OSKAR
ODER
WHO THE FUCK IS WALDHEIM?

Als Oskar mit achtzehn ein Auslandsjahr in den USA machte, begab er sich auf die Suche nach seinem leiblichen Großvater, der damals vor vielen Jahren als Besatzungssoldat seine Großmutter geschwängert und anschließend sitzen gelassen hatte. Mithilfe seiner Gasteltern fand er ihn, rief ihn an und wurde prompt eingeladen. Während des gemeinsamen Abendessens richtete der alte Mann unvermittelt ein Gewehr auf Oskar und sperrte ihn in seinen Keller, wo er drei Nächte und zwei Tage verbrachte, bevor er wieder ans Tageslicht gezerrt wurde. In diesen sechzig Stunden Gefangenschaft in dem fensterlosen Kellerraum machte Oskar die Hölle durch, eine wahnsinnige Angst lähmte alles an ihm, denn er war sich sicher, dass er bald sterben müsse. Sein kurzes Leben lief wie ein Film vor ihm ab.

Hätte Oskar eine Vagina gehabt, hätte ihn seine Mutter nicht zur Adoption freigegeben.

Er wurde am 24. Dezember 1968 geboren, doch für seine Mutter Agnes Matzerath war er kein Christkind. Als sie nämlich seinen kleinen Penis sah, fing sie an zu weinen, sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen, so sehr musste sie schluchzen. Man konnte ihr den Säugling nicht auf den Bauch legen, was sie ohnehin nicht wünschte. Sie hatte sich sehnlichst eine Tochter gewünscht, ein Püppchen zum Ankleiden und Spielen, später eine Verbündete, mit der man von Frau zu Frau reden konnte. Nur eine Stunde nach der Geburt entschloss sie sich, das Baby zur Adoption freizugeben.

Sie tat es dann doch nicht so schnell, weil ihre Krankenzimmergenossin, eine erzfromme Religionslehrerin, sie dazu überredete, den Sohnemann zu behalten. Diese Lehrerin hatte gerade ihre dritte Tochter zur Welt gebracht und starrte unverhohlen gierig auf Oskars Geschlecht. Schließlich war sie es, die ihn die meiste Zeit wickelte, herumtrug und ihm die Flasche gab, denn er war zu einer Zeit geboren worden, in der Muttermilch als nicht gesund und steril genug für Babys erachtet wurde. Er durfte also nie an die prallen Brüste seiner Mutter, sie stillte unter Schmerzen ab und er nuckelte lustlos aus dem Gummisauger sein dünnes Süppchen.

Seinen Namen Oskar verdankte er dem kleinwüchsigen Oskar Matzerath mit der Blechtrommel, dessen Mutter wie seine Agnes geheißen hatte. Ein junger Deutschlehrer, der ihr erster großer Schwarm gewesen war, hatte vor einigen Jahren bei ihrem Namen aufgehorcht, gelacht und gesagt: Du heißt wie eine Figur in Günter Grass’ »Blechtrommel«. Daraufhin kaufte sie sich das Buch und begann es zu lesen, um den jungen Mann zu beeindrucken, sie schaffte es aber nicht einmal annähernd bis zum Schluss. Da sie sich nur einen Mädchennamen überlegt hatte, fühlte sie sich überrumpelt, als die Hebamme fragte: »Wie soll denn der stramme Kerl heißen?«, und sie dabei mehrere Augenpaare gespannt anschauten. In ihrer Verlegenheit lief die Zwanzigjährige rot an und hatte nicht den Mut zu sagen, dass sie keinen Bubennamen parat hatte und noch Zeit zum Nachdenken brauchte. Innerhalb weniger Sekunden überlegte sie fieberhaft, was zu Matzerath und Agnes passen würde und natürlich kam ihr Oskar in den Sinn. Unwillkürlich musste sie grinsen, ja, das war es: Oskar, es konnte nur Oskar sein, Oskar Matzerath, der kleine Mann mit der Blechtrommel. Genauso eine Blechtrommel wollte sie ihm zum ersten Geburtstag schenken. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen.

Agnes Matzerath versuchte es also eine Weile mit ihrem Baby in ihrer Einzimmerwohnung und gelangte an ihre Grenzen. Oskar litt an Koliken und schrie wie am Spieß, sie hasste ihn und haderte mit ihrem Schicksal. Da saß sie nun mit einem Kind, verlassen und unverheiratet.

Ihrem starken Wunsch, geheiratet zu werden, verdankte Oskar überhaupt sein Leben. Ihr Freund Martin Baumann (er war der Sohn des amerikanischen Besatzungssoldaten), drei Jahre älter als sie, wollte und wollte ihr einfach keinen Heiratsantrag machen, und so entschloss sie sich, der Sache mit einer Schwangerschaft ein bisschen nachzuhelfen. Zunächst sah es dann wirklich so aus, als hätte »die kleine Panne« – so titulierte Oskars Mutter seinem Vater gegenüber die ganze Sache – tatsächlich geholfen, der Heiratsantrag erfolgte, die Hochzeit wurde geplant. Doch im sechsten Monat der Schwangerschaft packte der werdende Vater plötzlich seine Siebensachen und verschwand. Alles Bitten und Betteln half nichts, er konnte auch keine Gründe nennen, die verstand Agnes erst einige Wochen später, als sie ihn Hand in Hand mit einer zarten attraktiven Blondine vor dem Schaufenster eines Möbelgeschäfts entdeckte. Für sie brach eine Welt zusammen.

Nach tränenreichen Wochen erholte sie sich wieder und sagte der Welt den Kampf an. Sie fand Trost in der Vorstellung, bald ein kleines Mädchen nur für sich zu haben, es mit niemandem teilen zu müssen. Sie und ihre Tochter gegen den Rest der Welt! Völlig überzeugt, dass es ein Mädchen sein würde, besorgte sie sich rosa Sachen aus den Secondhandshops und suchte nur nach einem Mädchennamen: Claudia.

Mit dem rosa gekleideten brüllenden Oskar zu Hause verlor sie mehrmals die Nerven. Es war alles anders, als sie es sich vorgestellt hatte, sie bekam schwere Depressionen, war ständig nervös und überfordert. Agnes fühlte sich krank, erschöpft und hatte das Gefühl, ihr junges Leben verpfuscht zu haben. Ihre Eltern waren bei einem Reisebusunfall vor fünf Jahren ums Leben gekommen und andere Verwandte, die sie hätte um Unterstützung bitten können, hatte sie nicht. Sie fühlte sich schrecklich einsam und alleine. Das Mutterschaftsgeld reichte von vorne bis hinten nicht, der Exfreund weigerte sich, Alimente zu zahlen und strebte einen Vaterschaftstest an, sie selbst, Agnes, musste wieder arbeiten gehen und das Baby, das viel schrie und erbrach, den ganzen Tag in einer von Nonnen geführten Krippe lassen. Vor sieben Uhr früh brachte sie den Kleinen, oft nicht ausreichend angezogen, in die Krippe und um fünf Uhr nachmittags, müde und ausgelaugt, holte sie ihn wieder ab, mit dringlichen Ratschlägen der Nonnen versehen.

Einmal konnte sie sich nicht mehr beherrschen und sie begann, den Kleinen zu würgen. Ab und zu ging sie samstagabends in die nächste Bar und betrank sich, während zu Hause im Gitterbett der Säugling schrie und schrie. Eines Nachts traf sie zufällig auf die Freundin ihres Exfreundes, die nicht wusste, wen sie vor sich hatte, und redselig plauderte: über die geplante Hochzeit mit dem Mann ihres Lebens, über sein Wunschkind, das sie bereits in sich trug, über seine hässliche, fette Exfreundin und deren furchtbare Eigenschaften und Angewohnheiten.

Um fünf Uhr früh torkelte Agnes stockbesoffen und am Boden zerstört nach Hause und drückte voller Schuldgefühle ihren plärrenden Sohn an sich. Nachdem der Kleine eingeschlafen war, erhängte sie sich in der Küche an dem Haken, an dem die Deckenlampe hing. Vorher hatte sie ihren Exfreund telefonisch gebeten unbedingt vorbeizukommen, sie hätte ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Er kam am Abend vorbei, fand die Tür unverschlossen, die erhängte Agnes von der Küchendecke baumelnd und das ausgekühlte, hungrige, vollgeschissene, schreiende Baby im Schlafzimmer vor. Oskar Matzerath war neun Monate alt, als sein Vater ihn beim Jugendamt mit der Bitte, Adoptiveltern für ihn zu finden, ablieferte.

Hätte Oskar Matzerath eine Vagina gehabt, hätte ihn seine Familie nicht adoptiert.

Das belesene Ehepaar Berger war äußerst verwundert, als es auf dem Jugendamt den vollen Namen des Kindes hörte. Sie sahen sich an und meinten übereinkommend, dass sie ihn von diesem Namen – ihrer Meinung nach eine zu gewaltige Bürde für einen kleinen Buben, die ihn im wahrsten Sinne des Wortes am Wachsen hätte hindern können – umgehend befreien sollten.

Familie Berger lebte auf dem Land und hatte drei Töchter, die jüngste davon gerade mal sechs Monate alt, als Oskar sich zu ihnen gesellte, und einen toten Sohn, der seit fast zwei Jahren auf dem Friedhof im Familiengrab lag. Konrad, so hatte der Kleine geheißen, war nur drei Monate alt geworden und eines Morgens nicht mehr aufgewacht, er war im Schlaf erstickt. Der Vater hatte den Tod des Kleinen sehr schwer verkraftet, und nachdem das darauffolgende Kind wieder eine Tochter gewesen war, hatte er die Aufnahme eines Adoptivsohns vorangetrieben. Das Adoptionsverfahren ging zügig vor sich, vor allem, weil Martin Baumann, der leibliche Vater, das Ganze so vorantrieb. Aus Oskar Matzerath wurde Oskar Berger und dieser wuchs in einem großen Haus auf, umgeben von Liebe, Kindern, Tieren, Büchern.

Er dankte das seinen Adoptiveltern, indem er ein äußerst pflegeleichtes Kind war, er war ruhig und machte keine Schwierigkeiten. Seine Kindheit verlief komplikationslos. Nur einmal, er war dreizehn, setzte er sich mit Schwung auf das Sofa und rammte sich dabei eine Stricknadel, die seine Schwester vorher liegen gelassen hatte, in seine rechte Gesäßhälfte. Er musste ins Krankenhaus und sich bäuchlings mit hochgestrecktem Hinterteil, ein Polster wurde daruntergelegt, auf den Untersuchungstisch legen, wo er dann von einer jungen Turnusärztin genäht wurde. Ansonsten kam nichts Außergewöhnliches vor.

