Rau, der unter dem Verdacht stand, sich in seiner Zeit als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen von der WestLB Privatflüge bezahlt haben zu lassen. Wulff ließ sich mit dem schönen Satz zitieren, er leide »physisch darunter, dass wir keinen unbefangenen Bundespräsidenten haben«. 3

Ein Jahr vor der Rau-Geschichte war bekannt geworden, dass auf der Hochzeit des damaligen Niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski, praktischerweise auch SPD, von einer niedersächsischen Brauerei kostenlos Getränke ausgeschenkt worden waren. Zudem hatte Glogowski die Rechnung für eine Reise nach Ägypten erst verspätet bezahlt, sodass der Verdacht im Raum stand, er habe sie gar nicht begleichen wollen. 4 Auch diesmal wand sich Wulff vor Schmerzen und erklärte:

Die persönliche Vorteilsnahme in Form einer offenbar durch ein niedersächsisches Unternehmen finanzierten privaten Urlaubsreise wäre mit dem Amt des Ministerpräsidenten nicht vereinbar. Herr Glogowski verliert seine Unabhängigkeit und damit seine politische Handlungsfähigkeit. 5

Auch zur damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, die ihren Dienstwagen privat genutzt hatte, und zu Gerhard Schröder, für den Carsten Maschmeyer die Anzeigenkampagne Der nächste Bundeskanzler muss ein Niedersachse sein finanziert hatte, fand er deutliche, missbilligende Worte. Was im Übrigen nichts daran ändert, dass Maschmeyer, mittlerweile auch ein enger Freund Wulffs, Jahre später auch dessen Buch Besser die Wahrheit finanzierte. Wulff will von dieser Finanzierung erst im Nachhinein erfahren haben.

Man muss kein Psychologe sein, um den Eindruck zu bekommen, dass dieser Christian Wulff ein Mann ist, der mit zweierlei Maß misst. Und Regeln, die er bei anderen einfordert, für sich selbst eher großzügig auslegt.

Es ist weit nach Mitternacht deutscher Zeit, als ich wieder im Waldorf Astoria bin und sehe, dass Wulff-Sprecher Olaf Glaeseker für den Vormittag eine Erklärung angekündigt hat.

Okay, denke ich, jetzt wird es spannend.

Am frühen Dienstagmorgen ist die BILD-Story wie erwartet Aufmacher in den meisten elektronisch verbreiteten Medien. Auf den Online-Portalen von SPIEGEL, Focus und Stern ist Wulffs Hauskauf auf Platz eins, Süddeutsche und FAZ gehen ebenfalls mit. Im ZDF-Morgenmagazin hält der Moderator die BILD in die Kamera, auch RTL und n-tv berichten. Ich habe kaum geschlafen, die Nervosität ist zurück.

Mathias Döpfner ist nicht 100 Prozent zufrieden.

»Wäre aus meiner Sicht besser gewesen, wenn ihr Wulff auf Seite eins gebracht hättet, nicht nur als Anriss«, simst er mir. In den kommenden Wochen soll er mein allerwichtigster Kritiker und Sparringspartner werden.

»ARD ignorieren das Thema komplett. n-tv verteidigt Wulff, sagen, das Ganze sei korrekt, BILD-Geschichte nur aufgebauscht. Meine Sorge: der Neid der Kollegen ist so groß, dass sie BILD-Geschichte kleinreden und Wulff verteidigen«, tippt er im Stakkato-Stil besorgt hinterher.

Er hat natürlich recht. Journalismus ist ein Haifischbecken, wo selbst die beste Geschichte nicht zwingend den Beifall der lieben Kollegen findet. Im Gegenteil: Da wird sich munter gegenseitig in die Flossen gebissen.

Wie annonciert, setzt Glaeseker seine nächtliche Ankündigung in die Tat um und versendet am Vormittag eine Pressemitteilung. Die Fragen zum Hauskredit seien damals korrekt beantwortet worden. Frau Geerkens sei zwar die Kreditgeberin, aber in der parlamentarischen Anfrage sei ja nicht nach ihr, sondern nach geschäftlichen Beziehungen zu ihrem Mann gefragt worden. Von daher habe Wulff nicht die Unwahrheit gesagt.

Seine gewundene Erklärung verschlimmert alles noch.

Die Süddeutsche Zeitung kommentiert:

Ein Bundespräsident lässt sich nicht und hat sich nie zu seinem Privaturlaub von Geschäftsfreunden einladen lassen. Ein Bundespräsident wird sich nicht und hat sich nie einen Privatkredit von einem Unternehmer geben lassen. Wer dieses Amt antritt, sollte wissen, dass er höchsten moralischen Ansprüchen genügen muss. Christian Wulff war das offenkundig nicht so wichtig – und das macht ihn angreifbar. (…) Wulff benimmt sich wie ein kleines Kind, das seinen Sandkastenkameraden gehauen hat und danach sagt: »Nein, das war nicht ich, das war meine Hand.« 6

DIE EHEFRAU? GANZ SICHER NICHT!

In die Beziehung zwischen Christian Wulff und mich ist im Nachhinein viel hineingeheimnist worden: Wie lange wir uns schon kannten, wie eng wir angeblich waren, als es zum Bruch kam.

Die Wahrheit ist: Bis 2010, als er für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, kannte ich ihn nicht wirklich näher. Persönlich war ich ihm nur bei ein paar Veranstaltungen begegnet – Handshake, Guten Tag und Auf Wiedersehen.

Privater kennengelernt haben wir uns vor allem am Telefon – und zwar Pfingsten 2006. Zuvor war Wulff in einem kleinen lauschigen Gartencafé irgendwo im Brandenburgischen mit neuer Frau gesichtet worden. Und zwar ausgerechnet von Mathias Döpfner. Der Teufel ist ein Eichhörnchen und unser CEO im Herzen ein ewiger Journalist.

»Ich bin hinübergegangen und habe artig Guten Tag gesagt«, hatte mir Mathias amüsiert über seine Zufallsbegegnung berichtet, »und irgendwie hab ich mich noch gewundert, weil Frau Wulff so anders aussah. Und hinterher habe ich meine Frau Ulrike gefragt: ›Sag mal, war das die Ehefrau?‹, und Ulrike hat gegrinst: ›Nein, ganz sicher nicht!‹«

Es wäre doch eine gute Idee, den Ministerpräsidenten mal anzurufen, meinte ich. Und das tat ich dann auch. Der Ministerpräsident schien nicht überrascht von meinem Anruf. Keine Sekunde bestritt er die neue Frau in seinem Leben. Im Gegenteil. Wir kamen überein, dass Wulffs Regierungssprecher, Olaf Glaeseker, Angie Baldauf anrufen würde, unsere politische Redakteurin bei BILD-Hannover, die Wulff schon seit Jahren journalistisch begleitete. Er würde mit ihr über das Scheitern von Wulffs Ehe und die neue Partnerin sprechen.

So läuft das gern auf dem Boulevard, liebe Leserinnen und Leser: Das vermeintlich ertappte Liebespaar führt nicht nur Regie, sondern produziert auch gleich den ganzen Film. Das geht manchmal so weit, dass Prominente der Zeitung erst jedes Detail ihrer heimlichen Liebe oder Trauung oder Trennung stecken, um dann pro forma gegen die Berichterstattung zu klagen und nach außen empört und entrüstet zu tun über die böse Indiskretion. Darüber könnte ich ein weiteres dickes Buch schreiben.

Nun ist es natürlich nicht von grundsätzlichem nationalem Interesse, mit welcher Frau ein biederer, Brille tragender niedersächsischer Ministerpräsident Kuchen isst. Da gebe ich jedem recht. Doch dieser bislang fade, blasse Christian Wulff hatte jahrelang ganz bewusst mit dem Image vom braven Familienpapi Politik und Karriere gemacht. »Ich bin ein langweiliger Politiker. Ich bin seit 18 Jahren verheiratet«, ließ er sich gern auf seine etwas zwangige, streberhafte Art zitieren. Das war natürlich auf seinen Amtsvorgänger Gerhard Schröder gemünzt und sollte ihn von anderen Politikern abgrenzen. Auch Wulff hatte mit seiner Frau Wahlkampf gemacht, und natürlich war es von öffentlichem Interesse, wenn er sich von dieser Frau trennte und auf einmal eine junge, neue Frau an seiner Seite war – dafür mussten wir uns einfach interessieren. 7

Der politischen Korrektheit halber möchte ich hier auch noch kurz von Horst Seehofer berichten. Denn nicht nur die Herren von der CDU überfallen dann und wann Frühlingsgefühle. So ließ sich Seehofer, als er einst CSU-Chef und Ministerpräsident des tiefkatholischen Bayerns werden wollte, mit seiner Frau unterm Kruzifix fotografieren. Und äußerte sinngemäß den schönen Satz, er verachte Politiker, die mit dem Ehering am Finger ein Doppelleben führten – das alles, während seine Geliebte in Berlin ein Kind von ihm erwartete.

Sie sehen, Gute Zeiten, schlechte Zeiten gibt es nicht nur auf RTL.

Noch am Abend des Pfingstmontags erschien auf BILD.de:

Christian Wulff: Ehe kaputt. Seine Neue ist alleinerziehende Mutter.

Dazu ein verständnisinniger Text: dass er und Noch-Frau Christiane lange, lange um die Ehe gekämpft hätten. Doch leider, leider habe es nicht gereicht. Natürlich trenne man sich im Guten, das Wohl der zwölfjährigen Tochter sei jetzt oberste Prio. Und eine neue Frau war auch schon zur Stelle, um Wulff in seinem Trennungskummer das Händchen zu halten. Friede, Freude, Eierkuchen.

Sie merken, ich kürze ein wenig ab. Natürlich sind viele Formulierungen in diesem und ähnlichen Texten, wenn es um die Trennung von Paaren geht, eine Farce. Und wir Zeitungsmacher lassen uns bereitwillig vor den Karren spannen, denn es geht hier um eine Win-win-Situation: Wir wollen die Geschichte, die Betroffenen eine Berichterstattung, mit der sie gut leben können. Deswegen gilt, wann immer möglich: berichten, nicht hinrichten. Mit dem Ergebnis, dass man an manchen Tagen mit BILD sein Brot buttern kann. Ist übrigens bei Bunte und Gala nicht anders.

Auch im begleitenden BILD-Kommentar stimmten wir das große Violinkonzert an:

Politiker sind halt auch nur Menschen, was sonst. Mit Schwächen. Christian Wulff hat es gerade wieder bewiesen. Ihn zu verurteilen wäre leicht – und billig. Der bisher tadellose Wulff wird durch diese Trennung sogar ein wenig menschlicher. Und jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient.

Unsere ultrasofte Berichterstattung half Wulff damals natürlich auch politisch, seine konservative Wählerschaft nicht zu verprellen. Sugar Coating nennt man das in der Pharmazie. Wenn die bittere Pille einen Zuckerüberzug bekommt, damit sie besser rutscht.

Halten wir fest, Wulff war auf den Geschmack gekommen. Mit sehr viel Fleiß und Akribie inszenierte er in der Folge sein Liebesleben immer regelmäßiger für die Presse. Sein spätes Midlife-Crisis-Glück wurde quasi Teil der politischen Botschaft. Wulff liebte die Presse – und die Presse liebte ihn. Denkwürdiger Höhepunkt: ein geheimer Liebesspaziergang mit der schwangeren Bettina durch den nieselig kalten Hannoveraner Forst. So geheim, dass am Wegesrand ein Dutzend einbestellte Reporter, Fotografen und Kamerateams warteten wie Fans in der Stadionkurve, auf die Wulff fröhlich zusteuerte:

»Wie haben Sie denn herausgefunden, wo wir immer sonntags spazieren gehen? Ich bin ganz verblüfft«, gab er sich naiv. Und dann: »Oh, jetzt kommen zwei Jogger, das macht das Ganze realistischer.«

Mit seinem Liebesleben für derart viele bunte Schlagzeilen zu sorgen, war bis dato nur Gerhard Schröder und Joschka Fischer vergönnt. Und Rudolf Scharping, als er mit seiner Gräfin einst in den Pool zum Planschen stieg.

»Er möchte Medien vor allem für sich einsetzen als Organ, die ihn bejubeln, die ihn loben, die ihn glänzend abbilden, die die schönen Seiten von ihm zeigen. 8 Und er hat dabei immer ein gutes Verhältnis zur BILD-Zeitung gesucht«, merkte seinerzeit Klaus Wallbaum von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung an, seines Zeichens langjähriger Beobachter des Wulff’schen Pressetreibens.

