Kapitel 9
LEENA
sehr zu Kosts Verärgerung brachen wir am nächsten Morgen erst spät auf. Ich hatte meine Fähigkeiten ausgereizt, indem ich drei Tierwesen auf einmal herbeigerufen hatte, und konnte mich aufgrund meiner heftigen Erschöpfung nicht vom Fleck rühren. Wir waren nur einen Tagesritt von Ortega Mar entfernt, aber wenn ich nicht in die Gänge kam, würden wir noch einmal unser Nachtlager aufschlagen müssen.
Als die unerträglichen Strahlen der Vormittagssonne auf der Leinwand meines Zelts drohten, mich bei lebendigem Leib zu braten, packte ich schließlich meine Sachen zusammen. Dabei ignorierte ich das Gewicht von Kosts Blick geflissentlich, der mir eine deutliche Zielscheibe zwischen die Schulterblätter brannte. Die Zeelahs standen schon bereit, und er übernahm die Führung, gefolgt von Noc und Calem, die vor Ozias und mir ritten.
«Wie geht’s dir?» Ozias griff in seine Tasche und bot mir eine Handvoll Mandeln an.
Ich steckte ein paar salzige Bissen in den Mund und kaute langsam. «Ich bin müde.»
Mehrere Schritte vor uns und in ihre eigene Unterhaltung vertieft wechselten Noc und Calem leise Worte, die von etwas durchzogen waren, das ich nicht einordnen konnte. Die Schultern schwer und mit dunklen Wolken in den Augen war Noc undurchdringlich.
«Ich wäre auch müde, wenn ich drei Tierwesen auf einmal herbeigerufen hätte.» Ozias tauschte die Mandeln gegen eine Feldflasche aus, und dankbar nahm ich sie an.
«Ja.» Ich schluckte metallisch schmeckendes Wasser. «Was ist mit Calem los?»
Ozias zuckte mit den Schultern. «Verletzter Stolz?»
«Mehr braucht es nicht, um von ihm in Ruhe gelassen zu werden?»
«Das hättest du wohl gern.» Er rieb sich den Nacken. «Er wird im Nu wieder damit anfangen.»
«Er ist ein Schürzenjäger, aber damit werde ich fertig.» Mein Blick glitt an Calem vorbei zu Kosts steifem Rücken. «Kost dagegen …»
Ozias lachte leise. «Nun ja, du hast schließlich damit gedroht, ihn umzubringen.» Ich verzog das Gesicht, und sein Grinsen wurde breiter. «Er knabbert eindeutig auch an verletztem Stolz, aber bei ihm brauchst du dir wenigstens nie Sorgen zu machen, dass er mit dir flirtet so wie Calem. Er ist nicht an Frauen interessiert.»
«Oh.» Ich wischte ein verirrtes Blatt von meinem nackten Arm. Ich hatte mir gleich nach dem Aufwachen eine frische ärmellose Tunika und eine Leinenhose angezogen, aber der Schmutz vom Kampf mit Calem klebte noch immer auf meiner Haut.
Sonnenlicht sickerte durch das dichte Blätterdach der Bäume. Giasem-Dickicht säumte den Weg, und in den geschwungenen Blättern hatten sich kristallklare Wassertropfen gesammelt. Bei jedem Windhauch verströmten die glockenförmigen Blüten ihren Duft – eine wundersame Mischung aus Jasmin und Lavendel mit einer Spur von Zitrone.
Ein verirrter Lichtstrahl erhellte Ozias’ Gesicht, und er schloss die Augen und hob das Kinn zum Himmel. Ich musste einfach lächeln. «Oz, wartet eigentlich zu Hause jemand auf dich?»
«Oz?» Er öffnete die Augen, und etwas Neckisches lag in seinem Blick. «Ist das mein neuer Name?»
«Wenn es dich nicht stört.»
«Nein, er gefällt mir irgendwie.» Er lächelte vor sich hin und klopfte den gestreiften Hals seines Zeelahs. «Aber um deine Frage zu beantworten, nein. Definitiv nicht.»
