WORST CASE

Es war bereits dunkel, als Julius Maier bei seinem Elternhaus ankam. Kein Licht war in den Fenstern zu sehen, die Vorhänge waren zugezogen. Verstohlen blickte er sich im Garten um, der Wind blies durch die hohen Bäume. Auf dem Schnee, durch den er soeben gestapft war, tanzten gespenstische Schatten.

Er klopfte an die schwere dunkle Haustür und wartete. Er klopfte abermals. Wieder nichts. Er war so erschöpft und hungrig wie schon lange nicht mehr. Die Frage, die er sich in den letzten Tagen immer wieder gestellt hatte, nämlich, ob es richtig war, nach Hause zu fahren, stellte er sich jetzt nicht mehr. Es musste die richtige Entscheidung gewesen sein. Ein Zurück gab es ohnehin nicht.

Schließlich hämmerte er mit beiden Fäusten gegen die Tür und schrie: »Macht auf! Ich bin es, Julius!« Einige Sekunden später wurde der Vorhang des Wohnzimmerfensters neben der Haustür zur Seite geschoben und er erkannte das Gesicht seines Vaters hinter der Scheibe. Kurze Zeit später wurde die Tür einen Spalt geöffnet, Julius schlüpfte durch. Vor ihm stand sein Vater, der die Tür sofort wieder versperrte. Unbeholfen schüttelten die beiden sich die Hände.

In der Küche empfing ihn eine Welle der Wärme, vermischt mit muffigem Gestank, der vermuten ließ, dass tagelang nicht gelüftet worden war. Im alten Feuerherd brannte und knisterte es. Julius saß am Tisch und stopfte gierig Kartoffeln und Krautsalat in sich hinein. Er fühlte sich gut. Hunger und Kälte waren verschwunden, eine wohlige Müdigkeit lullte ihn ein, alles würde gut werden. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, der wochenlange Albtraum war vorbei.

Drei alte Menschen saßen um den Küchentisch und sahen ihm zu: sein Vater, seine Mutter, seine Tante Anna. Sie sprachen nicht, sahen ihm nur zu. Er hatte sie ein Jahrzehnt lang kaum gesehen, vielleicht zwei Mal im Jahr ein paar Stunden lang, zu Weihnachten oder zum Geburtstag seiner Mutter, und im letzten Jahr überhaupt nicht mehr. Verbraucht und bedürftig erschienen sie ihm. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. »Damit die Wärme hineinkann«, erklärte sein Vater, »wir schlafen da drin. Wir heizen nur diese zwei Räume.«

Die einzigen Geräusche waren Julius’ Kauen und Schlucken. Sein Blick schweifte durch die Küche – man hatte die alten Möbel umgestellt, sodass der Raum vertraut und gleichzeitig fremd wirkte – und blieb schließlich am Kalender hängen: 3. Dezember 2015. In drei Wochen würden sie gemeinsam Weihnachten feiern. Die Uhr daneben zeigte Viertel nach neun. Das Gefühl für die Zeit hatte er in den letzten Wochen in der Stadt verloren. Sie war irrelevant gewesen. Man hatte weder Arbeits- noch Öffnungszeiten zu beachten gehabt. Die ganze Situation in dieser überhitzten alten Küche erschien ihm plötzlich derart unwirklich und surreal, dass er sich verschluckte und husten musste.

Nach dem Essen bestürmten ihn alle mit Fragen nach seinem Leben in der Stadt, sein Vater wollte vor allem wissen, wie es ihm seit dem 25. September ergangen war. Seine Mutter fragte ihn nach Michelle, er hatte seine Freundin früher ein paar Mal mitgebracht.