Wenn Sie mich fragen, wo Wulff angefangen hat zu glauben, er könne über Wasser gehen: wahrscheinlich hier. Ich glaube, er verliebte sich in das Bild, das schön gezeichnete Narrativ, das wir in den Medien in dieser Zeit für ihn erfunden hatten.

Und dann kam Berlin.

WIE ALLES ANFING

Wir schreiben das Jahr 2010. Quasi über Nacht war Horst Köhler vom Amt des Bundespräsidenten zurückgetreten und Deutschland hektisch auf der Suche nach Ersatz. Der Blick der CDU/CSU-Granden fiel auf Wulff. Neider behaupten, sein Glück in diesen Tagen war, dass er ganz vorne auf dem Rollfeld stand, als Eurovision-Song-Contest-Gewinnerin Lena Meyer-Landrut nach der Landung aus ihrer Lufthansa-Sondermaschine sprang. Das Bild von Landesvater Wulff, ausnahmsweise nicht mit Frau, dafür mit Blumenstrauß im Arm, schaffte es wieder mal in die Abendnachrichten. Wenn Christian Wulff eines konnte, dann schöne Bilder produzieren, das muss man ihm lassen. Und im Nachhinein betrachtet, würde ich sagen, waren es auch immer wieder diese Bilder, die Christian Wulff für höchste politische Ämter empfahlen, nicht so sehr Inhalte.

© Kai Diekmann/Privatarchiv

Dank für BILD-Berichterstattung: »Für Herrn Kai Diekmann mit guten Wünschen! Ihr Christian Wulff«

Tatsächlich zeigten sich nicht alle begeistert von Wulff als Präsidentschaftskandidat. Selbst einige bürgerlich-konservative Medien wie die FAZ sprachen sich gegen den Niedersachsen und für den rot-grünen Kandidaten Joachim Gauck aus. Auch im Hause Springer waren die Sympathien unterschiedlich verteilt. BILD am SONNTAG, WELT am SONNTAG und unser Vorstandsvorsitzender Mathias Döpfner hatten eine große Sympathie für Gauck. Wir von BILD standen eher auf der Seite von Wulff. Das hatte keine ideellen oder persönlichen Gründe, sondern mathematische. Die CDU/CSU verfügte in der Bundesversammlung über eine genügende Mehrheit, spätestens im dritten Wahlgang würde Wulff gewählt werden. Der Drops war gelutscht. Und weil diese Wahl eben eine Frage von Mathematik war, brauchte es keine Kampagne für niemanden.

Nun bin ich kein grundsätzlicher Gegner von Kampagnen. Ich halte es für einen Irrtum zu glauben, Medien dürften keine Kampagnen machen. Der Kampagnen-Begriff ist für mich überhaupt nicht negativ besetzt, im Gegenteil: Etwas für richtig oder falsch zu halten und leidenschaftlich und nachhaltig dafür oder dagegen zu kämpfen, das haben bereits SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein und Stern-Gründer Henri Nannen vorgemacht. Sie sind Legenden im Journalismus und berühmt für ihre Kampagnen: gegen den Abtreibungsparagrafen 218 und für die Ostpolitik Willy Brandts zum Beispiel.

Doch nun zurück zu Christian Wulff und der Frage, wie nahe wir uns standen. Wie gesagt, bislang gab es nur flüchtige Begegnungen. Das änderte sich mit seiner Kandidatur zum Bundespräsidenten schlagartig. Mein Kollege Alfred Draxler kam auf mich zu: »Ihr müsst euch mal kennenlernen, Kai.«

Wie Sie bereits wissen, ist Draxler nicht nur mein geschätzter Stellvertreter und mit Wulffs Parteifreundin Martina Krogmann verheiratet, sondern auch der Mann, der meine Frau Katja und mich vor neun Jahren zusammengebracht hat. Er versteht sich auf Speed-Dating sozusagen. Und so kam es, dass an einem sonnigen Junitag Wulffs Dienstwagen vor unserem Haus in Potsdam vorfuhr. Mit im Auto: seine Frau Bettina. Bei Nudeln und Rotwein plauderten wir über dies und das, aber vor allem natürlich über Politik, über die anstehende Wahl und seine Pläne als möglicher Bundespräsident. Wulff erwies sich aus der Nähe betrachtet als geselliger, sympathischer Typ. Und da gerade Fußball-WM in Südafrika war und die Stimmung so entspannt, hockten wir uns nach dem Essen zusammen auf meine Wohnzimmercouch und schauten zu, wie Deutschland Australien vier Tore reinzwiebelte.

Wahrnehmung ist bekanntlich etwas Subjektives.

In ihrer Biografie wird Bettina Wulff später scheiben, wie unwohl sie sich an diesem Abend fühlte:

Zum einen kam ich mir wie das schmückende, aber völlig unwichtige Beiwerk an Christians Seite vor, zum anderen, und das war besonders ausschlaggebend für meine Gefühle, war da dieses wahrlich beeindruckende Haus und dieses Paarensemble Diekmann-Kessler. Er der Typ »Macher«, sie lässig durchgestylt. Mich beschlich das Gefühl, dass dies alles eine mächtige Inszenierung ist. 9

Über Geschmack und Gefühle lässt sich bekanntlich nicht streiten. Aber die Wulffs verkehrten in Milliardärskreisen, hatten im mallorquinischen Luxusanwesen von Maschmeyer ihre Flitterwochen verbracht und ihre Winter Holidays in einer viele Millionen teuren Villa in Florida. Sie waren mit der halben Filmprominenz per Du. Im Leben der Wulffs wimmelte es also nur so von Macher-Typen, lässig durchgestylten Damen und dicken Häusern. Wir waren also einschüchternd? Ich sage mal so: Man ist ja gerne bereit, Komplimente anzunehmen, aber wenn Bettina Wulff geschrieben hätte, der Kai Diekmann singt so schön, würde ich es auch nicht glauben.

Auch mein Interesse an ihrem Mann fand Bettina Wulff komisch, weil »einige Journalisten des Springer-Verlags wohl einen anderen Bundespräsidenten als Christian wollten«, und vermutete hinter der Geschichte »einen großen Plan«. 10 Dabei war es ganz simpel: Christian Wulff würde der neue Bundespräsident werden. Da hätte ich meinen Job wohl falsch verstanden, wenn ich ihn nicht hätte kennenlernen wollen. So funktioniert der Beruf. Das nennt man Journalismus.

So oder so, jedenfalls erhielt ich bereits am nächsten Tag per Boten einen Brief vom Noch-Ministerpräsidenten Wulff:

Es war für meine Frau und mich ein wunderschöner Abend bei Ihnen zu Hause. Wir möchten uns dafür ganz, ganz herzlich auch auf diesem Wege nochmal bedanken. Wir hoffen auf weitere gute Kontakte.

Mit herzlichem Gruß, Ihr Christian Wulff

Wenige Woche später der nächste Brief, diesmal vom frisch gewählten Bundespräsidenten an den »sehr geehrten lieben Kai Diekmann«.

Darin bedankte er sich für die »Unterstützung, die ich in den vergangenen Jahren, gerade aber auch zuletzt im Umfeld der Wahl zum Bundespräsidenten, von Ihnen persönlich erfahren habe. Das ist für mich Ermutigung, Ansporn und Verpflichtung zugleich.«

Letzter Satz:

Meine Frau und ich würden uns freuen, Sie und Ihre Frau alsbald im Schloss Bellevue begrüßen zu dürfen .

Mit besten Grüßen,

Ihr Christian Wulff

In seinem Buch Ganz oben Ganz unten wird er später behaupten, sich bereits zu diesem Zeitpunkt von mir und BILD bedrängt gefühlt zu haben.

»Während ich davon ausging, nun als Bundespräsident den Medien gegenüber souverän zu sein«, schreibt er, »glaubte man nach meinem Eindruck bei BILD, den Bundespräsidenten und seine Frau nach Belieben medial einsetzen zu können. Mit diesem Missverständnis begann eine fatale Abfolge gegenseitiger Irritationen.« 11

Wow.

Was für eine Geschichtsklitterung!

Auch und gerade nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten suchte Christian Wulff immer wieder meinen Rat, telefonisch und auch persönlich. Höhepunkt war ein Vieraugengespräch in seinem Arbeitszimmer im Schloss Bellevue, in dem es darum ging, wie er mit höchst üblen Gerüchten über das Privatleben seiner Familie umgehen solle. Aber dazu später mehr.

»Ermutigung, Ansporn und Verpflichtung«: Brief von Bundespräsident Wulff nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten

FRÜHSTÜCK IM SCHLOSS BELLEVUE

Nun ist man nicht jeden Tag zum Frühstück mit dem Bundespräsidenten eingeladen, daher standen meine Frau und ich am 30. September 2010 Punkt 9 Uhr auf der Matte von Schloss Bellevue.

Wenn man beim Papst im Vatikan, bei Putin im Kreml und bei George W. Bush im Oval Office gewesen und allein für den Sicherheitscheck am Eingang gefühlt einen halben Tag gebraucht hat, ist so ein Besuch beim Bundespräsidenten vom Prozedere her fast familiär. Mein Fahrer fuhr uns mit dem Auto vor, wir wurden nicht mal gescannt.

Die Wulffs begrüßten uns freundlich. Es gab Rührei mit Krabben, dazu Olaf Glaeseker. Der saß auch mit am Tisch.

Wulff erzählte beim Frühstück, er feile seit einiger Zeit an seiner ersten großen Rede, die er drei Tage später anlässlich des 20. Jahrestages der Deutschen Einheit in Bremen halten sollte. Er stand, das merkte man ihm auch an, enorm unter Druck. Die Erwartungen waren hoch und alle Augen auf ihn gerichtet. Anfang Juni war in der Frankfurter Rundschau ein Kommentar des renommierten Politikwissenschaftlers Herfried Münkler erschienen:

Wulff müsse ein neues Amtsverständnis entwickeln, wenn seine Präsidentschaft nach fünf Jahren positiv bewertet werden solle. Wulff sei zu jung, »um jene Altersweisheit repräsentieren zu können, die fast alle seiner Amtsvorgänger für sich beansprucht haben. Einem Mann mit kleinem Kind und junger Frau, zumal einer mit Tattoo, wird man den Gestus der Altersweisheit jedoch nicht abnehmen. Die wichtigste Ressource, mit der frühere Bundespräsidenten gearbeitet haben, steht Wulff also nicht oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Die Folgen dessen sind kaum zu überschätzen: Wulff muss das Amt des Bundespräsidenten neu erfinden, oder er wird scheitern.« 12

Wulff war nun mal der jüngste Bundespräsident aller Zeiten, und er konnte sich nicht über Nacht älter zaubern.

Aber Wulff wollte nicht scheitern. Um keinen Preis. Er wollte das Amt neu erfinden. Sprach davon, das Bundespräsidialamt zu einer Denkfabrik zu machen, das Amt zu verjüngen und die Türen zu öffnen für Wissenschaft und Kunst. Und für Migranten. Wulff war kein Charismatiker. Aber hier wurde er jetzt leidenschaftlich am Frühstückstisch. Integration war sein großes Thema. Deshalb diskutierten wir natürlich über Ex-Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin und dessen Buch Deutschland schafft sich ab , aus dem BILD Auszüge veröffentlicht hatte. Wulff war in seiner Position als Bundespräsident schon hier deutlich angeeckt – und zwar, weil er sich öffentlich in die Debatte eingemischt und kritisch über Sarrazin geäußert hatte. Und gleichzeitig formal über die geforderte Absetzung Sarrazins als Bundesbankvorstand entscheiden sollte. Ganz klar ein Interessenskonflikt, der nur gelöst wurde, weil Sarrazin sich schließlich freiwillig aus dem Amt zurückgezogen hatte.

Wulff wollte unbedingt eine Duftmarke setzen, deswegen hatte er in seinen Redeentwurf einen ganz besonders provokanten Satz eingebaut: »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.«

»Was halten Sie davon, Herr Diekmann?«, wollte er nun von mir wissen.

Ich war über den Islam-Akzent im Kontext Wiedervereinigung ein wenig überrascht und formulierte meine Antwort nüchtern: »Der Satz wird Kontroversen auslösen, vor allem in Ihrer eigenen Partei. Darauf müssen Sie sich einstellen. Ich verstehe auch nicht ganz, warum dieser Satz in eine Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit gehört.«

Aber Wulff ließ sich nicht beirren. Im Übrigen auch nicht von seiner Frau Bettina, die ihren Mann skeptisch anschaute und mich an diesem Freitag im Schloss Bellevue in meiner Kritik nachdrücklich und wortreich unterstützte.

Ich muss sagen, dass mich ihre Haltung und Kraft über die folgenden Wochen und Monate zutiefst beeindruckten.

