Kapitel 17

Als ich Philipp meinem Vater vorstellte, hatte ich gehofft, dass sie sich gut verstehen würden. Dass ich eine Woche später nach Hause kommen und die beiden in meinem Arbeitszimmer vorfinden würde, wo sie mit verschränkten Armen und diesem fachmännischen Handwerkerblick auf mein Mobiliar blicken, erfreut mich trotzdem nicht besonders. Warum hab ich Philipp noch mal einen Schlüssel gegeben? Ach ja, weil er jetzt hier wohnt, zumindest für vier Tage die Woche. Durchatmen, Laura.

»Was machst du denn hier?«, frage ich meinen Vater.

»Wir waren verabredet. Für neunzehn Uhr.«

»Oh.« Verdutzt checke ich meinen Kalender. Da steht es tatsächlich drin. Ich habe es einfach nicht gesehen. Oder gesehen und dann sofort wieder vergessen.

»Hilde nennt das Schwangerschafts-Demenz«, sagt mein Vater. Äußerst hilfreich.

»Und was macht ihr in meinem Arbeitszimmer?«

»Bei uns stehen die Wickelkommode und der Stubenwagen von Hildes Enkeln, die würden hier gut reinpassen, wenn der Schreibtisch wegkommt.«

»Äh ja, ich  … Mach mal langsam. Wir haben morgen den ersten richtigen Ultraschalltermin, ich möchte noch nicht umräumen.« Und ich weiß nicht, wie diese Wickelkommode und dieser Stubenwagen aussehen, und muss erst mal möglichst diplomatisch um ein Foto bitten. »Wollen wir was essen gehen? Es gibt hier einen Sushi-Laden, der nach fast nichts riecht, sehr angenehm.«

»Darf man rohen Fisch essen in der Schwangerschaft?«, fragt mein Vater.

»Nee, nur die mit Gurke und Avocado.«

»Ich hab eingekauft, ich kann uns was kochen«, sagt Philipp.

Mein Vater schaut ihn entzückt an. Verständlich.

»Bitte was halbwegs Gesundes, mein Vater nimmt Betablocker gegen seinen hohen Blutdruck.«

»Laura!«

»Und muss mit seinem Zucker aufpassen.«

»Du hast also mit Hilde telefoniert.« Mein Vater schüttelt den Kopf.

»Ja, wir Frauen müssen zusammenhalten. Sonst räumt ihr unsere Wohnungen um und sprengt eure Gesundheit danach mit Burgern und Bier selbst in die Luft.«

Philipp verzieht sich rückwärts in die Küche, aber mein Vater ist mutig genug, mich nach Stimmungsschwankungen in der Schwangerschaft zu fragen. Ich leugne eisern, dass es so etwas gibt, und verschweige, dass Traurigkeit und Hass sich gestern den ganzen Tag bei mir abgewechselt haben. Beide völlig grundlos natürlich, wenn man mal vom Gesamtzustand der Welt absieht, der Traurigkeit und Hass durchaus rechtfertigen würde. Ich gehe zum Gegenangriff über mit Fragen zu seiner Gesundheit, die er ebenfalls abblockt. Also frage ich eben beim nächsten Telefonat wieder Hilde nach den Details. Die Angst, die ich im Frühling um ihn hatte, hat ihre Spuren hinterlassen.

Im Wohnzimmer hängt immer noch die Shortlist unserer Babynamen. Ganz entschieden haben wir uns noch nicht  – dafür hat das Kind jetzt einen albernen Arbeitstitel, wie sich das gehört: Cashew, weil es in diesem Stadium etwa aussieht wie ein Cashewkern. Mein Vater liest die Zettel, findet den Namen meiner Mutter und vermisst prompt seinen eigenen.

»Warum nicht Joachim?«

»Weißt du, Papa  – Joachim gehört zu den Namen, die ganz sicher nie wieder in Mode kommen.«

»Aber Petra schon?«

»Petra war nicht meine Idee, das wird höchstens Zweitname, und ich finde, dafür dass du Mama den Großteil meiner Erziehung überlassen hast, wäre das ein fairer Ausgleich.«

»Ich habe immer gearbeitet!«

»Sie auch.«

»In Teilzeit!«

»Ja klar, oder hätte ich mich zu Hause allein versorgen sollen?«

»Vielleicht hätte ich das ja gern mal übernommen.«

»Ach, hättest du?«

»Ich weiß nicht, wir haben nie darüber geredet, so etwas kam damals einfach nicht infrage.«

»Das ist ja wohl kaum Mamas Schuld.«

»Nein, ist es auch nicht.« Mein Vater zeigt Richtung Küche. »Dein Philipp wird mehr Zeit mit eurem Kind verbringen als ich jemals mit dir, auch wenn er es nur jede zweite Woche hat, und ich beneide ihn darum.«

»Er ist nicht mein Philipp.«

»Ich weiß, dass du es mir übel genommen hast, dass ich nach deinem Abitur sofort gegangen bin, aber ich wollte schon lange ausziehen und bin nur geblieben, um die wenige Zeit mit dir nicht auch noch zu verpassen.«

So emotional wie in diesen Monaten habe ich meinen Vater noch nie erlebt. Die Sätze platzen aus ihm heraus, als wären sie lange überfällig. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und umarme ihn.