Zwischen seinem fünften und dem achten Geburtstag machte Oskar seine ersten sexuellen Erfahrungen, allerdings wusste er in diesem jungen Alter noch nicht, dass es solche waren. Das wurde ihm erst viel später bewusst, und jedes Mal, wenn die Erinnerungen daran in ihm hochkamen, schoss ihm das Blut vor lauter Zorn und Scham in den Kopf.

Seine ersten Erfahrungen mit seinem kleinen Penis, der sich manchmal eigenartig und verwirrend steif aufrichtete, machte Oskar nicht durch eigene Erkundungen. Bei diesen ersten Erfahrungen spielte Martina Navrátilová eine zentrale Rolle. (Genau, diese große, knochige Tennisspielerin aus der Tschechoslowakei – ja, damals war es noch die Tschechoslowakei –, die sich gleich zu Beginn ihrer Karriere als Lesbe outete.)

Eine zweite und noch wesentlich größere Rolle spielte seine Tante Lucia. Die älteste Schwester der Mutter, unverheiratete Zahnarztgehilfin im Nachbarort, war eine eingefleischte Tennisnärrin. Selber beherrschte sie diese Sportart nur mittelmäßig, obwohl sie zwei Mal in der Woche trainierte, eher halbherzig als eisern, doch die Liveübertragungen der Grand-Slam-Turniere wollte sie um keinen Preis verpassen. Bei diesen Übertragungen fieberte sie leidenschaftlich und laut mit und verbrannte dabei wahrscheinlich mehr Kalorien als die Spielerinnen auf dem Tennisplatz.

Da sie keinen Fernseher in ihrer kleinen Wohnung hatte, kam sie bei solchen Gelegenheiten meistens zu ihrer Schwester Franziska und deren Familie. Bevor sie sich in den dunkelgrünen abgewetzten Lehnstuhl im Wohnzimmer fläzte, schnappte sie sich den kleinen Oskar, ihren Lieblingsneffen, wie sie sich dabei ausdrückte, und setzte ihn sich kurzerhand auf den Schoß. Widerstand wurde nicht geduldet und wäre Oskar auch nicht in den Sinn gekommen. Den Wünschen der Erwachsenen kam man nach, so war das eben. Außerdem bot Tante Lucias Tennisvernarrtheit die einzige Gelegenheit, in den Flimmerkasten starren zu dürfen.

Während also die Navrátilová auf dem roten Turnierplatz um den Sieg kämpfte, lief, schlug, stöhnte und schwitzte, wurde Oskar an einen molligen Frauenkörper gedrückt, abgeschmust, an einer bestimmten Stelle berührt, wieder gedrückt, so fest, dass er beinahe keine Luft mehr bekam. Tante Lucia stöhnte mit der Navrátilová um die Wette, der Einzige, der mucksmäuschenstill war, war der kleine Oskar.

Eigentlich konnte er Tante Lucia von allen seinen Tanten am wenigsten leiden. Sie brachte ihm nie Geschenke mit und machte laute, raue Späße auf seine Kosten vor der gesamten Familie. Am allermeisten jedoch ekelte er sich vor ihrem Gebiss: Die Tante hatte riesige gelbe Zähne und das darüberliegende graurosa Zahnfleisch wurde nicht nur beim schallenden Gelächter entblößt, sondern auch beim Reden und Lächeln, das eher ein Grinsen war. Nicht einzelne Zähne standen vor, das ganze Gebiss ragte nach vorne und erinnerte merklich an ein Pferdegebiss. Die Tatsache, dass Tante Lucia bei einem Zahnarzt arbeitete, empfand Oskar – und nicht nur er – ironisch. Die Kinder hörten manchmal die Scherze des Vaters, ob das Gebiss der Ordinationsgehilfin denn nun als Werbung für den Zahnarzt oder als Abschreckung diente.

Die ganze Prozedur nahm Oskar anfangs noch gerne in Kauf, um fernsehen zu dürfen, je älter er wurde, desto mehr hasste und verabscheute er sie. Zunehmend peinlich wurde es ihm, auf dem Schoß seiner Tante zu sitzen und von ihr gedrückt zu werden. Sobald er sie auftauchen sah, versuchte er zu entwischen und sich zu verstecken, was ihm nicht selten gelang, doch auch Tante Lucia reagierte auf diese Fluchtversuche. Sie betrat das Haus durch den Kellereingang und schlich sich regelrecht in die Küche, wo alle noch beim Mittagessen saßen, oder in das Wohnzimmer, wo die Kinder spielten. In solchen Fällen hatte Oskar keine Chance, an Tante Lucia vorbei zur Tür zu kommen und ihrem schnellen, muskulösen Griff zu entkommen. Sie hob ihn hoch, knuddelte ihn und schleppte ihn mit sich in den alten Lehnstuhl.

Erst im achten Lebensjahr getraute er sich, sich zu wehren; wenn sie ihn mit sich zog, schlug er ihr mehrmals gegen die Arme, wobei er schrie: »Lass mich los, ich will nicht mit dir fernsehen!« Anfänglich wollte Tante Lucia das nicht akzeptieren, sie lachte ihren Neffen aus und wieherte: »Natürlich willst du fernsehen!«, und nahm ihn auf den Schoß, wo er sich aber immer öfter befreien konnte.

Erst als er sie sogar in den Oberarm biss, begriff sie. Ihre Wut war groß, sie holte aus, schlug ihn mit der flachen Hand heftig auf die Wange und sagte kalt: »Was fällt dir ein mich zu beißen, du dahergelaufener Rotzlöffel!« Bei den Eltern wurde er verpetzt, er habe sie ohne Grund gebissen, gezwickt, eine Strafe blieb aber aus. Zu seinem Glück schätzten die Eltern, besonders der Vater, Tante Lucia nicht sehr, warum das so war, wussten die Kinder zwar nicht, die Geringschätzung aber hatten sie von klein auf gespürt.

Ein paar Wochen später probierte sie es mit Überredungskünsten, sie habe eine ganze Tafel Schokolade mit, nur für ihn, ob Oskar sie nicht vor dem Fernseher essen wolle? Er wollte nicht.

Als er in die Pubertät kam und sein Penis konsequent ein Eigenleben entwickelte, verfolgten ihn über Jahre hinweg Albträume. Der Inhalt war mehr oder weniger ständig der gleiche: Beim Fernsehen mit Freunden im Wohnzimmer war er plötzlich an den Stuhl gefesselt, ein Pferdegebiss kam langsam, die Zähne bleckend, auf ihn zu und entledigte ihn schließlich knirschend und kauend seines Penis’, während er sich die Seele aus dem Leib schrie und die Freunde sich krummlachten und nichts taten, um ihm zur Hilfe zu kommen.

Das Schlimmste an dem Albtraum war, dass er schließlich zu einem Tagtraum mutierte, der ihn zu den unmöglichsten Zeiten im Unterricht quälte. Während seines sechzehnten Lebensjahrs verschwand das grinsende Pferdegebiss dann von selbst.

Das schlimmste Erlebnis in Oskars Kindheit war, als er ansehen musste, wie sich zwei Schäferhunde paarten.

Er war noch keine neun Jahre alt, als irgendein Rüde aus dem Ort im Garten auftauchte und sich auf seine junge Hündin Wodka stürzte. Wodka war eigentlich der Hund der Familie, da sie aber von Anfang an einen großen Narren an Oskar gefressen hatte – sie lief ihm überallhin nach, sogar bis zur Schule, ließ sich nur von ihm füttern und streicheln –, wurde bald von ihr nur noch als Oskars Hündin gesprochen. Die Geschwister hatten ausnahmsweise keine Einwände, die Sache war in diesem Fall wirklich zu eindeutig.

Zuerst wollte Oskar den großen schwarzen Hund einfach vertreiben, die Verscheuchungsversuche ignorierte dieser jedoch gelassen, zielstrebig verfolgte er sein Ziel. Und was tat Wodka? Sie lief auf den Besucher zu, begrüßte ihn schwanzwedelnd, blieb stehen und Oskar musste dem Folgenden hilflos zusehen. Der Rüde sprang auf Wodka und drang in sie ein. Die beiden blieben miteinander verbunden, mindestens fünfzehn Minuten lang, die ganze Zeit winselte die Hündin kläglich und versuchte verzweifelt freizukommen. Sie hatte schließlich Schaum vor dem Mund und ihre verengten Augen schimmerten weiß. Oskar erschienen diese Minuten wie eine Ewigkeit, er konnte nichts tun und wurde beinahe panisch vor Angst und Mitleid, er dachte, Wodka würde jetzt vor seinen Augen sterben. Doch plötzlich war der Spuk vorüber und die zwei Hunde liefen gemächlich auseinander, als wäre nichts gewesen, der eine aus dem Garten, die andere in das Haus hinein.

Wodka bekam vier kleine Welpen, hilflos, nass und blind wurden sie in Oskars Zimmer geboren. Er war von Anfang an verrückt nach den kleinen Hunden, jede freie Minute verbrachte er mit ihnen.

Sie wurden alle ertränkt. Nicht einen durfte die Hündin behalten, obwohl Oskar darum bettelte. Es hieß, man würde keine Abnehmer finden. Die Hündin wurde daraufhin aggressiv und biss einige Nachbarn in den Unterschenkel, in den Oberschenkel oder regelrecht in das Hinterteil. Die Tatsache, dass die Leute Angst davor hatten, an ihrem Haus vorbeizugehen, die Tatsache, dass einige mit zerrissener Hose davonliefen, belustigte Oskar.

Mit seinen elf Jahren begriff er den Ernst der Lage nicht, auch nicht, als zwei Anzeigen erstattet wurden und die Polizei ins Haus kam, um ihn zu einem bestimmten Vorfall – eine Nachbarin war gebissen worden, wobei die Hose zerrissen wurde – zu vernehmen. Oskar musste genau schildern, wie sich die Sache zugetragen hatte, und wurde dann im Polizeiwagen zum Nachmittagsunterricht in die Schule gefahren, mit Blaulicht, weil er sich das wünschte. Den ganzen Tag lang war er der Held in der Klasse.

Worum es tatsächlich ging, nämlich um Wodkas Leben oder Tod, verstand Oskar bis zum Schluss nicht, erst dann, als es zu spät war. An einem Faschingsdienstag ließ man die Hündin von einem Bekannten, der ein Gewehr hatte, erschießen. Oskar kam mittags von der Schule nach Hause und spürte sofort, dass etwas in der Luft lag. Wodka lief ihm nicht wie üblich entgegen, sprang nicht an ihm hoch, leckte nicht sein Gesicht mit ihrer warm-nassen Zunge ab.

Da roch er den Geruch des Todes, auch wenn es noch so unglaubwürdig klingt, es ist die Wahrheit: Er roch den Tod. Und lange Zeit noch, wenn er intensiv an diesen Tag dachte, hatte er wieder diesen Geruch in der Nase. Seither hasste Oskar die Faschingszeit.

