FÜNF
TÜRKISCH FÜR ANFÄNGER
Von Ertuğrul zu Erdoğan
© Ullstein Bild
Souvenir von Recep Tayyip Erdoğan, passend zu meinen Manschettenknöpfen mit Derwisch-Motiv: eine Krawatte, verziert mit klassischen türkischen Ornamenten
HÜRRIYET!
Das ist das türkische Wort für Freiheit .
Ich bin auf einer Gala am Bosporus, nippe an meinem türkischen Rotwein, einem wunderbaren Kayra Imperial Öküzgözü. Um mich herum Männer im Smoking, Frauen in langen Designerkleidern, an die 400 Gäste. Es wird ausgelassen geplaudert, gelacht, Cocktails getrunken, die Musik spielt laut. Eine coole moderne Party wie New York oder London es nicht lässiger hinbekämen. Ist aber eben Istanbul.
»The President is coming!«, raunt es plötzlich durch den Saal. Der Präsident kommt!
Und schon gerät alles um mich herum in Bewegung: Weinflaschen werden in Windeseile von den Tischen geräumt. Zeitgleich verstummt die Musik. Auch mein halb volles Glas Kayra Imperial, das eben noch vor mir auf der Festtafel stand, hat sich wie von Zauberhand in Luft aufgelöst.
Und dann zieht er ein mit großer Entourage: Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei. Breite Männer in dunklen Anzügen mit Knopf im Ohr bahnen ihm den Weg, wuselige Sekretäre folgen auf dem Fuß, eilfertig bemüht, bloß keinen Wunsch des Sultans , wie er in Istanbul genannt wird, zu überhören oder zu übersehen.
Als Kind verkaufte Erdoğ an einst Sesamkringel auf Istanbuls Straßen, jobbte nach der Schule als Straßenbahnfahrer und wurde gefeuert, weil er als gläubiger Muslim seinen Schnauzbart nicht abrasieren wollte. Jetzt herrscht er über 85 Millionen Türken, lässt seine politischen Gegner einsperren und hat die freie Presse mundtot gemacht.
Es ist auf einmal sehr still im Saal. Obgleich ich kein Türkisch spreche, merke ich, dass die Gespräche um mich herum plötzlich andere sind. Alles dreht sich ganz offensichtlich um den unerwarteten Besuch, der so nicht im Gala-Programmheft stand.
Erdoğ an nimmt am Ehrentisch Platz, neben ihm seine Frau, sie trägt Kopftuch. Ein Kopftuch, über das schon viel geschrieben wurde. Bereits als Schülerin trug Erdoğ ans Ehefrau den Hidschab , wurde deshalb nicht zum Studium zugelassen. Bis vor zehn Jahren wäre ein öffentlicher Kopftuch-Auftritt der First Lady an der Seite des Präsidenten nicht denkbar gewesen.
Die nächste halbe Stunde über werden Tee und Wasser gereicht, während Erdoğ an am Ehrentisch Hof hält. Und dann ist er auch schon wieder im Aufbruch. Kaum hat er den Saal verlassen, habe ich mein Glas Kayra Imperial Öküzgözü zurück vor der Nase. Musik setzt ein, es wird gelacht, geplaudert. Kurzum: Es ist wieder Party.
Eine Szene aus dem Jahr 2019.
© Daniel Biskup
Freunde fürs Leben: mit Ertuğrul Özkök 2004 vor der Redaktion von Hürriyet in Ankara
Kaum ein Kapitel ist mir beim Schreiben so schwergefallen wie dieses: Es geht um die Türkei, Pressefreiheit, das Schalten und Walten eines machtbesessenen Mannes, meine Liebe zu diesem wunderbaren Land. Und um eine riesengroße Freundschaft, die aus wirklich misslichen Umständen erwachsen ist. So sehr fühle ich mich der Türkei, ihren Menschen, unseren Freunden verbunden, dass unsere Tochter Yella im Alter von 15 Jahren ihr Auslandsjahr in Istanbul verbrachte. In einer Zeit, als der blutige Putschversuch und der furchtbare Terroranschlag auf dem Flughafen Atatürk noch nicht allzu lange zurücklagen.
Warum mir manches so schwergefallen ist beim Schreiben?
Weil dies auch die Geschichte von Enttäuschungen ist, von nicht erfüllten Hoffnungen, vom Scheitern.
Ich nehme Sie jetzt mal mit zurück ins Jahr 1998. Da bin ich noch alles andere als ein Türkei-Experte. Als WELT-am-SONNTAG-Autor soll ich Mesut Yılmaz interviewen, den damaligen türkischen Ministerpräsidenten. Das Land ist gerade durch eine mega Wirtschaftskrise gegangen. Das Schreckgespenst einer bevorstehenden Islamisierung geht um. Gerade erst ist Yılmaz’ Vorgänger Necmettin Erbakan vom Militär aus dem Amt gedrängt worden – der erste bekennende Islamist an der Spitze dieses Landes. Es ist meine erste Reise überhaupt in die Türkei. Es sollen noch viele Dutzend folgen.
Vom Interview mit Yılmaz ist mir nichts in Erinnerung geblieben, sehr wohl aber die sechs Tage, die ich anschließend noch in Ankara und Istanbul verbringe. Von Islamisierung scheinbar keine Spur: Junge Mädchen auf Plateauschuhen mit Handys am Ohr. Technopop aus den Lautsprecherboxen der Cafés, während im Hintergrund der Muezzin zum Gebet ruft. »Früher wurde die Musik abgestellt, solange der Muezzin rief. Auf diese Idee käme heute niemand mehr«, erklärt mir ein junger Türke, den ich auf der Straße anspreche.
Ich verabrede mich mit Ministern, Professoren, Publizisten – Kontakte, die mir allesamt Cem Özdemir vermittelt, damaliger Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen und Schwabe mit türkischen Wurzeln. Wir kennen und schätzen uns aus Bonner Zeiten. Auch meine Gesprächspartner beschwören den Eindruck einer modernen Türkei: »Wir sind Europäer. Wir gehören zum Westen. Wir haben der orientalischen Tradition entsagt!«
Trotz allem fällt meine Bilanz eine Woche später in der WELT am SONNTAG skeptisch aus:
Wohin geht die Türkei?
75 Jahre nach Gründung der Republik steht die Türkei am entscheidenden Wendepunkt ihrer Geschichte.
Es kommt nicht häufig vor, dass meine Assistentin eine türkische Zeitung nach ganz oben auf meinen Schreibtisch legt. Eigentlich kommt es nie vor. Und was auch nie vorkommt: dass die größte Tageszeitung der Türkei, Hürriyet, einen Artikel auf Deutsch veröffentlicht. So wie heute, an diesem 31. Mai 2004. Ich bin mittlerweile seit über drei Jahren Chefredakteur von BILD.
Ausgerechnet der bekannteste und einflussreichste Journalist der Türkei, Ertuğrul Özkök, Chefredakteur von Hürriyet, schreibt mir einen offenen Brief:
Dieses Schreiben richte ich an einen berühmten Kollegen als offenen Brief. Der Empfänger dieses Briefes ist der Chefredakteur der meistverkauften deutschen Zeitung, der BILD, Kai Diekmann. BILD veröffentlicht seit einer Woche Berichte über den türkischstämmigen Geschäftsmann Vural Öger.
Ich ahne, worum es geht. Öger, ein ziemlich bekannter Hamburger Unternehmer, hat bei einer ziemlich großen Veranstaltung einen ziemlich schrägen Witz gemacht: »Was die Türken vor Wien nicht geschafft haben, schafft jetzt das kleine Becken der türkischen Frau.« So seine sinngemäße Formulierung. Soll heißen: Ihr Deutschen seid gebärfaul – wir schlagen euch jetzt mit unserem Kinderreichtum.
Doof nur: Öger ist nicht nur sehr erfolgreicher Unternehmer, sondern kandidiert auch prominent für die SPD zum Europaparlament.
Ich ahne richtig.
Genau das ist das Thema des Hürriyet-Chefredakteurs, der mit seinem offenen Brief besagtem Öger zur Seite springen will. Tenor: Alles nur ein harmloser Scherz – warum macht BILD daraus gleich eine Kampagne gegen den armen Mann?
Ich lasse kurz die Zeitung sinken, das Wort Kampagne alarmiert mich. Wenn mir vom größten Blatt der Türkei eine Kampagne gegen einen deutsch-türkischen Vorzeige-Unternehmer vorgeworfen wird, ist das erst mal eines: brisant. In Deutschland leben rund drei Millionen Türken und Türkischstämmige, Berlin gilt als die größte türkische Stadt außerhalb der Türkei – da bekommt ein Kampagnenvorwurf schnell große Wucht.
Deshalb möchte ich von ganzem Herzen an meinen Freund Kai Diekmann appellieren , schreibt Özkök weiter in seinem offenen Brief: Vural Öger ist ein Türke. Doch seien Sie sicher, er ist ein genauso guter deutscher Staatsbürger. Wir Journalisten, denke ich, sollten einem Witz, der bei einem gemütlichen Abendessen gemacht wurde, nicht eine Bedeutung aufsatteln, die er nicht verdient hat. Die in Deutschland lebenden Türken wissen genau, bis wohin sie gehen können, wenn sie über andere Witze machen. Weil die Türken am eigenen Leibe erfahren haben, was diese Witze, die über sie in den Gesellschaften, in denen sie leben, erzählt werden, zu bedeuten haben.
Sorry, lieber Ertuğrul Özkök! Da bin ich anderer Meinung, denke ich. Öger ist offizieller Kandidat für das Europaparlament. Und geht es um Wahlkampf, ist für mich wurscht, ob der Kandidat aus Bayern oder von der Nordseeküste kommt oder türkische Wurzeln hat. Da hört meine Zeitung einfach sehr genau hin, was jemand so von sich gibt. Vor allem, wenn er sich eindeutig zweideutig äußert. Aber wo ich Özkök recht geben muss – und der Punkt trifft: Ein Türkenwitz ist etwas anderes als ein Ostfriesenwitz, und er wird auch mit einer anderen Absicht erzählt.