Da er todmüde war, vertröstete er sie auf den nächsten Tag. Nur kurz erzählte er von der Fahrt im Zug hierher, er hatte nur mit Mühe einen Stehplatz bekommen und die Waggons waren so überfüllt gewesen, dass man sich gegenseitig auf die Füße getreten war. Alle waren nervös, misstrauisch und sehr aggressiv gewesen. Von Michelle wollte er nicht erzählen. Seine Eltern wussten nicht einmal, dass sie, nachdem sie neun Jahre ein Paar gewesen waren, spontan geheiratet hatten. Kinder hatte er sich gewünscht und ein harmonisches Familienleben. Doch Michelle vermittelte ihm schnell, sie könne nicht glauben, dass das alles sei, und zog nach wenigen Monaten aus. Auf dem Tisch ließ sie die Scheidungspapiere zur Unterschrift zurück. Im Altpapierbehälter fand er die drei Wochen alten Entlassungspapiere einer Abtreibungsklinik. Zwei Monate später sah er sie zufällig in einer Bar, sie war in Begleitung eines grau melierten Anzugträgers. Das war genau ein Jahr her.

Die Eltern boten ihm an, mit ihnen und Tante Anna gemeinsam im Wohnzimmer zu schlafen. Julius wehrte ab. Die Vorstellung, mit den drei alten Menschen in einem Raum schlafen zu müssen, ekelte ihn. Drei Zahnprothesen in Wassergläsern, oh nein. Er wollte alleine schlafen.

Im ersten Stock wanderte er durch die leer stehenden, eiskalten Zimmer. Sie sahen alle anders aus als noch vor zwei Jahren, hier war ebenfalls alles umgestellt worden. Für Julius nichts Neues: Als er noch ein Kind gewesen war, war ungefähr jedes zweite Jahr im Haus umgeräumt worden, einzelne Zimmer verändert, deren Bewohner vertauscht. Jedes Zimmer in diesem großen Haus war einmal sein Kinderzimmer gewesen.

Julius suchte sich das Zimmer mit dem kleinen Kaminofen aus und machte Feuer. Aus der Wandverkleidung neben dem kalten Heizkörper bog er ein Brett etwas zurück. Er steckte den kleinen zugeschnürten Sack mit seinem Pass und den Silbermünzen hinein und bog das Brett wieder in die ursprüngliche Lage. Er legte sich samt Kleidung ins Bett und brauchte lange, bis ihm ein bisschen warm wurde. Die Bettwäsche roch stark nach ungewaschenem Menschen.

Mitten in der Nacht wachte er auf, weil er fror. Er zündete die zwei Kerzen am Tisch an und machte erneut Feuer. Im Dunkeln tappte er in das Zimmer nebenan und holte sich noch zwei weitere Daunendecken, die er dann über sich türmte. Mit dem Schlafen war es vorbei. Er sehnte sich nach einem Fernseher und hätte alles für eine Stunde Fernsehen gegeben. Selbst wenn es nur Werbungen gewesen wären. Selbst wenn es nur eine gewesen wäre. Nur diese Stille sollte aufhören. Eine Stunde lang dieselbe Werbung ansehen, das hätte ihm schon gereicht. Für welche hätte er sich dann entschieden? Unwillkürlich musste er lachen. Er kicherte in die Dunkelheit hinein.

Am nächsten Morgen konnte er seinen eigenen Geruch nicht mehr ausstehen. Im Bett liegend, mit geschlossenen Augen, nahm er sich fest vor, sich trotz des kalten Wassers zu duschen und sich die Haare zu waschen.

Nur mit einer Unterhose bekleidet lief er ins ungeheizte Badezimmer. Er schnappte sich ein Stück Seife und stellte sich unter die Dusche. Die Kälte des Wassers tat ihm weh. Er schaffte es gerade, sich die Beine bis zu den Oberschenkeln abzuspritzen, außerdem die Hände, das Gesicht und die Achseln etwas mit Wasser zu betupfen. An Ehrgeiz und Überwindung hatte es ihm immer gemangelt. In der Küche bot ihm Tante Anna an, Wasser auf dem Herd zu erwärmen. Er lehnte ab.

Julius half dem Vater, im Wald einen Baum zu fällen. Eine riesige Fichte wurde zu Brennholz gehackt und zum Trocknen im Keller gestapelt. Es kam ihm sinnlos vor. Fast der ganze Keller war mit Brennholz voll, nur der Erdäpfelkeller nicht. Er warf einen Blick hinein, der Raum war gefüllt mit Erdäpfeln und Krautköpfen, in den Regalen stand eine Unmenge Gläser mit selbst gemachter Marmelade und Kompott, von der Decke baumelten große Speckstücke. Es gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.