Als Oskar älter wurde, veränderte sich sein Körper. Zuerst wuchs sein Kopf und seine Arme wurden länger, während jedoch der Rest des Körpers weiterhin schmächtig und schmal blieb. Dass er leichte Ähnlichkeit mit einem Orang-Utan hatte, versicherten ihm hänselnd seine Schulkollegen. Später dann wurden auch seine Beine länger, kräftiger und behaarter und noch eine Weile später zog auch der Oberkörper nach: Die Schultern und der Brustkorb weiteten und dehnten sich.

Nicht nur die Proportionen und Körpermaße änderten sich, auch die Beschaffenheit der Haut. Oskar bekam Akne, nicht nur im Gesicht, sondern auch am Hals und am Rücken. Die großen Pickel waren voll Eiter und er drückte sie, so gut es eben ging, jeden Morgen und Abend aus, wobei der Eiter nur so gegen den Spiegel spritzte. Nicht, dass ihn das Ganze besonders gestört hätte, kaum ein Bursche in der Klasse sah besser aus. Außerdem bildete sich Oskar ein, dass das ungepflegte Aussehen seiner Haut die Mädchen davon abhielt, sich ihm zu nähern. Und aus Schüchternheit wünschte er sich, dass die Mädchen fernblieben.

Auch die restlichen Quadratzentimeter Haut, auf denen keine Pickel wuchsen, fühlten sich ölig an, ebenso wie die Haare, und in den Ohren sammelte sich kaffeelöffelweise Ohrenschmalz. Oft waren am Morgen die Augen mit Eiter verklebt. Er kratzte ständig an sich herum und immer schien aus irgendwelchen Öffnungen Eiter oder Ähnliches zu quellen, seine Fingernägel waren nur noch klebrig. Auch beim Onanieren hatte er die Wahnvorstellung, dass das, was da gleich aus seinem Penis kommen würde, ein Patzen Eiter sein könnte.

Oskar kam es vor, als wäre sein ganzer Körper mit einer gelben, breiigen, ekligen Flüssigkeit gefüllt, als besäße er keine Knochen oder Muskeln, als bestünde der gesamte Körperinhalt, von den Zehen bis zum Gehirn, aus einer Mischung von Eiter, Talg und Ohrenschmalz und würde nur von seiner Haut zusammengehalten. Schließlich verfolgte ihn sogar die Zwangsidee, er müsse onanieren, damit Eiter abfließen könne, denn lange würde die Haut dem nicht mehr standhalten, sie würde platzen und es gäbe ihn nicht mehr, nur noch ein riesiger Haufen Eiter auf dem Boden würde zäh auseinanderrinnen.

Mit fast fünfzehn kam Oskar in die Stadt, in der er seine ersten neun Lebensmonate verbracht hatte, um eine Höhere Technische Lehranstalt zu besuchen. In den beiden ersten Jahren wohnte er in einem Schülerheim und kam nur an den Wochenenden nach Hause. Die Schule gefiel ihm gut und das Lernen fiel ihm leicht, ganz besonders interessierte er sich für ein neuartiges Ding genannt Computer, den immer mehr Firmen benutzten. Er war begeistert davon, verbrachte jeden Tag Stunden damit und wusste sehr bald, was er werden wollte: Computerfachmann. Das Schülerheim mochte er nicht. Dieses Leben auf engem Raum mit vielen anderen Menschen hasste er, schon alleine der Gestank von verschwitzten, ungewaschenen, hormondurchtränkten Körpern, der ihm entgegenschlug, wenn er den großen Schlafraum mit acht Betten betrat, widerte ihn zutiefst an.

Gegen Ende der zweiten Klasse überzeugte er die Eltern, in eine kleine, billige Mietwohnung ziehen zu dürfen. Sie hatte einer verstorbenen Großtante seines besten Freundes Matthias gehört und dessen Eltern wussten nicht, was sie mit der schäbigen, kleinen, muffigen Wohnung anfangen sollten. Großtante Rosa Gritsch hatte mehr als sechzig Jahre in der Wohnung gelebt, war auch darin gestorben und drei Wochen lang als Leiche im Bett gelegen. Die neuen Besitzer hatten kein Geld, um zu sanieren, und fanden lange Zeit weder Käufer noch Mieter, sie waren schließlich froh, dass der Freund ihres Sohnes für eine geringe Miete darin wohnen wollte. In den Sommerferien renovierte er gemeinsam mit Matthias die beiden Räume – Schlafzimmer, große Wohnküche – samt Vorraum und Badezimmer. Außerdem räucherte er sie immer wieder aus, um den süßlichen Geruch der Leiche und den Geist der alten Rosa selbst zu vertreiben; ganz jedoch wollte er sie gar nicht verjagen, er hatte keine Angst vor Toten und die Vorstellung, der Geist einer alten Dame würde herumschweben und ihm bei seinem Alltag zusehen, gefiel ihm. Von Anfang an genoss er es, alleine zu wohnen und vor allem – alleiniger Herrscher seines Tagesablaufs zu sein.

Zum achtzehnten Geburtstag bezahlten die Eltern Oskar den Führerscheinkurs und schenkten ihm nach der bestandenen Prüfung einen alten, rostigen Volvo. Außerdem machte er zum selben Zeitpunkt seine ersten Erfahrungen mit einem weiblichen Körper. Die Akne war wunderbar verheilt, nur wenige Narben waren – mehr wegen seiner Kratzerei als wegen der Akne selbst – auf den Schläfen noch zu erkennen.

Das Mädchen hieß Sabine, war Matthias’ Schwester und drei Jahre älter als er. Sie fuhr auf Jungs ab, die um etliches jünger waren als sie. Die beiden lernten sich auf einer Silvesterparty (das Jahr 1987 begann) kennen, die Matthias organisiert hatte. Die Party spielte sich folgendermaßen ab: Sieben Jugendliche (Matthias und seine drei Schulfreunde Oskar, Leo und Thomas; Sabine und ihre zwei Freundinnen Andrea und Regina) lungerten auf einem Sofa beziehungsweise auf dem Boden herum, rauchten Marihuana, tranken Bier (die Burschen) oder Cola-Rum (die Mädchen), sahen fern, gaben blöde Sprüche von sich (die Burschen) und langweilten sich (die Mädchen).

Erotik kam ins Spiel, als Matthias irgendeine dumme Bemerkung über Findelkinder machte und Oskar fragte, wie es denn sei, ein Findelkind zu sein, worauf dieser antwortete, er sei nie eines gewesen, sondern ein Adoptivkind, was ja ein gewaltiger Unterschied sei. Das war der Beginn der kurzen Beziehung zwischen Oskar und Sabine, die Zündung schlechthin für ihr Interesse an ihm.

Sie schien plötzlich aus ihrem Dusel zu erwachen und kroch an Oskars Seite, der auf dem Boden saß. Seinen Nacken streichelnd fragte sie ihn flüsternd: »Deine Mutter hat dich echt weggegeben? Wie alt warst du da?«

Oskar war das Ganze peinlich, er hatte nie gerne über seine Adoption gesprochen, die mitleidsvolle Neugier, die ihm entgegenschlug, wenn jemand davon erfuhr, war ihm immer unangenehm gewesen.

»Na, erzähl schon«, drängte Sabine.

Oskar verweigerte das Gespräch. Er war stinksauer auf Matthias, weil dieser das Thema vor seinen Freunden angeschnitten hatte. Die zwei anderen Mädchen lauschten zunächst angestrengt und dösten nach einer Weile wieder weg, da der Befragte nicht antwortete. Die Einzige, die nicht locker ließ, war Sabine.

»Na, erzähl schon«, drängte sie wieder und weil schließlich Mitternacht lange vorbei war und die Gespräche ohnehin gänzlich eingeschlafen waren, schleppte sie ihn mit auf ihr Zimmer.

In ihrem winzigen Zimmer hatte Oskar Mühe, auf das Hochbett hinaufzukommen, und oben angekommen, hätte er sich am liebsten nur eingerollt, um tief und fest zu schlafen. Vor seinen Augen wackelte alles, sein Kopf dröhnte, seine Zunge fühlte sich dick und schwer an, seine Arme und Beine bewegten sich in Zeitlupe, ihm war übel. Sabine zog ihren Pullover mit V-Ausschnitt, ihr Unterhemd und ihren BH aus und Oskar wurde für einen kurzen Moment hellwach, als er ihre überdimensional großen weißen Brüste sah. Nachdem sie ihm die Hose bis zu den Knien hinuntergezogen, eine Weile an seinem Penis herumgefummelt und gemerkt hatte, dass mit diesem nicht viel anzufangen war, begann sie, seinen Kopf an ihren Brüsten zu wiegen und dabei zu murmeln: »Mein armes Baby, ich muss dich leider weggeben, ach, mein armes Baby.«

Was sie weiterhin noch flüsterte und murmelte, hörte er nicht mehr, da er auf der Stelle einschlief, so bekam er auch nicht mit, dass sie sich mit einem Polster selbst befriedigte. Zwei Wochen darauf trafen sich die beiden noch einmal und es kam zu einer Wiederholung des gleichen Spektakels. Als Oskar ihre riesigen Brüste und ihren schwabbeligen Bauch sah, versagte sein bestes Stück ihm den Dienst, worauf sie mit beiden Händen seinen Kopf packte, an ihre Brustwarzen zog und ihn zu wiegen begann und Oskar sich mit den Worten »Ich kann nicht, tut mir leid, ich kann nicht« befreite und aus dem Zimmer lief. Das war das Ende der Affäre mit Sabine, seine Freundschaft zu Matthias trug keinen Schaden davon, im Gegenteil, dieser war schadenfroh, denn er gönnte seiner Schwester rein gar nichts. Im Frühling darauf erlebte Oskar seine erste große Liebe, er traf auf Emilia.

Ende Februar zog im Ergeschoss eine dreiundzwanzigjährige kolumbianische Studentin bei ihrem Onkel ein. Sie hatte strahlende dunkelbraune Augen, kurze schwarze Locken und sehr lange goldbraune Beine, Oskar hatte noch nie so eine schöne Frau gesehen.

Oskar und sie begegneten einander häufig im Stiegenhaus, jedes Mal lächelte sie ihn durchdringend an und wollte mit ihm in ihrem schlechten Englisch plaudern. Sie erzählte, dass sie aus einer kleinen Stadt namens Mitú im Landesinneren Kolumbiens stammte, dass sie hier Internationale Wirtschaftswissenschaften studierte, dass ihr Onkel, er war ein entfernter Verwandter ihrer Mutter, sie eingeladen hatte zu kommen. Je mehr Wochen verstrichen, umso mehr schien sie ihre Lebendigkeit und Fröhlichkeit verloren zu haben. Wenn Oskar an ihrer Wohnungstür vorbeiging, kam es manchmal vor, dass er die beiden schreien hörte, auch glaubte er einmal zu hören, dass jemand geschlagen wurde. Sein Herz klopfte wie wild, er wollte an der Tür läuten, lief aber dann schnell zu seiner Wohnung hinauf. Oben angekommen schimpfte er sich einen Feigling, er griff nach dem Telefon und wollte die Polizei anrufen, fand aber auch dazu nicht den Mut.

