Bisher ist das Beste an diesem Abend, dass ich Johanna überreden konnte mitzukommen. Deshalb muss ich jetzt nicht alleine am Tresen sitzen und mich moralisch darauf vorbereiten, Philipps Band zuzuhören. Diese Kneipe rangiert irgendwo zwischen lässig und verschissen, von den Toiletten weht ein leichtes Aroma herüber, aber vielleicht riecht man das auch gar nicht, wenn man nicht schwanger ist. Ich will Johanna lieber nicht darauf aufmerksam machen. Die hat heute Abend schon einen Fan gewonnen: Der Bassist, den Philipp uns vorstellte, begrüßte sie mit »Hallo! Ich bin Stulle« und begeistertem Händeschütteln. Er trägt ein T-Shirt von der Nickelback-Tour 2008 in der Kölnarena. Jahreszahl und Stadt konnte ich erst erkennen, als er sich irgendwann doch widerstrebend von Johanna abwendete, nicht ohne sie vorher zur Aftershow-Party einzuladen (Bier im Separee).
Die anderen Bandmitglieder habe ich noch nicht kennengelernt. Der Schlagzeuger ging direkt auf die Bühne, ohne eine Miene zu verziehen, und begann sein Instrument aufzubauen. Und der Sänger scheint gerne die Diva zu geben, die erst in letzter Sekunde erscheint. Außer uns sind sowieso erst fünf Leute da. Philipp stöpselt gerade das Mikrofon an, während Stulle und der Schlagzeuger hinten ein großes Tuch aufhängen, auf dem der Bandname steht: Button Down.
Johanna bestellt noch ein Pils für sich und eine Johannisbeerschorle für mich beim Barkeeper, der seine schwarze Lederjacke in diesem stickigen Laden mit großer Nonchalance trägt.
»Wie kommt das wohl, dass manche Männer so alberne Spitznamen haben?«, fragt sie leise.
»Stulle? Vielleicht war er mal Punker, und der Name ist geblieben.«
»Nickelback ist nicht Punk.«
»Nee.« Ich muss lachen.
»Du hast mir immer noch nicht verraten, was die heute Abend eigentlich spielen, und allmählich wüsste ich es gern«, sagt sie.
»Der Sänger schreibt eigene Lieder. Und dazwischen spielen sie ein paar Rock-Klassiker, sagte Philipp.«
»Here I Go Again von Whitesnake?«
»Darauf sollten wir gefasst sein.«
»Okay. Damit könnte ich leben.«
»Wie läuft’s eigentlich mit Pepe?«
»Noch so ein komischer Spitzname. Wärst du drauf gekommen, dass Pepe in Wahrheit Patrick heißt?«
»Niemals. Ich hoffe, das hat die Geschichte nicht ruiniert für dich.«
»Nee, das war nicht das Problem. Aber es ist trotzdem vorbei.«
»Das tut mir leid.«
»Mir nicht. Vielleicht sollte man einfach keine Männer im Supermarkt kennenlernen. Zumindest nicht, wenn sie einen aus Hilflosigkeit ansprechen.«
»Du hast dich aber nicht von ihm getrennt, weil er nicht kochen kann.«
»Seine Freundin konnte ganz gut kochen, wie sich herausstellte. Die hat ihn Schalotten kaufen geschickt.«
»Autsch. Weiß sie Bescheid?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wer sie ist. Ich hab nur ihr Foto in seinem Portemonnaie gesehen, und er hat mir das alles mit einer solchen Selbstverständlichkeit erzählt, als wäre er nicht gerade aus meinem Bett aufgestanden.«
»Manche Typen sind solche Arschlöcher.«
»Ja«, sagt Johanna. »Und trotzdem …«
Sie schaut gebannt an mir vorbei in Richtung Tür. Ihr angefangener Satz bleibt in der Luft hängen. Ich drehe mich um und sehe einen auffallend großen Mann im schwarzen Mantel, der einfach nur dasteht, als gehöre die ganze Kneipe ihm. Seine Augen sind dunkel umrandet. Wenn ich mich aus der Ferne festlegen müsste: nicht von Natur aus, sondern mit ein bisschen Kajal. Er schaut zu uns herüber und nickt uns zu.