Nun bekomme ich jede Woche Hunderte von Beschwerden – von Verbänden, Politikern, Schauspielern, Lesern. Wir berichten wahlweise zu viel, zu wenig, zu oft, zu selten, grundsätzlich natürlich immer über die falschen Dinge. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Als BILD-Chefredakteur gehörst du zu den Menschen mit den meisten Strafanzeigen in Deutschland. In dieser Disziplin toppt dich eigentlich nur noch der jeweils amtierende Bundeskanzler. Nun kann eine Strafanzeige jeder stellen, mag sie noch so irrsinnig sein oder an den Haaren herbeigezogen. Daher hat sie erst mal null Bedeutung. Es gibt auch keine andere Zeitung, gegen die es mehr Beschwerden beim Deutschen Presserat hagelt als gegen BILD. Diese Beschwerden sind meistens genauso irrsinnig. Wegen der Schlagzeile Wir sind Papst hat sich zum Beispiel mal ein Lehrer an den Presserat gewandt. Begründung: Die Zeile sei grammatikalisch und inhaltlich falsch, weil ja nicht alle Deutschen Papst geworden seien. Oder unsere Schlagzeile Klinski, putzdi Polski! zum Fußball-Länderspiel Deutschland gegen Polen – da gab’s auch Eingaben, weil angeblich fremdenfeindlich.
Ist also nicht so, dass mir gleich vor Angst die Knie schlottern, nur weil mir jemand einen Kampagnen-Vorwurf macht.
Aber irgendetwas rührt dieser offene Brief in mir an. Die Feinfühligkeit der Gedanken? Die warme und höfliche Ansprache? Oder dass man sich in Istanbul die Mühe gemacht hat, den Text auf Deutsch zu publizieren, um sicherzustellen, dass ich die Botschaft auch verstehe?
Es wird eine Mischung aus diesem allen sein.
Deswegen widerstehe ich der Versuchung, einfach zur Tagesordnung überzugehen und zu sagen: Was schert mich eine Zeitung vom Bosporus?
Sehr geehrter Herr Özkök,
Sie haben in einem an mich gerichteten offenen Brief der BILD-Zeitung eine Kampagne gegen den Hamburger Unternehmer und Kandidaten der SPD für die Europa-Wahl, Vural Öger, vorgeworfen. Ich danke Ihnen für diese ehrlichen und besorgten Worte, doch muss Ihre Einschätzung auf einem Missverständnis beruhen.
Wir alle bei BILD schätzen Herrn Öger sehr. Er ist ein äußerst erfolgreicher Unternehmer, ein wunderbarer Mensch, ein treuer Hamburger und ein exzellenter Vermittler zwischen der Türkei und Deutschland.
Vural Öger ist aber nicht nur Unternehmer oder Privatmann. Er ist seit einiger Zeit auch Politiker. Als Politiker hat sein Wort doppeltes öffentliches Gewicht. Dies gilt umso mehr im Wahlkampf. Es ist Aufgabe der Medien, die Öffentlichkeit über solche Worte zu informieren – denn nur so können sich die Wähler ein Bild von denen machen, denen sie ihre Stimme geben wollen.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Äußerungen von Herrn Öger ironisch waren oder nicht. Unter uns gesagt bin ich ganz sicher: Sie waren es. Aber wir haben nicht die Aufgabe der Textinterpretation, sondern der Berichterstattung.
Demokratie ist eine seltsame Pflanze: Sie lebt von der Auseinandersetzung um den besseren Weg. Die öffentliche Debatte ist der beste Boden, auf dem sie gedeiht, und für den Humus der Öffentlichkeit sorgen die Medien. Nicht die Öffentlichkeit des Pro und Contra zu verhindern, sondern sie herzustellen, ist unsere Aufgabe – und genau das haben wir im Fall Öger getan.
Dass unsere objektive Berichterstattung über die Diskussion, die Herrn Ögers Bemerkungen auslösten, als »Kampagne« bezeichnet wird, trifft mich noch aus einem weiteren Grund: BILD hat sich immer vehement für die deutsch-türkische Freundschaft eingesetzt.
Daran wird BILD auch weiterhin festhalten. Die schönste Oper von Mozart entstand aus dem Kontakt des Abendlandes zur Türkei, die tiefsten Gedichte Goethes finden sich im West-Östlichen Diwan. Ich betrachte es als unsere Aufgabe, daran mitzuwirken, dass aus dieser fruchtbaren Freundschaft noch viel mehr entsteht.
Mit freundlichen Grüßen
Kai Diekmann
Da liegt sie vor mir auf dem Schreibtisch: Meine Antwort an den Chefredakteur, ebenfalls als offener Brief. Den wollen wir morgen in BILD veröffentlichen. Lange schaue ich aus dem Fenster in den wolkenverhangenen Frühsommerhimmel, so lange, dass da eigentlich schon Löcher sein müssten in der Scheibe.
Irgendwie fühlt sich das noch nicht perfekt an.
Ist das wirklich der richtige Weg?
Einen offenen Brief einfach nur mit einem offenen Brief beantworten?
Mir kommt eine Idee. Ich falte das Schreiben sorgfältig zusammen und stecke es in einen Umschlag.
Es ist Sonntag, der 6. Juni 2004, gegen 19 Uhr. Ich stehe im Park des Çırağan Palace Hotel Istanbul direkt am Ufer des mächtigen Bosporus. Vor mir glitzert das Wasser. Riesige Tankschiffe ziehen Richtung Marmarameer, kleine und große Fähren kreuzen munter zwischen europäischer und asiatischer Uferseite.
Um 19.01 Uhr macht eine Holzyacht am Steg fest: Auf dem Deck ein sportlicher Typ mit raspelkurzen weißen Haaren, in offenem Hemd und legerer Windjacke. Sollte er das komisch finden, dass ich hier am Wochenende im dunklen Anzug mit Krawatte stehe, so lässt er sich das nicht anmerken. »Hello Kai! I am Ertuğrul«, begrüßt er mich wie einen alten Freund. Sein Lachen und seine Lässigkeit sind ansteckend.
»Rufe doch mal bei Hürriyet in Istanbul an und frage, ob mich der Chefredakteur am kommenden Sonntag empfangen würde«, habe ich Havva, meine Assistentin, gebeten, nachdem ich vor zwei Tagen meine Antwort auf Ertuğrul Özköks offenen Brief formuliert und dann entschieden habe: Kein offener Brief in der Zeitung! Ich bringe meine Antwort persönlich nach Istanbul. »Er freut sich, dich zu sehen«, hatte Havva mir kurz darauf mitgeteilt. Sie ist übrigens in der Türkei geboren und aufgewachsen, spricht die Sprache perfekt.
»Haben die sich denn nicht über den Anruf gewundert?«, will ich neugierig wissen.
»Nein«, erklärt Havva trocken, »die haben nicht mal nachgefragt, warum du kommst.«
© Daniel Biskup
Erste gemeinsame Fahrt auf dem Bosporus: zum Kurzbesuch bei Ertuğrul Özkök im Sommer 2004
An Deck steht ein kleiner Tisch mit Tellern voller Oliven, Brot und türkischem Käse, dazu eine Karaffe Rotwein.
»Machen Sie Ferien, oder sind Sie geschäftlich hier?«, fragt Özkök höflich, während das Boot ablegt. Er mustert mich mit neugierigen Augen. Das ist mein Stichwort. Ich greife in meine Jacketttasche und ziehe feierlich den Umschlag mit meinem Brief heraus:
»Darum bin ich hier.«
Özkök nimmt den Umschlag entgegen, schaut mich fragend an.
»Meine Antwort auf Ihren offenen Brief«, erkläre ich. »Nur deshalb bin ich nach Istanbul gekommen. Um Ihnen persönlich diesen Brief zu übergeben. Morgen früh um 6 Uhr fliege ich zurück.«
Der Hürriyet-Chefredakteur schaut mich an, als hätte ich nicht alle Latten am Zaun. Ein paar Momente lang passiert nichts, dann lacht er schallend und hebt sein Glas: »Jetzt überraschen Sie mich wirklich. Willkommen in Istanbul!«
Nach einer halben Stunde Überfahrt legt das Boot wieder an. Am Ufer direkt am Wasser ist ein großer Tisch gedeckt: Es gibt gegrillten Fisch und Lammkoteletts, noch mehr fantastischen türkischen Rotwein, während am Horizont malerisch die Sonne versinkt. Mit uns am Tisch: Vuslat Doğan Sabancı und Hanzade Doğan, Töchter des mächtigen Hürriyet-Verlegers Aydın Doğan. Die eine, das weiß ich, führt als Vorstandsvorsitzende den Zeitungskonzern des Vaters, die andere hat Hepsiburada gegründet, die größte E-Commerce-Plattform der Region, die schnell zum »Amazon des Ostens« avanciert ist.
Wenig überraschend dreht sich unser Gespräch in Nullkommanichts um Politik. Wann wird die Türkei endlich in die EU aufgenommen? Das ist die Frage, die alle am meisten beschäftigt.
»Wenn Sie mich fragen, bin ich überzeugt, dass eine privilegierte Partnerschaft viel besser zur Türkei passt als eine Vollmitgliedschaft in der EU«, antworte ich gönnerhaft in die Runde. Und ich fürchte rückblickend: Ich glaube sogar den Mist, den ich in diesem Moment erzähle. Nun muss man wissen: Privilegierte Partnerschaft ist die Formulierung der Beitrittsgegner aus der EU, mit der der Türkei ein scheinbarer Orden umgehängt und die Nichtmitgliedschaft schöngeredet werden soll. Heute ist mir klar: Was für ein arroganter dämlicher Auftritt von mir. Wäre ich mein eigener Gast gewesen, ich hätte mich an die frische Luft gesetzt. Ich bin aber an diesem Abend noch längst nicht am Ende mit meiner Chefredakteurs-Überheblichkeit: »Erstens ist die Türkei ja nicht nur Istanbul und Ankara, sondern noch ganz viel Anatolien«, erkläre ich meinen höflich schweigenden Gastgebern. »Das dauert noch, bis die Türkei so weit ist, um europäische Standards erfüllen zu können. Und zweitens: Die EU selbst ist noch lange nicht reif für die Aufnahme eines so großen Landes wie der Türkei! Überhaupt: Wollen wir als EU wirklich Länder wie den Iran oder Irak als direkte Nachbarn an unseren Außengrenzen?«
Ich bemerke, wie mich Hanzade mit scharfem Blick fixiert: »Seit Jahren hält die Türkei für die NATO in einer der schwierigsten Ecken der Welt ihren Kopf hin!« Ihre Stimme ist empört, sie spricht schnell und laut: »Seit Jahren macht die EU der Türkei ohne Ende Versprechen, seit Jahren ist die sogenannte privilegierte Partnerschaft doch längst Wirklichkeit. Das ist nicht nur eine ungeheuerliche Diskriminierung – das ist dumm! Man kann uns aus Europa nicht ausschließen – wir gehören dazu!«
Hanzade ist jetzt richtig wütend. Es fehlt nicht viel, und sie springt auf von ihrem Stuhl. Vuslat und Ertuğrul machen keine Anstalten, sie zu bremsen. Ich bin perplex. Ich hatte ja keine Vorstellung davon, wie emotional aufgeladen dieses Thema ist.