Und eines Nachts im Mai passierte es: Bei der Fahrt in seinem uralten verrosteten Volvo – er wollte zu einer Geburtstagsfeier außerhalb der Stadt – tauchte auf der Rückbank Emilia auf, woraufhin der ohnehin leicht beduselte Oskar, er hatte vorher schon Bier getrunken, so erschrak, dass er das Lenkrad verriss und der Volvo in eine Litfaßsäule krachte. Sie hatte sich bereits nachmittags im Auto, dessen Türschlösser nicht mehr funktionierten, versteckt und auf Oskar gewartet. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, ihre ansonsten lässigen Gesten wirkten fahrig und zittrig.

Der Volvo war beim Teufel und auch die Geburtstagsfeier konnte er vergessen, dafür zog Emilia an diesem Abend bei ihm ein, ohne etwas bei sich zu haben, nicht einmal eine Zahnbürste. Oskar gab ihr seine schwarze Kapuzenjacke zum Anziehen und ging mit ihr auf Zehenspitzen schleichend in seine Wohnung, vorher hatte er sich vergewissert, dass der Onkel nicht zu Hause war. Bereits in der ersten Nacht entschädigte sie ihn für den kaputten Volvo, indem sie ihn sanft beritt. Es war für ihn das erste Mal, dass er mit einer Frau schlief.

Anschließend lag sie mit ihrem Kopf auf seiner Brust und erzählte ihm von ihrem gewalttätigen Onkel, der sie mit süßlichen Briefen an sie und ihre Familie überredet hatte, zu ihm zu kommen, der mehrmals versucht hatte, sie zu vergewaltigen, der sie in der Wohnung einsperrte, sodass sie nicht zur Universität fahren konnte. Oskar glaubte ihr, spürte Mitleid und Hass bis zum Hals klopfen.

Die beiden verkrochen sich in der Wohnung und waren von ihrer Außenwelt fast völlig abgeschnitten, sie brauchten keine anderen Leute, sie genügten sich selbst. Oskar ging nicht mehr zur Schule. Wenn der Kühlschrank leer war, ging er schnell um die Ecke einkaufen, wenn Matthias wegen einer Party anrief, wimmelte er ihn ungeduldig ab. Anfangs liebten sie sich nicht nur in der Nacht, sondern auch untertags, und den Rest der Zeit putzte Emilia die Wohnung oder kochte kolumbianische Gerichte oder sie sahen fern oder sie lernten gemeinsam Deutsch oder sie erzählten sich von ihrem Leben, radebrechend in Englisch. Viel mehr Adjektive als »bad«, »good« und »normal«, um ihre Vergangenheit oder auch gegenwärtige Ereignisse zu beschreiben, gab es nicht. Plötzlich war alles nur noch schwarz oder weiß und dazwischen herrschte ein zäher Grauton. Drei Mal in der Woche gab es Ajiaco Santafereno, Emilias Lieblingsgericht, einen Eintopf mit Hühnerfleisch, Maiskolben, Kartoffeln und Sahne, Oskar schmeckte er nicht besonders, aber er verschwieg es.

Er schwebte im siebten Himmel, er fand es berauschend, dass Emilia nicht nur sexy war, sondern auch Sinn für den Haushalt hatte und seiner verwahrlosten Wohnung den Kampf ansagte. Oft lag er auf dem Sofa und sah ihr zu, wie sie nackt saugte und wischte und dazu sang.

Es gab nur sie beide und Oskar hatte das Gefühl, als würde keine Welt außerhalb dieser altmodisch eingerichteten Zweizimmerwohnung existieren. Gelegentlich spürten sie Tante Rosas Geist, der ihnen wohlwollend bei ihren Liebesspielen zusah, und sie machten sich einen Spaß daraus, mit der Verstorbenen zu kommunizieren. Kaum verließ Oskar die Wohnung, um Lebensmittel einzukaufen, fühlte er sich außerordentlich unwohl und seltsam fragmentiert. Sie schmiedeten Zukunftspläne, sprachen vom Heiraten, nur dadurch würde Emilia eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten und endlich richtig studieren und nebenbei arbeiten können.

Eines Tages stand sein Vater vor der Tür und stellte ihn zur Rede, die Schule habe ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass Oskar seit zwei Wochen den Unterricht nicht mehr besucht hatte. Dieser erfand eine schwere Grippe, die ihn gezwungen hätte, das Bett zu hüten. Emilia musste sich währenddessen im Badezimmer in der Duschkabine verstecken. Als der Vater auf die Toilette ging, hielt sie die Luft an und er entdeckte sie tatsächlich nicht, obwohl ihr Schatten hinter dem hellen Duschvorhang gespenstisch sichtbar war. Oskar wusste, sein Vater würde seine Geliebte nicht bemerken, er kannte ihn zu gut: Der Mann sah weder nach rechts noch nach links. Anschließend lachten sich die zwei halbtot.

Danach ging Oskar wieder zur Schule, während er weg war, sah Emilia fern, schlief oder kochte, so zumindest dachte er. Bald fielen ihm an ihr einige Veränderungen auf. Hatte sie zunächst nur schlabbrige Shirts und Pullover und eine zu enge Jeans von ihm getragen, besaß sie plötzlich die verschiedensten Kleidungsstücke, Ketten, Armbänder und auch Reizunterwäsche. Er erfuhr von ihr, dass sie während seiner Abwesenheit Streifzüge durch große Kaufhäuser machte und von dort Sachen, die ihr gefielen, mitgehen ließ. Entsetzt flehte er sie an, nie wieder etwas zu stehlen und obwohl sie es schwor, hatte er seither panische Angst um sie.

Weinend gestand sie ihm, dass sie sich langweilte. Sie wünschte sich Ausflüge aufs Land, in andere Städte, und Oskar kaufte noch am selben Tag um viertausend Schilling einen uralten Golf.

Am Wochenende fuhren sie ins Grüne. An einem einsamen See hielten sie an und nur mit Unterhose bekleidet sprangen sie ins Wasser, anschließend lagen sie in der Wiese und liebten sich. Dabei konnte Oskar die Ahnung nicht loswerden, dass er Emilia bald verlieren würde. Später fuhren sie weiter nach Wien, bummelten durch die Stadt und übernachteten in einer heruntergekommenen Pension am Stadtrand. Als sie am Sonntag spät in der Nach zurückkamen, standen zwei Männer vor der Wohnungstür. Während Oskar die Tür aufsperrte, stellten sie sich vor, es waren Beamte der Fremdenpolizei, sie wollten Emilia mitnehmen, um sie in ihre Heimat abzuschieben. Ein anonymer Anruf war bei der Fremdenpolizei eingegangen.

Emilia zog es vor abzuhauen, sie huschte in die Wohnung und sprintete ins Badezimmer, Oskar ihr nach. Sie sprang aus dem kleinen Fenster und nach kurzem Zögern folgte er ihr. Er musste sich in diesen wenigen Sekunden, während er auf dem Toilettendeckel stand und zusah, wie Emilia die drei Meter auf den gepflasterten Hof hinuntersprang und die Polizisten inzwischen bereits begannen, die Badezimmertür gewaltsam aufzubrechen, eingestehen, dass er sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte. Er sprang hinunter in die Dunkelheit und hörte beim Aufkommen seine Knochen splittern. Noch nie hatte er solch einen körperlichen Schmerz empfunden, er schrie auf, wenige Sekunden später kam der seelische Schmerz dazu, denn Emilia kam zu ihm zurück, entnahm seiner Hosentasche den Autoschlüssel, flüsterte mit ihrem bezaubernden Akzent: »Alles Gute für deine Zukunft!«, was er gerade mit ihr geübt hatte, und lief zum Auto. Mit dem rostigen grünen Golf raste sie davon, Oskar sah ihr perplex nach, er hatte gar nicht gewusst, dass sie Auto fahren konnte.

Dass er vieles von seiner ersten großen Liebe nicht gewusst hatte, erfuhr er im Krankenhaus von der Polizei. Sein komplizierter Unterschenkelbruch musste operiert werden, und anschließend teilte er sich drei Wochen lang ein Vierbettzimmer mit drei schnarchenden Männern. Die halben Nächte verbrachte er im Fernsehzimmer mit FS1 und FS2 und Berichten über Kurt Waldheim, dem Lügen über die Vergangenheit nachgewiesen wurden. Es war ein heißer Juni, draußen schien die Sonne und die Vögel zwitscherten jeden Morgen, in Oskars Innerem aber sah es düster aus. Als er vom Beamten der Fremdenpolizei erfuhr, dass Emilia seit ihrem dreizehnten Lebensjahr Prostituierte gewesen war, wurde ihm heiß und kalt gleichzeitig und sein Penis fing an zu jucken. Der Onkel war kein Onkel, sondern ein Zuhälter gewesen, er hatte Emilia im Urlaub kennengelernt und war von ihren Diensten dermaßen begeistert gewesen, dass er sie kurzentschlossen in die Heimat mitnahm, wo er sie zunächst exklusiv für sich haben wollte und wo er sie, wenn er von ihr genug gehabt hätte, anschaffen geschickt hätte. Emilia jedoch wollte nicht exklusiv für ihn da sein und in der kleinen Wohnung eingesperrt, sie wollte sofort eine eigene kleine Wohnung und andere Kunden haben, um Geld zu verdienen und um sich ein neues Leben in diesem Schlaraffenland aufbauen zu können. Sie hatte ihn mehr als einmal ins Gesicht geschlagen.

»Was ist mit ihr passiert? Wo ist sie?«, fragte Oskar.

»Sie hat sich eine wilde Verfolgungsjagd mit der Polizei geliefert, aber nach ein paar Kilometern hat man sie geschnappt. Sie sitzt in Schubhaft und wird demnächst in die Heimat abgeschoben.«

»Was passiert mit mir?«

»Nichts. Dein Vater hat erreicht, dass von einer Anzeige abgesehen wird.«

Das war das Ende seiner Beziehung zu Emilia, in der Schubhaft durfte er sie nicht besuchen. Sie ließ ihn mit gebrochenem Herzen und zwei zu Schrott gefahrenen Autos zurück, die noch lange im Garten seines Elternhauses standen und ihn wie ein Mahnmal an seine Naivität erinnerten.

Die Wohnung durfte er nicht behalten, die Eltern verlangten von ihm, nach dem Sommer ins Schülerheim zurückzuziehen. Oskar sehnte sich danach, weit fortzugehen und alles hinter sich zu lassen. In den Sommerferien, in denen er die meiste Zeit in der Hängematte vor sich hindöste und träumte, nahm sein leiblicher Vater Martin Baumann plötzlich Kontakt mit ihm auf.