Auch was diesen Satz »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland« angeht, klaffen unsere Erinnerungen auseinander. Er wird später behaupten, deshalb sei es zu einer »ersten direkten Konfrontation« zwischen ihm und mir gekommen. Und BILD habe ihn anschließend »zum Abschuss freigegeben«. Diese Behauptung – und das werde ich Ihnen an vielen Stellen darlegen – gehört allerdings ins Reich der zahlreichen persönlichen Legenden von Christian Wulff.

Mit meiner Einschätzung seiner Rede sollte ich übrigens recht behalten.

STARKE AKZENTE: BILD LOBT WULFF

Wulffs Rede knallte.

Die Duftmarke war gesetzt. Und alle gingen auf die Barrikaden – dafür oder dagegen. Vertreter von CDU und CSU wie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier oder Unionsfraktionschef Volker Kauder äußerten sich kritisch bis blank ablehnend: Die Scharia könne nicht Grundlage einer gelungenen Integration in Deutschland sein. Wenig überraschend schlugen sich SPD und Grüne auf Wulffs Seite und plädierten dafür, den Islam als Religionsgemeinschaft anzuerkennen und damit rechtlich den christlichen Kirchen gleichzustellen.

Ebenso gespalten wie die Politik waren die Reaktionen auf der Straße. BILD beobachtete die Debatte in der folgenden Zeit genau und berichtete ausführlich darüber. Wir ließen Leute mit und ohne Migrationshintergrund, Muslime und Juden, Katholiken und Protestanten, Promis und Politiker zu Wort kommen. Reporter sichteten das digitale Gästebuch auf der Website des Bundespräsidialamts und sammelten Stimmen – positive wie negative.

Aber auch jenseits der Berichterstattung über seine Rede in Bremen hatte Wulff keinen Grund, sich über eine Anti-Wulff-Kampagne in BILD zu beklagen. Vier Tage nach der Rede war der Präsident exakt 100 Tage im Amt. BILD-Kolumnist Hugo Müller-Vogg feierte ihn mit einem geradezu hymnischen Kommentar: Wulff habe viele starke Akzente gesetzt und, gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern, einen neuen Stil ins Schloss Bellevue eingeführt: locker, nahbar, zugewandt.

Zudem bekam genau zu diesem Zeitpunkt der türkische Topjournalist und Chefredakteur der größten Zeitung der Türkei, Hürriyet, Ertuğrul Özkök, eine Kolumne in BILD, in der er regelmäßig über die deutsch-türkischen Beziehungen und die Sicht der Türkei auf Deutschland schrieb und dabei immer wieder lobende Worte für den deutschen Bundespräsidenten fand:

… ein Bundespräsident, der es fertiggebracht hat, vor zwei Wochen vor seine Bürger zu treten und zu sagen: Ich bin auch der Bundespräsident der Moslems. Diese Worte haben uns Türken besser gefallen als manchem in Deutschland. Das gibt mir die Hoffnung, dass wir die unseligste Prophezeiung der letzten zwanzig Jahre – den »Kampf der Kulturen« zwischen Christen und Moslems – überwinden können. 13

In diese Zeit fiel schließlich auch die Ehrung seines einstigen Gegenkandidaten Joachim Gauck mit der sogenannten Goldenen Victoria , der wichtigsten Auszeichnung des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger VDZ. 14 Die Laudatio hielt kein anderer als ausgerechnet Christian Wulff, der nur wenige Monate zuvor noch gegen Gauck um das Amt des Bundespräsidenten gekämpft hatte. Verantwortlich für seinen Auftritt an diesem Abend war ich gewesen. Wie seinerzeit das Leo Baeck Institut hatte mich diesmal der VDZ gebeten, meine Kontakte ins Präsidialamt zu bemühen. Nach seiner Rede hatte ich Wulff um sein Redemanuskript gebeten – er hatte es mir lächelnd ausgehändigt.

Wenige Tage nach der Verleihung der Goldenen Victoria reiste Wulff mit Gattin Bettina in die Türkei – unter freundlichem und lautem Applaus der BILD. Fotoposter auf Seite zwei, ausführlichst zitierten wir aus Wulffs Rede, die er als erstes deutsches Staatsoberhaupt in der türkischen Nationalversammlung in Ankara hielt und in der er sich vor allem um mehr Rechte für Christen in der Türkei einsetzte: »Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei.«

BILD berichtete unablässig über jeden Tag und jeden Termin, zeigte den Bundespräsidenten im Gespräch mit seinem türkischen Kollegen Abdullah Gül und die beiden Präsidentengattinnen, wie sie gemeinsam den Basar besuchten.

Wulff kam in BILD derart gut weg, dass wir dafür in einer 2012 erschienenen Studie der Otto-Brenner-Stiftung böse beschimpft wurden:

»BILD und Wulff – Ziemlich beste Partner« 15

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Auch wenn mich Wulff in seinem Buch später mit Bischof Tebartz-van Elst und Kardinal Meisner in einen Topf werfen und behaupten würde, ich hätte mich »genauso provoziert« gefühlt wie diese beiden Erzkatholiken, ist das im Lichte unserer Berichterstattung schlichtweg Quatsch. 16

Ganz im Gegenteil: Ich war seinerzeit bereits im Vorstand der Deutschlandstiftung Integration , die sich für die Chancengleichheit und Integration für Menschen mit Migrationshintergrund einsetzt. Kleines Schmankerl: Das ist ausgerechnet jene Stiftung, deren Vorsitzender Christian Wulff mittlerweile ist.

EIN ÜBLES GERÜCHT

Und damit kommen wir zu jenem Vieraugengespräch, das ich vorhin bereits kurz erwähnt habe.

Es ist das wahrscheinlich privateste Gespräch, das Christian Wulff und ich jemals geführt haben. Ich würde dieses Thema hier nicht anschneiden, wenn nicht Christian Wulff selbst anlässlich des zehnten Jahrestages der Mailbox-Affäre ausführlich darüber gesprochen hätte. Es ging um ein übles Gerücht, eine widerliche Falschbehauptung, um Rufmord – nämlich, dass seine Frau im Rotlichtmilieu gearbeitet haben sollte.

Bis heute ist unklar, woher dieses Gerücht stammt.

Es waberte hartnäckig durch die deutschen Redaktionen und belastete die Wulffs selbstverständlich schwer. Sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Sollte etwa ein deutscher Bundespräsident offiziell Stellung nehmen und dementieren? Doch wie dementiert man ein Gerücht? Das Dementi befördert das Raunen aus den Redaktionen in die Schlagzeilen – erst ein offizielles Statement schafft den Anlass zu berichten. Das, was eben noch im privatesten Bereich durch das Persönlichkeitsrecht geschützt wurde, darf nun in aller Öffentlichkeit ausgebreitet werden. Denken Sie nur an Gerhard Schröder und sein Haarfärbe-Dementi. Ist eine solche Geschichte einmal in der Welt, bleibt immer was zurück.

Die Wulffs saßen unverschuldet in der Falle. Mitte Dezember 2010 rief mich Christian Wulff spontan dazu an, wir sprachen über die vertrackte Situation. Er bat mich, noch am gleichen Tag zu einem vertraulichen Vieraugengespräch ins Bellevue zu kommen.

Unser Treffen fand in Wulffs Arbeitszimmer statt. Wir saßen an einem kleinen runden Tisch, serviert wurde Gemüsebrühe, dazu Wasser. Passte zum Anlass. 20 Minuten später betrat Bettina Wulff den Raum. Sie war aufgebracht und wütend, was nur allzu verständlich war. Es war für uns alle kein angenehmes Gespräch, das Thema war zu hässlich.

»Nicht Journalisten haben sich das ausgedacht, so ein Gerücht wird gezielt aus politischen Kreisen gestreut«, sagte ich den Wulffs. »Und natürlich wird dann recherchiert. Beim Stern, beim SPIEGEL, bei der FAZ und auch bei BILD. Ein Problem ist natürlich, dass sich niemand traut, Ihnen als Staatsoberhaupt diese detaillierten, intimen Fragen zu stellen.«

Ich war von der Absurdität und Boshaftigkeit der Gerüchte zutiefst überzeugt und wollte den Wulffs wirklich helfen.

»Okay, ich schlage jetzt folgendes Prozedere vor: Wir machen eine Liste mit all den unangenehmen Fragen, die wir Ihnen schriftlich stellen – und die Sie uns vertraulich schriftlich beantworten.«

Wenn seine Antworten glaubwürdig seien, erläuterte ich Wulff meine Idee, könnte ich guten Gewissens das Thema als erledigt betrachten und die Recherchen bei BILD einstellen lassen. Und wenn BILD die Nachforschungen einstellte, würde der Flurfunk dafür sorgen, dass sie vermutlich auch in anderen Redaktionen nicht weiterverfolgt würden.

Wulff war einverstanden.

Ich frage Sie jetzt: Würde man mit jemandem ein derart vertrauensvolles Gespräch führen, von dem man sich verfolgt und belästigt fühlt und zu dem man Abstand wünscht?

Ich bat Martin Heidemanns, auf dessen Verschwiegenheit ich mich verlassen konnte, die relevanten Fragen zusammenzustellen. Diese übermittelten wir schon am nächsten Tag an Wulffs Sprecher:

1. Hat sich Bettina Wulff vor ihrer Beziehung zu Christian Wulff jemals im »Château am Schwanensee«, Ziegeleiweg 24 in Isernhagen aufgehalten?

2. Falls dies zutreffend ist: Was war der Grund für ihren Aufenthalt im »Château am Schwanensee«?

3. Ist Bettina Wulff im »Château am Schwanensee« einer Tätigkeit nachgegangen?

4. Falls dies zutrifft: Um welche Form der Tätigkeit handelte es sich?

© Daniel Biskup

Als ob nichts wäre: Mit Christian und Bettina Wulff bei Ein Herz für Kinder im Dezember 2010

© Daniel Biskup

»Dank für manch klugen Ratschlag«: Weihnachtskarte des Bundespräsidenten 2010

Ich möchte anmerken: Das Château am Schwanensee ist natürlich kein Restaurant, sondern ein bekanntes Hannoveraner Bordell.

Keine 24 Stunden später – die Wulffs haben in Schloss Bellevue unsere unverschämten Fragen auf dem Schreibtisch – trafen wir uns übrigens schon wieder, und zwar im Journalistenclub im 19. Stock des Axel Springer Verlags. Der Anlass: ein ganz harmloser. Die alljährliche Spendengala Ein Herz für Kinder von ZDF und BILD. Ehrengäste: Bettina und Christian Wulff. Auch das gehört zur brutalen Wirklichkeit von Politik und Journalismus in Berlin: Hinter verschlossenen Türen geht es hart und erbarmungslos zur Sache – auf offener Bühne wird freundlich gelächelt und so getan, als sei nichts gewesen. Und so plauderten die Wulffs und ich miteinander, als ob – genau – nichts gewesen wäre.

Ein Kurier brachte mir nur wenige Tage danach einen Briefumschlag aus dem Bellevue mit den Antworten des Bundespräsidenten. Sie waren kurz und bündig.

1. Antwort: Nie

2. – 4.: Entfällt

Also: Alles Unsinn, die Gerüchte entbehrten jeder Grundlage.

Bis heute habe ich nicht die geringsten Zweifel, dass die Antworten der Wahrheit entsprechen.

Wie angekündigt, sicherte ich dem Bundespräsidenten zu, dass BILD keine weiteren Recherchen anstellen und dies auch andere Medien wissen lassen würde. An dieser Stelle lege ich übrigens Wert auf die Feststellung: Das war kein Gefallen gegenüber dem Bundespräsidenten, sondern sauberes journalistisches Vorgehen.

Zum Weihnachtsfest 2010 erhielt ich eine handschriftliche Weihnachtskarte mit einem sehr schönen Foto des Präsidenten und der First Lady:

Lieber Herr Diekmann! Dank für manch klugen Ratschlag und herzlichen Gruß auch an Ihre Gattin. Ihr Christian Wulff

Als Gewinner auf Seite eins von BILD ging für Christian Wulff das Jahr schließlich zu Ende:

Bundespräsident Christian Wulff (51) ist 25 Wochen nach Amtsantritt so beliebt wie nie zuvor: 57 % der Deutschen halten ihn für ein gutes Staatsoberhaupt, Gegenkandidat Joachim Gauck lobt ihn in der WELT am SONNTAG und seine Weihnachtsansprache im TV erzielte Rekordquoten. BILD meint: Christian im Glück!

Und dann kam das Jahr 2011. Es sollte sein Schicksalsjahr werden.

VERABREDUNGEN BRECHEN, AUSRASTEN, BESCHWEREN – WULFFS UMGANG MIT DEN MEDIEN

Wann merkt man, dass sich ein Verhältnis abkühlt?