Verunsichert mache ich mich am nächsten Morgen in aller Früh auf zum Atatürk-Airport. Den gestrigen Abend habe ich, der Höflichkeit meiner Gastgeber sei Dank, irgendwie zu Ende gekriegt. Doch langsam dämmert mir, wie arrogant und ignorant ich gewirkt haben muss. Definitiv war mir nicht klar, wie sehr das Thema EU-Beitritt in der Türkei mit Respekt und Ehre verknüpft ist.
Der handfeste Streit mit Hanzade erschüttert meine zementierten Überzeugungen: Haben wir aus Sicht der Türkei tatsächlich seit Jahrzehnten Versprechungen gemacht, die wir jetzt nicht einhalten? Bereiten wir mit unserer ablehnenden Haltung in Wahrheit den Acker für Tayyip Erdoğ an? Weil er dank uns behaupten kann: »Guckt mal, wie ich es euch immer gesagt habe! Das ist ein Christenclub, die wollen uns nicht haben!«?
Wäre es besser, die Türkei in die EU-Strukturen einzubinden und sie daran zu messen, wie sie sich entwickelt? Statt sie Jahr um Jahr warten zu lassen? Und Erdoğan damit die Möglichkeit zu nehmen, mit seinem Narrativ von Zurückweisung und Ablehnung an den Stolz seiner Landsleute zu appellieren?
Tenor: Wenn die uns nicht wollen, wollen wir die auch nicht!
Kurzum: Plötzlich weiß ich keine Antwort mehr auf die Frage, die ich vor 24 Stunden noch locker hätte beantworten können:
Machen wir Europäer gerade einen Riesenfehler?
Noch im Taxi auf dem Weg zum Flughafen klingelt mein Handy. Es ist Ertuğrul. »Uns hat die Diskussion mit Ihnen sehr viel Spaß gemacht, Kai«, sagt er. »Könnten Sie sich vorstellen, im Beirat von Hürriyet mitzuarbeiten?«
© Daniel Biskup
Brief von Vuslat Doğan Sabanci zu meinem Eintritt in den Beirat von Hürriyet. Meine Freundschaft zur Türkei sollte auf harte Proben gestellt werden.
An den Wänden prächtige Ölgemälde in schweren goldenen Rahmen, dazu Kristallkaraffen in goldenen Vitrinen, vor uns Gläser mit Goldrand auf goldenen Tischchen. Ein Setting wie in Tausendundeiner Nacht. Inmitten all dieser orientalischen Pracht haben BILD-Vize Jörg Quoos und ich auf mächtigen Brokatsesseln Platz genommen. Nur wenig Tageslicht dringt durch die dichten, bodentiefen Seidenvorhänge. Das lebensgroße Porträt von Republik-Gründer Kemal Atatürk, der sein Leben lang alles dafür getan hat, mit der orientalischen Tradition zu brechen, mutet in dieser Umgebung surreal an.
Vor uns sitzt Recep Tayyip Erdoğ an: Schnauzer, Seitenscheitel, Streifenkrawatte. Seit einem Jahr Ministerpräsident der Türkei. Und mit jeder Geste der mächtige Regierungschef eines mächtigen Landes.
Ertuğrul Özkök, mein neuer Freund, hat uns dieses Interview in Erdoğ ans Amtssitz vermittelt – die Çankaya-Villa, ein weißer Märchenpalast im Herzen von Ankara. Seit meinem denkwürdigen Dinner-Streit am Bosporus sind vier Wochen vergangen. Mich hat das Thema Türkei nicht mehr losgelassen. Ich will wissen, wie Erdoğ an tickt. Ist er wirklich der Wolf im Schafspelz? Der religiöse Fanatiker, der Islamist, der die Beitrittsverhandlungen zur EU missbraucht, um die eigene Macht im Land auszubauen? So jedenfalls zeichnen die Gegner des türkischen EU-Beitritts sehr erfolgreich das Bild des Ministerpräsidenten.
»Herr Ministerpräsident, ganz Europa diskutiert, ob die Türkei als erster islamischer Staat Mitglied der Europäischen Union werden kann«, eröffne ich das Gespräch 1 . »Sind Sie ein Europäer?« Erdoğ an verzieht keine Miene, lässt sich Zeit mit seiner Antwort. Und das nicht nur, weil der Dolmetscher erst übersetzen muss. Voller Bedacht sortiert er seine Antworten: »Zunächst ist die Türkei kein islamischer Staat, sondern ein demokratisches Land mit überwiegend muslimischen Bewohnern. Islamischer Staat könnte zu großen Missverständnissen führen. Ob ich ein Europäer bin – haben Sie da irgendwelche Zweifel?« Er lässt sich nicht provozieren.
Ich bleibe ihm die Antwort schuldig. »Warum ist der Beitritt zur EU so wichtig für die Türkei?«, will ich stattdessen wissen.
»Weil wir Europäer sind! Also gehören wir auch in die Gemeinschaft der europäischen Staaten«, erklärt Erdoğ an mit größter Selbstverständlichkeit.
»Und warum ist es für Europa wichtig, dass die Türkei EU-Mitglied wird?«, fragt Jörg Quoos nach.
»Für uns ist die Europäische Union schon längst viel mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der es wie früher um den Handel mit Stahl und Kohle geht«, erklärt Erdoğ an staatsmännisch: »Wir sehen die Union als echte Gemeinschaft der Kulturen, verschiedenster Organisationen und als politisches Bündnis. Die Türkei sollte ihren Platz darin haben.«
»Was aber ist immer wieder mit der Einmischung der Türkei in die deutsche Politik?«, spiele ich darauf an, dass Erdoğ ans Vorgänger die türkischstämmigen Deutschen einst aufforderte, Helmut Kohl nicht zu wählen, weil der als Kanzler gegen den EU-Beitritt der Türkei war. »Würden Sie diesen Aufruf wiederholen?«
»Nein«, beteuert Erdoğan. »Ich würde den Türken in Deutschland nie vorschreiben, was sie zu denken haben. Meine Landsleute in Europa werden selbst entscheiden, wen sie wählen.« So wie er das sagt, besonnen, ernst, gibt es keinen Grund, ihm nicht zu glauben.
»Was würde eine Ablehnung des EU-Beitritts für Ihr Volk bedeuten?«
»Daran will ich nicht einmal denken!« Erdoğ ans Antwort kommt prompt. Hier sitzt ein Mann, für den es völlig außer Frage steht, wo der Platz seines Landes ist – nämlich in Europa, in der EU.
»Aber es könnte passieren …«, interveniert Jörg Quoos.
»Diese Wahrscheinlichkeit tendiert gegen null«, gibt sich Erdoğ an zutiefst überzeugt: »Wenn eine solche Entscheidung tatsächlich gefällt würde, wäre es eine historische Fehleinschätzung und zutiefst ungerecht. Sowohl die türkische Regierung als auch das türkische Volk wären über einen solchen Beschluss bestürzt.«
»Aber wie soll das gehen, dass ein islamisch geprägtes Land Mitglied einer Union von Staaten wird, die ausschließlich christlich geprägt sind?«
»Wie Sie wissen, wird in der Türkei strikt zwischen Religion und Staat getrennt«, antwortet Erdoğ an ungerührt. »Obwohl unsere Bevölkerung überwiegend muslimisch ist, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Türkei ein demokratischer Staat westlicher Prägung ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nach dem Beitritt irgendwelche Anpassungsprobleme geben könnte.« 2
© Daniel Biskup
Wolf im Schafspelz oder Wolf im Wolfspelz? Mit Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2004 in seiner Residenz in Ankara
Viele Fragen und Antworten später stehen Jörg und ich wieder in Ankara auf der Straße. Mein Vize schaut mich ratlos an: »Sag, Kai, ist das derselbe Mann, den sie auf dem Iman-Gymnasium die Koran-Nachtigall genannt haben?« Er verzieht den Mund zu einem Grinsen: »Und den sie wegen seiner religiösen Hetze ins Gefängnis gesperrt haben? Haben wir da was verpasst?«
Wenn es etwas gibt, das ich an Jörg noch mehr schätze als seinen unbestechlichen Blick auf Politik und seine Loyalität, dann ist das sein sauguter und trockener Humor.
»Muss ich auch erst mal drüber nachdenken«, erkläre ich. »So richtig schlau bin ich gerade nicht aus dem geworden.« Es stimmt ja, was Jörg sagt: In der Vergangenheit bezeichnete sich Erdoğ an noch als Anhänger der Scharia. Aber offenbar hat eine Verwandlung stattgefunden, seit er Ministerpräsident ist.
Die Türkei ist offenkundig demokratischer geworden, Folter und Todesstrafe sind abgeschafft, die Meinungsfreiheit erweitert, die Rechte der Frauen und Lage der Kurden haben sich verbessert. Kurzum: Erdoğ an scheint tatsächlich seinen radikalen Ansichten abgeschworen zu haben.
Oder gilt der alte Satz »Was zu schön ist, um wahr zu sein, ist meist auch nicht wahr«?
Dank für die Organisation meines ersten Interviews mit Recep Tayyip Erdoğan: Brief an Ertugrul Özkök
Seit dem Dinner am Bosporus habe ich einen neuen Freund: Ertuğrul. Und einen neuen Nebenjob: Ich bin Mitglied im Beirat von Hürriyet. Alle zwölf Wochen fliege ich fortan nach Istanbul, um an Sitzungen teilzunehmen. So auch heute. Ertuğrul und ich sitzen in großer Runde zusammen. Ich habe schon drei Gläschen schwarzen türkischen Tee intus, und mir ist ganz schwummerig im Kopf, weil ich noch nicht geschnallt habe, dass man den nur verdünnt trinkt. Ich fürchte zudem, dass ich meine Gastgeber mit meiner deutschen Pünktlichkeit ordentlich unter Stress gesetzt habe. Da es geheißen hatte, Sitzungsbeginn sei um 10.00 Uhr, war ich natürlich pünktlich um 9.45 Uhr vor Ort. Und hatte mich ziemlich allein auf weiter Flur wiedergefunden. Die überraschte Assistentin hatte mich zu Vuslat, mit der mich später ebenfalls eine enge und sehr besondere Freundschaft verbinden soll, ins Büro geschoben. Die Vorstandsvorsitzende von Hürriyet konnte zu diesem frühen Zeitpunkt natürlich auch noch nichts mit mir anfangen. Und obgleich ich keinen Zweifel hatte, dass ich ihre komplette Morgenroutine über den Haufen warf, begrüßte sie mich mit unglaublicher Herzlichkeit und ließ sich nichts anmerken. Es brauchte ein paar Jahre, das kann ich hier schon mal vorwegnehmen, bis ich begriff, dass eine verabredete Uhrzeit in der Türkei eher eine Art Anregung ist, ein Vorschlag, wann man sich ungefähr trifft. Sitzungsbeginn 10.00 Uhr hieß demnach, dass wir auf jeden Fall noch vor dem Mittagessen zusammenkommen.