Der Himmel verdüsterte sich eines Nachmittags, Oskar sah aus seinem Liegedomizil hoch, bemerkte einen großgewachsenen Mann vor sich stehen, der die Sonne verdeckte. Der Mann, fett, ungepflegt, nach Bier und Zigaretten riechend, stellte sich mit »Ich heiße Martin Baumann und bin dein richtiger Vater« vor, sein Vater kam dazu und meinte: »Deine Mutter und ich haben dem Kennenlernen zugestimmt, wir dachten, es würde dich ablenken.«

Die beiden saßen den ganzen Nachmittag und Abend zusammen, den gemeinsamen Spaziergang brach Oskar nach ein paar Minuten ab, da er Baumanns Schnaufen unerträglich fand. Baumann, der ein Bier nach dem anderen trank, schien eine Lebensbeichte ablegen zu wollen und begann diese mit den Worten: »Ich bin eine gescheiterte Existenz.« Oskar hingegen kam kaum zu Wort. Er war ohnehin mit dem Gedanken beschäftigt: Bitte, lieber Gott, lass diesen Mann nicht mein Vater sein!

Baumann war geschieden, hatte eine Tochter, ein Jahr jünger als Oskar, zu der er allerdings keinen Kontakt hatte, außerdem war er seit Längerem arbeitslos. Dass ihm in seinem Leben so gar nichts gelingen wollte, lag an seiner unglücklichen Kindheit und Jugend, so behauptete er. Seine Mutter, Maria Baumann, die jetzt an Alzheimer leidend in einem Pflegeheim lebte, war mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten liiert gewesen, der sie schwanger hatte sitzen lassen. Sie hatte ihn, Martin, zur Welt gebracht und ihn alleine unter großen Entbehrungen großgezogen. Die Familie verstieß sie, die ersten Jahre musste sie ihn zu Bauersleuten auf dem Land geben, weil sie arbeiten musste. Er sah immer noch jeden Tag das unglückliche Gesicht seiner Mutter vor sich.

»Und deshalb hast du meine schwangere Mutter sitzen lassen, um sozusagen die Familientradition aufrechtzuerhalten?«, fragte Oskar.

Darauf wusste der betrunkene Baumann keine Antwort. Beim Abschied beschwor er seinen Sohn, ihn ab und zu in der Stadt zu besuchen.

Anfang September 1987 saß Oskar im Flugzeug und flog von Wien nach New York und von dort weiter nach San Francisco, wo er von seiner Gastfamilie abgeholt wurde. Die Gastfamilie bestand aus der vierunddreißigjährigen Jane, ihrem sechzigjährigen Vater James und dem achtjährigen Sohn David. Zuerst dachte Oskar, als alle drei so braun gebrannt und strahlend in ihren Shorts vor ihm standen, dass James und Jane ein Paar wären, mit einigen Jahren Altersunterschied, und David ihr Sohn. Doch während der Fahrt nach Downtown erfuhr er, dass Jane geschieden war und seither der Witwer James bei ihr im Haus lebte, um ihr bei Haushalt und Kind zu helfen, denn Jane war eine viel beschäftigte und erfolgreiche Reporterin beim San Francisco Chronicle.

Oskar kam alles typisch amerikanisch vor, obwohl er gar nicht konkret wusste, was denn nun The American Way of Life ausmachen sollte, doch immer schon hatte er sich Amerika so vorgestellt, wie es sich in den ersten Stunden seines Aufenthaltes präsentierte: ein sportlicher, anstrengend humorvoller Pensionist, der von sämtlichen amerikanischen Präsidenten erzählte, die er miterlebt hatte; eine attraktive Frau mit einer bedächtigen Sprechweise, beruflich ehrgeizig, außerdem patriotisch und religiös (Jane sprach mehrmals von »our« church und »our« America); ein molliger, quengelnder Junge mit Hamsterbacken, der ständig von Baseball und Football (er war ein Fan der 49ers) quasselte; ein riesiger Chevrolet mit Ledersitzen, in dem man durch die hügelige Stadt wie in einem Schiff schaukelte und schließlich ein schmales, dreistöckiges hellblaues Haus mitten in San Francisco, an dem die berühmten Cable Cars vorbeifuhren. Oskar bekam ein kleines, gemütliches Zimmer im obersten Stock, von dem aus er das Meer und sogar die Insel Alcatraz sehen konnte. Er war zufrieden, er wusste, er hatte es mit dieser Gastfamilie gut getroffen. Doch schon in der ersten Nacht vermisste er Emilia wieder so stark, dass er das Kopfkissen nass weinte und das Leintuch nass spritzte.

Jane und James bemühten sich sehr um ihn, sie sprachen langsam und wiederholten alles zwei Mal, damit er folgen konnte, sie zeigten ihm gleich am ersten Tag das Heald College in der Mission Street, wo er verschiedene Kurse besuchen sollte, halfen ihm bei der Einschreibung im Sekretariat und stellten ihn sogar dem Direktor vor, den Jane flüchtig kannte (Jane schien durch ihren Beruf jeden in der Stadt zu kennen).

Nach sieben Wochen dachte Oskar aufgrund mehrerer Gesten, zufälliger Berührungen und Aufmerksamkeiten Janes ihm gegenüber, dass seine Gastmutter Interesse an ihm hätte. Nach neun Wochen betranken sie sich gemeinsam mit Barley Wine, einem grässlich schmeckendem Bier, und schliefen das erste Mal miteinander. Das war nur möglich, da David und James alleine zu einem Angel- und Campingurlaub im Clear Lake State Park gefahren waren, dem einzigen Freshwaterlake im ganzen Staat Kalifornien, wie James ein paar Mal fröhlich erwähnte. Jane konnte nicht mitfahren, da sie einen längeren Artikel über Arnold Schwarzenegger verfassen musste, und sie bat Oskar, der liebend gern mitgefahren wäre, ihr dabei zu helfen. Sie standen in der Küche, es war bereits Mitternacht und Jane, mit der Bierflasche in der Hand, erzählte aufgedreht von einer Europareise, die sie mit achtzehn gemacht hatte.

Oskar redete aufgewühlt von Kurt Waldheim, der ständig in seinen Gedanken herumgeisterte, seitdem er sich in San Francisco aufhielt. Bei jedem Amerikaner, den er kennenlernte, hatte er Angst, er würde in ihm, dem Österreicher, einen Nachkommen von Nazis sehen und den Einwohner eines Staates, der immer noch nationalsozialistisch dachte, fühlte und handelte. Täglich waren in der Heimat Berichte zu sehen, zu lesen gewesen, wie sehr Waldheims Wahl zum Bundespräsidenten in den USA verurteilt worden war und wie sehr man das Land deshalb zu isolieren gedachte. Gleichzeitig regte ihn der Gedanke daran auf und dann wieder dachte er entsetzt: Wenn ich nun der Meinung bin, dass wir uns von den Amerikanern nicht vorschreiben zu lassen brauchen, wen wir als Bundespräsidenten wählen, dann bin ich ja auch ein Nazi.

Selbst als Jane sich näherte und sanft an Oskars Ohrläppchen zu knabbern begann, hörte er nicht auf, von Waldheim und dessen Vergangenheit herumzustottern, bis Jane entnervt stöhnte: »Who the fuck is Waldheim?« Oskar glaubte nicht, was er da hörte, und fragte nach: »You really don’t know?«, woraufhin sie noch einmal stöhnte: »Never heard that name, who is that guy?«

Oskar fiel ein Stein vom Herzen: Sie wusste gar nichts von Waldheim und das bedeutete, dass die breite Masse hier nichts von der ganzen Sache wusste! Er hörte sofort auf zu reden, schloss die Augen, seufzte vernehmlich und suchte ihren Mund. Der Kuss dauerte mehrere Minuten und begann ihn in einem Ausmaß zu erregen, das beinahe unerträglich war. Dann nahm sie ihn an der Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer, wo sie in dem riesigen Bett miteinander schliefen, ausgelassen herumtollend wie junge Hunde. Dabei musste er ihr erklären, wer Waldheim war, was sie mit einem beschämten »Ah sure, I think I’ve heard the story sometime« kommentierte, und daraufhin wurde »Who the fuck is Waldheim?« zum Running Gag zwischen den beiden.

Es war die erste Nacht, in der Oskar nicht an Emilia dachte. Die darauffolgenden Wochen schlich Jane jede Nacht, wenn James und David schliefen, in sein Zimmer und beglückte ihn mit einem stöhnenden »Who the fuck is Waldheim?«, was sofort eine Erektion bei ihm bewirkte, ganz so, als hätte Iwan Pawlow persönlich ihn darauf konditioniert.

Später fragte sich Oskar oft, warum er seinen leiblichen Großvater gesucht und schließlich zu ihm gefahren war, und er konnte sich selbst keine andere Antwort geben, als dass es ihn einfach nicht mehr losgelassen hatte. Mehr war es tatsächlich nicht gewesen: Es hatte ihn einfach nicht mehr losgelassen, es war wie ein innerer Zwang. Die Fragen des verzweifelten und betrunkenen Baumann »Lebt er überhaupt noch? Wie sieht er aus? Hat er eine Familie? Denkt er manchmal an die, die er verlassen hat?«, hatten sich in seinem Kopf festgekrallt und er konnte sich nicht mehr davon befreien. Wieder in der Heimat würde er Baumann alles triumphierend mitteilen, dem, der zeitlebens zu feige gewesen war, um danach zu suchen und zu fragen, alle Daten und Fakten eines gelebten Lebens und besonders die Antwort auf die eine große Frage: Warum hat er die schwangere Verlobte damals sitzen gelassen? Es ging ihm nur um diesen kleinen Triumph vor Baumann, das Kennenlernen seines leiblichen Großvaters spielte dabei eine kleine Nebenrolle.

Die Suche war sehr einfach, Oskar musste absolut nichts dazu beitragen. Es waren Jane und ihr Vater James, die das Ganze in die Hand nahmen, beide waren sentimental veranlagt und wollten die Suche eines jungen Mannes nach seinen Wurzeln unterstützen. Er ließ sie in dem Glauben, dass es so wäre. James kannte jemanden, der bei der Führerscheinregistrierungsbehörde in Sacramento arbeitete, machte dort ein paar Anrufe und händigte ihm dann einen Zettel aus, auf dem Name und Adresse vermerkt waren. Obwohl es einige Charles Dolphen in den USA gab, war dann nur ein einziger infrage gekommen, auf den das Alter und die Tatsache, mehrere Jahre als Besatzungssoldat in Österreich gedient zu haben, zutrafen. Das Stück Papier, das ihm James an einem Sonntagabend auf das Bett legte, kam Oskar beinahe wie ein handschriftlicher Befehl vor: War es vorher noch unsicher gewesen, ob er überhaupt fahren würde, konnte er jetzt kaum mehr einen Rückzieher machen, er musste einen alten Mann aufsuchen, der sein Großvater sein sollte und der ihn nicht die Bohne interessierte.