»Macht es einfach besser als wir«, sagt er.

»Wir geben uns Mühe. Und haben beim Notar einen mehrseitigen Vertrag ausgehandelt, der dafür sorgt, dass wir alles fair teilen. Fifty-fifty.«

»Ja, gut, das ist wahrscheinlich vernünftig.«

Philipp kommt mit zwei Tellern herein, auf denen Gemüse und Steaks liegen.

»Uff, soll ich das essen?« An Fleisch habe ich mich wegen des Geruchs schon länger nicht mehr rangetraut. Abgesehen von einer plötzlichen und seltsamen Obsession mit getrockneten kleinen Salamis, so salzig wie möglich.

»Ja, rotes Fleisch ist gut für dich, hab ich gelesen. Deines ist durchgebraten.«

Er verschwindet, um den dritten Teller zu holen, und mein Vater schaut zufrieden auf das Essen.

»Mein Enkelkind wird auf jeden Fall gut versorgt werden.«

 

Die ganzen schrecklichen »Wir bekommen ein Baby«-Sendungen, die ich mir gegen meinen Kinderwunsch angeschaut habe, haben jetzt Konsequenzen: Weil die Paare dort beim Ultraschall immer Händchen gehalten haben, kommt es mir nun ein bisschen komisch vor, das nicht zu tun. Obwohl Philipp neben mir sitzt, fühle ich mich etwas alleine, als die Frauenärztin kaltes Gel auf meinem Bauch verteilt. Außerdem hat sie mich dafür gelobt, dass ich wieder etwas zugenommen habe, deshalb will ich eigentlich nicht, dass Philipp meinen nackten Bauch sieht, weil der vielleicht schwabbelig aussieht. Mir ist klar, wie bescheuert das alles ist. Deshalb komme ich mir jetzt auch rundum dämlich vor.

Es wird nur wenig besser, als die Ärztin auf den Monitor zeigt. Da sind Bewegungen zu sehen, ja, und etwas, das einem Cashewkern wirklich ziemlich ähnlich sieht. Aber einem Baby? Nee.

»Sie sind ja noch ganz früh in der Schwangerschaft«, sagt sie, als sie meinen verwirrten Blick bemerkt. »Der Embryo ist erst zwei Zentimeter lang. Aber es geht ihm gut, hören Sie mal.«

Sie dreht an einem Knopf, und wir hören ein Rauschen und Pumpen: die Herztöne unseres Kindes. Im nächsten Moment heule ich Rotz und Wasser, die Ärztin reicht mir eine Kleenex-Schachtel und entfernt sich diskret. Philipp streichelt meinen Arm.

»Wir kriegen ein Baby«, sage ich unter Schluchzern.

»Ja.«

»Danke, Philipp.«

»Selber danke«, sagt er.

»Mir wird gerade wieder schlecht, ich möchte nicht mehr liegen.«

»Ja, warte, ich helfe dir.«

Gemeinsam wischen wir den Glibber weg, damit ich meinen Pulli wieder runterziehen kann. Mir ist dabei ganz egal, was Philipp von meinem Bauch hält. Und ob die Ärztin uns merkwürdig findet, ist mir auch egal. Wir kriegen ein Baby.

Etwas gefasster sitzen wir wenig später vorm Schreibtisch der Ärztin, die uns erklärt, wie es weitergeht. Nächster Ultraschall im dritten Monat, dann könne man auch schon deutlich mehr sehen. Außerdem kündigt sie mir an, dass meine Brüste jetzt bald wachsen werden, was sonst bestimmt immer ein absoluter Publikumserfolg beim werdenden Vater ist (Applaus, Gejohle). Philipp hingegen wahrt ein perfektes Pokerface. Auf keinen Fall solle ich zu enge BHs tragen, sagt sie eindringlich, sondern neue kaufen. Ich nicke ergeben und hoffe, sie rät mir nicht auch gleich noch zu bequemen Baumwollschlüpfern.