«Wie das?»
«Ich bin zu schüchtern.»
Ich blinzelte verdutzt. «Nein, bist du nicht.»
«Du bist die einzige Frau außerhalb von Cruor, mit der ich mehr als fünf Minuten geredet habe, ohne in ein Fettnäpfchen zu treten.» Er verstummte kurz und warf mir einen Blick von der Seite zu, bevor er die Zügel seines Zeelahs fester umklammerte. «Zunächst mal bin ich kein Kerl, auf den man einfach so zugeht. Das weiß ich. Und dann … Keine Ahnung. Dann ist es, als würde mein Verstand aussetzen. Bei dir ist das anders.»
Oz war eine einschüchternde Erscheinung – das ließ sich nicht bestreiten. Aber in seiner hünenhaften Gestalt steckte ein freundlicher und sanfter Riese. Seine Augen suchten in meinem Gesicht nach einer Antwort, und ich seufzte leise. «Nennen wir es den Tiermagier-Charme.»
Er runzelte die Augenbrauen.
«Meine ganze Existenz basiert auf meiner Fähigkeit zu betören. Ich bin ein lebendes Lockmittel. Mein Körper produziert einen nicht wahrnehmbaren Duft, der andere beruhigt.»
«Kannst du das kontrollieren?»
Kopfschüttelnd starrte ich auf das verschlungene Blätterdach. «Das ist kein Schalter, den ich umlegen kann. Manchmal vergesse ich sogar, dass es da ist.» Früher hatte ich es gehasst – das erste Jahr meiner Verbannung war voll von Männern und Frauen gewesen, die mir rein von Lust getrieben Avancen gemacht hatten. Erst einige Zeit später war mir bewusst geworden, dass es mir so lieber war. Körperliche Befriedigung ohne emotionale Bindung. Dez war der Erste gewesen, der diese Grenze ansatzweise überschritten hatte. Doch durch meine inhärente Anziehungskraft und die Existenz des Rats hatte ich kein Interesse daran, es je wieder mit Vertrauen zu versuchen. Nicht wenn es so schwer war, jemandes wahre Absichten zu erkennen.
Nocs Absichten.
Mein Blick fand ihn erneut, ohne dass ich es darauf angelegt hätte. Seine Warnung hallte mir immer noch durch den Kopf. Ganz egal, wie sehr du dich anstrengst, ganz egal, wie viele Kämpfe du gewinnst, mich wirst du niemals überleben. Seine Worte hatten so drohend geklungen, und dennoch hatte ich das Gefühl, als ginge es ihm um etwas anderes. Nicht darum, dass er mich ohne jeden Skrupel außer Gefecht hätte setzen können, sondern um etwas Gefährlicheres, falls das überhaupt möglich war. Ein Schauer krabbelte wie auf Spinnenbeinen über meinen Rücken.
Oz lenkte sein Zeelah näher. «Alles okay?»
«Ja, aber genug von mir.» Ich konnte es einfach nicht gut sein lassen. «Was ist mit Noc? Wer wartet auf ihn, wenn diese Reise vorbei ist?»
Etwas Fremdartiges zuckte über Oz’ Gesicht. «Niemand. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie mitbekommen, wie er jemanden mit nach Hause gebracht hat.»
«Noch nie?» Die Rädchen in meinem Kopf drehten sich. Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Keine dauerhaften Bindungen, sicher. Aber keinen einzigen Menschen? Nocs Interesse an der Gyss kam mir wieder in den Sinn. Einem Schurken konnte ich ein so spitzbübisches Wesen mühelos geben. Die Macht einer Gyss hing von ihrem Meister ab. Jene mit mehr Mumm, Entschlossenheit, Magie – was auch immer die treibende Kraft sein mochte – konnten sich erfolgreich alles wünschen. Jene mit schwachem Willen oder fragwürdigen Wünschen? Bei denen würde eine Gyss nicht die nötige Verstärkung bekommen, um wirkliches Unheil anzurichten.