Er rief ihn an. Einfach so vor einer fremden Tür zu stehen, kam ihm dann doch zu abenteuerlich vor. Schon beim zweiten Läuten hob jemand ab und eine männliche, tiefe Stimme sagte: »Dolphen.« Oskar hätte sich beinahe verschluckt, er rang schnell um Fassung und sagte dann hastig sein Sprüchlein auf Englisch auf, das er stundenlang vorbereitet hatte: »Hallo, mein Name ist Oskar Berger. Ich komme aus Österreich und bin achtzehn Jahre alt. Erinnern Sie sich an Linz und an Maria Baumann? Maria war schwanger von Ihnen, sie bekam einen Sohn und – und ich bin Ihr Enkel. Ich würde Sie gerne kennenlernen. Darf ich Sie besuchen?«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Schließlich folgte ein Räuspern und in ungeübtem Deutsch drei kurze Sätze: »Natürlich kannst du mich jederzeit besuchen, Oskar. Ich nehme an, du hast meine Adresse schon? Du bist willkommen!« Und damit legte er auf und Oskar stand noch eine Weile mit dem Hörer in der Hand da. Es hatte keine Fragen gegeben, weder nach der Ankunftszeit noch ob und wo er abgeholt werden wollte, nur dieses eigenartige schnarrende »Du bist willkommen!«, das jetzt in seinem Kopf dröhnte.

Oskar flog von San Francisco nach Portland und fuhr mit dem Bus bis nach Astoria. Insgesamt war er sechs Stunden lang unterwegs, hatte in Flugzeug und Zug fünf Menschen kennengelernt, die ihn angelabert hatten und an ihm interessiert gewesen wären. Doch er konnte und wollte sich nicht einlassen auf irgendwelche Small Talks oder Flirts und er musste sich schließlich eingestehen, dass er nervös war, sehr nervös sogar. Wäre es nicht doch besser gewesen, noch einmal anzurufen? Vielleicht war die Verbindung unterbrochen worden? Was erwartete ihn?

Um halb zwei Uhr nachmittags stieg er in Astoria aus dem Bus, verschlang an einem Kiosk einen Hamburger und verließ anschließend das Bahnhofsgebäude, um nach einem Taxi zu suchen. Es war kalt, nasse Schneeflocken fielen, und die Straßen waren matschig, Oskar fröstelte.

An die fünfzehn Wagen mit der Aufschrift »Cab« standen an der Straßenseite, jeder mehr oder weniger verdreckt und rostig, und er wollte die Reihe entlang bis zum ersten marschieren, blieb aber dann beim vierten stehen, da der Fahrer, der trotz der immer zahlreicher werdenden Schneeflocken nicht im Wagen saß, sondern lässig an der Fahrertür lehnte und eine Sonnenbrille trug, Bruce Willis zum Verwechseln ähnlich sah. Eine kurze Weile lang glaubte Oskar, es sei tatsächlich Bruce Willis, der an Ort und Stelle einen Film drehte und wohl einen Taxifahrer mimte, und er drehte sich nach den Kameras um, fand aber keine. Er stieg in den Fond des Chevrolets ein, dessen Farbe ein unergründliches Graugrün war, und hielt dem Fahrer den Zettel mit der Adresse vor die Nase. Der Fahrer seufzte und nuschelte: »That is a long way from here. It will take us about an hour.«

Und es dauerte tatsächlich mehr als eine Stunde, bis Oskar an der Owl Road 33, an deren Existenz er während der Fahrt durch tiefe Wälder langsam zu zweifeln begonnen hatte, benommen aus dem Taxi stieg. Aus dem Schneeregen wurde allmählich richtiger Regen. Die ganze Zeit über trommelte dieser auf das Autodach und das Geräusch machte ihn so schläfrig, dass er mehrmals wegdöste. Nur das permanente Murmeln des Fahrers rüttelte ihn immer wieder hoch, dieser monologisierte über sein angeblich aufregendes Leben als Taxifahrer und über gefährliche Fahrgäste, wahrscheinlich um selber nicht einzuschlafen. Dabei nahm er einmal seine Sonnenbrille ab, um sein totes linkes Auge zu zeigen, das er bei einer Messerstecherei mit einem solch gefährlichen Fahrgast verloren hatte, danach war Oskar endgültig wach.

Bruce Willis musste eine Weile suchen, bis er die Nummer 33 der Owl Road fand, und als sie endlich das verwilderte Anwesen vor sich hatten, fragte er: »Sind Sie sicher, dass hier noch jemand wohnt?«

Oskar war nicht sicher und bat den Fahrer deshalb, nachdem er ihn bezahlt hatte, eine Weile auf der Zufahrt zu warten, bis er entweder zum Auto zurückkam oder ihm ein entsprechendes Zeichen gab. Im Zeitlupentempo bewegte er sich mit seiner Reisetasche in der Hand auf die verdreckte Fliegengittertür zu, das Herz klopfte ihm bis zum Hals, er musste dringend auf die Toilette. Er entdeckte einen Pick-up neben dem Haus, einige windschiefe Bretterschuppen, aus denen Geräusche drangen, eine eingezäunte Koppel, zwei kaputte, rostige Autos ohne Reifen und eine Menge Müll und Gerümpel.

Noch bevor er auf die Klingel gedrückt hatte, wurden Tür und Fliegengitter aufgerissen und ein alter Mann mit Glatze und silbrigem Haarkranz, im rot karierten Flanellhemd und brauner Cordhose, stand vor ihm. Noch bevor der Mann etwas zu ihm sagte, sah er zum Taxi hin und hob seine rechte Hand, woraufhin der Einäugige sein Auto wendete und durch die Pfützen davonrauschte. Der Alte senkte seine erhobene Hand wieder und streckte sie ihm hin, es war eine einzige fließende Bewegung, und sagte: »Du bist sicher mein Enkel Oskar. Ich bin Charlie. Herzlich willkommen!«

Die beiden saßen sich in der Küche gegenüber und verzehrten je einen Hamburger, die der Alte selbst zubereitet hatte. Während sein Großvater gekocht hatte, war Oskar im Haus herumspaziert und hatte es besichtigt, es war einstöckig, neben der Küche gab es noch ein großes Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein kleines Gästezimmer, ein Badezimmer und einen Flur, und obwohl alles penibelst aufgeräumt war, wirkte es verstaubt und schmutzig.

Beim Essen sagte Charlie plötzlich auf Deutsch, mit einem schrecklichen amerikanischen Akzent: »Du bist also mein Enkel, hm? Lass uns doch darüber reden. Wir können auch auf Deutsch reden, ich würde es gerne wieder üben. Ich konnte es damals recht gut, weil ich es vorher studiert hatte und lange in Österreich war.«

Daraufhin entwickelte sich ein längeres Gespräch zwischen den beiden:

Oskar: Ja, ich bin dein Enkel.

Charlie: Wie geht es Maria, deiner Großmutter? Lebt sie noch?

Oskar: Ja, sie lebt in einem Pflegeheim, weil sie Alzheimer hat. Die Vergangenheit ist ihr näher als die Gegenwart. Sie spricht jeden Tag von ihrem Verlobten Charlie und dass sie ihren Koffer packen muss.

Charlie: Wie war sie vor ihrer Erkrankung?

Oskar: Keine Ahnung. Ich habe sie nicht gekannt.

Charlie: Du hast deine eigene Großmutter nicht gekannt?

Oskar: Ich kenne auch meinen Vater kaum und meine Mutter gar nicht. Ich wurde als Baby adoptiert.

Schweigen.

Charlie: Du kennst also meinen Sohn gar nicht?

Oskar: Ich kenne ihn, aber nicht gut, ich habe ihn nur ein paar Mal in den letzten Wochen getroffen.

Charlie: Und er hat dir die Geschichte erzählt?

Oskar: Welche Geschichte?

Charlie: Dass seine Mutter sich nach dem Krieg in einen amerikanischen Besatzungssoldaten verliebt hat, schwanger wurde und er sie sitzen gelassen hat.

Oskar: Ja.

Schweigen.

Charlie: Was ist mit deiner Mutter passiert?

Oskar: Sie hat kurz nach meiner Geburt Selbstmord begangen.

Charlie: Waren sie gut zu dir?

Oskar: Wer?

Charlie: Deine Adoptiveltern.

Oskar: Ja.

Schweigen.

Charlie: Wie ist er?

Oskar: Wer?

Charlie: Mein Sohn, ich meine, dein richtiger Vater.

Oskar: Er ist … er ist groß, eher dick, hat dunkle Haare …

Charlie: Was macht er beruflich? Hat er eine Familie? Wo lebt er? Was macht er in seiner Freizeit? Hat er etwas gemacht aus seinem Leben?

Schweigen.

Charlie: Na?

Oskar: So genau weiß ich das nicht.

Charlie: Du hast ihn ein paar Mal getroffen, hast du gesagt. Da musst du doch über seinen Beruf etwas erfahren haben oder gesehen haben, wie er lebt. Hat er es zu etwas gebracht?

Oskar: Nein. Ist das wichtig?

Charlie: Ja. Man muss etwas aus seinem Leben machen.

Schweigen.

Oskar: Er ist Busfahrer gewesen, jetzt ist er schon länger arbeitslos … Er wohnt … in Linz, ist geschieden und hat eine Tochter. Hat aber keinen Kontakt zu ihr, glaube ich.

Charlie: Wann war das mit deiner Mutter? Vor seiner Ehe oder nachher?

Oskar: Vorher.

Charlie: Wie heißt er?

Oskar: Martin Baumann.

Schweigen.

Charlie: Und seine Mutter? Maria? War sie verheiratet?

Oskar: Nein. – Du?

Charlie: Es geht hier nicht um mich.

Oskar: Nein?

Charlie: Nein. Was hat sie gemacht?

Oskar: Sie ist Sekretärin in einer großen Firma gewesen, bis zu ihrer Pensionierung.

Schweigen.

Oskar: Martin hat mir erzählt, dass sie – ich meine Maria – ihn nie vergessen hat und ihm viele Briefe geschrieben hat, ich meine, ihrem amerikanischen Freund, … ich meine, dir …

Charlie: Ich weiß, wen du meinst.

Oskar: Warum bist du abgehauen ohne sie? Ihr wart doch verlobt und du wolltest sie mitnehmen! So war es geplant … oder nicht?

Charlie: Was weißt du eigentlich über den Krieg?

Schweigen.

Oskar: Du weichst mir aus.

Charlie: Was weißt du über den Krieg?

Oskar: Ihr Leben ist ruiniert gewesen. Ein lediges Kind damals, das war nicht leicht. Sie hat dich nie vergessen.