Sie arbeiteten stundenlang. Anfangs liebte Julius die Bewegung in der frischen Luft, er fühlte sich wie neugeboren. Doch schon nach einer Stunde flaute dieses »Ich fühl mich so gut und stark«-Gefühl ab. Er begann innerlich zu fluchen. Der Vater gab das Tempo vor und arbeitete mit verbissener Miene. Für Julius hatte er nur mürrische Blicke und grunzende Geräusche übrig. Schon immer war das so gewesen, wenn sie gemeinsam gearbeitet hatten.

Sie wechselten sich mit der Axt ab. Der eine hackte, der andere sammelte das gehackte Holz auf und trug es in den Keller. Der große Heizofen, der entweder mit Öl oder Holz zu heizen war, stand verwaist da. Den ganzen Herbst über hatte man nur den Küchenherd geheizt, um Brennholz zu sparen. Man wusste nicht, wie lange man damit auskommen musste. Noch einen Monat, den ganzen Winter, mehrere Jahre lang?

Am nächsten Tag ging Julius in das Ortszentrum. Es lag viel Schnee, und er kam deshalb nur langsam voran. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne schien und ließ den Schnee glitzern. Julius musste seine Augen abwenden und holte seine Sonnenbrille aus der Jackentasche. Er stellte sich vor, wie er mit seinen Carvingski auf einer Skipiste elegante Schwünge zog.

Er kam auf dem Marktplatz an. Im Unterschied zu seinem Elternhaus konnte Julius hier keine Veränderung erkennen. Er stellte sich vor, er wäre wieder ein Kind und würde in die Schule gehen. Die Straße war wie ausgestorben. Nur wenige Menschen hasteten an ihm vorüber. Julius erkannte sie alle, wusste aber ihre Namen nicht mehr. Die meisten grüßten ihn. Er wusste, sie hatten irgendeine Rolle in seiner Kindheit gespielt, eine größere oder kleinere, aber es fiel ihm beim besten Willen nicht mehr ein, was er mit ihnen zu tun gehabt hatte. War er mit der Frau hier in die Schule gegangen? War er mit diesem Mann am Nachmittag in der Gegend herumgestreift? Hatte er dieser alten Frau einen Streich gespielt? Er verfluchte sein schlechtes Gedächtnis, was seine eigene Vergangenheit betraf. Leute, die sich klar und konkret an einzelne Erlebnisse erinnern konnten, bewunderte er. Seine Erinnerungen ähnelten meist einem zähen Brei. Ein älterer Mann schüttelte Julius, offenbar erfreut, ihn zu sehen, die Hand und krächzte: »Ja, ja, der Maier junior ist wieder mal da. Wie alt bist eigentlich? Musst auch schon weit über die dreißig sein. Ja, ja, wenn’s einem schlecht geht, findet man den Weg wieder heim.«

Im Ort fand er alles verschlossen vor, das Lebensmittelgeschäft, die beiden Gasthäuser, die Trafik, den Drogeriemarkt, selbst die Kirche war verriegelt. Trotzdem wirkte es ganz anders als in der Stadt, nämlich gespenstisch ruhig.

Jeder Tag ähnelte dem anderen, er konnte sie nicht voneinander unterscheiden, selbst die Stunden verrannen ineinander. Er half ab und zu seinem Vater bei Waldarbeiten. Sein Vater war trotz Winter und Schnee besessen davon, Brennholz herbeizuschaffen. Julius saß in seinem Zimmer auf dem Bett und versuchte, seine alten Jugendbücher zu lesen, andere waren nicht vorhanden: Mark Twain, Karl May. In der Küche schälte er mit seiner Tante Erdäpfel und schnitt mit seiner Mutter Kraut. Er kehrte das Stiegenhaus und den Gang. Sein Leben kam ihm elend vor.