Aber jemand wie Noc ?
Gefahr.
«Weißt du, warum er eine Gyss will?»
Oz sah mich von der Seite an. «Nein. Aber du könntest Kost fragen. Er kennt ihn am längsten.»
«Nein, danke.»
Ein leises, gefühlvolles Trällern stach zwischen den anderen Vogelstimmen hervor. Die Tonlage wechselte melodisch zwischen den Oktaven und passte nicht dazu. Ich reckte den Hals, um die Äste der Baumwipfel abzusuchen. Ich kannte diesen Laut – es war der Kontaktruf eines Femsys.
Ein Zweig bewegte sich, und der Vogel kam zum Vorschein. Der stahlgrau gefiederte Femsy blähte erneut die von einem violetten Fleck geschmückte Brust, um eine Reihe von Tönen von sich zu geben. Mein Blut gefror. Dieses Tierwesen war hier nicht heimisch. Im Gegenteil, es war weit fort von zu Hause, und die drei schwarzen Knopfaugen konnten leicht Informationen an seinen Meister telegraphieren.
Adrenalin schoss mir durch die Adern, und mein Symbol erwachte zum Leben. Der Vogel visierte meine Hand an. Hatte er sich einfach nur verirrt? War er von einer starken Windströmung davongetragen worden und versuchte einfach nur, zu seiner Schar zurückzukommen? Oder hatte er einen Meister? Für eine Verbindung war er zu weit weg. Aber wenn er blinzelte … Wenn der schützende Film über seine Augen glitt und dabei unheilvoll gelb schimmerte, dann hätte ich Gewissheit. Diese unverwechselbare Färbung war eine Nebenwirkung der Zähmung. Kein wilder Femsy wies diese Färbung auf.
Götter, er musste blinzeln .
«Leena? Was ist los?» Oz’ Stimme riss mich aus meiner Konzentration. Der Femsy zwitscherte noch einmal, bevor er sich in die Wipfel schwang. Als das Flattern seiner dünnen Flügel verklang, wurde mir schwer ums Herz.
Ich hatte den Film nicht gesehen. Aber tief in mir drin wusste ich es. Ein Tiermagier beobachtete mich.
«Leena?» Er streckte den Arm aus und berührte mein Knie. Ich zuckte zusammen.
«Tut mir leid, dachte, ich hätte was gesehen.»
Sein Sattel knirschte, als er sich umdrehte, um hinter sich zu sehen. «Was denn?»
«Einen Spion. Aber auf mich ist schließlich ein Kopfgeld ausgesetzt, also sollte mich das nicht überraschen, schätze ich.»
Oz runzelte die Stirn. «Wen hast du so wütend gemacht, dass es deinen Tod rechtfertigen würde?»
Ich schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der sich in meinem Mund bildete. «Meine Vermutung? Ein ehemaliger Liebhaber.»
«Warum dann uns anheuern? Mir scheint, ihr Tiermagier könnt ganz gut selbst miteinander fertigwerden.»
«Tiermagier halten nichts davon, ihre Tierwesen zu benutzen. Wir genießen ihre Gesellschaft, messen unsere Kräfte. Wenn nötig verteidigen sie uns. Wir würden ihnen jedoch nie befehlen … Das ist noch nie dagewesen und unvorstellbar. Sogar für diesen Mann.» Ich warf Oz einen Seitenblick zu. Vor uns brach Kost mit seinem Zeelah durch einen dichten Teil des Waldes und folgte dem Weg hinaus auf ein sonnenüberströmtes Feld. Eine kurze Abwechslung von dem ständigen Blätterdach.
«Wie heißt er?»
Die Sonne verscheuchte meine letzten kalten Schauer, und ich seufzte. «Wynn. Ich habe herausgefunden, dass er etwas Verbotenes tat, und er hat mir das Verbrechen in die Schuhe geschoben. Aber er muss wohl zu dem Schluss gekommen sein, dass ihm meine Verbannung nicht mehr genug ist.»