Charlie: Willst du mich zur Rede stellen? Ein kleiner Moralapostel, eh?

Schweigen.

Oskar: Mein Vater glaubt, wenn du Maria nicht verlassen hättest, wäre sie glücklich gewesen, und auch er. Er hätte eine glückliche Kindheit gehabt und sein Leben wäre nicht so – so schwierig verlaufen. Er hätte es zu etwas gebracht, eine intakte Familie gehabt. Mich hätte er dann nie zur Adoption freigegeben, er hätte sich um mich gekümmert.

Charlie: Meine Güte, sind wir immer nur das Produkt gewisser Lebensumstände oder haben wir auch einen freien Willen? Was meinst du?

Oskar: Ich weiß es nicht.

Charlie: Finde es heraus.

Oskar: Das werde ich.

Charlie: Mach etwas aus deinem Leben!

Oskar: Habe ich vor.

Charlie: Was weißt du über den Krieg? Red schon, was denkt die österreichische Jugend darüber? Es interessiert mich wirklich.

Oskar: Dass er scheiße war.

Charlie: Das ist gut! Scheiße, ja scheiße war er wirklich!

Er lachte lange und laut. Oskar lachte zaghaft mit und es beschlich ihn das eigenartige, mulmige Gefühl, dass er so schnell wie möglich aus diesem Haus verschwinden sollte. Später hörte es auf zu regnen, die Sonne kam heraus und Charlie zeigte Oskar das Gelände um das Haus. Sie spazierten im moosbewachsenen Wald herum, sahen die Sonnenstrahlen durch die Bäume fallen und Oskar fiel plötzlich der Spaziergang in seinem Heimatort mit seinem leiblichen Vater vor fünf Monaten ein. Beide Spaziergänge hatten eines gemeinsam: Er hatte sich gefragt und fragte sich jetzt wieder, warum er sich so wenig (seelen-)verwandt mit seinen Vorfahren fühlte.

Als sie auf der Veranda saßen, wurde Charlie etwas freundlicher und wollte alles von Oskar wissen, welche Schule er besuchte, welche Hobbys und Träume er hatte, welchen Beruf er ergreifen wollte, wie viele Mädchen er schon gehabt hatte. Oskar erzählte bereitwillig alles, von seinem Traum, ein Computerfachmann zu werden, später seine eigene Firma zu haben, auch von Emilia, und taute etwas auf.

»Was ist charakteristisch für dich?«, fragte Charlie zum Schluss.

»Ich weiß nicht recht, vermutlich die Tatsache, dass mir immer die blödesten Sachen passieren, irgendwie scheine ich Pech anzuziehen.«

Als es dämmerte, saßen sie in der Küche und aßen Sandwiches. Charlie sagte: »Ich würde mich freuen, wenn du Heiligabend mit mir feierst.« Oskar antwortete: »Ich muss morgen zurückfliegen, meine Gasteltern erwarten mich, sie wollen mit mir zusammen Weihnachten feiern.«

»Du wirst morgen nicht zurückfliegen«, sagte Charlie ruhig. Oskars Herz machte einen Sprung und eiskalte Angst kroch in ihm hoch. Er sehnte sich nach Janes warmer Haut und ihrem Kichern, wenn sie ihm »Who the fuck is Waldheim?« ins Ohr flüsterte.

»Woran denkst du gerade?«, fragte Charlie. »Sei ehrlich.« Oskar erzählte ihm wahrheitsgetreu, etwas anderes hätte er sich nicht getraut, von seiner attraktiven Gastmutter und ihrem Unwissen über Waldheim.

Charlie begann zu lachen: »Who the fuck is Waldheim?«, kreischte er mehrmals, er lachte immer hysterischer, bis ihm die Tränen hinunterliefen, und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Plötzlich stand er auf, verließ die Küche, um mit einem Gewehr in der rechten Hand wiederzukommen. Er zielte auf Oskar, der panisch und mit angstverzerrtem Gesicht vom Stuhl aufsprang, und sagte: »Du kommst mit.«

Charlie sperrte Oskar für drei Nächte und zwei Tage in seinem Keller ein. Der dunkle Kellerraum war ordentlich aufgeräumt, an den Wänden standen Regale, vollgeräumt mit Werkzeug und Konservendosen, auf dem Boden lag eine Matratze samt Polster und Decke, alles frisch bezogen, daneben stand ein kleiner Campingtisch samt Stuhl, auf dem Tisch lag eine Taschenlampe und ein Buch von Joseph Murphy: »Die Macht des positiven Denkens«. Auf das Buch hatte sein Großvater, als er ihn in den Keller stieß, mit den Worten, er solle das aufmerksam lesen, gezeigt.

Noch nie in seinem Leben hatte Oskar eine solche Angst ausgestanden, er lag panisch zitternd und schluchzend auf der Matratze und war sich sicher, sein verrückter Großvater würde ihn umbringen. Er war schon so weit, dass er sich einen schnellen Tod durch das Gewehr wünschte und hoffte, nicht zu Tode gequält oder dem Hungertod preisgegeben zu werden. Diese Befürchtung wurde schnell zerstreut, Charlie öffnete am frühen Morgen die Kellertür und stellte ihm auf einem Tablett ein recht üppiges Frühstück auf die Treppe, und auch zu Mittag und am Abend bekam er jedes Mal reichlich Essen serviert.

Am Morgen des dritten Tages öffnete sich die Kellertür weiter als sonst, Charlie schob kein Tablett auf die Treppe, sondern stand mit seinem Gewehr über der Schulter im Türrahmen und befahl Oskar, mit ihm zu kommen. Dieser wankte benommen die Stiege hoch und folgte Charlie in die Küche, wo der Tisch mit zwei Tellern Ham and Eggs, Toastscheiben, Orangensaft und Kaffee gedeckt war. In der Ecke stand ein kleiner geschmückter Christbaum, dessen elektrische Lichterketten gespenstisch an und aus gingen.

»Merry Christmas, Oskar!«, sagte Charlie. »Setz dich und iss!« Oskar setzte sich hin und aß ohne jeden Appetit, er würgte das Essen hinunter, seine Kehle war vor lauter Angst zugeschnürt. »Lass mich gehen, ich sage niemandem, was du getan hast«, bettelte Oskar und Charlie antwortete: »Du wirst jedem sagen, was ich getan habe.«

Nach dem Frühstück räumte Charlie das Geschirr in den Geschirrspüler, wischte den Tisch ab und holte aus einer Schublade einen kleinen Kassettenrekorder, den er auf den Tisch stellte, danach setzte er sich wieder hin, legte das Gewehr auf seine Knie und begann zu reden.

»Ich möchte dir etwas erzählen und ich möchte, dass du genau zuhörst. Hast du mich verstanden, Oskar, es ist mir wichtig, dass du dir alles merkst. Außerdem werde ich einen Teil davon aufzeichnen. In Ordnung? Sag mir, dass du mich verstanden hast.«

»Ich habe dich verstanden.«

»Gut. Es wird nicht lange dauern. Ich wollte dir auch sagen, dass ich sehr froh bin, dass du mich gesucht und gefunden hast.« Charlie schaltete das Gerät ein und sprach weiter, es klang so, als hätte er es jahrelang auswendig gelernt.

»Ich bin nicht dein Großvater, Oskar, ich wäre es wirklich gerne, du gefällst mir nämlich gut. Ich bin derjenige, der deinen Großvater umgebracht hat.« Oskar schaute abwechselnd zum Christbaum und zur Glastür, die auf die Veranda führte. Sollte er nicht einfach auf sie zustürzen, sie aufreißen, ins Freie laufen und rennen, so schnell ihn seine Beine tragen konnten?

»Du sollst mich ansehen, wenn ich mit dir rede«, sagte Charlie und Oskar gehorchte.

»Ich bin kein Amerikaner. Mein richtiger Name ist Johann Meisinger, ich bin Österreicher und stamme aus demselben Dorf wie deine Großmutter Maria Baumann. Wir waren Nachbarn, die Häuser unserer Eltern lagen weit außerhalb des Dorfes, ziemlich abgelegen in einer Senke. Als Kinder spielten wir jeden Tag miteinander, als Jugendliche waren wir ineinander verliebt, ich glaube einzig und allein aus dem Grund, weil weit und breit kein anderer zur Verfügung stand. Wir waren kurz ein Paar, bevor der Krieg begann. Ich meldete mich sofort als Freiwilliger, um der Sache zu dienen, ja ich war ein glühender Hitler-Anhänger. Maria war gegen Hitler und trennte sich von mir, sehr traurig war ich nicht, weil ich an der Front abgelenkt war, doch vergessen konnte ich sie trotzdem nicht. Ich trat schon bald der SS bei und war in Polen, dann in Frankreich, in den letzten zwei Kriegsjahren war ich als Oberaufseher im KZ Mauthausen angestellt.

Ich habe hundertvierzehn Menschen getötet, Oskar, ich habe Häftlinge gefoltert, erschlagen, erhängt, erschossen, kranke Häftlinge habe ich erfrieren oder verhungern lassen oder in die Gaskammer geführt, wo ich eigenhändig das Giftgas aufdrehte. Von jedem schrieb ich mir den Namen, die Häftlingsnummer, das Geburtsdatum und den Wohnort in ein kleines Notizheft. Ich war keiner, der Befehle erteilte, ich war einer, der Befehle ausführte, und das soll jetzt keine Entschuldigung sein. Ich hörte so viele in den Kriegsprozessen jammern: Ich habe nur Befehle ausgeführt und hätte ich es nicht getan, wäre mir und meiner Familie ja dasselbe passiert, ich musste gehorchen, ich hatte Angst um mein Leben. Ich hatte vor nichts und niemandem Angst, ich mordete aus Lust am Morden, ich empfand Befriedigung dabei. Du wirst blass, Oskar. Wie soll ich dir erklären, was in mir vorging damals? Ich war ein großer Hitler-Verehrer und wollte meinem Führer bei der Säuberung des Volkes helfen, ich wollte wie er, dass ein starkes und reinrassiges deutsches Volk wächst, frei von Gesindel jeder Art. Ich murmelte oft bei Erschießungen vor mich hin: Wieder ein Stück Gesindel weniger und wieder ein Stück Gesindel weniger. Wenn du darauf wartest, dass ich herumstammle, alles tue mir so leid, ich hätte nicht gewusst, was ich tat, dann wartest du vergeblich. Ich wusste sehr wohl, was ich tat, wir alle wussten es! Diese Heuchler, die nachher beschönigten und um den Brei herumredeten, sie hätten von nichts gewusst, als wäre das die Entschuldigung schlechthin, sie waren mir so widerwärtig! Wir waren Bestien, es gibt kein Schönfärben, keine Entschuldigung dafür.