Bis heute fällt es mir schwer zu erklären, was genau zwischen Christian Wulff, BILD und mir in den folgenden Monaten passiert ist.

Natürlich ist es die freie Entscheidung eines Politikers, erst recht eines Bundespräsidenten, auf Distanz zu gehen. Wir sind ja nicht verheiratet. Das ist das eine.

Das andere ist, bewusst Verabredungen zu brechen und sich an gemachte Zusagen nicht gebunden zu fühlen. Das kommt im Alltagsgeschäft durchaus vor, aber Christian Wulff schien es darauf anzulegen, in dieser Disziplin Meister zu werden.

Und somit, im Nachhinein betrachtet, gab es dann doch eine Reihe von Anzeichen, die das heraufziehende Gewitter erahnen ließen.

So hatte uns Wulff zum Jahrestag seiner Wahl zum Bundespräsidenten für die Zeitung ein exklusives Bilanz-Interview zugesagt – und dies dann allerdings der ZEIT gegeben. Kann man natürlich so machen. Nur hätte ich mir gewünscht, rechtzeitig von seinem Sinneswandel zu erfahren. Niemand mag gern unvermittelt im Regen stehen.

Dann war da der 16. Oktober 2011, ein Sonntag: Ich war gerade aufgewacht und hörte im Deutschlandfunk die Meldung, dass Wulff in Afghanistan sei, um Präsident Hamid Karzai und den deutschen Truppen einen Überraschungsbesuch abzustatten. Ich rief irritiert in meiner Redaktion an: »Sagt mal, wer von uns ist denn mit an Bord der Präsidentenmaschine?«

Um zu erfahren: Niemand. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Denn auch hier gab es ganz klar eine andere Absprache.

Eigentlich hätte diese Reise nämlich schon früher stattfinden sollen. Aus Sicherheitsgründen laufen Vorbereitungen für Staatsbesuche in Kriegsgebiete wie Afghanistan unter höchster Geheimhaltung. Durch einen Zufall hatte BILD jedoch von der geplanten Reise erfahren und dem Bundespräsidialamt entsprechende Fragen gestellt. Inständig wurden wir gebeten, von einer Berichterstattung im Vorfeld abzusehen, um die Reise nicht zu gefährden. Daran hatten wir uns gehalten. Der SPIEGEL hingegen nicht. Er veröffentlichte die Reisepläne vorab. Das zwang das Bundespräsidialamt, die Reise zu verschieben – mit der Zusicherung an BILD, dass dann selbstverständlich einer unserer Redakteure an Bord der Präsidentenmaschine sein werde.

Und Wulff? Hatte das nun offenbar höchstpersönlich anders entschieden. Für mich war das eine komplett neue Erfahrung: Einen so rücksichtslosen Bruch einer Vereinbarung hatte ich im journalistischen Alltagsgeschäft bis zu diesem Moment noch nicht erlebt.

Mal weg von meiner persönlichen Enttäuschung, die nicht maßgeblich ist: Ein Bundespräsident spielt Champions League, nicht Bezirksliga. Da gelten klare Regeln: zuverlässige Kommunikation, transparentes Handeln, verbindliche Absprachen. Ganz objektiv betrachtet agierte Wulff unprofessionell und so gar nicht dem Amt entsprechend.

Seinen amateurhaften Umgang mit den Medien setzte Wulff nahtlos fort: Er tat, was er offensichtlich nicht lassen konnte – zum Telefonhörer greifen und sich beschweren.

So klingelte bei mir im Herbst 2011 das Telefon. BILD und BILD am SONNTAG hatten zwei Leserfotos von Bettina Wulff veröffentlicht, die sie mit ihrem Bruder in einer Hannoveraner Diskothek zeigten. Überschrift: Hier tanzt unsere First Lady im Zaza.

Dazu im Text: Bettina Wulff, die »ohne Extrawünsche, ohne Allüren, ein Gast wie alle anderen elegant mit ihrem Bruder zum Hit-Mix und den Chart-Krachern der Stadt« getanzt und fröhlich gefeiert habe. Am Ende wurde noch ein Nachtschwärmer mit den Worten zitiert: »Cool, wie normal sie geblieben ist.«

Eine einzige Eloge auf Bettina Wulff.

Und Wulff? Ihr Ehegatte? Schäumte. Wie BILD es wagen könne, derart in die Privatsphäre seiner Frau einzudringen, fuhr er mich am Telefon an. So eine Geschichte zu drucken, ohne ihn vorher zu fragen! Es sei ja gar kein Privatleben mehr möglich!

»Aber«, versuchte ich ihn runterzuholen, »selbstverständlich ist auch Ihre Frau eine Person der Zeitgeschichte. Und wenn eine First Lady, die Gattin des Bundespräsidenten, um Mitternacht in einer Disco tanzt, gibt es selbstverständlich ein öffentliches Interesse, gerade weil sie anders als die früheren First Ladys ist.«

Aber Wulff wollte sich nicht beruhigen. Ein Wort ergab das andere. Er wurde laut, ich wurde laut, am Ende brüllten wir uns an. War das derselbe Mann, der Journalisten in den Wald bestellte, um sein Glück mit seiner Bettina zu demonstrieren?

Wulff war es gelungen, dass ich gegen meine eigenen Regeln als Chefredakteur verstieß, die da lauteten: Nicht rennen, nicht schreien.

Ich erinnere mich höchst ungern an dieses Telefonat. Aber auch ein brüllender Bundespräsident am anderen Ende der Leitung war für mich ein Novum – und eine höchst bizarre Situation.

Was war eigentlich seit der Wahl zum Bundespräsidenten mit Christian Wulff passiert? Er war doch immer der sympathische, harmlose Schwiegersohn, der scheinbare Liebling der Presse. Und jetzt kam etwas Neues zum Vorschein. Das Amt hatte ihn verändert. Leider nicht zum Guten.

Ich erinnere mich an einen Abend nach einer Gala, als wir in kleinerer Runde zum Essen zusammensaßen: unter anderen Air-Berlin-Gründer Achim Hunold, der ein alter Freund von Christian Wulff war, Guido Westerwelle, dessen Partner Michael Mronz, Christian Wulff und ich. Es muss im Herbst 2010 gewesen sein, der konkrete Anlass ist mir entfallen. Irgendwann machte jemand einen Witz, alle lachten herzhaft. Nur Christian Wulff nicht. Der lachte mit Verzögerung. Da polterte Achim Hunold in seiner typischen sympathischen Rheinländer Art: »Jetzt hat’s auch der Christian kapiert!« Worauf Wulff entgegnete: »Wie redest du denn mit dem Bundespräsidenten?«

Wieder großes Gelächter, haha, was für eine coole Antwort!

Wulff lachte nicht. Er lächelte nicht einmal. Da wurde uns klar: Er meinte das wirklich so. Das war für mich ein Schlüsselmoment, der zeigte, wie er sich verändert, wie er die Bodenhaftung verloren hatte. An seiner eigenen Bedeutung erstickte. Diese offen zur Schau gestellte Humorlosigkeit enttarnte ihn als jemanden, der das Amt nicht verkörperte, sondern der es sich nur angezogen hatte wie einen zu großen Anzug. Und der nun Angst hatte, man würde merken, dass der ihm nicht passt.

Von sich selbst in der dritten Person zu sprechen als Bundespräsident und Staatsoberhaupt , sollte bei Wulff erst Masche werden, dann Macke.

Nur wenige Tage nach seinem Telefonanruf samt Ausraster wegen der Discofotos seiner Frau wurde Wulff in BILD mal wieder auf Seite eins als Gewinner gefeiert – und zwar für die Auszeichnung durch den Zentralrat der Juden für sein herausragendes, von aufrichtiger Empathie und von tiefer Verbundenheit mit der jüdischen Gemeinde getragenes Engagement. »BILD meint: Glückwunsch!«

Während also Wulff in BILD glänzte, hatte Martin Heidemanns mit seinem Team die Recherchen zum Hauskauf wieder aufgenommen, nachdem die Einsicht ins Grundbuch vom Gericht zunächst verwehrt, aber nun von der nächsthöheren Instanz doch gewährt worden war. Auch die Kollegen von Stern und SPIEGEL waren wieder unterwegs.

Mitte November 2011 war BILD-Redakteur Nikolaus Harbusch in Niedersachsen vor Ort, was auch im Schloss Bellevue nicht unbemerkt geblieben war. Am nächsten Tag schickte Wulff seinen Sprecher Olaf Glaeseker vor, der sich bei BILD über die Recherche beschwerte und von mir eine Entschuldigung beim Präsidenten verlangte.

Das lehnte ich natürlich ab: »Wie komme ich dazu?«

Glaesekers Tonfall war anzumerken, dass ihm der Anruf unangenehm war und er allein im Auftrag seines Chefs handelte. Wir ließen uns durch Wulffs Intervention nicht einschüchtern, und Heidemanns schickte am 28. November per E-Mail schließlich unseren Fragenkatalog an Glaeseker.

Sechs Tage später, am zweiten Adventssonntag, begegneten Wulff und ich uns – vorerst – das letzte Mal. Meine Frau Katja, unsere Kinder und ich waren bei Freunden, der Journalistin Inga Griese und ihrem Ehemann Peter Schwenkow, zum alljährlichen Adventsbrunch eingeladen. Auch die Wulffs waren da. Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, wie weit und detailliert Martin Heidemanns mit seinen Recherchen inzwischen schon war. Deshalb waren Katja und ich den Wulffs gegenüber auch ganz unbefangen und setzten uns mit ihnen zusammen. Er hockte mit angespannter Miene auf einem Sofa und beschäftigte sich mit seinem kleinen Sohn. Als meine Frau mit dem Handy herumfilmte und rief: »Und jetzt winkt mein Lieblingspräsident noch mal in die Kamera!«, knödelte Wulff missmutig: »Das wird dann wohl morgen bei BILD online erscheinen!«

Dann starrte er weiter vor sich hin. Ich konnte sein verkrampftes Verhalten gar nicht so recht einsortieren und führte es auf unser heftiges Telefonat vor sechs Wochen zurück.

EINE ENTSCHULDIGUNG

Bye-bye, New York. Während in Deutschland die Wulff-Geschichte seit dem frühen Morgen Schlagzeilen macht, fliege ich über Frankfurt zurück nach Berlin. Ununterbrochen Telefonate, E-Mails, SMS. Wie geht es weiter? Was passiert jetzt? Hat Wulff sich erklärt?

Nein, Wulff, noch unterwegs in der Golfregion, erklärt sich nicht. Noch im Flieger erhalte ich aus dem Büro von Mathias Döpfner per E-Mail eine erste Übersicht der Kommentare aus den Lokalzeitungen von morgen.

Nürnberger Nachrichten: »Das Staatsoberhaupt hat als moralische Instanz versagt.«

Emder Zeitung: »Wulff selber weist die Anschuldigungen zurück. Seiner Glaubwürdigkeit kommen die vielen aufkommenden Fragen in jedem Fall nicht zugute.«

Abendzeitung München: »Für das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, das eine moralische Instanz sein soll (eine Rolle, die Wulff bisher auch so ohnehin recht dünn ausgefüllt hat), verbietet sich jeder Hauch eines Anscheins.«

Schwarzwälder Bote: »Das Ideal der Bürger vom sauberen und anständigen Politiker hat damit jedenfalls weitere tiefe Risse bekommen. Und das ist so ziemlich ein Totalschaden, den das stille Wasser Wulff dem Amt des Bundespräsidenten zugefügt hat.«

Reutlinger Generalanzeiger: »Wulff hat instinktlos und falsch gehandelt.«

Döpfners kurzer trockener Kommentar dazu: »Verheerend.«

Als ich schließlich Mittwoch früh kurz vor 9 Uhr in Berlin-Tegel lande, liegt am Flughafen-Kiosk die BILD mit bereits der nächsten großen Wulff-Schlagzeile: Kredit-Affäre um Bundespräsident: Diese Frau gab Wulff 500.000 Euro.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt Herausgeber Frank Schirrmacher: Dieser Bundespräsident wird zukünftig schweigen müssen. Dass Christian Wulff nicht verstanden hat, dass es ausschließlich darauf ankommt, wie er mit der Affäre umgeht, also: wie er redet, ist bizarr. Die Frage, ob ihn der Freundesdienst abhängig machte, ist durch das Verschweigen im Landtag bereits beantwortet. 17

Auch heute keine wie von Wulff auf meiner Mailbox angekündigte Pressekonferenz, um »diese Methoden Ihrer Journalisten, des investigativen Journalismus«, die seiner Meinung nach nicht mehr akzeptabel seien, öffentlich zu machen, kein Strafantrag, keine Anwälte. Stattdessen empfängt er, mittlerweile zurück von seiner Golfreise, im Schloss Bellevue den tadschikischen Präsidenten. Und am Abend, als ob nichts sei, verleiht er den Deutschen Zukunftspreis an ein Forscherteam aus Dresden. Die riesige Traube anwesender Medienleute, die auf Antworten zu seiner Hausfinanzierung hoffen, geht leer aus. Wulff schweigt. Er scheint in einer Parallelwelt.