Die Sitzung ist eine Herausforderung für mich: Wir sprechen Englisch mit Simultanübersetzung ins Türkische und zurück. Vor uns auf dem Tisch Tabellen über Tabellen mit Zahlen, Zahlen, Zahlen. Es geht um Redaktionsetats, die Auflagenentwicklung, Gewinne, Verluste, Kosten, Personal, Strategie. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich wie ein Fisch im Wasser fühle. Ich bin ja vor allem Journalist, kein BWLer, kein Manager. Ich frage mich – und heute wird nicht das letzte Mal sein: Wer lernt hier eigentlich von wem?
»Guns?«, Waffen? , frage ich Ertuğrul ungläubig, nachdem ich mit dem Finger ein paar Etatposten durchgegangen bin. Auch in diesem Thema bin ich nicht wirklich zu Hause.
»Of course.« Natürlich Waffen , erklärt er mir geduldig, als handele es sich um einen Vorrat Kekse im Schrank. »Wir müssen uns ja verteidigen!«
»Ah!«, mache ich. Und denke: Wieder was gelernt.
»In der Türkei ist Journalist zu sein ein gefährlicher Job.« Er sagt das nicht effektheischend – es kommt ganz selbstverständlich aus seinem Mund. Später erst erfahre ich, dass Ertuğruls Vorgänger bei einem Attentat erschossen worden ist. Und natürlich ahnt keiner von uns zu diesem Zeitpunkt, dass beim Putsch im Sommer 2016 auch die Redaktion von Hürriyet angegriffen und es in der Eingangshalle des Verlagsgebäudes zu einem Schusswechsel kommen wird.
Auch wenn die Sitzungen bei Hürriyet nie pünktlich beginnen, sind sie Bundesliga. Ich weiß, wovon ich spreche, ein paar Jahre später werde ich nämlich auch noch in den Aufsichtsrat der London Times berufen. Dem Goldstandard von der Themse stehen die Sitzungen am Bosporus in nichts nach.
Wir diskutieren über Stunden, jede Zahl wird hinterfragt, jedes Chart umfassend analysiert. Und wie gesagt, es geht ja auch um was: Hürriyet ist die größte Zeitung der Türkei, vor allem aber auch die wichtigste und mächtigste Stimme der Opposition gegen Erdoğ an und seine Re-Islamisierung der Republik.
Am Abend nach der Sitzung gehen Ertuğrul und ich essen. So halten wir das die nächsten 14 Jahre.
»Weißt du, Kai«, Ertuğrul schaut mich durch die Gläser seiner Intellektuellenbrille nachdenklich an, »ich bin Muslim, aber ich bete nicht, faste nicht und gehe nicht in Moscheen. Dafür kenne ich mich ganz wunderbar mit Wein aus.« Er grinst und hebt sein Glas. Mein Eindruck bestätigt sich: Wir beide passen ganz wunderbar zusammen, wenngleich uns fast 20 Jahre trennen.
»Ich war in Katmandu, in den Gassen von Marrakesch, in den Tempeln der tibetischen Mönche, auf der Route 66, in Mekka. Und in der Verschisskiste«, gibt mir Ertuğrul eine kleine Übersicht seiner diversen Aufenthaltsorte der letzten Jahre. Ich muss lachen.
»Wieso Verschisskiste?«, hake ich nach.
»Die Regierung ist nicht mein Freund.«
Nun muss man ja sagen: Mit Verschisskisten kenne ich mich zur Genüge aus.
»Auf die Freundschaft!«, rufe ich und hebe diesmal als Erster mein Glas. Der Moment hat etwas Feierliches. Ich habe das Gefühl, hier am fernen Bosporus, in einer ganz anderen Welt, auf jemanden zu treffen, der so ist wie ich, der mit den gleichen Themen kämpft, für den die Zeitung das Leben ist. Und das Leben die Zeitung. Zwei Irre, die viel Spaß an ihrem Irresein haben. Wäre dieser Mann Deutscher, dann hieße er wahrscheinlich Johannes Gross. Der streitlustige Grandseigneur und Feingeist der deutschen Publizistik reichte nach einem exquisiten Restaurantabend die satte Rechnung beim Verlag ein und notierte als Bewirtungsanlass provokant und spitzfindig »Selbstgespräch«. Wäre Ertuğrul Amerikaner, dann wäre sein Name George Clooney: formvollendet, souverän, kosmopolitisch, Gentleman durch und durch. Und zu guter Letzt: Wäre Ertuğrul ein Engländer, hieße er wahrscheinlich Winston Churchill: ein Genussmensch durch und durch – nicht nur was Whiskey und Zigarren angeht.
Im Herbst 2005 kracht es: Die dänische Zeitung Jyllands Posten veröffentlicht zwölf Karikaturen, die den Propheten Mohammed zeigen. Es ist eine politische Demonstration – die Zeitung will testen, was sich Künstler noch trauen. Zuvor ist es nämlich einem dänischen Kinderbuchautor nicht gelungen, einen Zeichner für sein Buch Der Koran und das Leben des Mohammed zu finden. Durch viele Teile der islamischen Welt geht ein Aufschrei. Die Karikaturen verstoßen gegen ein angebliches Bilderverbot im Islam. Es kommt zu gewalttätigen Protesten, eine irakische Terrorgruppe droht, alle Dänen zu töten – in Libyen, Nigeria, Afghanistan gibt es bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften Tote.
»Biz dostuz – Wir sind Freunde«. Der gemeinsame Kommentar in Hürriyet im Februar 2006
Über die nächsten Wochen und Monate eskaliert der Konflikt zwischen islamischer und westlicher Welt. Die EU muss ihr Büro in Gaza schließen, nachdem al-Aqsa-Brigaden mit Entführungen, unter anderem von Deutschen und Dänen, im Westjordanland gedroht haben. Das deutsche Kulturzentrum wird angegriffen, die deutsche Flagge von einem Mob verbrannt. Auch in der Türkei treten Demonstranten die EU-Flagge mit Füßen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Es brennt.
Nicht nur bei BILD, in allen deutschen Redaktionen hat der Umgang mit dem Konflikt für heftigste Diskussionen gesorgt. Es gibt, grob gesprochen, zwei Lager: die, die aus Solidarität mit den bedrohten dänischen Kollegen die strittigen Mohammed-Karikaturen nachdrucken – dazu gehört die WELT. Und die, die nicht noch Öl ins Feuer gießen wollen – dazu gehört neben SPIEGEL online auch BILD.
Zudem ist es ein Unterschied, ob die Karikaturen von einer Zeitung mit überschaubarer Auflage gezeigt werden oder von BILD, der lautesten Trompete auf der Bühne. Ich, der ich diese Trompete spiele, bin mir meiner Verantwortung mehr als bewusst. Und, das möchte ich an dieser Stelle auch ganz klar artikulieren: Ich halte den Abdruck der Karikaturen als politische Demonstration ohnehin für falsch. Insbesondere, wenn wir den Dialog zwischen den Kulturen wollen – und nicht den befürchteten Clash of Civilizations . Anders formuliert: Will ich mit dem Pfarrer in der Kirche in ein konstruktives Gespräch eintreten, pinkele ich ihm ja vorher nicht demonstrativ an den Altar.
Ich greife zum Telefon:
»Ertuğrul, findest du nicht, dass wir hier jetzt gemeinsam gefordert sind?«
Biz dostuz! Wir sind Freunde!
So beginnt am nächsten Tag ein wortgleicher Kommentar in BILD und Hürriyet. Ertuğrul und ich haben uns darauf verständigt, in unseren Zeitungen einen gemeinsamen Text zu veröffentlichen. Sowohl in Hürriyet als auch in BILD in beiden Sprachen, also Deutsch und Türkisch.
Die islamische und die christliche Welt tragen gemeinsame Werte, für die beide Religionen stehen. Unsere beiden Zivilisationen basieren auf der Achtung des Individuums und auf sozialem Ausgleich.
Als höchste Tugenden gelten dem Muslim wie dem Christen Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Wir lehnen gemeinsam jegliche Form von Gewalt gegen Sachen oder gar gegen Menschen ab.
Das friedliche Zusammenleben ist im Alltag längst Selbstverständlichkeit. In Deutschland leben drei Millionen Türken als geachtete Mitbürger. Millionen Deutsche reisen in die Türkei und genießen dankbar die dort gepflegte Gastfreundschaft.
Wir appellieren an alle Muslime und Christen, sich anzuschließen. Wir rufen alle auf, Respekt vor den Gefühlen des jeweils anderen zu zeigen. Beleidigungen, Demütigungen oder Niedertracht zu vermeiden und ein wahrhaftiges Bündnis der Kulturen aufzubauen, das auf gegenseitigem Respekt basiert. 3
FDP-Chef Wolfgang Gerhardt lobt die gemeinsame Aktion von Hürriyet und BILD als Erster: »Ein gutes Beispiel für das friedliche Zusammenleben haben gestern zwei Chefredakteure von Zeitungen gegeben: Es waren Kai Diekmann von der BILD und sein Kollege von der Hürriyet, Ertuğrul Özkök!«, sagt er in einer Aktuellen Stunde zum Karikaturenstreit im Bundestag: »Beide haben gesehen, dass es längst nicht mehr allein um die Karikaturen in einer dänischen Zeitung geht. Es geht im Kern um die Frage, ob Menschen die Geltendmachung der Verletzung ihrer Würde als Mittel eines Protestes anwenden dürfen, der jedes Maß überschritten hat.« 4
Sogar die linke taz kann sich ein vergiftetes Lob nicht verkneifen: »Hier kommt endlich zusammen, was zusammengehört: BILD und ihr türkisches Pendant Hürriyet sind seit gestern Freunde.« 5
Mal musst du deine Stimme erheben, Farbe bekennen, die Brust breit machen – und mal musst du den Ball flach halten. Mal ist laut richtig, mal leise.
Das ist die große Lehre dieser Tage.
© Daniel Biskup
Lobt die Kooperation von Hürriyet und BILD: Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Ertuğrul Özkök und mir beim BILD-Sommerfest 2008.
Zwei Jahre später sind wir bei BILD in einer ganz ähnlichen Situation. Im Herbst 2008, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, werden uns interne Bankprotokolle zugespielt, die belegen, dass es an vielen Geldautomaten massive Engpässe gibt. Offensichtlich heben die Deutschen in Panik massenhaft Bargeld ab – aus Angst vor dem großen Crash.
