»Worüber schreibst du?« Das war immer die erste Frage, wenn ich in der Vergangenheit Freunden erzählte, dass ich an einem Buch sitze.
»Über meine Zeit bei BILD«, war meine schnelle, simple Antwort.
Meine Zeit bei BILD?
Bald merkte ich, dass diese Antwort zu kurz ausfiel.
Ja, am Anfang ging es mir darum, in diesem Buch die Wahrheit über Geschichten zu erzählen, die das Land bewegt haben. Davon habe ich viele. Aber sehr schnell holte mich ein, was ich vorher schon wusste:
Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Verschiedene Wahrheiten können sich diametral gegenüberstehen. Man kennt das Beispiel von der 6 und der 9: Je nach Perspektive ist dieselbe Zahl für den einen eine 6 und für den anderen eine 9. Wenn also ein Christian Wulff bis heute felsenfest davon überzeugt ist, ich hätte es seinerzeit wegen seiner Äußerung »Der Islam gehört zu Deutschland« auf ihn abgesehen, dann ist das seine persönliche, subjektive Wahrheit, an der meine Perspektive und meine gefühlt objektive Wahrheit nichts ändern werden – egal, wie gut ich sie mit Argumenten und Dokumenten belegen kann. Und wenn ein Jürgen Trittin nach über 20 Jahren immer noch überzeugt ist, dass BILD damals ein Foto gefälscht hat, um ihm zu schaden, dann werde ich ihn auch in den nächsten 20 Jahren nicht vom Gegenteil überzeugen können – egal, wie nett und entspannt wir mittlerweile miteinander plaudern, wenn wir uns über den Weg laufen.
Was ich damit sagen will: Ich als Journalist bin auch nur ein Mensch. Ab dem Moment, in dem ich auf einen Sachverhalt schaue, nehme ich automatisch eine subjektive Perspektive ein. Einen objektiven Journalismus, der für sich in Anspruch nimmt, nichts als die Wahrheit zu erzählen, gibt es nicht. Das ist Wunschdenken.
Und dann tauchte beim Schreiben immer öfter die Frage in meinem Kopf auf: Was ist eigentlich die tiefere Essenz dieser Geschichten, die ich erzähle?
Dieses Buch sollte keine belanglose Anekdotensammlung aus dem Büro des BILD-Chefredakteurs werden. Mit Putin im Schwarzen Meer schwimmen gehen? Schön und gut. Aber was sagt diese Episode über den Kreml-Herrscher aus? Was lässt sich daraus ableiten? Welche Erkenntnisse ergeben sich aus meinem Protokoll dieser ungewöhnlichen und – retrospektiv betrachtet – sicherlich auch schrägen Begegnung? Ist da etwas für den Leser dabei, damit er Putin heute besser verorten kann? Oder mein launiges Tischtennisspiel mit Günter Wallraff? Ganz nett. Klar. Aber was ist dem nicht alles vorausgegangen? Nicht nur eine jahrzehntelange, allseits bekannte Feindschaft, sondern auch ein behutsamer Annäherungsprozess, der für BILD und für mich als BILD-Chefredakteur zu einer schmerzhaften Reise in die Vergangenheit wurde. Und mein Bild von BILD an dieser Stelle ein Stück weit erschüttert hat.
Das sind dann Geschichten, die Geschichte erzählen.
Zeitgeschichte .
Für mich wurde das Schreiben dieses Buches zu einer unerwarteten Seelenreise, denn ich habe es nicht dabei belassen wollen, meine Geschichten nur aus der Sicht des unbeteiligten Beobachters zu erzählen, des Chronisten. Eine Rolle, in der ich mich jahrzehntelang am wohlsten gefühlt habe. Ich habe den Geschichten Kai Diekmann hinzugefügt. Was ich gedacht, was ich gefühlt habe, was mich bewegt hat, wenn wir uns für Schlagzeilen entschieden, die das Leben anderer Menschen auf den Kopf stellten – oder ich selbst unfreiwillig in die Schlagzeilen geriet. Denn: Häufig war ich ja nicht nur als BILD-Chefredakteur unterwegs, sondern auch als persönlich Betroffener: Ganz gleich, ob es um den Anschlag auf unser Familienauto ging, die spektakuläre Strafanzeige der SPD-Spitze gegen mich oder um Helmut Kohl, dessen Trauzeuge ich war. Meine Gefühle in diesen Momenten zu beschreiben, fiel mir unglaublich schwer – 16 Jahre an der Spitze von BILD machen aus deinem Herzen so etwas wie eine emotionale Verschlusssache.