»Kennst du den?«, fragt Johanna leise.
»Nein, aber ich hab so eine Ahnung …«
Ich drehe mich wieder zu ihr, damit wir wenigstens nicht beide starren. Johanna fällt es gerade ziemlich schwer, sich auf mich zu konzentrieren.
»Er geht zur Bühne«, berichtet sie leise. »Jetzt geht er rauf. Die anderen begrüßen ihn. Ist das der Sänger?!«
»Nehme ich an. Vielleicht könnte dir der Auftritt heute Abend doch gefallen?«
»Ich hab ja nie das Gegenteil behauptet!«
Ich sehe Philipp oben an Knöpfen drehen. Im nächsten Moment bläst uns ein lautes Fiepen die Ohren weg.
»’tschuldigung! Soundcheck!«, ruft Stulle und verschiebt ein paar Gerätschaften auf der Bühne.
Der Sänger singt nicht beim Soundcheck. Er sagt ein paarmal gelangweilt »Eins zwei drei Test« ins Mikrofon, in unterschiedlichen Lautstärken. Johanna hängt dabei an seinen Lippen, als deklamiere er den großen Monolog aus Hamlet. Er hat den Mantel ausgezogen und trägt tatsächlich ein pinkfarbenes Button-down-Hemd, das über seinen Oberarmen spannt, zu einer engen schwarzen Jeans. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie erträglich ich ihn finde, aber er ist auf jeden Fall eine Erscheinung.
Mittlerweile hat sich die Kneipe auch gefüllt. Die meisten sitzen herum und gucken hin und wieder erwartungsvoll Richtung Bühne. Hier ist jeden Donnerstag Livemusik, erfahren wir vom Barkeeper. Ich bin die Einzige, die Saftschorle trinkt.
Als wir sie gerade am wenigsten beachten, setzt die Band ein. Das Schlagzeug ist zu laut, aber sonst klingen sie ganz gut.
»Bisschen wie Bon Jovi«, sagt Johanna.
»Bist du gemein.«
»Ich mochte Bon Jovi immer!«
Der Sänger zieht den Mikrofonständer zu sich. Im nächsten Moment ist Johanna verliebt. Ich kann es ihr ansehen. Und ich muss zugeben, dass er wahnsinnig gut singt. Seine Stimme ist fast zu groß für diese Kneipe. Außerdem ist er eine Rampensau. Philipp und Stulle wirken daneben steif wie Schaufensterpuppen. Also ungefähr so, wie ich auch wirken würde, wenn ich mich jemals auf so eine Bühne trauen würde.
Er heißt Adam, erfahren wir alle nach dem zweiten Lied, als er sich selbst und die Band vorstellt. Natürlich heißt er Adam, wie sonst? Johanna ist nicht die Einzige in der Kneipe, die vor Begeisterung ausflippt, als die Band Blinded by the Light spielt. Ich wippe fröhlich mit, gucke ab und zu Philipp an und bin ein bisschen stolz, dass ich ein Baby mit jemandem bekomme, der Gitarre in einer Band spielt. Früher hätte mich das nicht besonders beeindruckt. Aber wie viele erwachsene Männer kenne ich schon, die nicht irgendwann wegen zu wenig Leidenschaft und Durchhaltevermögen ihre Hobbys aufgegeben haben? Philipp scheint beides zu haben. Ich würde gern mit Johanna erörtern, welches Instrument unser Kind mal lernen sollte, aber sie ist schwer damit beschäftigt, Because the Night mitzusingen.
Erst nach zwei Zugaben geht die Band schließlich von der Bühne. Philipp sieht wahnsinnig glücklich aus und umarmt mich schwungvoll. Stulle sieht das und versucht das Gleiche bei Johanna, die ihn aber glatt übersieht, weil sie immer noch Adam beobachtet, der sich direkt vor der Bühne unterhält. Also wird eher ein Schulterklopfen daraus.