«Das tut mir leid.» Oz’ Blick fand meinen, und ich glaubte ihm.
«Er war nicht immer so.» Ich drehte meinen Ring. «Irgendetwas ist mit ihm passiert. Er ging auf die Jagd nach Tierwesen, und als er zurückkam … war er nicht mehr derselbe. Er hat mir nie gesagt, was passiert ist.»
Ich wusste nicht, warum ich Oz das erzählte. Sogar jetzt, Jahre nach unserer Beziehung, quälte mich noch immer die Erinnerung an denjenigen, der Wynn einmal gewesen war. Er hatte alles zerstört, und ich würde nie wieder in seine Arme zurückkehren. Doch die Fragen waren geblieben. Immer noch ging ich in meiner Erinnerung jene Nächte durch, um herauszufinden, was vor so langer Zeit mit ihm passiert war. Warum er Liebe und Mitgefühl gegen Macht und Herrschaft eingetauscht hatte.
Oz’ leise Stimme riss mich wieder zurück. «Trotzdem, du hast was Besseres verdient.»
Etwas in mir regte sich. Etwas Warmes. Und ich erstickte es im Keim. «Ja, ja.»
Wir folgten dem Weg durch das kniehohe Weizengras vor uns. Ein Windstoß strich über das Feld und peitschte die Grashalme gegen die Beine meines Zeelahs. Ein weiterer schriller Vogelruf verspottete meine Ohren.
Ich hatte keine Möglichkeit, den Femsy aufzuspüren. Ich konnte lediglich meine Aufgabe erfüllen. Je eher ich die Tierwesen für meine Begleiter fand, desto besser. Ich musste zum Rat und meinen Namen reinwaschen, bevor Wynn irgendetwas noch Drastischeres unternahm.
Etwas Drastischeres als einen Assassinen anzuheuern.
Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange und musterte die Männer. Ich war mir nicht mal sicher, ob sich diese Assassinen nicht gegen mich wenden würden, sobald sie ihre Tierwesen bekommen hatten. Aber wenn ich ihnen die perfekten Tierwesen für ihre Bedürfnisse beschaffte, würden sie sich vielleicht, nur vielleicht, dazu verpflichtet fühlen, unsere Vereinbarung zu ehren.
Angenommen, Assassinen kümmerten sich überhaupt um so etwas wie Ehre.
Ein weiterer heftigerer Windstoß strich über die Ebene und ließ das Gras und die Bäume abseits des Wegrands rascheln. Als ich der Spur des Windes folgte, erregte etwas Weißes meine Aufmerksamkeit. Dort, am Fuß einer dicken Eiche, die die Wiese überblickte, saß ein Poi.
Das fuchsähnliche Wesen mit weißem Fell und einem einzelnen schwarzen Streifen entlang des Rückens musterte das freie Feld. Es war wahrscheinlich auf der Jagd nach Mäusen, und ich hatte nur Augenblicke, um zu handeln. Genau zwischen seinen übergroßen Ohren saß eine juwelenähnliche purpurne Kugel, und wenn er beschloss, seine Jagd einen Moment lang zu unterbrechen, um in seine Zukunft zu blicken, dann würde er mich kommen sehen.
Kein anderes Tierwesen war so perfekt für einen Kontrollfreak wie Kost.
«Oz.» Ich brachte meine Stute jäh zum Stehen und hielt meine Stimme gesenkt. «Da ist ein Tierwesen am Waldrand. Halt mein Zeelah fest. Ich habe keine Zeit für Erklärungen, aber folgt mir nicht.»
Verdutzt nahm er meine Zügel, als ich sie ihm in die Hände drückte und aus dem Sattel rutschte. Ich hatte nur Minuten, vielleicht Sekunden, bevor der Poi mich bemerkte. Tief geduckt schlängelte ich mich außerhalb der direkten Sichtlinie der Kreatur durchs Gras.