Donnerstag, 15. Dezember 2011.

Wie jeden Morgen treffe ich mich mit meinen Stellvertretern, den Ressortleitern und wichtigsten Redakteuren zur Redaktionskonferenz im 16. Stock des Axel-Springer-Hauses im sogenannten Glaskasten : Das ist der Konferenzraum vor meinem Büro, von allen Seiten einsehbar und mit fantastischem Blick über die Dächer von Berlin.

Um Punkt 10.30 Uhr haben sich hier rund 20 Kollegen versammelt, sie sitzen am langen Konferenztisch und auf den Fensterbänken. Ich nehme wie immer mittendrin Platz. Heute gibt es nur ein Thema: Wie gehen wir mit der Mailboxnachricht von Christian Wulff um? Sollen wir sie veröffentlichen oder nicht? Der Mailboxtext liegt in etlichen Exemplaren ausgedruckt auf den Tischen, jeder im Raum hat ihn gelesen. Die Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen ist empört über die Nachricht: »Das ist doch gar keine Frage – das müssen wir veröffentlichen!«

Andere wiederum finden sie gar nicht so schlimm: »Wo ist denn da die Drohung? Da kennen wir doch ganz anderes.«

Ich bin unentschlossen.

Meine Sorge ist, dass unsere erstklassige Rechercheleistung zur Hausfinanzierung überdeckt werden wird – und zwar von der Auseinandersetzung zwischen BILD-Chefredakteur und Bundespräsident.

Enge Terminlage: mein persönlicher Kalender vom 12. bis 18. Dezember 2011

Ich entscheide mich für einen ungewöhnlichen Schritt: Ich ziehe zwei sehr unterschiedliche Kollegen ins Vertrauen, Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT, und Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ. Streng vertraulich schicke ich ihnen den Mailboxtext mit der Frage: Veröffentlichen oder nicht? Schirrmacher sagt drucken, di Lorenzo rät ab.

Na super.

In der BILD-Chefredaktion ist die überwiegende Mehrheit dafür, die Nachricht zu veröffentlichen. Gegen 14.00 Uhr fällt die Entscheidung: Wir drucken.

Zurück in meinem Büro, erhalte ich um 15.39 Uhr eine SMS von Olaf Glaeseker: »Der Bundespräsident würde gern mit Ihnen sprechen. Ist dies ab 16.30 Uhr möglich?«

Natürlich. Welche Frage. Aber schon komisch, warum Wulff just jetzt den Wunsch verspürt, mit mir zu telefonieren. Drei lange Tage sind vergangen, seit er mir auf die Mailbox gewulfft hat. Und ausgerechnet jetzt?! Wo wir gerade eben in der Redaktion die Entscheidung getroffen hatten, die Mailboxnachricht zu veröffentlichen, da meldet er sich. Lässt um ein Gespräch bitten. Schon ein sehr seltsamer Zufall. Ich gehe davon aus, dass er eine Insider-Information aus der Redaktion bekommen hat.

Und so telefonieren wir. Christian Wulff gibt sich sehr förmlich und kurz angebunden. Aber: Er entschuldigt sich ausdrücklich für die Ansage auf der Mailbox.

Und ich?

Ich nehme seine Entschuldigung an. Und treffe die Entscheidung, die Mailboxnachricht doch nicht zu veröffentlichen.

Die Kollegen sind überwiegend fassungslos: »Wie kannst du so eine Entscheidung allein treffen! Gegen das Votum der Redaktion?« Und: »Du für dich persönlich kannst ja die Entschuldigung annehmen, Kai, aber doch nicht für die Marke BILD!«

Ich bleibe dabei. Die Mailboxnachricht wird nicht veröffentlicht.

Doch versuch mal, Zahnpasta wieder in die Tube zurückzukriegen, wie SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust später mal so schön diesen Moment auf den Punkt bringen wird. Auch wenn ich entschieden habe, Wulffs Entschuldigung anzunehmen und die Mailboxnachricht nicht zu veröffentlichen, kennen inzwischen mindestens 20 Kolleginnen und Kollegen den Text im Wortlaut. Ebenso Schirrmacher und di Lorenzo.

Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende …

DIE ENTHÜLLUNG

In den verbleibenden Tagen des Jahres ist Wulff tägliches Gesprächsthema, in Berichten, Kommentaren, Talkshows. Es wird kolportiert, dass sich der Bundespräsident auf dem Rückflug von seiner Reise in die Golfstaaten ziemlich hässlich über mich geäußert haben soll. Entsprechende Presseanfragen lässt Wulff dementieren und bestätigt lediglich, sich in einem Hintergrundgespräch kritisch mit der Berichterstattung auseinandergesetzt zu haben.

Wenige Tage vor Weihnachten passiert es – in der FAZ platziert Nils Minkmar eine erste Andeutung: In Journalistenkreisen erzähle man sich von Wulffs »umständlichen, gewundenen Mailboxansagen bei Medienchefs«. 18

Kurz darauf entlässt Wulff seinen Sprecher Glaeseker. 19 Den Vertrauten, von dem er immer sagte: »Wenn Sie diesen Mann nicht mehr in meiner Nähe sehen, müssen Sie sich Sorgen um mich machen.«

Überraschenderweise erhalte ich auch dieses Jahr eine wunderschöne Weihnachtskarte des Bundespräsidenten: Er mit Frau Bettina, deren Sohn aus erster Beziehung, seiner Tochter aus erster Ehe, dazu der kleine gemeinsame Sohn – allesamt lässig vor der geschmückten Tanne hockend. Es grüßt die moderne Patchwork-Familie aus Schloss Bellevue! Die Wulffs wünschen fröhliche Weihnachten und für das Jahr 2012 Gesundheit, Glück und Gottes Segen.

Ein persönlicher Gruß an mich und meine Familie – wie noch im letzten Jahr handschriftlich dazugefügt – bleibt aus.

Natürlich geht mir auch zwischen den Jahren der Fall Wulff nicht aus dem Kopf. Wie geht das hier weiter?

Mathias Döpfner und ich tauschen uns ununterbrochen aus.

Die Affäre ist eine demokratische Zäsur, wenn sie folgenlos bleibt, simst er mir. Deshalb ist jetzt jeder Schritt wichtig. Im Moment sind Ruhe und Pause jedenfalls richtig. Auch nicht zu lang und zu konsequent, denn das könnte als Kurswechsel gedeutet werden. Erstmal schweigen und mit voller Kraft recherchieren. Wann ist Heidemanns wieder da? Eigentlich ist es ein Grund, ihn aus dem Urlaub zu holen. Es ist die Geschichte seines Lebens. 20

»Wir recherchieren INTENSIVST!«, antworte ich wenige Minuten später. »Aber es ist einfach so: wenn Regierung UND Opposition entscheiden, dass er bleiben MUSS, dann sind wir bei Stolpe«, tippe ich in meinen Blackberry. Dem damaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe waren vor etlichen Jahren umfassende Stasi-Kontakte nachgewiesen worden, die weder zu seinem Rücktritt noch zu seiner Abwahl geführt hatten – im Gegenteil: Je mehr wir Medien enthüllten, desto entschiedener hielten die Wähler im Osten zu ihm. Ich hatte Sorge, dass sich Geschichte wiederholt:

Und mehr als wir enthüllt haben, geht doch gar nicht, schreibe ich Mathias. Natürlich könnten wir jetzt eine Kampagne machen – aber dann hätten wir verloren. One thing is for sure: wenn er bleibt, ist er bis zum Schluss eine peinliche Nummer! Wenn W nur einen Funken Verantwortungsgefühl hätte, dürfte er das dem Amt nicht eine Sekunde länger zumuten. Anders übrigens das Publikum: da gibt es viele, die bereits von einer Medienkampagne reden …

Am letzten Tag des Jahres sitze ich mit Freunden im Café Heider in Potsdam, als mich eine Nachricht von Frank Schirrmacher erreicht:

» Hast Du FAS gesehen? Zitiert Mailbox. In dem Zusammenhang vernichtend.« Erstmals werde sehr konkret über Wulffs Anruf bei mir berichtet – und zwar mit einer ganzen Reihe von wörtlichen Zitaten.

»Gesehen? FAS zitiert lang und breit aus Handynachricht Wulff, hast Du das Kohler erlaubt?«, erkundigt sich am frühen Abend auch BILD-Politik-Chef Nikolaus Blome per SMS. »Oder hat der auf eigene Faust …? Ansonsten: guten Rutsch, Wulff-Geschichte ist noch nicht zu Ende …« 21

Tatsächlich habe ich zu keinem Zeitpunkt mit FAZ-Herausgeber Berthold Kohler über die Wulff-Mailbox gesprochen, geschweige denn wörtliche Zitate geliefert. Die Veröffentlichung kommt – wie soll ich sagen? – wie Kai aus der Kiste. Ich bin not amused. Zu diesem Zeitpunkt habe ich allerdings noch keinen Schimmer, was für eine Lawine das werden wird.

Auch Mathias Döpfner ist wenig begeistert von der FAS-Enthüllung:

»Ich weiß nicht, ob das gut ist, denn es hätte, wenn, ein großer Paukenschlag werden müssen«, schreibt er mir Neujahr. »Nun aber müssen wir das Beste daraus machen.«

DER STURZ

Das neue Jahr beginnt mit einem schweren Sturz. Aber nicht mit dem von Wulff, sondern mit meinem. Ich bin mit Katja, unseren vier Kindern und Freunden für drei Tage zum Skifahren in Obertauern. Eigentlich bin ich immer einer der Ersten auf der Skipiste, an diesem Morgen aber bin ich sehr spät dran. Es ist schon 11 Uhr, und ich hänge immer noch am Telefon. Und das hat mit der FAS-Enthüllung zu tun. Die Lawine rollt. Die Süddeutsche macht mit der Schlagzeile auf:

»Wulff drohte BILD-Journalisten mit Strafanzeige«.

Schon vor 8 Uhr hat sich die Pressesprecherin von Axel Springer, Edda Fels, mit einer Alarm-E-Mail bei mir gemeldet: Die Agenturen würden gerade heißlaufen mit der Schlagzeile »Wulff versuchte Berichterstattung mit Anruf bei BILD-Chefredakteur zu verhindern«. Sie bittet um eine Sprachregelung bei Nachfragen und schlägt mir schriftlich zwei Varianten vor:

1) Kein Kommentar

2) Der BP sollte selbst über seine Anrufe Auskunft geben (was einer indirekten Bestätigung des Vorgangs gleichkommt)

Ich entscheide mich für Nummer 2.

Im ARD-Frühstücksfernsehen sagt Moderator Werner Sonne, man erwarte jetzt mit Spannung eine Erklärung von BILD, warum wir nicht früher über den Wulff-Anruf berichtet hätten und wie die Informationen ausgerechnet jetzt an die FAS gelangt seien. Das war ja meine Sorge von Anfang an, dass der Mailboxanruf wichtiger würde als unsere Geschichte zum Hauskauf. BILD-Politikchef Nikolaus Blome erhält von mir den Auftrag, einen Text in eigener Sache zu schreiben:

Richtig ist, dass BILD dem Bundespräsidenten vor der Veröffentlichung der Recherchen zu seinem umstrittenen privaten Hauskredit Gelegenheit zu einer ausführlichen Stellungnahme gegeben hat. Eine solche Stellungnahme hatte der Bundespräsident am Montag, dem 12. Dezember, zunächst abgeben lassen, dann aber kurz vor Redaktionsschluss wieder zurückgezogen. Im Anschluss daran versuchte der Bundespräsident, BILD-Chefredakteur Kai Diekmann, der sich zu der Zeit auf einer Dienstreise befand, direkt zu erreichen. Als das nicht gelang, hinterließ der Bundespräsident eine längere Nachricht auf dem Handy-Anrufbeantworter des Chefredakteurs.