Manchmal ging er zum Marktplatz hoch. Er wollte sehen, ob es Veränderungen gab. Beim dritten Mal traf er auf Anita, eine frühere Schulkollegin. In der zweiten Hauptschulklasse waren sie kurz ein Paar gewesen, sie war die Erste gewesen, die er je geküsst hatte. Anita fragte ihn, ob er Zigaretten hätte, Julius hatte keine. Sie beschlossen, einen längeren Spaziergang rund ums Dorf zu machen.

Sie erzählten einander, was sie seit der Schule gemacht hatten. Anita hatte eine kaufmännische Lehre abgeschlossen und als Verkäuferin im Supermarkt des Nachbarorts gearbeitet. Julius wunderte sich, sie war in der Schule immer eine der Besten gewesen und hatte Träume gehabt. Er merkte, dass es ihr peinlich war. Sie war geschieden und hatte eine vierzehnjährige Tochter. Julius erzählte widerstrebend von der höheren Schule in der Stadt, der Matura, seiner Arbeit in einem Werbegrafikbüro. Eine Weile schwiegen sie.

Plötzlich sagte Julius: »Vielleicht ist alles nur Show.«

»Wie meinst du das?«

»Vielleicht ist das alles von einer großen Fernsehanstalt inszeniert. Wir sind Teil einer Realityshow und wurden darüber bewusst nicht informiert. Es gibt Millionen Zuschauer, die momentan auf dem Bildschirm verfolgen können, wie wir uns verhalten werden. So wie in dem Film ›The Truman Show‹ mit Jim Carrey als Hauptdarsteller, erinnerst du dich? Ein Mann lebt in einem malerischen Städtchen unter einer Glasglocke, ganz Amerika lebt sein Leben im Fernsehen mit, nur er weiß es nicht.«

Anita musste lachen: »Du hast immer noch so verrückte Ideen wie früher.«

»Jemand hat dafür Milliarden bezahlt, die Regierung hat nur deshalb eingewilligt, um den Staatsbankrott abzuwenden.«

»Lustige Vorstellung«, meinte Anita.

Julius fasste nach ihrem Arm: »Warum nicht?«

»Und – wer glaubst du, sieht uns jetzt zu? Millionen von Amis?«

»Nein, ich denke eher an eine Nation im Osten, die Inder, die Koreaner oder die Chinesen oder die Russen oder die Japaner, ach, ich weiß auch nicht, oder vielleicht nur ein paar stinkreiche Scheichs in der Wüste. Ja, das ist es. Es sind ein paar Scheichs! Die Araber lachen sich jetzt kaputt über uns.«

»Hollywood wär mir lieber, schade!«, Anita grinste. »Wo sind die Kameras versteckt?«

»Überall. Sie haben in der Nacht Milliarden von Kameras abgeworfen, die so klein wie Staubkörner und für uns beinahe unsichtbar sind.«

»Wie lange soll das deiner Meinung nach dauern? Bis wir uns zerfleischen und uns gegenseitig aufessen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und wie heißt die Show?«, fragte Anita.

»Keine Ahnung. Irgendwas mit worst case.«

»Was? Worst case?«, wiederholte sie.

Es klang schrecklich, wie sie es aussprach, Julius musste lachen.

»Wüst Käs’? Wüst Käs’?«, Julius fuchtelte mit beiden Händen vor Anitas Gesicht herum, als läge etwas darin, das er ihr anpreisen wollte.

»Ja, ich will Käse, ich würde alles dafür geben, jetzt ein Stück Käse zu haben«, lachte sie.

Julius begann auf- und abzuspringen, er schaute dabei zum Himmel hoch und streckte seine Arme aus: »Schaut her, ihr verdammten Scheichs oder wer auch immer ihr seid, es geht uns gut, wir verrecken nicht, wir bringen uns nicht gegenseitig um!«

»Du bist wirklich immer noch so verrückt wie früher«, sagte Anita.