Ungefähr zehn Schritte entfernt hielt ich an und konzentrierte mich auf die schlafende Quelle der Macht in mir. Ich zapfte sie an und ließ ein Gefühl von Wärme und Glück in meine Fingerspitzen fließen. Das Angebot eines Bandes zwischen dem Wesen und mir, eine Demonstration von Liebe und Güte. Während ich mich langsam vorwärtsbewegte, verströmte mein Körper ein friedliches rosenholzfarbenes Leuchten.
Der Kopf des Poi zuckte in meine Richtung. Runde braune Augen hefteten sich auf mich, und ein wolkiger Nebel trübte das vormals kristallklare Juwel auf seinem Kopf. Eine neue Zukunft braute sich zusammen, und schon bald würde er sie sehen können. Er leckte sich die Lefzen.
Mit nach oben gedrehten Handflächen winkte ich ihn zu mir. «Na, komm. Es ist alles in Ordnung.» Ich versuchte, noch mehr Macht auszuströmen, ihn mit der Aussicht auf die Tiermagierbindung zu locken, doch die Erschöpfung schlug schnell und hart zu. Durch die plötzliche Machtanstrengung wich das Adrenalin aus meinem Körper, und Dunkelheit färbte den Rand meines Blickfelds. Sofort erlosch das warme Licht, und der Poi sah mich nur noch als einen Eindringling in seinem Revier, einen, der sich in Reichweite seiner Kiefer befand.
Knurrend fletschte er spitze, in Gift gehüllte Zähne. Auf sicheren Füßen schoss er vorwärts. Er wusste bereits, wie es ausgehen würde – ich war nur zu langsam von Begriff.
Er biss mich in die Hand und riss das weiche Fleisch auf. Ich zog mit einem schrillen Fluch die Finger zurück, stolperte rückwärts auf die Wiese. Erschöpfung und Schmerz erfassten mich, und ich ging zu Boden. Ich hatte versagt. Dabei hätte ich es besser wissen sollen, als mich so rasch, nachdem ich meine Macht erschöpft hatte, schon wieder auf die Pirsch zu begeben, um ein Tierwesen zu zähmen. Es war eine Ewigkeit her, seit ich zuletzt so dumm gewesen war. Warum trieben mich diese Assassinen dazu, über meine Grenzen zu gehen? Schwarze Punkte blühten in meinem Blickfeld auf, und meine Glieder wurden schwer. Diese Männer waren anstrengend und erdrückend und nervig und … und ich wollte ihnen mit ihren Tierwesen gerecht werden. Deswegen hatte ich mich überanstrengt.
Bevor ich diesen Gedanken näher untersuchen konnte, ertönte ein schrilles Klingeln in meinen Ohren, und ich versank in einer Welle aus Nacht.
«Warum hast du sie alleine losrennen lassen?»
«Sie hatte ein Tierwesen gesehen. Was hätte ich denn tun sollen?»
«Sie aufhalten.»
Durch die Watte in meinen Ohren und das Knistern eines fernen Feuers erkannte ich undeutlich die gedämpften Stimmen von Kost und Oz. Ich war zu erschöpft, um auch nur die Lider zu öffnen. Ich hatte mich überanstrengt. Zu viel Macht in zu kurzer Zeit benutzt. Kost hatte recht: Ich hätte nicht versuchen sollen, den Poi zu zähmen.
«Wie geht es ihr?» Noc. War das Sorge in seinen Worten? Oder nur der Nebel, der seltsame Dinge mit meinen Sinnen anstellte? Langsam öffnete ich die Augen. Drei Schatten flackerten im orangefarbenen Licht eines Feuers auf meiner Zeltwand.
«Wir haben ihre Hand verbunden, aber das hilft nicht gegen das Gift.» Kosts Worte waren knapp.
Gift? Oh. Mit trägen und unbeholfenen Fingern zog ich den Rand meiner Kalbsfelldecke zurück, um einen Blick auf meine rechte Hand zu werfen. Poi-Gift. Schwarzer Schleim quoll aus dem Verband hervor, und ein onyxfarbenes Muster aus Dunkelheit zeichnete meine Adern nach. «Verflucht.»