»Bargeld wird knapp!
Holen Sie es von der Bank, solange es noch geht!«, wäre die logische Schlagzeile am nächsten Tag.
Wir machen sie nicht.
Denn wir wissen: Wenn wir diese Schlagzeile drucken, brechen alle Dämme, dann würden alle versuchen, ihr Geld zu retten, der große Run auf die Geldautomaten einsetzen. Das deutsche Bankensystem würde zusammenbrechen, wir alle pleitegehen.
»Sie haben der Versuchung reißerischer Schlagzeilen widerstanden und so dazu beigetragen, dass der Ansturm auf die Bankschalter ausblieb«, lobt Bankenpräsident Klaus-Peter Müller ein paar Wochen später auf der Bühne im Berliner Gropius-Bau. Und bittet dann BILD-Politikchef Tom Drechsler und Wirtschaftschef Oliver Santen nach vorne, um ihnen den Goldenen Prometheus zu übergeben, einen renommierten Journalistenpreis 6 .
So kann’s gehen: Das ist das erste Mal in meinen 25 Jahren als Journalist, dass ich erlebe, dass BILD mit Lob überschüttet wird für eine Geschichte, die sie nicht gemacht hat.
Es wird nicht langweilig.
Vom Bosporus her ziehen dunkle Wolken auf. Kurz vor den wichtigen Kommunalwahlen im September 2008 hat Hürriyet einen Spendenskandal öffentlich gemacht, bei dem Gelder für wohltätige Zwecke an die Partei Erdoğ ans, die AKP, weitergeleitet worden sind.
Der Ministerpräsident schäumt vor Wut und erklärt Hürriyet-Verleger Aydın Doğan den Krieg. »Kauft nicht die Zeitungen, die voller Schmutz und Lügen sind!«, brüllt er auf einem Parteitag in Istanbul ins Mikrofon. Und prompt hat die Doğan-Gruppe das Finanzamt am Hals. Dem Konzern wird eine Steuerstrafe von 380 Millionen Euro aufgebrummt, die in den nächsten Monaten auf unglaubliche knapp eine Milliarde Euro ansteigen soll. Grund ist eine angeblich falsch datierte Finanzbeteiligung eines ausländischen Medienunternehmens, das sich ins TV-Business der Doğan-Gruppe eingekauft hat. Ein Zufall, dass es sich bei diesem ausländischen Medienunternehmen um den deutschen Axel Springer Verlag handelt?
Entweder gehörst du mir oder der schwarzen Erde , ist eine bekannte türkische Redewendung. Es scheint auch Erdoğans Regierungshandeln zu leiten. Es ist auch längst nicht mehr zu übersehen: Der Sultan kontrolliert inzwischen fast die Hälfte aller türkischen Medien. Entweder sind sie im Besitz von Freunden oder von Familienangehörigen des Ministerpräsidenten.
Mein erstes Interview mit Erdoğan liegt inzwischen vier Jahre zurück. Wie sagte er doch damals mit treuherzigem Blick?
»Die Türkei ist ein demokratischer Staat westlicher Prägung.«
Und wieder stellt sich mir die Frage, auf die ich keine Antwort weiß: Was war hier jetzt zuerst? Henne oder Ei?
Tut die EU richtig daran, die Finger von der Türkei zu lassen, weil sie in Erdoğan einen islamischen Autokraten sieht?
Oder ist Erdoğan nur deshalb zunehmend radikal und reaktionär, weil ihn die EU brüskiert?
Auf jeden Fall unternimmt er im Moment alles, um einen EU-Beitritt in weite, weite Ferne zu schieben.
Und nein, er ist kein Wolf im Schafspelz.
Er ist der Wolf im Wolfspelz.
Das wird er in nur wenigen Monaten der ganzen Welt eindrucksvoll vor Augen führen.
Januar 2009. Wie jedes Jahr bin ich beim Weltwirtschaftsforum in Davos in den Schweizer Bergen, dem Stelldichein der Mächtigen und Wichtigen der Welt. Bill Gates, Mark Zuckerberg, die deutsche Bundeskanzlerin, die wichtigsten Autobosse und Banker des Globus – keiner möchte das Treffen im Schnee verpassen. Das Programm ist dicht gepackt: Auf unendlich vielen Bühnen – in Dutzenden von Hotels, Kongresszentren, Restaurants, sogar auf Berghütten – gibt es Meetings, Gesprächsrunden, Vorträge, vertrauliche Dialoge, off the record, on the record, von ganz früh morgens bis oft weit nach Mitternacht.
Natürlich fahre ich nicht einfach so nach Davos. Das Dorf in den Bergen ist hermetisch von Polizei und Militär abgeriegelt, Zutritt by invitation only, schon Kilometer vorher wird an Straßensperren die Identität überprüft, Helikopter kreisen, das ganze Areal ist ein einziger Hochsicherheitstrakt. Als einer von 100 sogenannten Media Leaders habe ich meine Einladung bereits vor Monaten per E-Mail erhalten. Ums Hotel braucht sich Havva ausnahmsweise nicht zu kümmern, das wird einem einfach zugewiesen.
Im großen unübersichtlichen Konferenzzentrum im Herzen von Davos mit seinen vielen Etagen, Treppen und Sälen ist es wie üblich pickepackevoll. Alles drängt zur Hauptbühne, wo der türkische Ministerpräsident Erdoğ an, Israels Ex-Premier Shimon Peres, UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und Amr Musa, Generalsekretär der Arabischen Liga, über die Lage in Gaza und die Rolle Israels diskutieren wollen.
Ich habe Glück, finde einen Platz in der zweiten Reihe direkt hinter Erdoğ ans Delegation und seiner Ehefrau.
Zuerst spricht Ban Ki-Moon, dann Erdoğ an, dann Amr Musa – die wenig überraschende Botschaft: Die Israelis sind die Bösen, die Palästinenser die armen Opfer.
Der weit über 80-jährige Peres, der die ganze Zeit schweigend zugehört hat, darf als letzter Redner sein Land verteidigen. Es ist, wie ich es häufig erlebe bei solchen Konferenzen, wenn es um Israel geht: Alle gegen einen. Leider.
Peres findet bewegende Worte: »Israel will Frieden! Keinen Krieg. Wir haben nie als Erste geschossen. Was hätten Sie denn getan, wenn jeden Abend Raketen auf Istanbul niedergegangen wären?«, wendet er sich mit einer rhetorischen Frage an den neben ihm sitzenden Erdoğ an. Kaum ist Peres mit seinem Redebeitrag durch, erklärt der Moderator die Debatte für beendet: »Unsere Diskussionszeit ist abgelaufen.« Auch das ist das Prozedere in Davos. Egal, welcher Regierungschef oder Staatspräsident gerade spricht, die Auftritte sind minutiös getaktet, die Diskussionsrunden manchmal nicht viel mehr als ein Austausch von Statements.
Aber er hat seine Rechnung ohne Erdoğ an gemacht.
»Herr Peres!« Der türkische Ministerpräsident reißt sich seine Kopfhörer für die Simultanübersetzung herunter, richtet sich direkt an den neben ihm sitzenden Peres: »Sie sind älter als ich! Sie haben sehr laut gesprochen. Wenn es ums Töten geht: Mit dem Töten kennt ihr euch ja aus. Wir wissen, wie ihr Kinder am Strand getötet und erschossen habt.« Erdoğ ans Stimme wird immer aggressiver und lauter, ihn hat die Wut gepackt: »Es gibt in Israel zwei frühere Ministerpräsidenten, die mir etwas sehr Wichtiges gesagt haben …« Der Moderator legt beschwichtigend seine Hand auf Erdoğ ans Schulter, will ihn unterbrechen. Doch der türkische Ministerpräsident ist nicht zu bremsen, schiebt die Hand brüsk zurück. »… Sie sagten, wenn wir auf Panzern und mit Waffen nach Palästina eindringen, sind wir frohen Mutes. Ich kann Ihnen auch die Namen der Ministerpräsidenten sagen! Ich verurteile auch die hier im Publikum, die diese Grausamkeiten beklatschen. Wenn Sie für die, die diese Kinder und Menschen getötet haben, klatschen, ist das auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie ich meine.«
Ich halte den Atem an. Auch um mich herum ist alles still. An einen solchen Auftritt in Davos kann ich mich nicht erinnern. Ich frage mich: Warum macht er das? Hat er die Contenance verloren? Ist das Absicht?
Aber es kommt noch wilder.
»Ich habe mir viel notiert, habe aber keine Gelegenheit, auf alles einzugehen«, poltert Erdoğ an weiter. »… unterbrechen Sie mich nicht«, fährt er den Moderator an, der erneut versucht, Erdoğ an zu stoppen. Der erhebt sich nun aus seinem Sessel: »Vielen Dank. Für mich ist Davos damit vorbei. Ich werde nicht mehr kommen. Sie lassen mich nicht reden.« Erdoğ an zeigt mit dem Finger auf Peres: »Er hat 25 Minuten gesprochen, und ich habe nur halb so viel Zeit gehabt. Unmöglich!« An dieser Stelle stürmt der türkische Ministerpräsident erbost vom Podium. Auch die Delegation vor mir springt von ihren Konferenzstühlen auf und verlässt unter Führung von Erdoğ ans Frau demonstrativ den Saal.
In einem Brief verteidigt der türkische Botschafter Ahmet Acet den Auftritt von Erdoğ an in Davos 2009.
Ich bleibe erst mal verdattert sitzen, versuche, den Auftritt Erdoğ ans zu sortieren. Klaus Schwab, Professor vom Bodensee und Gründer des World Economic Forum, eilt aufs Podium, um die Stimmung mit einem Spontanauftritt zu retten. Vergeblich. Im Saal reden alle durcheinander, einziges Thema: der Zornesausbruch. Auch ich habe zum Telefon gegriffen und telefoniere bereits mit meiner Redaktion.
Hassrede gegen Israel in Davos – Eklat um Türkei-Premier, lautet unsere Schlagzeile am nächsten Tag. 7
Am selben Tag noch wird mir ein Fax vom türkischen Botschafter in Deutschland, Ahmet Acet, in mein Hotel, das Schatzalp, weitergeleitet, einem ehemaligen Tuberkulose-Sanatorium, bekannt aus Thomas Manns Zauberberg.
Sehr geehrter Herr Diekmann,
bei der Davos-Podiumsdiskussion am 29. Januar 2009 brachte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan mit Nachdruck seine Reaktion auf die israelischen Angriffe auf Gaza und die exzessive Gewaltanwendung gegenüber Zivilisten zum Ausdruck, die zum Verlust einer erheblichen Anzahl von unschuldigen Menschenleben führte. Seine Äußerungen richteten sich in keiner Weise gegen das israelische Volk, noch hatten sie den Charakter einer Hassrede.