Aber in einem Punkt hat sie recht: Ich werde meine Klamotten ab jetzt nicht mehr einfach weitertragen können. Als Philipp gegangen ist, um das Wochenende wie immer in seiner eigenen Wohnung zu verbringen, öffne ich meinen Kleiderschrank und lasse meine Hände über die Stoffe gleiten. Ich habe ziemlich viele Blazer für den Job, die kann ich noch eine ganze Weile offen tragen. Die Hosen mit hohem Bund schiebe ich jetzt schon beiseite  – die sind ohnehin nicht besonders angenehm, wenn einem latent übel ist. Ein paar der Strickkleider kann ich wahrscheinlich den ganzen Winter hindurch tragen, da würde noch ein Klavier mit reinpassen. Aber auf jeden Fall muss ich bald anfangen, sonderbar geformte Umstandskleidung zu kaufen, die ich danach nie wieder tragen werde. Leider kann ich mir nichts von Sophie leihen, die hat nach ihrer letzten Schwangerschaft alles weggegeben. Und wenn es nicht von einer Freundin kommt, bin ich schwierig bei gebrauchter Kleidung.

»Mein Gott, stell dich doch nicht so an«, sagt Johanna herzlos, als ich am nächsten Tag davon erzähle. »Ich weiß schon, du kaufst nicht gerne ein und verlierst gerade deine Taille, aber ich wäre echt happy über einen Grund, mir Hosen mit elastischem Bund kaufen zu dürfen!«

»Gut, ich geb’s zu, das klingt gut, aber die Zeltkleider …«

»… dienen einem höheren Zweck. Das Baby braucht halt Platz. Soll ich dir von dem anderen Luxusproblem erzählen, das heute an mich herangetragen wurde?«

»Na gut.«

»Eine unserer Reisegruppen konnte sich nicht einigen, wer im Schnellboot wo sitzen sollte. Einige wollten auf keinen Fall einen Tropfen abbekommen. Die Diskussion endete damit, dass zwei beim Kampf um den besten Platz im Wasser landeten und jetzt ihr Geld für die Tour zurückwollen.«

»Und kriegen sie es?«

»Erst mal kriegen sie eine Belehrung darüber, dass man nicht in ein offenes Schnellboot einsteigen darf, wenn man nicht nass werden will. Natürlich waren danach alle genauso nass wie die, die ins Wasser gefallen waren.«

»Und wenn sie mit einem Anwalt kommen?«

»Dann berufen wir uns auf ein Urteil, das besagt, dass in puncto Sitzplatzverteilung in Bus und Restaurant eine, ich zitiere, eigenständige Konfliktlösung durch die Reisenden erwartet werden kann.«

»Weil ein Boot irgendwie auch ein Bus ist.«

»Mit etwas gutem Willen.«

»Wie geht’s eigentlich Adam? Hast du ihn schon abgeschossen?«

»Nein, er hält sich noch«, sagt sie ungerührt.

»Oh, dann musst du ihn wirklich mögen.«

»Kann sein.« Sie grinst. »Und natürlich brauchte ich dringend einen Personal Trainer.«

»Trainiert er dich ernsthaft, oder reden wir da von Sport in der Horizontalen?«

»Beides. Aber ich bezahle ihn nur für den Teil mit den Hanteln.«

»Toll, dann bist du bald total durchtrainiert, während ich aufgehe wie eine Dampfnudel.«

»Luxusprobleme!«, wiederholt sie und scheucht mich mit wedelnden Handbewegungen aus ihrem Büro.

 

Auf meinem Schreibtisch wartet eine schriftliche Kündigung auf mich. Herr Köber hat offenbar die Abmahnung und das Führungskräfteseminar nahe Bautzen als derartigen Affront betrachtet, dass er sich was Neues gesucht hat. Seine Mitarbeiter sind bestimmt untröstlich. Ich bereite eine Stellenanzeige vor und frage per Mail beide Chefs, wie sein Arbeitszeugnis ausfallen soll. Ihre Antworten liegen zwei Schulnoten auseinander, weswegen ich die nächste Stunde damit verbringe, zwischen den beiden zu vermitteln. In letzter Zeit freue ich mich immer mehr darauf, ein paar Monate nicht zur Arbeit gehen zu müssen. Nicht dass sie nerviger geworden wäre, eigentlich ist sie wie immer  – ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Hormonhaushalt gerade irgendwas trickst, das dafür sorgen soll, dass ich mein Neugeborenes nicht alleine zurücklasse, sondern mich unbedingt darum kümmern will. Das Herbstwetter und der Nestbautrieb haben sich miteinander verschworen und machen einen anderen Menschen aus mir, der dauernd Duftkerzen kaufen will, obwohl ich sie dann nicht anzünden kann, weil ich keine Gerüche ertrage. Und dann ist da noch die Sache mit den Namen.