Dann verloren wir den Krieg. Ich flüchtete in mein Heimatdorf und meine Mutter versteckte mich zwei Jahre lang im Keller. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst, ich wollte nicht vor das Kriegsgericht gestellt werden und die Todesstrafe bekommen. Ich wurde gesucht, mein Spitzname stand in jeder Zeitung: Meise, der Mörder von Mauthausen. Hat Meise eine Meise? Meine Mutter tat so, als wüsste sie nicht, was ich getan hatte, und ich verachtete sie dafür. Alle taten sie so, als hätten sie nicht mitbekommen, dass es KZs gegeben hatte und was dort geschehen war! Zwei Jahre lang in diesem Kellerloch ohne Fenster, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, viel zu viel, und ich drehte fast durch. Meine Mutter erzählte mir jeden Klatsch vom Dorf, unter anderem, dass Maria mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten zusammen war, und ich drängte sie, Näheres in Erfahrung zu bringen. Der Mann hieß Charles Dolphen, war groß und dunkelhaarig, schüchtern, ruhig, ein Medizinstudent, der – es kam mir vor wie eine Fügung des Schicksals – eine Vollwaise war und sonst auch keine Verwandten mehr hatte. Ab und zu schlich ich mich in der Nacht aus meinem Kellerloch und beobachtete Maria durch das Fenster, sie kam mir wunderschön und begehrenswert vor. Dann erzählte meine Mutter, dass Maria schwanger war von ihrem Amerikaner, dass sie sich verlobten und dass die beiden bald in die USA gehen wollten, der junge Mann hatte bereits um Entlassung aus der Armee angesucht, um sein Studium fortsetzen zu können. Meine Mutter hielt mich mit Details auf dem Laufenden und mein heimlicher Plan reifte in meinem Kopf. An der Stelle, an der die Mostfässer standen, begann ich eine Grube im Erdboden des Kellerraums auszuheben. Dann war es auf einmal so weit: Am nächsten Abend wollte der junge Charles Dolphen Maria abholen und mit ihr mit dem Zug nach Hamburg fahren, wo sie das Schiff nach New York besteigen sollten. Zu meinem Glück hatte Maria sich geweigert zu fliegen.

Hinter dem Haus versteckt wartete ich auf den Amerikaner, und als er mit seiner Reisetasche ankam, stürzte ich von hinten auf ihn und drückte ihm meinen Revolver an die Schläfe. Ich zwang ihn, mit mir in mein Kellerloch zu kommen, quetschte ihn über sein Leben aus und befahl ihm, sich nackt auszuziehen. Dein Großvater war cool, Oskar, du kannst stolz auf ihn sein, er bettelte kein einziges Mal um sein Leben und verstand sofort, worum es ging, er sagte zu mir: ›You are a nazi and you need a new identity, right?‹

Mit einem Kopfschuss tötete ich ihn und vergrub seine Leiche in dem Loch, das ich dafür gegraben hatte, die Mostfässer stellte ich wieder darüber. Ich wusch mich, schlüpfte in die Kleidung des Amerikaners, schnappte seine Reisetasche und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Meiner Mutter hinterließ ich einen Brief, in dem ich log, dass ich die Flucht nach Südamerika wagen würde.

Ich war von Anfang an erstaunt, wie leicht alles vor sich ging, ich hatte auf der Reise keine Probleme und auch in meinem neuen Leben in den USA nicht, Charles war offensichtlich ein wortkarger Einzelgänger gewesen, niemand fragte nach ihm oder suchte den Kontakt zu ihm. Wenn ein Kamerad aus der Armee eine Karte schrieb und das war selten, beantwortete ich sie nicht und das schien niemanden zu wundern. Der Mann war ein Glücksfall für mich gewesen.

Ja, wie verbrachte ich die letzten vierzig Jahre? Mit Arbeit, Oskar, einzig und allein mit Arbeit, und in meiner Freizeit ging ich fischen, mehr nicht. Alles machte ich, nur keine intellektuelle Arbeit, davor scheute ich zurück, ich befürchtete, dass sie meine wahre Herkunft ans Tageslicht bringen würde. Ich war Hafenarbeiter, Bauarbeiter, Tischler, Farmer, Lkw-Fahrer, Kranführer. Ständig zog ich um in eine andere Stadt oder in einen anderen Ort, nie blieb ich länger als fünf Jahre, nur einmal blieb ich auf einer großen Genossenschaftsfarm acht Jahre lang. Dort war ich auch mit einer Frau zusammen. Sie wollte unbedingt heiraten und Kinder bekommen, doch das wollte ich nicht, ich hatte keine Familie verdient, und deshalb zog ich weiter. Ja, das ist alles, seit einem Jahr bin ich in Pension und lebe hier.«

Der alte Mann beugte sich zum Rekorder vor und sagte: »Und für die Öffentlichkeit möchte ich hinzufügen, dass es Oskar Berger, der Enkel von Charles Dolphen, war, der mich davon überzeugte, mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit zu gehen und dieses Testament zu verfassen.« Er machte eine kurze Pause und schaltete den Kassettenrekorder aus, er wirkte erschöpft. Aus seiner Hemdtasche zog er ein schlichtes Kuvert, das er Oskar überreichte.

»Was ich dir jetzt sage, bleibt unter uns, das braucht niemand zu wissen. Hör gut zu, es ist mein Vermächtnis an dich. Als die Amerikaner im Anzug waren und alle das KZ fluchtartig verließen, fand ich im Büro der Lagerleitung etwas sehr Wertvolles. Tage zuvor hatte ich einen heimlichen nächtlichen Besuch beobachtet, der dem Chef eine Metallkiste überreicht hatte. Ich belauschte die beiden, es war geplant, dass jeder Ranghöhere in der Partei und in der SS, der vorhatte, sich nach Südamerika abzusetzen, gewisse Wertgegenstände überreicht bekam, um sie bei der Flucht mitzunehmen. Durch diese Streuung und Verteilung sollten von der NSDAP so viele Schäfchen wie möglich ins Trockene gebracht und das Risiko dabei vermindert werden. Mein Chef wollte sich offensichtlich nach Argentinien absetzen, was ihm jedoch nicht mehr gelang, er wurde zwei Tage später in seiner Wohnung tot aufgefunden. Nein, Oskar, ich habe damit nichts zu tun. Ich hatte gesehen, wo sie die Metallkiste versteckt hatten – unter einer lockeren Bodendiele, auf der der wuchtige Schreibtisch stand –, und fand sie ohne Schwierigkeiten wieder. In ihr befanden sich zehn Ein-Kilo-Goldbarren, und ein Dokument besagte, dass 1932 eine gewaltige Summe von Spendengeldern des Industriellen Fritz Thyssen in Hartgeld angelegt wurde, als eiserne Notreserve für später sozusagen. Das musst du mir glauben, Oskar, ich lüge dich nicht an. Die Barren stammen nicht aus Besitztümern der Häftlinge, sie wurden rechtmäßig von der Reichsbank erworben. Ich nahm die Barren an mich, steckte sie in meinen Rucksack und verließ mit ihnen das Lager. Kurz bevor ich bei meinem Elternhaus ankam, vergrub ich die Barren im Wald. Und jetzt beschreibe ich dir genau die Stelle, wo sie vergraben sind, merke sie dir und erzähle niemandem davon, sie sollen nur dir gehören. Und noch etwas: Das Notizheft mit den Daten der ermordeten Häftlinge versteckte ich im Kartoffelkeller hinten rechts in der Steinmauer, drei Steine waren locker, ich nahm sie heraus, steckte das Heft hinein und stopfte die Steine wieder darüber.«

Charlie beschrieb genau die Stelle, sagte: »Mach etwas aus deinem Leben, Oskar!«, hob ruckartig das Gewehr an seine Schläfe und drückte ab. Oskar schrie und schrie, während er – voller Blut in seinem Gesicht, an seiner Kleidung – aufsprang und durch die Verandatür ins Freie jagte. Es war sein neunzehnter Geburtstag.

Nachdem Oskar vom FBI zu seiner Gastfamilie zurückgebracht worden war, schlief Jane nur noch ein einziges Mal mit ihm. Der Satz »Who the fuck is Waldheim?« schwebte unausgesprochen zwischen ihnen, und als sie beide nebeneinander im Bett lagen, fing Oskar hysterisch zu lachen und dann zu weinen an. Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen, Jane nahm ihn in die Arme und wiegte ihn wie ein kleines Kind.

Er wurde als großer Held gefeiert, nicht nur in den USA und in Österreich, nein, in der ganzen Welt, sein Name und seine Geschichte geisterten wochenlang durch die Medien. Er war derjenige, der nach zweiundvierzig Jahren den grausamen Oberaufseher des KZ Mauthausen, Johann Meisinger, genannt Meise, der Mörder von Mauthausen, überführt und ihn obendrein davon überzeugt hatte, sein gespartes Vermögen von vierzig Arbeitsjahren (1.142.312 Dollar) den Hinterbliebenen von hundertvierzehn ermordeten Häftlingen zu vermachen. Eine eingesetzte Kommission sollte sie mithilfe des Notizheftes, das im Kartoffelkeller von Meisingers Elternhaus gefunden worden war, ausfindig machen und ihnen das Geld unbürokratisch zukommen lassen.

Die Leiche von Charles Dolphen wurde im selben Keller unter den alten Mostfässern ausgegraben und in die USA, in seine Heimatstadt Waukesha im Bundesstaat Wisconsin, überführt, wo dann ein pompöses Ehrenbegräbnis stattfand. Seine Braut Maria, sein Sohn Martin und sein Enkel Oskar gingen in der ersten Reihe hinter dem mit der amerikanischen Fahne bedeckten Sarg. Dahinter marschierten Charles Dolphens ehemalige Kollegen der U.S. Army, außerdem zahlreiche amerikanische Politiker und eine Truppe junger US-Soldaten, ganz hinten – in der Menschenmenge – befanden sich Oskars Familie und seine Gastfamilie. Oskar betrachtete verblüfft die vielen Leute um sich herum, die alle zu diesem Begräbnis gekommen waren, um einen Menschen zu ehren, der sie zweiundvierzig Jahre lang nicht interessiert hatte. Zum Schluss stellten Baumann und er fest, dass die fünfundachtzigjährige Maria verschwunden war und sie suchten mit einem riesigen Polizeiaufgebot acht Stunden lang nach ihr, schließlich fanden sie sie auf einer Parkbank schlafend, sieben Kilometer vom Friedhof entfernt. Am nächsten Tag war in der Zeitung zu lesen: Braut des vor vierzig Jahren ermordeten US-Soldaten Charles Dolphen harrte ganze Nacht am Grab des Geliebten aus.

Am 27. Mai 1988 stand Oskar vor einer Eiche in einem kleinen Laubwald nahe Johann Meisingers Elternhaus. Er hatte eine Schaufel in der Hand und schaute sich um.