Im Gegenteil, Ministerpräsident Erdoğan hat erst kürzlich öffentlich gesagt, dass Antisemitismus ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellt. Darüber hinaus war das plötzliche Verlassen des Ministerpräsidenten der Podiumsdiskussion keine Reaktion gegen Präsident Peres, sondern gegen den Moderator, dem es misslang, ihm die gleiche Gesprächszeit zu gewähren, die auch anderen Rednern zuteilwurde.
Auch möchte ich Ihnen die Tatsache zur Kenntnis bringen, dass Präsident Peres Ministerpräsident Erdoğan kurz nach der Podiumsdiskussion anrief, um die Situation zu klären.
Ich möchte betonen, dass die Türkei und Israel sich weiterhin guter Beziehungen und Zusammenarbeit erfreuen.
Ich würde es begrüßen, wenn dieser Brief in Ihrer Zeitung veröffentlicht werden könnte, damit Ihre Leser eine treffende Darstellung von dem Vorfall in Davos erhalten.
Mit freundlichen Grüßen
Ahmet Acet 8
Ich habe mich auf mein Hotelzimmer im zweiten Stock des Schatzalp zurückgezogen, ein ziemlich spartanischer Raum für das eher anspruchslose Gemüt: ohne TV, dafür Linoleumboden und nackter Gusseisen-Heizkörper. Am Telefon diktiere ich Havva meine Antwort:
Exzellenz,
sehr geehrter Herr Acet,
gestatten Sie mir, Ihren Brief, für den ich mich sehr bedanke, etwas ausführlicher zu beantworten.
Ich habe den in meinen Augen unsäglichen Auftritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan in Davos unmittelbar miterlebt. Ich hatte die Ehre, in der zweiten Reihe – direkt hinter seiner Gattin – zu sitzen. Die Ereignisse haben sich durchaus etwas anders abgespielt als von Ihnen geschildert.
Den wütenden Ausbruch von Ministerpräsident Erdoğan zu beschreiben, als er schließlich – und endlich – unterbrochen wurde, erspare ich uns.
Sehr geehrter Herr Botschafter, das ist kein normaler Umgangston – erst recht nicht auf der Weltbühne. Ich bleibe dabei: Sowohl Ton als auch Inhalt dieser Aussagen sind empörend und das Gegenteil einer Verurteilung des Antisemitismus. Andere mögen von einem solchen Auftreten des türkischen Ministerpräsidenten nicht überrascht sein.
Mich persönlich erschüttert es jedoch – gerade weil ich der Türkei und Ihnen herzlich verbunden bin. Und bleibe.
Ihr
Kai Diekmann 9
Ich mag mich erschüttert geben – in Istanbul ist es genau umgekehrt:
Willkommen zurück, Eroberer von Davos!
So feiern Tausende Demonstranten Erdoğan für seinen Auftritt in Davos, skandieren anti-israelische Slogans, schwenken türkische und palästinensische Fahnen und Spruchbänder.
Welt, schau auf unseren Ministerpräsidenten. 10
Mit seinem Wutausbruch scheint es Erdoğ an gelungen zu sein, die Herzen seiner Anhänger zu erreichen. Seine markigen Auftritte im Ausland, so dämmert es mir, gelten möglicherweise gar nicht dem dortigen Publikum. Sie sind fürs heimische Publikum gedacht.
Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest 2010 stehen Ertuğrul und ich in verschneiter Tannenkulisse. Wir haben uns piekfein gemacht. Dunkler Anzug, Hemd, Krawatte – wie wir da stocksteif stehen mit klappernden Zähnen, sehen wir aus wie zwei verfrorene Versicherungsvertreter auf einem Kongress in den österreichischen Bergen, die ihre Mäntel vergessen haben.
Wir sind aber nicht in Österreich.
Wir sind in Damaskus. Besser gesagt, im Garten des Präsidenten-Palastes. Die dicke Schneedecke hat uns im wahrsten Sinne auf dem kalten Fuß erwischt. Selbst wenn die Winter in Syrien sehr kalt werden können, gehört Schnee zu den eher seltenen Überraschungen.
Zwischen uns steht, hoch aufgeschossen und irgendwie schlaksig, der syrische Machthaber Baschar al-Assad, ebenfalls in dunklem Zwirn. Wenn Ertuğrul und ich aussehen wie Versicherungsvertreter, hat Assad, der in Damaskus und London Medizin studiert hat und eigentlich Augenarzt werden wollte, etwas von einem netten Konfirmanden.
Ertuğrul, der über sehr gute Kontakte nach Damaskus verfügt, hat mit dem syrischen Präsidenten dieses Interview für uns arrangiert.
Assad gibt sich besonders charmant und aufmerksam, zur Begrüßung werden Datteln gereicht. Den Garten, so erzählt er uns, hat sein Vater Hafez in den 1980er Jahren auf dem Berg Mezzeh errichten lassen. Von hier hat man bestimmt einen grandiosen Blick auf Damaskus, denke ich. Wenn nicht gerade dichtes Schneetreiben ist.
© Kai Diekmann/Privatarchiv
Wie ein netter Konfirmand zwischen zwei verfrorenen Versicherungsvertretern: zu Besuch bei Baschar al-Assad mit Ertuğrul Özkök im verschneiten Damaskus 2010
Die ersten 20 Minuten sind ein Ritt durch den politischen Vorgarten Syriens: Warum hier, im Kernland der Bibel, seit Jahrhunderten kein Frieden einkehrt. Ob er, Assad, das Existenzrecht Israels anerkennt. Was er dazu sagt, dass Iran Israel von der Landkarte tilgen will.
Es ist eine eher entspannte Atmosphäre hier im Präsidentenpalast. Kein Assistent, Dolmetscher oder Mitarbeiter ist zugegen. Das mag verblüffen. Dabei dürfen Sie, liebe Leserinnen und Leser, nicht vergessen: Der Assad im Dezember 2010 ist noch nicht der menschenverachtende Schlächter Assad, zu dem er ein Jahr später werden soll.
Mich interessiert vor allem Assads Blick auf den unmittelbaren Nachbarn, die Türkei:
»Aus unserer europäischen Perspektive haben wir den Eindruck, dass die Türkei sich vom Westen, von der NATO und den USA weg und auf die islamische Welt zubewegt. Würden Sie dem zustimmen?«, will ich wissen.
»Ich würde eher sagen, der Westen bewegt sich von der Türkei weg«, entgegnet Assad. »Ich glaube aber, dass die Rolle, die die Türkei in dieser Region seit drei Jahren spielt, wichtig ist. Das hat ein gewisses Gleichgewicht in dieser turbulenten Region geschaffen. Besonders nach den Ereignissen vom 11. September, nach den Invasionen im Irak und in Afghanistan würden Sie sich schlechte Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien, der Türkei und dem Iran sicher nicht wünschen. Die Auswirkungen würde man sich nicht ausmalen wollen.«
»Sollte die Türkei der EU beitreten dürfen?«, komme ich zum zentralen Punkt.
Assad lächelt überlegen: »Sie müssen die Türkei geradezu bitten, der EU beizutreten, weil sie die EU als islamisches Land braucht, damit die EU kein Christen-Club wird. Sie reden doch immer über Offenheit, über den Dialog zwischen verschiedenen Kulturen. Sie können aber keinen Dialog führen, wenn Sie sich isolieren und auf eine Kultur, eine Gesellschaftsordnung beschränken.« 11
Ich sitze da und denke: Es ist nicht alles falsch, nur weil es von Assad kommt. Mit dem Christenclub-Argument macht Erdoğ an bei seinen Anhängern inzwischen erfolgreich Stimmung gegen die EU.
Wenige Wochen später beginnt der Arabische Frühling. Und Assad, der lange Jahre als Reformer und Löwe von Damaskus galt, geht mit großer militärischer Gewalt gegen Demonstranten vor. Er wird foltern und morden lassen, sein Volk in einen Bürgerkrieg treiben, dem fast eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen und die halbe syrische Bevölkerung zur Flucht treibt.
Und er wird über den Krieg zum erbitterten Feind von Erdoğ an werden.
»Kommen Sie doch mal am Wochenende mit Ihren Ehefrauen zum Essen vorbei«, lädt uns der Diktator zum Abschied noch zum geselligen Beisammensein ein.
»Ich danke Ihnen für die Bücher, die Sie mir mit Ihrem Brief geschickt haben.« Schreiben von Erdoğan im Dezember 2011
Dass ich Erdoğ an in Ankara zum Exklusivinterview getroffen habe, ist mittlerweile sieben Jahre her. Seine Antworten von damals, als der Regierungschef die Türkei noch auf dem Weg nach Europa sah, lesen sich inzwischen wie aus einer völlig anderen Zeit.
Als der türkische Staatschef Anfang November 2011 einen Staatsbesuch in Deutschland plant, treffen wir uns vorab in Istanbul. Von Minute eins an geht unserem Treffen jede echte Freundlichkeit ab. Der Saal, in dem der türkische Ministerpräsident uns empfängt, hat Schwimmbad-Größe. Alles ist extra: extrahohe Decken, extragroße Ölschinken an den Wänden, extrawuchtige Sessel, die so weich und tief sind, dass Nikolaus Blome, der mich diesmal begleitet, und ich die ganze Zeit nur auf der Kante sitzen, um nicht darin zu versinken.
»Die Türkei wird ungerecht behandelt. Seit ich Premierminister bin, hat die EU zwölf Länder, sogar den griechischen Teil Zyperns, aufgenommen«, klagt Erdoğ an. »Und seitdem Kanzlerin Merkel und der französische Staatspräsident Sarkozy regieren, werden wir nicht einmal mehr zu den EU-Gipfeln eingeladen, wo wir früher eingeladen wurden.« Er macht auf mich den Eindruck eines verletzten Mannes, der desillusioniert ist. Er scheint mir deutlich grauer geworden zu sein, aber irgendwie ist sein Gesicht auch markanter. Er spricht leise und lang, der Dolmetscher hat sichtlich Mühe hinterherzukommen.
»Was macht Deutschland denn falsch?«, will ich wissen.
»Die deutsche Politik würdigt die Verflechtung der drei Millionen Türken in Deutschland nicht genug«, kommt die Antwort sofort, direkt und ohne die üblichen diplomatischen Höflichkeitsfloskeln. Man merkt, Erdoğ an ist auf die Frage vorbereitet. »Die deutsche Politik müsste viel mehr für den EU-Beitritt der Türkei tun, weil das die Integration massiv vorantreiben würde. Weil wir Türken so viel Positives für Deutschland empfinden, fühlen wir uns gerade hier im Stich gelassen.«
Hier sitzt kein Mann, der nach Verständigung sucht. Hier sitzt einer, der sich verabschiedet hat, wird mir gerade klar.