»Habt ihr Hunger?«, fragt der Barkeeper Philipp.
»Und wie!«
»Wir machen Flammkuchen für euch, ich schick sie an euren Tisch.« Er nickt ihm zu. »Habt ganz gut gerockt da oben.«
»Danke!«
Philipp lotst uns in den halb offenen Nebenraum. Der Deko nach zu schließen tagt hier sonst ein Stammtisch von Motorradfahrern. Oder natürlich der schwul-lesbische Lederclub Rödelheim.
Stulle schafft es irgendwie, sich den Platz neben Johanna zu sichern, die es irgendwie schafft, sich den Platz neben Adam zu sichern. Philipp und ich sitzen ihnen gegenüber, ein echter Logenplatz mit bester Aussicht auf eine Dreiecksgeschichte. Der Schlagzeuger, der sich nur kurz als Frank vorstellt, sitzt stumm neben Philipp und fällt über den Flammkuchen her.
Johanna verwickelt Adam in ein Gespräch über Patti Smith als feministisches Rockidol, wird aber immer wieder von Stulle unterbrochen, der erklärt, er sei ja der größte Fan von Debbie Harry und halte Blondie überhaupt für die unterschätzteste Band aller Zeiten.
»Und was ist mit Nickelback?«, frage ich irgendwann und zeige auf sein T-Shirt.
»Total geile Band!«
»Sind die überhaupt noch aktiv?«
»Zum Glück nicht«, sagt Philipp.
Stulle wirft ihm einen verletzten Blick zu.
»Leider nicht!«, sagt er. »Chad Kroeger hat Stimmbandprobleme.«
»Oh. Wer von euch sucht eigentlich aus, welche Lieder ihr covert?«
»Wir machen alle Vorschläge«, sagt Philipp, »aber letztlich entscheidet Adam, ob er es so singen kann, dass es ihm gefällt. Ich wollte immer Heavy Cross von Gossip spielen, aber ich muss zugeben, dass diese hohen Töne von einem Mann nicht so gut klingen. Es muss ein bisschen schrill sein.«
Während wir uns unterhalten, beobachte ich Johanna und Adam. Sie scheinen uns vollkommen vergessen zu haben. Stulle bemerkt allmählich, dass seine Bemühungen vergebens sind, und spricht Johanna nicht mehr an. Er schaut so resigniert drein, dass ich vermute, es ergeht ihm öfter so mit Frauen, wenn Adam anwesend ist.
Nach einer Stunde bin ich kurz davor, im Sitzen einzuschlafen. Mein neuer Mitbewohner bemerkt das und packt seine Sachen zusammen. Nicht mehr allein nach Hause zu gehen ist ein völlig neues Lebensgefühl. Die Dynamik am Tisch dürfte ohne uns noch interessanter werden: der stumme Frank, der enttäuschte Stulle und die zwei menschlichen Magneten.
»Adam gefällt Johanna«, sage ich auf dem Heimweg.
»Ja … alle Frauen mögen Adam.«
»Das wundert mich nicht. Was macht er, wenn er nicht singt?«
»Er ist Personal Trainer.«
»Na, das sieht man.«
»Hmmm. Ich weiß schon, Johanna ist erwachsen, und Adam ist ein netter Kerl, aber …«
»Was?«
»Er ist jetzt nicht der bindungswilligste Mann, den ich kenne.«
Ich lache los. »Ernsthaft? Da musst du dir keine Sorgen machen. Johanna hält auch keinen Typen mehr als zwölf Stunden am Stück aus.«
»Das ist praktisch, das dürfte ziemlich genau die gleiche Zeitspanne sein wie bei ihm.«
»Du kannst froh sein, dass das bei mir anders ist. Jetzt waren wir nämlich schon drei Stunden im gleichen Raum, ich müsste dich also vorm Frühstück rauswerfen.«
»Hab ich ein Glück. Du kannst auch froh sein, sonst müsste ich vielleicht nach zwölf Stunden Geburt nach Hause, wenn gerade die Presswehen beginnen.«