Julius konnte es dann nicht mehr vermeiden, sich überall winzige Kameras vorzustellen. Er machte sich einen Spaß daraus. In jedem Fussel, in jedem Stück Dreck witterte er die pure Beobachtung. Das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, kreischte oder flüsterte er mehrmals am Tag irgendwelche Kommentare auf Englisch. Selbst wenn er seine ungeschälte Kartoffel auf dem Teller vor sich liegen sah und deren Schale ein kleines dunkles Loch aufwies, beugte er sich vor und sagte: »Look and listen, my dear fucking audience! I am Julius Caesar and I am eating a potatoe, I am really eating a potatoe!! It is potatoe number twothousandfourhundredandtwelve in this week! Tomorrow I will eat cabbage, the day after tomorrow I will eat potatoes again. I love potatoes and cabbage!! I don’t want to eat anything else!«

Auf der Toilette sitzend sang er laut: »Look, you fucking audience, my shit is leaving my asshole and coming directly to you! It has got the perfect consistence, can you see?« Beim Zähneputzen starrte er in den Spiegel und dachte: Oh mein Gott, ich werde jetzt tatsächlich wahnsinnig.

Am nächsten Tag ging er wieder mit Anita spazieren. Er war froh, jemanden zu haben, mit dem er reden konnte. Seine Eltern und seine Tante hatten es verlernt.

Nach einer Weile fragte Julius: »Was fehlt dir am meisten?«

»Eine heiße Badewanne. Eine Zigarette. Musik. Und dir?«

»Die Schminke.«

Anita starrte ihn ungläubig an: »Hast du dich früher geschminkt?«

»Das meine ich nicht. Es wirkt jetzt alles so nackt, so ungeschminkt. Ich mag das nicht, diese Nacktheit des Lebens. Es wirkt alles so real und hart, findest du nicht? Ich möchte am liebsten alles mit Schminke übertünchen, damit alles ein bisschen besser, rosiger und weicher aussieht.«

»Bist wohl ein Philosoph geworden, hm? Woraus besteht die Schminke denn?«

»Aus den Dingen, die aus dem Leben mehr als ein nacktes Überleben machen. Zum Beispiel eine heiße Badewanne, dazu Musik, anschließend ein netter Film im Kino, zum Abschluss ein gemütliches Abendessen in einem schicken Restaurant und in der Nacht ein geheiztes Schlafzimmer, in dem ich nicht vorher Feuer machen muss.«

Seine Tante bestand darauf, am 24. Dezember einen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer zu schmücken. Julius ging in den Wald und fällte eine kleine Tanne. Zu Mittag fand er seine Mutter weinend in der Küche vor. Sie kochte Gulasch und schluchzte laut und wie von Sinnen. Julius zwang sich dazu, sich neben sie zu setzen, einen Arm um ihre Schulter zu legen und sie tröstend zu tätscheln. Eine Umarmung schaffte er nicht, die Vorstellung, die Mutter würde flennend und sabbernd an seinem Hals landen, ekelte ihn. Er hätte ihren Mundgeruch und ihren Speichel nicht in seinem Gesicht haben wollen. Körperliche Nähe war für ihn immer schon schwer zu ertragen gewesen.

»Was soll jetzt werden? Es dauert und dauert und wird nicht besser! Du wirst sehen, es kommen noch die Russen! Die Russen werden bei uns einfallen! Denen geht’s bestimmt noch dreckiger als uns und die haben keine Hemmungen, woanders einzufallen und alles niederzumetzeln, um die letzten Getreidekörner zu ergattern!«

Julius gelang es sie zu beruhigen, indem er immer wieder murmelte, dass die Russen sicher nicht einfallen würden. Er dachte an das Telefonat mit seinen Eltern vor genau drei Monaten. Am 25. September hatte der Bundeskanzler – schweren Herzens wie er sagte – abends im Fernsehen erklärt, dass das Zeitalter des Euros vorbei sei und jeder europäische Staat seine eigene Währung wieder einführen würde, um Schlimmeres zu verhindern. Jeder konnte von seinen Ersparnissen tausend Euro im Verhältnis eins zu eins in die neue Währung umtauschen, weitere tausend Euro würden im Verhältnis eins zu null Komma fünf umgetauscht, ansonsten würden alle Ersparnisse bis auf Weiteres eingefroren.