»Wie ich schon sagte, müsste die deutsche Politik die zugezogenen Türken nicht als Gefahr, sondern als Bereicherung sehen. Wenn ein junger türkischer Mann ein Mädchen aus der Türkei liebt und heiraten möchte, wird dies als ein Fehler angesehen, denn die Bundesregierung verlangt, dass diese Frauen vorher Deutsch lernen müssen.« Mit diesen Sätzen zeigt er sich bestens informiert über das Thema, das in Deutschland gerade rauf und runter diskutiert wird: das Thema Zwangsehe. Er guckt mich an: »Ich bitte Sie, welche Sprache spricht die Liebe? Es kann doch nicht sein, dass die Liebe junger Menschen per Verordnung nur auf Deutsch funktionieren darf! Nein, wer Deutschkenntnisse zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, verletzt die Menschenrechte.« 12
Es sollte das letzte Mal sein, dass Erdoğ an BILD zum Gespräch empfängt.
© Daniel Biskup
Die Harmonie trügt: Erdoğan ist kein Mann, der nach Verständigung sucht. Mit Nikolaus Blome beim Ministerpräsidenteninterview in Istanbul 2011
Erdoğan macht den Putin , urteilt Ertuğrul im März 2013 in seiner Kolumne für BILD, die er seit nunmehr drei Jahren für uns schreibt. 13
Denn Proteste gegen seine Politik lässt der türkische Staatschef mittlerweile brutal niederschlagen, es gibt Tote und Verletzte. Auch Medienunternehmer Aydın Doğan hat den Stecker gezogen, nachdem ihn der türkische Ministerpräsident mit immer neuen Steuerklagen überzogen hat. Bereits Ende 2009 hat der 73-jährige Verleger seine Verantwortung für das Tagesgeschäft abgegeben. Und auch Ertuğrul musste gehen. Er verlor seinen Job als Chefredakteur von Hürriyet, bleibt aber Star-Kolumnist der Zeitung.
Bei jeder Gelegenheit wütet Erdoğ an gegen Deutschland und Europa – er tut dies aber nicht nur bei Reden im eigenen Land.
Bei einem Auftritt in der vollbesetzten Kölner Lanexx-Arena lässt er sich von zigtausend türkischen Anhänger feiern. Sie jubeln »Märtyrer!«, schwenken Fahnen.
Und wieder mal nutzt Erdoğ an erfolgreich den politischen Konflikt, um unter den in Deutschland lebenden Türken auf Stimmenfang zu gehen.
Pünktlich zum Auftritt in Köln hat BILD eine deutliche Botschaft an den türkischen Ministerpräsidenten, einen offenen Brief in klarer Sprache:
Herr Ministerpräsident Erdoğan,
in Köln machen Sie heute vor 18.000 Deutsch-Türken Wahlkampf. Wahrscheinlich werden Sie ihnen wie im Februar in Berlin zurufen: »Seid stolz auf eure Sprache, eure Fahne, eure Kultur« – und damit nicht die deutsche meinen.
Oder Sie werden wie im Jahr 2008 in Köln behaupten: »Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«
Deutschland ist ein freies Land, in dem jeder seine Meinung offen sagen darf. Deshalb können und wollen wir Ihnen den Auftritt nicht verbieten. Aber eines ist trotzdem klar:
SIE SIND HIER NICHT WILLKOMMEN!
Sie reagierten auf Korruptionsvorwürfe gegen Ihre Familie, indem Sie Hunderte Polizisten und Anwälte ihrer Ämter enthoben. Sie sperren kritische Journalisten ins Gefängnis.
Sie wollen Frauen vorschreiben, wie viele Kinder sie haben sollen. Sie wollen Studentinnen und Studenten verbieten, in gemischten WGs zusammen zu wohnen. Sie wollen verhindern, dass verliebte Paare im Park Händchen halten.
Sie ließen die friedlichen Jugendlichen, die auf dem Istanbuler Taksim-Platz für die Freiheit demonstrierten, mit Knüppeln zusammenschlagen. Sie nannten die Demonstranten »Lumpenpack«. Sie hetzten gegen unseren Bundespräsidenten Joachim Gauck, weil er bei seinem Türkeibesuch Sorgen über den Zustand der türkischen Demokratie geäußert hatte.
Politiker wie Sie wollen wir in Deutschland nicht haben.
SIE SIND HIER NICHT WILLKOMMEN!
Wir sind ein demokratisches, freiheitsliebendes, vielfältiges Land. Hier gelten die Gesetze auch für Politiker. Bei uns laufen Frauen oben ohne über die Straße. Wir lassen jeden seine Meinung sagen, auch wenn er Blödsinn redet.
Sagen Sie heute Abend, was Sie wollen, Herr Erdoğan, aber willkommen sind Sie nicht. 14
Erdoğans Parteifreunde schäumen.
In seinem Newsletter schreibt der Journalist Bülend Ürük:
Diekmann kennen sie in Ankara, selbst seine Twitterkommentare werden verfolgt . 15
Ürük berichtet, was bei einem Treffen türkischer Chefredakteure im Haus eines führenden AKP-Funktionärs, der Partei Erdoğ ans, in Istanbul ganz offen gemunkelt und gemutmaßt wurde:
Sitzt nicht Kai Diekmann im Hürriyet-Beirat?
Und überhaupt dieser Ertuğrul Özkök!
Früherer Hürriyet-Chefredakteur und publizierender Lieblingsfeind der AKP-Clique, schreibt der nicht regelmäßig eine Kolumne für BILD ?
Hat der nicht zusammen mit Diekmann sogar ein Buch geschrieben?
Ürük zitiert anonym einen AKP-Politiker:
»Ihre Freunde sind unsere Feinde. Es gibt Bestrebungen, die Doğan-Holding für den BILD-Brief haftbar zu machen. Sie sollen für die vergifteten Worte aus Berlin bluten!«
Auch der türkische EU-Minister Mevlüt Çavuşoğlu kommt zu Wort, bezeichnet die Respektlosigkeit deutscher Medien als inakzeptabel.
Selbst Ertuğrul, der in seinen Kolumnen alles andere als zimperlich mit Erdoğan umgeht, ist in diesem Fall ganz und gar nicht einverstanden mit mir und schreibt in seiner Hürriyet-Kolumne:
Mein lieber Freund Kai,
ich war völlig zurückgezogen im Ausland. Deswegen habe ich erst jetzt vom offenen Brief an Erdoğan in der BILD erfahren, in dem du den Wunsch äußerst, er solle nicht nach Deutschland kommen. Über die Politik des Ministerpräsidenten Erdoğan in der Türkei, die immer autoritärer wird, bin ich auch sehr besorgt.
Ich teile die Meinung, dass diese Politik im Hinblick auf die Werte, die die Europäische Union vertritt, nicht annehmbar ist.
Trotzdem möchte ich betonen, dass es nicht im Einklang mit dem Ideal eines demokratischeren und glücklicheren Europas und einer ebensolchen Türkei steht, einem Ideal, das wir beide aus ganzem Herzen teilen, Erdoğan zu sagen: Komm nicht her.
Du solltest nicht vergessen, dass Erdoğan der Ministerpräsident aller Menschen in der Türkei ist, somit auch meiner, und dass solche Aufrufe an seine Adresse uns alle trifft und kränkt.
Statt dem Ministerpräsidenten Erdoğan »Komm nicht her« zu sagen, wäre es meiner Ansicht nach richtiger, die Beziehungen noch enger zu knüpfen und ihn einzuladen und zu unterstützen, sich weiterhin der Europäischen Union zuzuwenden.
Ich bin überzeugt, dass du diesen Brief nicht als Einmischung in eure Zeitungspolitik, sondern als Worte voller Freundschaft auffassen wirst.
Mit lieben Grüßen,
Ertuğrul 16
Eine gute Freundschaft macht aus, dass man sich gegenseitig die Wahrheit sagt. Ich nehme mir die Worte meines Freundes Ertuğrul wirklich zu Herzen – bereue ich meinen offenen Brief deshalb? Nein.
Seyran Ateş, deutsch-türkische Anwältin, formuliert es im Buch Süper Freunde so:
Deutsche und Türken könnten Freunde sein, sogar »Süper Freunde«, wenn sie sich die Wahrheit sagen würden: »Ich bin so frei, dir zu sagen, dass du Mundgeruch hast, mein Freund!« Eine Freundschaft braucht Wahrheit, Ehrlichkeit, sie braucht die Freiheit, frei zu denken und zu sprechen. Ich nenne niemanden meinen Freund, der von mir nur positive Dinge über sich hören will, und ich nenne niemanden meinen Freund, der mir nur erzählt, wie toll ich bin. Die Wahrheit ist nämlich nicht immer toll. Auch die Wahrheit über die Freundschaft der Türken und Deutschen ist nicht immer nur toll. Sie könnte es werden. Zähneputzen könnte helfen. 17
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
»Erkläre uns doch mal, warum Millionen Türken diesen Mann immer und immer wieder wählen«, bitte ich Ertuğrul. Denn immer weniger verstehe ich, warum Erdoğ an, der immer mehr zum Despoten wird, nach wie vor so viel Unterstützung durch seine Landsleute erfährt.
Um das zu verstehen, muss man wohl Türke sein , antwortet Ertuğrul in seiner BILD-Kolumne:
Die Hälfte aller Türken lieben ihren Erdoğan. Frauen in Anatolien verehren ihn als konservativen »Familienvater«. Andere bewundern ihn, weil er das Wirtschaftswachstum im Land vervielfacht hat, während anderswo Wirtschaftskrisen wüten. Weil er Obdachlosen Essen gab, Arbeitslosen Arbeit und Hausfrauen Kindergeld für die Erziehung ihrer Söhne und Töchter.
Recep Tayyip Erdoğan, der Istanbuler Junge aus ärmsten Verhältnissen, hat nicht nur sich selbst hochgekämpft an die Spitze der Macht. Er hat auch den Türken und der Türkei wieder zu Ansehen und Selbstbewusstsein verholfen. Und sei es, indem er dafür Widersacher in Medien, Militär und Politik wegsperren, Proteste niederknüppeln ließ oder andere Staatschefs gnadenlos beschimpfte.
Geschickt hat er schon früh Verbündete gesucht unter Bankern und Industriellen. Die beschenkt er jetzt mit Milliarden-Staatsaufträgen für Flughäfen und gigantische Kanal- und Tunnelprojekte.