Die drei Gestalten draußen wurden stocksteif. Dann wurde der Eingang meines Zelts zurückgeschlagen, und sie kamen hereingekrochen.
Mein Blick fiel zuerst auf Noc, und mein Puls steigerte sich von leichtem Galopp zu ausgewachsener Panik. Wilde pechschwarze Augen nagelten mich fest.
Ich sank tiefer in die Decken, um Abstand zwischen uns zu bringen. «Was?»
Schroffe Worte zwängten sich zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. «Was hast du dir dabei gedacht?»
Hinter ihm presste Kost die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Oz gab keinen Laut von sich. Seine traurigen Augen blieben an der Flüssigkeit hängen, die aus dem Verband an meiner Hand sickerte.
«Wo ist Calem?»
Hitze einer anderen Art zuckte über Nocs verhärtete Züge. «Jagen. Vermutlich besser als du.»
Ich zwang mich in eine sitzende Haltung. Dunkler Schleim sammelte sich an meinen Fingerspitzen. «Sticheleien sind nicht nötig. Ich habe ein Tierwesen gesehen. Ich habe versucht, es zu zähmen, und versagt. Ende der Geschichte.»
«Das haben wir also von deinen Zähmungsfähigkeiten zu erwarten?» Kost verschränkte die Arme vor der Brust. Da er die Ärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt hatte, konnte ich die angespannten Muskeln seiner Unterarme sehen. Er war ein Sinnbild der Enttäuschung. Ich wollte ihn erwürgen.
Stattdessen schluckte ich ein Knurren hinunter. «Das Tierwesen war für dich.»
Stille dehnte sich zwischen uns aus. Die Wut wich aus Nocs Gesicht, als er vor mir in die Hocke ging. «Ich verstehe.»
«Wirklich?» Ich zog eine Augenbraue hoch und versuchte, mir einen Reim auf seine ständig wechselnde Stimmung zu machen. «Ich wollte meinen Teil der Vereinbarung erfüllen.»
Kost verzog finster das Gesicht. «Ich habe dir nicht gesagt, was für ein Wesen ich will. Deine Bemühungen waren umsonst.»
Oz fuhr sich mit der großen Hand über das geschorene Haar. «Kost …»
«Du bist unausstehlich, weißt du das? Du hättest dieses Tierwesen gewollt, vertrau mir.» Ich ballte die Faust und unterdrückte einen leisen Aufschrei, als Schmerz durch meinen Arm bis hoch zur Schulter schoss.
Kost versteifte sich. «Maß dir nicht an zu wissen, was ich will. Du weißt gar nichts über mich.» Ohne ein weiteres Wort stolzierte er hinaus, dabei stampften seine Fersen heftiger auf die Erde als nötig.
Ein schwerer Kloß bildete sich in meinem Magen. Damit Noc sein Versprechen hielt, musste Kost dieses Tierwesen wollen. Darüber hinaus musste er seine Kreatur lieben. Ein Tierwesen, das es wert war, das Kopfgeld endgültig aufzuheben. Vielleicht würden sie dann nie wieder einen weiteren Auftrag auf meinen Kopf annehmen.
Jemand in der Gunst der Cruor. Ich sackte zurück auf mein behelfsmäßiges Bett aus gegerbten Fellen. Ich war nicht so dumm zu glauben, dass das je hätte passieren können. Man musste ihnen nur genug bezahlen, schon war die Abmachung vergessen. Aber bis dahin hätte ich bereits Welten zwischen uns gebracht, mit einem Myad im Schlepptau. Mit diesem Tierwesen an meiner Seite würde es niemand wagen, mich anzugreifen. Und es würde mir hoffentlich ein Treffen mit dem Rat ermöglichen.
«Ich werde mal nach Kost sehen.» Oz warf mir ein halbherziges Lächeln zu, bevor er durch die grünen Zeltklappen hinausschlüpfte.
Noc musterte mich von der Seite, dabei traten seine Gesichtszüge im Profil noch schärfer hervor. «Was für ein Tierwesen hast du versucht zu bekommen?»