Gestatten Sie mir einen letzten Gedanken: Was ist eigentlich die Macht eines Chefredakteurs? Was war meine Macht als BILD-Chefredakteur?
Die Antwort ist relativ einfach: 16 Jahre habe am Ende ich darüber entschieden, wer die große Bühne und die hellen Scheinwerfer bekommt, um mit seinen Botschaften ein Massenpublikum zu erreichen. Der Politiker seine Wähler, der Popstar seine Fans, der Konzernchef seine Kunden. Ich war Gatekeeper und Agenda-Setter – unsere Schlagzeilen haben die Themen gesetzt, über die Deutschland sprach. Oder wie wir Journalisten es gern feierlich ausdrücken:
Es ist die Aufgabe der Medien, das Gespräch der Gesellschaft über sich selbst in Hinblick darauf zu organisieren, wie wir miteinander leben wollen.
Heute, im Zeitalter von Social Media, ist auch das nur noch Wunschdenken.
Mittlerweile kann jeder sein eigener Publisher sein. Die digitalen Plattformen machen es möglich, das Massenpublikum an den klassischen Medienmarken vorbei direkt zu erreichen. Was früher die Zeitung war, ist heute Twitter. Was früher das Fernsehen war, ist YouTube. Heute bist du als Star, Fußballspieler, Politiker nicht mehr darauf angewiesen, dass dich eine Zeitung, eine Fernsehstation interviewt, dir die Bühne gibt, die richtigen Fragen stellt. Stars wie Taylor Swift, Ronaldo, Kim Kardashian mit ihren Hunderten Millionen Followern auf Instagram, TikTok und Facebook sind völlig unabhängig von jedem Fernsehsender oder jeder Zeitung. Donald Trump konnte es völlig egal sein, was New York Times oder CNN über ihn berichtet oder nicht berichtet haben – er kommunizierte über Twitter direkt mit seinen Wählern und hatte auf diesem Kanal zum Ende seiner Amtszeit mehr Follower als New York Times und CNN, also die größte Zeitung und der größte Fernsehsender, zusammen.
Genau das macht Journalismus im 21. Jahrhundert wichtiger denn je: Weil es eben darum geht, diese massenhaften Selbstinszenierungen auf Social Media auf ihren Gehalt und ihre Wahrhaftigkeit hin zu überprüfen, Relevanz herzustellen, Fakten einzusortieren, eine Nachrichtenhierarchie zu definieren:
Was ist wichtig? Was ist weniger wichtig? Need to know oder nice to know ?
Es ist übrigens ein gefährliches Missverständnis zu glauben, dass jeder Blog, jede Internetveröffentlichung Journalismus sei und jeder Blogger ein Journalist. Journalismus ist ein Handwerk, das man lernen muss, nicht einfach nur irgendwas mit Medien.
Mit meinem Buch habe ich versucht, Journalismus zu erklären, wie er in der wirklichen Welt passiert – und nebenbei auch versucht, mit Klischees über unseren Berufsstand aufzuräumen. Es ist eben nicht wie im Fernsehen, wo der Chefredakteur in den Raum brüllt: »Räumt mir die Seite eins frei!« Kettenrauchende, morgens schon Whiskey trinkende Zyniker gehören in das Reich der Fantasie. Ich habe sie in keiner Redaktion erlebt. Dafür unglaublich viele gestandene, leidenschaftliche Journalisten, die selbst nach vielen Jahren und Erlebnissen wie am ersten Tag für ihren Beruf brannten.
Ich habe meine BILD beschrieben, wie ich sie 16 Jahre als Chef erlebt und gemacht habe. Wenn es um die Zeit nach mir bei BILD geht, dann halte ich es wie in der Politik: Über Nachfolger wird öffentlich nicht geredet. Auch wenn ich mir ohne Frage eine glücklichere Entwicklung gewünscht hätte. Das alles – und noch viel mehr – ist Stoff für ein nächstes Buch. Warten Sie es ab.
Das war es jetzt also.
Mein Blick auf die Mechanismen der Macht.
Meine Erlebnisse mit den Protagonisten der Macht.
Meine Wahrnehmung.
Sollten sich meine Erinnerungen an der einen oder anderen Stelle nicht mit den Erinnerungen anderer decken, bitte ich um Nachsicht. Wie gesagt: Alles ganz und gar subjektiv.
Eben: Ich war BILD.