Blome warnt mich anschließend: Wenn wir sagen, dass wir über die Mailbox auch deshalb nicht berichtet haben, weil sie nicht im Zentrum der eigentlichen Affären-Geschichte lag, dann schneiden wir uns von künftiger Berichterstattung rund um die Mailbox und Wulffs Medien-Verständnis ab. Letzteres könnte aber durchaus das Thema der Woche werden . 22

Jan-Eric Peters, Chefredakteur der WELT, berichtet mir, mit Wulff eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht zu haben:

Im Zusammenhang mit einer Recherche ist ein Autor von uns ins Schloss Bellevue gebeten worden, wo der Bundespräsident persönlich mit unangenehmen und öffentlichkeitswirksamen Konsequenzen im Falle einer Veröffentlichung gedroht hat. Den Artikel haben wir natürlich trotzdem veröffentlicht. 23

Einer meiner Vorgänger, Peter Bartels, der mich Jahre später wegen meiner Haltung in der Flüchtlingsfrage abgrundtief zu hassen begann, schreibt: Du wirst Dich wahrscheinlich fühlen wie Scipio, nachdem er auf Befehl des Senats 146 v.Ch. das herrliche Karthago in Schutt und Asche gelegt hatte – er weinte! Nur – um Wulff muss keiner eine Träne vergießen – er war/ist eine! Ich verneige mich vor Dir und Deinem Team – Du hast das Haus, unseren Beruf geadelt! 24

Während ich also Richtung Berg eile, rufen ununterbrochen Kollegen anderer Medien an, schicken E-Mails oder SMS. Alle wollen Details zu Wulffs Nachricht auf meiner Mailbox. Um alles elegant unter einen Hut zu bringen – so schnell wie möglich auf Skiern stehen und gleichzeitig für Kollegen und Redaktion erreichbar sein –, quetsche ich meinen Blackberry zwischen Ohr und Helm. Verzichte auf das übliche Einstellen und Nachjustieren der Skier und stürze gleich eine schwarze Piste hinunter. Im wahrsten Sinne des Wortes. Schon in der ersten Kurve reißt es mich um, mein linkes Knie schmerzt wie Hölle. Irgendwie schaffe ich es nach unten. Ich diagnostiziere mir selbst eine Verstauchung, die ich durch eine Runde Kampfsaunen zu kurieren hoffe.

Am nächsten Morgen ist mein Knie groß wie ein Kindskopf.

Der Arzt im Ort mit dem bezeichnenden Namen Dr. Aufmesser fackelt nicht lange. Sofort operieren. Ich rufe meine schwer begeisterte Frau an und bitte sie, mir meine Zahnbürste zu bringen. Bereits auf dem OP-Tisch mit Kanüle im Arm informiere ich mein Büro. »Ich bin jetzt zwei Stunden nicht erreichbar!« Dann wirkt schon das Narkosemittel.

Als ich wieder aufwache, quillt mein Blackberry von eingehenden E-Mail-Nachrichten und SMS über. Von allen Seiten werde ich gebeten, eine Kopie der Aufzeichnung der Mailboxnachricht zur Verfügung zu stellen.

CDU-Politiker Elmar Brok, eines der langjährigsten Mitglieder des Europäischen Parlaments und als Bielefelder mir besonders verbunden, schreibt besorgt: »Gibt es noch eine Brücke für Wulff? Ich würde ihn dazu bringen, sie zu beschreiten. Melde Dich bitte.« 25

Was ich umgehend tue: »Die einzige Brücke, die ich für ihn noch sehe, ist die in den Ruhestand!«, antworte ich. »Alles andere macht das Amt des Bundespräsidenten für alle Zeiten lächerlich! Und das ist dann das kollektive Versagen der politischen Klasse!!! Auf Deutsch: Das geht dann auf Eure Kappe!« 26

Natürlich wird auch Unsinn verbreitet. Das Magazin Cicero meldet, Wulff habe Verlegerin Friede Springer angerufen, eine reine Erfindung. »Solche Falschmeldungen sind total kontraproduktiv!«, simst mir Mathias Döpfner und ist zu Recht besorgt. »Außerdem werden Gerüchte gestreut, wir hätten in dem Fragenkatalog nicht nach dem Kredit, sondern nach Bettina gefragt. Und deshalb sei er explodiert!!!!« 27

Stefan Aust, Chef von N24, hält es »im Interesse der Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit für geboten, vollständige Transparenz über den Vorfall herzustellen. Deshalb bitte ich Dich, dem Nachrichtensender N24 eine Kopie der Mailbox-Tonaufzeichnung des Anrufs von Bundespräsident Christian Wulff zur Verfügung zu stellen und uns die Veröffentlichung des Mitschnitts zu erlauben. Der guten Form halber würden wir das Bundespräsidialamt anschließend darüber informieren und ebenfalls um Erlaubnis bitten, die Aufzeichnung zu veröffentlichen.« 28 Ich lehne ab.

Hinzu kommen Talkshow-Einladungen von Jauch, Plasberg, Illner – der Medienzirkus stellt sich auf.

»Mach Jauch«, empfiehlt Döpfner.

Nicht mein Ding. Bin ich nicht gut drin. Meine Branche ist voll von Menschen, die sich gerne im TV sehen – ich gehöre definitiv nicht dazu. Ich bin einfach nicht für Talkshows gemacht, und in meinen 16 Jahren als BILD-Chef auch in keiner einzigen gewesen. Erstens mag ich nicht die Rollenverteilung und Inszenierung der Gäste – good guy, bad guy. Außerdem sterbe ich 1000 Tode, mich selbst im Fernsehen sehen zu müssen. Zudem ist die Presseabteilung des Springer-Verlags der Meinung, dass ich in meinem lädierten Zustand nicht auf eine TV-Bühne gehöre. Also schicken wir Nikolaus Blome: »Der sieht auch viel besser aus als ich«, ist ab sofort mein Standardkommentar.

WIE MAN SICH UM KOPF UND KRAGEN REDET

Unterdessen ist im Schloss Bellevue offenbar die Entscheidung gefallen, in die Offensive zu gehen. Während ich am Mittwochabend auf Krücken humpelnd von Salzburg zurück nach Berlin fliege, stellt sich Wulff in einer gemeinsamen Sendung von ARD und ZDF 20 Minuten lang den Fragen von Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf. 29

Ggf. müssen wir auf das Interview mit Wulff heute ganz schnell reagieren, warnt Döpfner per SMS. Sprich Du mit Fels, damit alles bereit ist. Es kann ja sein, dass er eine Lüge in die Welt setzt. Je nachdem, wie er auf die Mailbox eingeht, muss man O-Ton ins Netz stellen. Alles nur Vorsichtsmaßnahmen. 30

11,5 Millionen Menschen schauen zu, wie Wulff behauptet, auf meiner Mailbox keine Drohung hinterlassen zu haben. Er redet sich in dem vorher aufgezeichneten Interview um Kopf und Kragen.

»Er ist ein LUEGNER«, simst mir FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. 31 Außerdem heizt Wulff von sich aus erneut die Gerüchte um ein mögliches Vorleben seiner Frau an.

Deshalb wird im Nachgang zur Sendung munter spekuliert: dass es bei Wulffs wütendem Anruf gar nicht um den Hauskredit gegangen sei, sondern darum, eine Berichterstattung über Bettina Wulff zu verhindern. Dass BILD deshalb auch kein Interesse habe, den Mitschnitt der Mailbox zu veröffentlichen. Denn wir würden über brisante Informationen verfügen, die bisher nur auf Weisung von ganz oben und aus Respekt vor dem Amt des Bundespräsidenten nicht gedruckt worden seien. 32 Dumme und irreführende Spekulationen, genau wie Mathias Döpfner sie befürchtet hat.

Manche Medien scheinen geradezu besessen von Bettina Wulff, die einen gefährlichen Glamour verströme und auch noch ein Tattoo am Oberarm trage.

Es ist unterirdisch.

Bettina Wulff tut mir in diesem Augenblick furchtbar leid.

Döpfner findet diese Entwicklung brandgefährlich. Durch diese Art von Berichterstattung könne Wulff das gesamte Thema gegen die Medien drehen: »Gut, dass BILD da so sauber war, was die Berichterstattung über Bettina Wulff angeht.« 33

Einmal mehr bin ich heilfroh, dass sich BILD zu keinem Zeitpunkt mit auch nur einer Silbe an den haltlosen Spekulationen über das angebliche Vorleben der Präsidentengattin beteiligt hat.

Eigentlich gehöre ich nach meinem Skiurlaub zu Hause auf die Couch. Stattdessen verbringe ich die nächsten Tage von morgens bis abends in meinem Büro. Kreuzbandriss und die OP sind doch nicht so einfach wegzustecken, wie ich mir das vorgestellt habe. Das Bein hochgelegt, eingeschnallt in eine automatische Bewegungsschiene, verbringe ich meine Tage auf dem Bürosofa. Meine Büroleiterin Christina Afting, promovierte Biologin, versorgt mich zwischendurch mit Thrombosespritzen.

Mich beschäftigt nur das Thema Wulff.

Der TV-Auftritt des Präsidenten bleibt in allen Medien DAS große Thema.

EIN AUFSCHLUSSREICHER BRIEFWECHSEL

Leider ist genau das eingetreten, was mir Sorge gemacht hat: Kaum einer spricht noch über den Hauskredit, alles dreht sich nur noch um den Anruf auf meiner Mailbox. Was genau hat der Bundespräsident gesagt, wie hat er es gesagt, hat er gedroht oder hat er nicht gedroht?

Ich lese jedes Wort, das aus den Agenturen kommt und in den Zeitungen steht. Vor allem Wulffs Behauptung, er habe nicht gedroht, sondern nur um Aufschub gebeten, sorgt für Aufsehen.

Er hat natürlich ein Problem: Ich kenne seinen Anruf im Wortlaut. Die Nachricht liegt abgetippt vor. Er selbst hat nur seine Erinnerung.

Ich überlege, was zu tun ist. Und komme zu dem Schluss, meine zuletzt getroffene Entscheidung zu revidieren. Um alle Spekulationen zu stoppen, müssen wir die Mailboxnachricht veröffentlichen.

Noch am selben Tag schreibe ich deshalb einen Brief an den Präsidenten, von dem Staatssekretär Hagebölling eine Kopie erhält:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

mit Verwunderung haben wir gestern Ihre Aussage im Fernsehen zur Kenntnis genommen, bei Ihrem Anruf auf meiner Mailbox sei es nicht darum gegangen, Berichterstattung zu Ihrem Hauskredit zu verhindern, sondern diese lediglich um einen Tag zu verschieben.

Um Missverständnisse darüber auszuräumen, würden wir es nun für notwendig halten, den Wortlaut seiner Nachricht zu veröffentlichen und bitten im Sinne der von ihm selbst angesprochenen Transparenz um sein Einverständnis. Ich erinnere ihn daran, dass wir seiner Bitte um Aufschub des Artikels bereits einmal entsprochen hatten, »nachdem wir Ihnen unseren Fragenkatalog bezüglich des Haus-Kredites am 11. Dezember 2011 übermittelt hatten (siehe Anlage)«.

»Schwerer Fehler«: erste Seite eines Briefes von Bundespräsident Wulff am 5. Januar 2012

Nach diesem Aufschub hätten wir von seinem Sprecher Olaf Glaeseker am Montag, den 12. Dezember 2011 schriftlich die Antworten auf die von uns gestellten Fragen erhalten.

Zu unserer Überraschung wurden die Antworten kurz vor Redaktionsschluss von Ihrer Seite zurückgezogen. Dann erfolgte Ihr Anruf auf meiner Mailbox.

Mit freundlichen Grüßen

Kai Diekmann

Wenige Stunden später gibt ein Kurier des Bundespräsidenten ein Kuvert am Empfang des Axel Springer Verlags ab.

Sehr geehrter Herr Diekmann,

meine Nachricht vom 12. Dezember 2011 auf Ihrer Telefon-Mailbox war ein schwerer Fehler und mit meinem Amtsverständnis nicht zu vereinbaren, schreibt der Bundespräsident. Das habe ich gestern auch öffentlich klargestellt. Die in einer außergewöhnlich emotionalen Situation gesprochenen Worte waren ausschließlich für Sie und für sonst niemanden bestimmt. Ich habe mich Ihnen gegenüber kurz darauf persönlich entschuldigt. Sie haben diese Entschuldigung dankenswerterweise angenommen.

Damit war die Sache zwischen uns erledigt. Dabei sollte es aus meiner Sicht bleiben. Es erstaunt mich, dass Teile meiner Nachricht auf Ihrer Mailbox nach unserem klärenden Telefongespräch über andere Presseorgane den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben. Es stellen sich grundsätzliche Fragen zur Vertraulichkeit von Telefonaten und Gesprächen. Hier haben die Medien ihre eigene Verantwortung wahrzunehmen.