«Einen Poi.» Ich spürte eine weitere Welle von Schmerzen und drückte meinen Arm fest an die Brust. «Glaub mir, dieses Tierwesen ist perfekt für Kost.»
«Warum sagst du das?»
«Abgesehen von ihrem fiesen Biss», ich krümmte die Finger, um die Steifheit zu verdrängen, «können Pois zwei Minuten weit in die Zukunft sehen. Äußerst nützlich, was strategische Planung angeht. Es ist ein B-Klasse-Wesen, das an die A-Klasse grenzt. Es erfüllt alle Anforderungen.»
Noc kam langsam bis auf eine Armlänge näher. Eine seltene Spur von Weichheit lag in seinem Blick. «Ich entschuldige mich.»
«Wofür? Du hast nichts falsch gemacht.» Ich zuckte zusammen, dachte aber nicht im Traum daran, mich zu bewegen. Er war so nah. Spannung flirrte zwischen uns. Es war wie dieser unüberwindliche Abstand zwischen unseren Fingern an dem Abend, an dem wir zusammen gegessen und uns stundenlang unterhalten hatten.
«Für Kost. Ich glaube, du hast recht … Dieses Tierwesen passt zu ihm.» Er lehnte sich vor, und mir stockte der Atem. «Was werden wir dagegen unternehmen?» Er nahm meine verletzte Hand, und ein Tropfen Gift fiel auf seine Handfläche. Mein Herz krampfte sich bei seiner Berührung zusammen. Ich wusste nichts über das Schicksal. Meine eigene friedliche Zukunft war mir grausam entrissen worden, und ich war geächtet und allein zurückgeblieben. Aber als ich nun Nocs Hände ansah, das Netz aus Linien und schwieligen Fingerspitzen, fragte ich mich, ob diese sich kreuzenden Linien irgendetwas mit mir zu tun hatten.
«Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, das in Ordnung zu bringen.» Ich konnte mich nicht dazu durchringen, den Blick abzuwenden. Ich wusste, ich sollte mich aus seinem Griff losreißen, Abstand zwischen uns bringen, aber seine Stimme war so leise. Gequält. Er war der Letzte, dem ich je vertrauen konnte, aber die beruhigende Wärme seiner Berührung, so im Widerspruch zu seiner üblichen Kälte, brannte den Schmerz des Gifts fort. «Ich muss den Poi zähmen. Er kann das Gift herausziehen.»
Nocs Finger strichen höher zu meinem Handgelenk, beinahe reflexartig. «Hast du die Kraft dazu?»
«Morgen.»
Seine Berührung erstarrte, als wäre ihm eben erst bewusst geworden, was er tat, und seine Augen blieben an der Stelle hängen, an der seine Finger mein Handgelenk berührten.
Unbehagen regte sich in meinem Bauch. «Alles in Ordnung?»
Dunkelheit legte sich zwischen uns. Die widersprüchlichsten Emotionen kämpften um die Kontrolle über sein Gesicht. Manche davon erkannte ich, manche nicht. Aber ich bemerkte einen Funken Sehnsucht. Einen Hauch Verzweiflung. War es wirklich so schmerzhaft, mich zu berühren? Warum?
Er ließ meine Hand fallen und nagelte mich mit einem Blick wie aus Granit gemeißelt fest. «Es geht mir gut. Wird deine Hand bis morgen durchhalten?»
Ich blinzelte verdutzt. «Ja, aber –»
«Gute Nacht.» Er erhob sich, und die Zeltklappe bebte, als er hinausstolzierte.
Hilflos starrte ich ihm hinterher. Es war nicht Teil der Abmachung, Noc zu verstehen. Ich sollte ihm seine Tierwesen besorgen, mehr nicht. Aber er hatte eine Art, die mich völlig einnehmen konnte, ohne dass er es auch nur darauf anlegte. Als der Schlaf an meinem Bewusstsein zerrte, neckte erneut das Aroma von Honig meine Sinne und verfolgte mich in meine Träume.