Sofort hatte Julius seine Eltern angerufen, es war das erste Telefonat nach langer Zeit gewesen. Seine Mutter hatte damals euphorisch – er hatte ihre Begeisterung förmlich hören können – in den Hörer geschmettert: »Es ist gut so, du wirst sehen! Die Leute werden wieder wissen, was das Wesentliche im Leben ist, sie werden wieder zusammenhalten. Dieser ganze Luxus hat uns schon so verweichlicht. Wir haben kein Vermögen zu verlieren, bei uns auf dem Land wird es immer das Nötigste zu essen geben, ich habe keine Angst!« Er hatte seine Eltern beschworen, so viele Lebensmittel wie möglich einzukaufen, ob in Geschäften oder bei Bauern, und einzukochen.

Am Montag nach diesem 25. September waren alle Banken geschlossen gewesen. In der Bevölkerung war Panik ausgebrochen. Zwei Wochen später hatten alle Geschäfte geschlossen, ein Monat später hatte es keine Telefonnetze und keinen Strom mehr gegeben.

Seine Mutter griff schließlich nach seiner Hand und entschuldigte sich für ihre blanken Nerven. Sie fragte nach Michelle und wo sie untergekommen sei.

Julius räusperte sich und nickte: »Ich glaube, sie ist auch auf dem Land bei Verwandten untergekommen.«

»Ja, ja«, seufzte seine Mutter, »alle haben sie jetzt weg von der Stadt wollen, auf dem Land verhungert man wenigstens nicht, war im Krieg auch schon so.«

Michelles symmetrisches Gesicht und ihr schlanker Körper tauchten in seinem Kopf auf. Er vermisste sie.

Vor der Bescherung besuchte ihn Anita. Sie hielt ihm eine Zigarettenschachtel vors Gesicht. Gemeinsam rauchten sie in seinem Zimmer und begannen, sich zu küssen. Dann eilte sie heim zu ihrer Tochter. Gegen Mitternacht wollte sie wiederkommen.

Am Abend bemühte sich jeder krampfhaft Feiertagsstimmung zu verbreiten. Man gab sich betont fröhlich, während man die Gulaschsuppe und anschließend den Kartoffelschmarrn verzehrte. Dazu trank man Tee mit Rum, was tatsächlich für bessere Stimmung sorgte. Julius musste ausführlich von seiner Arbeit als »Werbemensch« erzählen und darüber Witze reißen.

»Eigentlich ein sinnloser Beruf«, meinte sein Vater, »wenn man das aus heutiger Sicht betrachtet.«

»Aus heutiger Sicht ja«, antwortete Julius.

Ein paar Kerzen wurden auf dem geschmückten Baum entzündet, allerdings nur für wenige Sekunden. Man wollte die Kerzen sparen. Tante Anna las das Weihnachtsevangelium nach Lukas vor. Während sie las, starrte Julius auf ihre dritten Zähne, die ständig leicht vor- und zurückrutschten. Er konnte den Blick nicht abwenden.

Jemand klopfte an das Wohnzimmerfenster, zuerst leise, dann immer lauter. Alle sahen zum Vorhang hin, keiner bewegte sich. Schließlich trat Julius zum Fenster und schob ihn zur Seite. Er starrte in die Dunkelheit hinaus und sah eine Frau mit einem langen Mantel vor der Haustür stehen. Sie schaute zu Boden. Erst nach einer Weile hob sie den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Es war Michelle.

Julius ging aus dem Wohnzimmer und den Gang hinunter. Er öffnete die Haustür. Michelle stand ihm gegenüber und er sah, dass sie hochschwanger war. Sie hielt eine Reisetasche in der Hand. Schluchzend fiel sie ihm um den Hals, er zitterte. Als sie sich beruhigt hatte, führte er sie in die Küche. Die drei alten Menschen wussten nicht, ob sie sich über den unerwarteten Besuch freuen sollten, und starrten verwirrt auf Michelles Bauch und in Julius’ Gesicht.

»Warum hast du uns nichts davon erzählt?«, fragte die Mutter mehrmals.

Michelle bekam Gulaschsuppe vorgesetzt und aß hastig. Später gingen sie ins Wohnzimmer und sangen gemeinsam Stille Nacht, heilige Nacht. Die Mutter und die Tante hatten darauf bestanden.