Ich lese die Zeilen mit Erstaunen. Wir haben weder ein vertrauliches Telefonat noch ein Gespräch geführt. Die Aktion war eine einseitige, mit deutlichen Drohungen gespickte Ansage auf meiner Mailbox mit dem Ziel, eine Berichterstattung zu verhindern. Ich denke, je öfter Wulff seine eigene Mär wiederholt, desto mehr glaubt er dran. Wulff schreibt weiter:

Es gab für mich keinen ersichtlichen Grund, warum die BILD-Zeitung nicht noch einen Tag warten konnte, wo die erfragten Vorgänge schon Jahre, zum Teil Jahrzehnte zurückliegen. Das habe ich nach meiner Erinnerung auf der Mailbox-Nachricht trotz meiner emotionalen Erregung auch zum Ausdruck gebracht.

Ich kann mir nicht helfen. Der Bundespräsident muss in einer Parallelwelt leben. Es geht doch gar nicht darum, wann es geschehen ist, sondern dass es geschehen ist. Dass der Verdacht besteht, dass er etwas vertuschen will. Und er weiß, dass dieser Brief hier an mich diesen Verdacht nicht ausräumen wird, im Gegenteil – sonst könnte er der Veröffentlichung der Mailboxnachricht ja problemlos zustimmen.

Mal wieder müssen wir uns in dieser Sache öffentlich erklären und schicken als BILD-Chefredaktion eine Stellungnahme zur Entscheidung des Präsidenten an die Nachrichtenagenturen:

Damit können die im Zusammenhang mit dem Fernseh-Interview des Bundespräsidenten entstandenen Unstimmigkeiten, was das Ziel seines Anrufes angeht, nicht im Sinne der von ihm versprochenen Transparenz aufgeklärt werden .

Gleichzeitig schicke ich eine Abschrift der Mailboxnachricht an Wulffs Staatssekretär Hagebölling.

Nach zahlreichen Forderungen, den Wortlaut der Mailboxnachricht des Bundespräsidenten zu veröffentlichen, hat die BILD-Chefredaktion heute noch einmal mitgeteilt, dies nicht ohne das Einverständnis des Bundespräsidenten zu tun, schreibe ich ihm. Zugleich möchte ich Ihnen und dem Bundespräsidenten als Anlage eine Abschrift des Wortlauts der Nachricht auf meiner Handy-Mailbox zur Verfügung stellen. Dies, weil wir im TV-Interview des Bundespräsidenten zur Kenntnis genommen haben, dass er sich bei seinen Äußerungen allein auf seine Erinnerung stützt. Mit freundlichen Grüßen

Kai Diekmann

WULFF GEGEN DIEKMANN

Es war niemals meine Absicht. Doch immer mehr entwickelt sich die Auseinandersetzung zu einem Machtkampf zwischen Schloss Bellevue und BILD-Zeitung, zwischen Präsident und BILD-Chefredakteur, zwischen Wulff und Diekmann. Und natürlich stürzen sich alle auf dieses Duell. Die Lektüre der Zeitungen macht mir in diesen Tagen nicht wirklich Freude.

Dass Diekmann sich zum Stauffenberg der Pressefreiheit hochjuxt, ist bereits sein Sieg und Wulff sein nützlicher Depp , schreibt Friedrich Küppersbusch, der wie alle Links-Intellektuellen BILD natürlich verachten muss, in der taz. 34

Es ist nicht besonders seriös, wenn BILD-Chefredakteur Kai Diekmann über viele Jahre vertrauliche Gespräche mit einem Politiker pflegt und diesen dann plötzlich vorführt und öffentlich bloßstellt. Man hat den Eindruck, BILD will ihn vernichten , 35 doziert Günter Wallraff, Ikone aller BILD-Gegner.

Anderswo riskieren Journalisten Leib und Leben, wenn sie sich mit den Mächtigen anlegen , empört sich Jan Fleischhauer im SPIEGEL, hierzulande gelten schon ein paar unfreundliche Worte auf der Mailbox als versuchte Nötigung, die sofort den Presserat auf den Plan ruft und zur Einsetzung des öffentlich-rechtlichen Fernsehgerichts führt . 36

Ex-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, der dauerhaft beleidigt ist, nachdem ich sein letztes Buch nicht für einen Vorabdruck in BILD haben wollte, ätzt: Das aktuelle Beispiel Diekmann vs. Wulff zeigt auch, was passiert, wenn jemand beginnt, größenwahnsinnig zu werden. Wer kontrolliert eigentlich einen Chefredakteur, der offensichtlich die Bodenhaftung verloren hat? 37

Ulrich Schulte von der taz kommentiert: Was Diekmann mit der BILD-Zeitung gerade macht, ist eine Grenzverletzung. Die Zeitung gibt ihre Beobachterfunktion weitgehend auf und verfolgt nur mehr das Ziel: Wulff soll zur Strecke gebracht werden. 38

Stefan Niggemeier, der mit seinem Blog über BILD eine großartige Bühne vor allem für sich selbst gezimmert hat, befindet: Wir haben in den vergangenen Wochen einiges Neues über den Charakter von Christian Wulff gelernt. Und nichts Neues über den Charakter der BILD-Zeitung . 39

Bisher haben wir sehr viel gewonnen, simst mir Mathias Döpfner besorgt. Ab heute können wir nur noch verlieren, es sei denn, wir weisen ihm kriminelles Verhalten nach. Deshalb keine Aktivität mehr von uns. Ruhe und hinter den Kulissen wie immer Recherche. Die Mailbox im O-Ton zeigt, was der Bundespräsident für Schiss vor BILD hat. Das ist für ihn peinlich, aber nährt die ganze Übermacht-Debatte über BILD. Die brauchen wir jetzt nicht. Wir wollen wegen mutiger Recherche und innerer Pressefreiheit gefeiert werden . 40

Und so wenig es mir gefällt, ich muss Döpfner recht geben.

Die öffentliche Diskussion verbeißt sich heillos in das Thema BILD gegen Wulff. Die Frage, ob Deutschland einen Präsidenten hat, der nicht die Wahrheit sagt, spielt kaum noch eine Rolle. In meiner Ratlosigkeit schreibe ich Richard von Weizsäcker, neben Roman Herzog zweifellos das angesehenste Staatsoberhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In der Hoffnung erhört zu werden, streichle ich seine Seele.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

es ist sicher kein Zufall, dass die Erinnerung an etliche, große, beachtete und beeindruckende BILD-Interviews mit Ihnen gerade in diesen Tagen in der Redaktion wieder lebendig werden.

Selten ist ein Verfassungsorgan so nachhaltig in die Kritik geraten, dass selbst ein international renommierter Verfassungsrechtler wie Dieter Grimm öffentlich die Frage referiert, ob das Amt überhaupt noch zeitgemäß ist. Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Ihre Stimme hat Gewicht und genießt über alle politischen Lager hinweg ein hohes Maß an Autorität. Ich würde mich freuen, wenn Sie uns die Gelegenheit zu einem großen BILD-Interview geben würden. Wo Sie aus Gründen der eigenen Betroffenheit Rücksichten nehmen müssen, akzeptieren wir dies natürlich.

Mit besten Grüßen

Kai Diekmann

Der Bundespräsident a.D. reagiert umgehend telefonisch. Und spricht, da ich nicht erreichbar bin – Ironie der Geschichte – auf meine Mailbox. Leider könne er gegenwärtig ein großes Interview schlecht machen, weil er all die gegenwärtig noch offenen Fragen, zu deren Offenlegung ich ja sehr wirkungsvoll beigetragen hätte und wofür man dankbar sei, nicht umgehen könne. Und zu diesen Fragen habe er bisher seine Stimme nicht erhoben und wolle sie jetzt vorläufig auch nicht erheben. Gute Wünsche!

Eine Woche nach Wulffs Rücktritt wird mich der 91-jährige Staatsmann in meinem Büro besuchen. Silbernes Haar, feine Züge, Gehstock – so sitzt er vor mir auf meiner schwarzen Ledercouch, meinen Blackberry in der Hand, und hört gleich mehrfach die Mailbox ab. Sagt kein einziges Wort, nur Kopfschütteln. Der Moment hat sich bei mir eingebrannt.

Während Weizsäcker sich nicht äußern mag, tut das in diesen Tagen der legendäre Journalist und ehemalige WDR-Intendant Friedrich Nowottny umso deutlicher – und überrascht mich mit seiner Haltung:

Der gegenwärtige Bundespräsident hat gar nicht begriffen, dass er Bundespräsident ist. Er glaubt immer noch, in Hannover zu sitzen, und schaltet und waltet, wie der Ministerpräsident von Hannover zu schalten gewohnt ist , sagt er in einem Interview auf Phoenix. 41

Die angebliche Medienkampagne, so Nowottny, der mit seinen 82 Jahren noch immer topfit ist, »entspricht dem Verhalten des Bundespräsidenten«. Er habe sich einfach nie umfassend erklärt, sondern den Medien immer Grund gegeben nachzulegen. BILD habe mit seinen Recherchen den SPIEGEL als Themensetter Nummer 1 abgelöst, was vielleicht am Chefredakteur und an der Redaktion liege: »Die BILD-Zeitung ist ziemlich schonungslos mit jemandem umgegangen, von dem man glaubte, er genieße ihren Schutz – er genießt ihn nicht.«

Zwei Tage später legt er noch mal nach und erklärt im Deutschlandfunk, BILD habe »sich von all den Banden gelöst, die ein Teil ihrer Geschichte ausgemacht haben. Sie steht wirklich haushoch an der Spitze der Medien und versucht, die Medienfreiheit zu sichern, so wie das Grundgesetz es befiehlt. Das finde ich einen bemerkenswerten Vorgang. Der Bundespräsident muss damit leben lernen.« 42

© Daniel Biskup

Kein einziges Wort, nur Kopfschütteln: Richard von Weizsäcker hört in meinem Büro die Mailboxansage von Christian Wulff

Wir bekommen Zuspruch zu unserer Berichterstattung aus Ecken, von denen ich es nie vermutet hätte.

Jakob Augstein, Verleger des eher linksverorteten Freitag, lobt: Die BILD-Zeitung erweitert ihr Repertoire. Sie kann jetzt auch seriös, wenn sie will. Es steht ihr frei, jederzeit vom populistischen ins politische Fach zu wechseln, vom boulevardesken ins investigative. Das macht die Zeitung noch gefährlicher . 43

Ehrlich gesagt, wusste ich das schon vorher. Aber mich freut, dass Augstein, der sich seit fast einem Jahr mit meinem Stellvertreter Nikolaus Blome jeden Freitag 15 Minuten lang sehr unterhaltsame Schlagabtäusche im TV liefert, das nun auch erkannt hat.

Von taz-Chefredakteurin Ines Pohl, mit der mich eine spannende Penis-Geschichte verbindet – ja, auf die komme ich später noch zu sprechen – und die die BILD-Berichterstattung über Wulff als quotenträchtige Hinrichtung beschreibt, erhalte ich eine Nachricht mit der Bitte um eine private Vorlesestunde der Mailboxabschrift – während mich ihre Redaktion jeden Tag aufs Neue mit seitenlangen Fragenkatalogen zur Auseinandersetzung mit Schloss Bellevue traktiert. Keine Frage ist abstrus genug:

»Hat der Bundespräsident Kai Diekmann Genesungswünsche nach der Knie-OP geschickt?« 44

Ich antworte den lieben Kollegen natürlich ausführlich – wenn auch nicht immer ganz ernst gemeint:

Ich bin gerade auf dem Weg nach Ludwigshafen zum Altkanzler und deshalb im Moment sehr eingespannt, weil ich jeden Tag von 10 bis 12 Uhr Termine habe. In den letzten Tagen war ich in Berlin-Mitte, Kreuzberg, Charlottenburg, Dahlem und Potsdam unterwegs und jetzt erreicht mich Ihre Anfrage. Ich bitte sehr um Vergebung, aber wenn der Artikel, den Sie planen, wirklich erscheinen sollte, werde ich meine tazPresso-Tassen zurückschicken und meine taz-Anteile dem AWD zur Weitervermarktung zur Verfügung stellen. Da das mir von Ihnen gestellte Zeitfenster denkbar knapp ist, bitte ich Sie ganz herzlich um einen Aufschub, bis ich Donnerstag wieder im Büro bin. Dann lade ich Sie auch gerne ein und wir können ausführlich über alles sprechen. Sie sollten sich aber bitte sehr genau überlegen, ob Sie das wirklich wollen. Das Verhältnis zwischen taz und BILD ist in der letzten Zeit von großer Harmonie geprägt. Sie riskieren gerade den Bruch zwischen unseren Häusern. Können Sie denn nicht akzeptieren, dass der wichtigste Journalist des Landes auch mal ein paar Tage unterwegs ist, um ein paar Freunde zu besuchen!? Da ich Sie nicht persönlich erreichen konnte und selbst auch keinen Empfang habe, bitte ich Sie höflichst, unseren Pressesprecher anzurufen. Wir sollten uns dann wirklich am Donnerstag zusammensetzen und darüber entscheiden, ob und wie wir in die Schlacht ziehen wollen. Ich entschuldige mich noch einmal sehr bei Ihnen für meinen Anruf. Das habe ich wirklich noch nie tun müssen, aber hier ist jetzt ein Punkt erreicht, wo für mich und meine Sekretärin wirklich die Aller überschritten ist.