Er hat sich vom selbsternannten Kronprinzen des islamkritischen Staatsgründers Atatürk zum tiefreligiösen Verteidiger aller Moslems gewandelt, um die Gläubigen im Lande einzufangen. Er hat den Menschen eine Scheinwelt verkauft, in der böse Mächte die Türkei bedrohen. Und nur eine starke Regionalmacht nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches den Ausgleich schaffen kann zwischen Europa und der arabischen Welt.
Wir sind wieder wer, sagt Erdoğan seinem Volk. Und wer noch mehr will, muss ihm und seinen Plänen folgen: eine neue Türkei, in der niemand mächtiger sein soll als Erdoğan, der neue Staatspräsident. Bis 2023 will er das schaffen – bis zum 100. Geburtstag der 1923 gegründeten Republik Türkei. 18
Irgendwie ist es komisch: Während die Freundschaft zwischen Ertuğrul und mir immer enger wird, entfernen sich die Türkei und Deutschland immer weiter voneinander.
»Kai Diekmann, der türkenfeindliche Chef der BILD-Zeitung, ignoriert die Wut des türkischen Volkes.« Im Sommer 2016 bin ich fast täglich in den Schlagzeilen der Erdoğan-Postille Sabah.
»Du bist doch krank!«
So brüllt es mir im Juni 2016 auf Deutsch von der Titelseite der türkischen Zeitung Sabah entgegen, Erdoğ ans Hauspostille. Garniert ist das Ganze mit einem schon etwas älteren Porträtfoto von mir mit Rauschebart.
Aydın Doğan, der die Türkei bei jeder Gelegenheit anschwärzt und sich hemmungslos mit den Feinden der Türkei verbündet, bekommt weitere Unterstützung aus Deutschland. Die Deutsche Welle, bekannt für ihre antitürkischen Meldungen, hat vorgestern Sedat Ergin, Chefredakteur der Hürriyet und Zeitung ihres Kollaborateurs Aydın Doğan, mit dem Redefreiheitspreis ausgezeichnet. Und der Chefredakteur der BILD-Zeitung meint, der Türkei eine Lektion in Sachen Pressefreiheit erteilen zu müssen. 19
Was bitte?
Zum einen ist das eine Hetzsprache, wie man sie so nur von nordkoreanischer Propaganda erwarten würde. Zum anderen bin ich überrascht, dass Erdoğ ans Propaganda-Schergen jetzt sogar die direkte Konfrontation suchen. Das Ganze ist ganz klar eine Retourkutsche. Zwei Tage zuvor habe ich in Bonn bei der Verleihung des Freedom of Speech Award die Laudatio auf Sedat Ergin gehalten, Nachfolger von Ertuğrul Özkök als Chefredakteur der Hürriyet. Sein Leben und seine Freiheit sind täglich bedroht, in der Türkei kann er sich nur mit Personenschutz und in gepanzerten Fahrzeugen bewegen.
»Nur drei Stunden von Berlin oder Bonn entfernt riskieren Journalisten in der Türkei jeden Tag alles«, sage ich in meiner Laudatio. »Ihre Jobs, ihre körperliche Unversehrtheit, ihre Freiheit. Sie riskieren ihr Leben. Das zeigt überdeutlich, welch wertvolles Gut die Pressefreiheit ist. Deutschland und die EU haben die Verpflichtung, nicht nachzulassen in der Kritik am Zustand der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei. Dies müssen wir auf unmissverständliche Weise tun. Lasst uns alles dafür tun, dass die lauten Stimmen unserer mutigen Kollegen niemals verstummen.«
Sabah, die inzwischen im Besitz der Familie Erdoğ ans ist, widmet mir nun eine ganze Woche lang täglich eine neue liebevolle Schlagzeile. Und um ganz sicher zu gehen, dass ich es auch verstehe, alles in Großbuchstaben und auf Deutsch. Zum Beispiel:
Die Türken sind sauer auf dich, Kai!
13 Gründe, warum die Bildzeitung nervt!
Kai, du hast zu viele Sünden!
Was mich am meisten stört an dieser Kampagne aus Istanbul: Das Asbach-uralt-Foto, mit dem Sabah jeden Tag aufs Neue ihre Schmäh-Schlagzeilen garniert. Ich beauftrage meinen Büroleiter Christian Stenzel, den Kollegen am Bosporus auf die Sprünge zu helfen. Also schreibt der nach Istanbul:
Sehr geehrte Kollegen , bei der heutigen Sabah-Lektüre ist uns aufgefallen, dass Sie offenbar über kein aktuelles Foto von Kai Diekmann verfügen. Dieses möchten wir Ihnen gerne kostenlos zur Verfügung stellen. Bitte finden Sie anbei ein Motiv, aufgenommen von Daniel Biskup. Beste Grüße
Auch das offizielle Verhältnis Türkei – Deutschland wird immer schwieriger.
© Kai Diekmann/Privatarchiv (Özcan Mutlu)
»In Solidarität und Anteilnahme mit der Türkei« – Eintrag ins Kondolenzbuch der türkischen Botschaft nach dem furchtbaren Terroranschlag auf dem Flughafen Atatürk in Istanbul 2016.
Nach der Verhaftung deutscher Menschenrechtsaktivisten in Istanbul spricht das Auswärtige Amt eine Reisewarnung für die Türkei aus, vor allem als politische Machtdemonstration, da deutsche Touristen immens wichtig sind für die türkische Wirtschaft. Doch der Schuss geht meiner Meinung nach nach hinten los. Mit der Reisewarnung werden nämlich nicht Erdoğ an und seine Wähler bestraft; die Reisewarnung trifft massiv Regionen der Türkei, die sich traditionell gegen den Kurs Erdoğ ans stemmen und auf Europa hoffen, also die Städte und Badeorte an der Mittelmeerküste, die vom Tourismus leben. Wir machen einfach immer wieder denselben Fehler: Wir setzen die Türkei und Erdoğ an miteinander gleich.
Und leider tappt auch BILD in diese Falle.
Türkei-Krise – verhaftet Erdoğan jetzt auch Urlauber? , lautet die Schlagzeile im Sommer 2017.
Meine Frau und ich lassen uns davon nicht beeindrucken. Wie seit zehn Jahren verbringen wir trotzdem unseren Familienurlaub im wunderschönen Bodrum an der türkischen Riviera, das wir lieben wegen seines azurblauen Wassers, der Vielzahl fantastischer Restaurants und der grenzenlosen Gastfreundschaft der Menschen dort.
Schon in den ersten Ferientagen finde ich mich auf den Titelseiten diverser türkischer Zeitungen wieder:
Unverschämtheit. Seine Zeitung behauptet, in der Türkei gibt es keine Sicherheit, aber er macht Urlaub in der Türkei!
Und mir wird die ganz besondere Ehre zuteil, dass Erdoğ an höchstselbst meinen Ferienaufenthalt an der türkischen Küste kommentiert:
Unter den Medienunternehmen in Europa gibt es welche, die negative Kampagnen gegen die Türkei führen. Doch sie selbst verbringen ihren Urlaub in unserem Land. Das beweist, dass sie ihre Lügen selbst nicht glauben.
Natürlich fühle ich mich gebauchpinselt durch so viel Aufmerksamkeit, aber die Frage muss erlaubt sein: Hat eigentlich keiner in Istanbul oder Ankara mitbekommen, dass ich schon seit einem halben Jahr nicht mehr Chefredakteur von BILD bin?
Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute, heißt es im Märchen. Aber es ist eben nur ein Märchen. In der wirklichen Welt liest sich die Zwischenbilanz so: 2018 zieht sich der von mir verehrte Medienmogul Aydın Doğan überraschend aus dem Mediengeschäft zurück, verkauft von einem auf den anderen Tag sein ganzes Imperium – alle Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sender, auch Hürriyet.
Doğan, zu diesem Zeitpunkt bereits 82 Jahre alt, ist eine Legende in der Türkei, wird für sein Lebenswerk verehrt: Kind aus bescheidenen anatolischen Verhältnissen, hat er es nach ganz oben geschafft und eine der größten und erfolgreichsten Medienholdings Europas in der Türkei geformt. Dabei ist er stets seinen anatolischen Wurzeln und Traditionen treu geblieben. Wie er gleichzeitig als modern denkender Muslim die säkularen Werte von Republik-Gründer Kemal Atatürk gelebt und sich leidenschaftlich für eine vollwertige Mitgliedschaft der Türkei in der EU eingesetzt hat, macht ihn auch für mich zu einer Ikone.
Mit sofortiger Wirkung lege ich mein Aufsichtsratsmandat nieder. Die Doğ ans – Aydın Bey und Sema, seine Frau, seine Töchter und Schwiegersöhne, vor allem Vuslat und ihr Ehemann Ali – werden für mich, für uns, meine Familie immer zweite Heimat sein. Wir fühlen uns hier stets mit ganzem Herzen aufgenommen und umarmt.
Ertuğrul, mein Freund und Soulmate? Wir sind jetzt zwei ältere Herren, die gemeinsam nach Bayreuth pilgern und Tannhäuser und Lohengrin lauschen. Zu Anfang noch mit meinem Vater, der inzwischen verstorben ist. Jetzt mit meinem Sohn Caspar.
»Wir riefen Gastarbeiter – und es kamen Menschen«, hat es der Schriftsteller Max Frisch vor vielen Jahren auf den Punkt gebracht. In den 16 Jahren meiner Zeit als BILD-Chefredakteur habe ich nicht wirklich den Eindruck gewonnen, dass wir bei der Integration der drei Millionen Türken und Türkischstämmigen, die in Deutschland leben, entscheidend weitergekommen sind. Wir haben eine falsche Vorstellung von Integration, wir denken, das passiert einfach so von allein. Aber das ist ein Irrtum.
Und Erdoğ an?
»Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind«, zitierte er im Jahr 1998, damals noch Oberbürgermeister von Istanbul, aus einem Gedicht des Vordenkers des türkischen Nationalismus Ziya Gökalp: »Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten«, heißt es in dem Gedicht weiter. Damals wurde er für das Rezitieren des Gedichts noch wegen religiöser Hetze zu zehn Monaten Haft verurteilt und bekam Politikverbot. 2001 gründete er seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die AKP, und kehrte in die Politik zurück.
No words needed.
Kein weiterer Kommentar.
Und ich?
Ich schäme mich, gestehen zu müssen, in all den Jahren in der Türkei so gut wie kaum ein türkisches Wort gelernt zu haben. Bis auf diese, die mir sehr wichtig sind:
Tesekkür ederim!
Das heißt Danke.
Und dann natürlich das türkische Wort für Freiheit:
HÜRRIYET!