Ihr

Kai Diekmann

Es bleibt in diesen Tagen natürlich nicht nur bei diesem einen Kriegsschauplatz Wulff versus Diekmann – es gesellen sich mitunter bizarre Nebenkriegsschauplätze dazu. Im Verlag ist die Aufregung groß, als Hape Kerkeling, einer der beliebtesten deutschen TV-Entertainer, der in weniger als vier Wochen die Verleihung der Goldenen Kamera des Springer-Verlags moderieren soll, auf seiner Facebook-Seite eine Attacke gegen BILD, Springer und mich persönlich reitet.

Ausgerechnet die Bild mutiert nun zum obersten Moralhüter und zum reinen Gewissen der Nation!?!? Armes, ganz armes Deutschland!, ereifert er sich. Was hat dieser arme Präsident eigentlich verbrochen? Er hat sich Geld geliehen, nicht etwa geklaut, veruntreut oder unterschlagen. Nein, geliehen!? … Und dann brüllt er auch noch einen großartigen, verdienten und gradlinigen Journalisten wie den Kai von der BILD am Telefon an und will ihm verbieten kritisch und aufrichtig zu berichten! Hallo????? Geht es noch? Das kann unser Präsident gar nicht verbieten und das weiß er auch denn er ist nämlich schon volljährig auch wenn die Medien uns glauben machen wollen, er sei es nicht … aber der Kai weiß das anscheinend nicht und heult sich bei seinen eigenen Redakteuren aus und berichtet tapfer gegen den Bundesdiktator Wulff an!!!

Wenn der Präsident unfehlbar sein müsse, »dann bleibt nur noch der Ratzinger und der kriegt sicher keinen Ärger mit dem Kai von der BILD seitdem die beiden ja nun Papst sind. Herr Präsident, bleiben Sie im Amt und vor allem bleiben Sie Mensch!« 45

Mathias Döpfner ist alarmiert: »Das ist eine Stinkbombe mit großem Potential. Wir sollten uns nicht provozieren lassen, sonst schmeißt Kerkeling noch die Goldene Kamera hin.«

Frank Schirrmacher, den ich um Rat bitte, empfiehlt: »Nicht mal ignorieren.«

Auch wenn die Attacke nahezu unbemerkt bleibt und die Goldene Kamera harmonisch über die Bühne geht, muss ich gestehen: Die wütenden Worte, ausgerechnet vom angeblich so friedlichen und sanftmütigen Hape Kerkeling, haben mich überrascht. Ich wusste gar nicht, dass er eine solche Krawallschachtel ist.

ÜBERQUERUNG DES RUBIKON

Die folgenden vier Wochen sind für Wulff eine Selbstdemontage auf Raten und für alle anderen eine einzige Quälerei.

Es werden Strafanzeigen gestellt, einige gegen mich wegen Nötigung und Erpressung, hunderte gegen Wulff wegen des Verdachts der Vorteilsnahme, Bestechlichkeit, Nötigung.

Was der Präsident mir in seiner Mailboxnachricht angekündigt hat, setzt er am 13. Februar in die Tat um: Er überschreitet den Rubikon. Besser: Er überfliegt ihn. Wulff und seine Frau sind in Begleitung von Journalisten auf dem Weg zum Staatsbesuch nach Italien. Der Rubikon ist ein kleiner Fluss nahe San Marino, auf dem Weg von Berlin nach Rom fliegt man über ihn hinweg. Im Jahr 49 v. Chr. hat ihn Caesar mit seinem Heer ebenfalls Richtung Rom überquert, was damals einer Kriegserklärung an den römischen Senat gleichkam. Doch während Wulff von der italienischen Regierung freundlich willkommen geheißen wird, bereitet ihm die deutsche Justiz nach seiner Rückkehr einen bitteren Empfang: Am 16. Februar 2012 beantragt die Staatsanwaltschaft Hannover bei Bundestagspräsident Norbert Lammert die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten. Am Vormittag des nächsten Tages tritt Christian Wulff nach 598 Tagen von seinem Amt zurück.

Nur wenige Tage danach erreicht mich ein wie üblich mit der Schreibmaschine zusammengehauener, aber stilsicherer Brief von Klaus Bölling. Der legendäre Regierungssprecher von Helmut Schmidt, der 2014 mit 86 Jahren gestorben ist, war einer der beeindruckendsten Menschen, die ich kenne. Seine Zeit als Regierungssprecher war geprägt von Anschlägen durch die RAF, durch Terror, Morde und Entführungen. Bölling war einfach ein feiner Mensch. Bei der Entführung der Landshut war er es, der den Kontakt zu den Entführern auf dem Flughafen von Mogadischu hielt und damit einen wesentlichen Beitrag leistete, dass damals alle Geiseln überlebten. Dieser Mann, für mich Inkarnation von Überlegtheit und Rationalität, ein Mann von größter Glaubwürdigkeit und mit Nerven wie Drahtseilen, schreibt mir:

Mir genügten die Worte dieses von Anfang an unzulänglichen Mannes auf Ihrem Band, und ich war mir sicher, dass er fallen müsse, nein, fallen werde. Die Republik kann nun leichter atmen. »Between you and me« – die vornehmen Wichtigtuer in Hamburg und der wendige Herr J. sollten nun mal in sich gehen .

Mit J. meint er Hans-Ulrich Jörges, der wenige Tage zuvor im Stern fantasiert hatte, ich hätte Christian Wulff gejagt, und alle seien mir und der BILD gefolgt. Nun leide die Republik unter einem Vertrauensverlust, was allein Schuld von BILD und ihrem Chefredakteur sei, nicht die Schuld von Wulff. Die Wulff-Affäre habe Deutschland in eine Medienrepublik verwandelt, die aber in Wahrheit eine BILD-Republik sei:

Niemals zuvor hat das Blatt die Medienlandschaft so virtuos nach seinen Vorstellungen gepflügt, geeggt und bepflanzt wie in diesem Fall.

Er schloss seinen Artikel mit dem Diktum, ich hätte verloren, weil Wulff im Amt bleiben werde und medial furios gesiegt habe. Und unkt: »Verfestigte sich die BILD-Republik, wäre sie, wäre die Politik generell entmachtet.« 46

Vier Tage später tritt der Präsident zurück.

EINE LETZTE BEGEGNUNG

Der Prozess um Wulff zieht sich bis Februar 2014 hin. Ich halte das Verfahren von Anfang an für falsch und schreibe das auch in einem BILD-Kommentar 47 :

JA! Der Rücktritt von Christian Wulff als Bundespräsident war richtig. Sein Umgang mit den Enthüllungen zu Hauskredit, Gratis-Urlauben und Mailbox wurde den Ansprüchen des Amtes nicht gerecht.

Wulff ist politisch an politisch zu bewertenden Affären gescheitert. Das Ermittlungsverfahren war nur noch ein Tropfen in ein Fass, das längst überlief.

JA! Auch das Ermittlungsverfahren gegen Christian Wulff war richtig. Vor dem Gesetz sind schließlich alle gleich – ob Müllmann oder Politiker.

NEIN! Der Prozess gegen Christian Wulff ist falsch. Nach umfassendsten Ermittlungen bleibt vom Vorwurf der Käuflichkeit ein Betrag von 719,40 Euro. Alles andere ist vom Tisch! Die Justiz hat politisch gedacht und gehandelt – sie hätte rein juristisch denken und das Verfahren irgendwann abblasen müssen.

Grund zu triumphieren, wie er es nach dem Freispruch am 27. Februar 2014 tat, hat Wulff jedoch nicht. Nach meinem Eindruck hat er bis zum heutigen Tage nicht begriffen – oder will es vielleicht aus Selbstschutz nicht begreifen –, dass dieser Freispruch nichts, aber auch gar nichts mit den Vorwürfen zu tun hat, die zum Verlust seiner Glaubwürdigkeit und letztendlich seines Amtes geführt haben. Sondern dass es immer nur um sein für einen Bundespräsidenten untragbares Verhalten ging. Die Schuhe eines Präsidenten waren einfach zwei Nummern zu groß für ihn.

Bis heute leugnet er genau diese Zusammenhänge und macht die Medien, BILD, mich dafür verantwortlich. Es gibt in seinem Narrativ nur einen Helden, der keine Schuld trägt – das ist er selbst. Er pocht darauf, er habe sich ja entschuldigt. Aber hätte er politischen Gegnern oder gar Parteifreunden ein Fehlverhalten, wie er es selbst an den Tag gelegt hat, durchgehen lassen?

Selbstverständlich nicht.

Dass »die politische Klasse« am Ende von Wulffs Amtszeit »in ein allgemeines Schweigen« zu seinem Fall verfiel, lag nicht daran, dass ihre Mitglieder Angst hatten, »selbst Opfer von Medien zu werden« und auch nicht aus Populismus, wie Wulff in seinem Buch mutmaßt. Ebenso bizarr mutet seine Verwunderung an, dass sich auch nach seinem Freispruch »unter den Politikern der ersten Reihe keiner fand, der seine Freude darüber zum Ausdruck brachte, dass der Rechtsstaat am Ende obsiegt hatte«. 48

Das lag schlichtweg daran, dass ihn kaum ein Politiker noch für tragbar hielt.

Als Mensch hatte Christian Wulff immer mein Mitgefühl. Das ist eine Situation, die man niemandem wünscht: mit der Familie, den Kindern, der Frau derart im Blitzlichtgewitter zu stehen. Auf der anderen Seite muss das ein Politiker auch aushalten, dafür hat er sich mit der Annahme seiner Wahl implizit entschieden. Und wer das höchste Staatsamt will, muss als Person auch höchsten Ansprüchen gerecht werden. Wenn man dann an diesen Ansprüchen scheitert, gilt es, sich den Konsequenzen zu stellen.

Wenn ich Christian Wulff in einem Bild beschreiben sollte, dann sehe ich in ihm den Zauberlehrling, der sich an seiner Macht über die Besen berauschte, bis sich die Besen gegen ihn kehrten und ihm das Leben zur Hölle machten.

Ich habe Christian Wulff nach seinem Rücktritt mehrfach ein Treffen, eine Aussprache vorgeschlagen. Zuletzt 2021, als der SWR zum zehnten Jahrestag der Mailboxnachricht eine Serie produzierte. Ich wurde vom Sender gefragt, ob ich die Mailbox als Tondokument zur Verfügung stellen würde. Ich machte das von einem gemeinsamen Gespräch mit Christian Wulff abhängig, denn ohne seine Zustimmung wollte ich meine nicht geben. Er lehnte ein gemeinsames Gespräch jedoch ab.

Es gibt ein Foto von uns, aufgenommen beim BILD-Sommerfest 2018. Wir stehen Rücken an Rücken, bemerken das aber beide nicht. Angesichts dieser ganzen Geschichte ist es ein verrücktes Foto. Sein Besuch des Sommerfests zeigt mir aber, dass Wulff offenbar seinen Frieden mit BILD gemacht hat – und wenn auch nur zum Teil.

Postskriptum:

Sehr geehrter Herr Diekmann,

die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bereitet für Frühjahr/ Sommer 2014 eine neue Wechselausstellung mit dem Arbeitstitel »Die Vierte Gewalt – Medien und Politik« vor. Die geplante Ausstellung stellt die politische Bedeutung der Medien in Deutschland in den Fokus, da sie ein sehr wichtiger Bestandteil der demokratischen Gesellschaft sind.

Eine große Bereicherung für unsere Ausstellung wäre die Mailboxnachricht von Herrn Christian Wulff an Sie. Diese Nachricht würde die versuchte Einflussnahme eines »Mächtigen« auf die Presse exzellent verdeutlichen. Deshalb heute meine herzliche Bitte an Sie, uns dieses Dokument der Zeitgeschichte und – falls noch vorhanden – das Mobiltelefon für Ausstellungszwecke im o.g. Kontext zur Verfügung zu stellen.

Mit besten Grüßen und guten Wünschen,

Ihr Walter Hütter

Aus einem Brief des Präsidenten des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Professor Dr. Hans Walter Hütter

© Daniel Biskup

Unbemerkt Rücken an Rücken: Mit Christian Wulff beim BILD-Sommerfest 2018