Kapitel 1

Jetzt ist es mir schon wieder passiert. Erst als die Verkäuferin mich anspricht, bemerke ich es so richtig: Ich bin nicht im Kaufhaus, wo ich eigentlich hinwollte. Ich stehe in einem Laden für Kinderklamotten und schaue mir sehr kleine rote Turnschuhe an.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Äh, danke, ich komme zurecht.«

Tu ich auch. Ehrlich, ich komme zurecht. Ich bin zwar achtunddreißig und Single mit Kinderwunsch, aber damit komme ich auch zurecht. Ich habe nämlich einen Plan. Aber es wird dauern, den umzusetzen, deshalb muss ich hier erst mal einen unauffälligen Rückzug einleiten. Denn momentan gibt es kein Kind in meinem Leben, dem diese zauberhaften Schuhe in Kolibrigröße passen würden.

Im Vorbeigehen gucke ich noch ein paar Mützchen an, dann stehe ich wieder auf der Straße. Ich möchte jetzt nicht darüber nachdenken, dass ich wie ferngesteuert abgebogen und in diesen Laden gegangen bin. Das sind die Hormone, Hormone sind eine Himmelsmacht, da kann man nichts machen. Und meine Hormone brüllen: Hörst du das Ticken?! Das ist deine biologische Uhr!

Ich höre das Ticken. Seit Jahren höre ich das Scheißticken. Tik tack. Sollte ich es mal kurz nicht gehört haben, brachte mich meine Frauenärztin wieder drauf, mit ihren besorgt zusammengezogenen Augenbrauen und ihren Fragen, ob ich denn immer noch vorhätte und mittlerweile vielleicht einen Partner  …? Ach so, nicht, na, das sei aber schade. Oder meine Freundinnen, die reihenweise Kinder zur Welt bringen. Oder meine Mutter, die mir regelmäßig versichert, ich hätte doch wirklich noch Zeit, heutzutage sei eine Schwangerschaft mit Anfang vierzig nichts Ungewöhnliches mehr.

Wo ich allerdings den Mann dafür finden soll, weiß sie auch nicht recht.

Aber wie gesagt, ich habe einen Plan. Und wenn ich jetzt schnell was zu essen hole und dann zurück ins Büro gehe, kann ich wahrscheinlich noch fünf Mails beantworten, ehe ich zum nächsten Termin muss. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr.

Tik tack.

In einem Punkt bin ich genau wie all die anderen Frauen um die vierzig, die neulich mit mir im Wartezimmer der Kinderwunschklinik saßen: Ich arbeite gern. Und viel. Mit meinem Hosenanzug und meinem Laptop habe ich mich im Wartezimmer auch nahtlos eingefügt. Leider habe ich keine Ahnung, wie die anderen dort es geschafft haben, neben der Arbeit noch einen Mann kennenzulernen  – ich lerne zwar echt viele Männer kennen, aber von den meisten bekomme ich als Erstes den Lebenslauf in die Hand und muss den bewerten. Als Nächstes sitze ich mit ihnen im Bewerbungsgespräch, wo jeder noch viel aufgeregter ist als beim ersten Date. Dann muss ich auch noch mit ihren potenziellen Vorgesetzten darüber reden, welchen Eindruck der Bewerber hinterlassen hat. Nichts zerstört Attraktivität zuverlässiger. Klar, wenn die Bewerber kompetent und sympathisch genug sind, dass wir sie einstellen, könnte ich sie sowieso nicht mehr daten. Kollegen sind für mich tabu. Aber ich will es dann auch nicht mehr. Egal, wie attraktiv ich das Foto fand und wie warm die Stimme, wenn ich mal wegen einer Rückfrage angerufen habe  – immer finde ich einen Haken. Keinen kleinen Haken, nein, einen großen Haken, eine richtige Fußangel. Mittlerweile weiß ich natürlich auch, wie man die am schnellsten findet. Eine Berufskrankheit. Manchmal wundere ich mich, dass es überhaupt Personalchefinnen gibt, die glücklich verheiratet sind.

Außer mit ihrem Job natürlich.

An der Salattheke des Kaufhauses werfe ich so viel Schafskäse, eingelegte Tomaten und kalte Fusilli in die Plastikschüssel, dass »Salat« es eigentlich nicht mehr so ganz trifft. So mag ich »Salat« nämlich am liebsten: als kaltes Nudelgericht. Noch während ich zurück ins Büro gehe, klingelt mein Handy. Es ist die Durchwahl unserer Justiziarin, die im Nebenberuf  – das ist viel wichtiger  – meine Freundin ist. Ich hebe ab und höre Johanna lachen.

»Hallo?«

Johanna japst und lacht weiter.

»Hallo, Johanna? Ist das ein medizinischer Notfall?«

»Das ist eine gute Frage! Aber wer braucht den Arzt, er oder ich?«

»Wer ist denn er? Kannst du bitte etwas flüssiger erzählen?«

»Jaha! Also, er ist ein Reisegast, und er hat eine Beschwerde.«

»O toll, raus damit!« Johanna kriegt immer die tollsten Beschwerden. Dass es in der Antarktis kalt war, ist mein bisheriger Favorit, aber der Spinner, der unbedingt mit Flipflops auf einen Vulkan in Vanuatu steigen musste und sich anschließend beklagte, ihm seien die Sohlen geschmolzen, hat auch für immer einen Ehrenplatz in der Liste unserer Lieblingsgäste.

»Er ist in der Wüste vom Kamel gefallen.«

»Oh, ist ihm was passiert?«

»Ja und nein.« Johanna kichert schon wieder los. »Er hat sich nix getan, Sand ist ja weich. Aber jetzt schreibt mir seine Anwältin, ihr Mandant habe mit dem Selfiestick gerade ein Livevideo für Facebook aufgenommen. Der Sturz vom Kamel habe ihn lächerlich gemacht, jetzt will sie eine Entschädigung von uns, weil sein Marktwert als Influencer dadurch gefallen sei.«

»Okay, kommen wir zu den wirklich wichtigen Fragen: Ist das Video noch online?«

»Leider nicht! Ich hab natürlich sofort gesucht. Uns bleibt nur die Vorstellung.«

»Und hat er die leiseste Chance, damit durchzukommen?«

»Nö. Denn, du wirst staunen, es gibt da einen Präzedenzfall  …«

»Zu Stürzen von Kamelen?!«

»So ist es. Das Amtsgericht München hat damals geurteilt, dass das unter allgemeines Lebensrisiko fällt.«

»Blöd für ihn. Wie viel wollte er denn?«

»Das ist eigentlich das Lustigste daran, sie schreiben: ›Statt einer finanziellen Entschädigung würde mein Mandant auch eine Woche in einem Fünfsternehotel auf den Seychellen oder Malediven akzeptieren.‹«

»So ein cleveres Kerlchen. Was antwortest du?«

»Ich überlege noch. Vielleicht schreibe ich ihm, da wir eine Agentur für Eventreisen sind, haben wir solche Hotels nicht im Programm. Ich könnte ihm allerdings zwei Übernachtungen in einem Hängezelt an einer Steilwand des Dachsteins anbieten.«

»Gott ja, bitte mach das. Ich will sehen, ob er es annimmt.«

Zufrieden sitze ich wenig später an meinem Schreibtisch und mampfe, während ich den Termin beim Oberchef vorbereite. Oberchef heißt: Ich arbeite bei einem familiengeführten Reiseunternehmen. Der Oberchef hat seinen Job geerbt, weil sein Vater die Firma vor sechzig Jahren gegründet hat. Aber sicherheitshalber haben die beiden einen Zwischenboden eingezogen, meinen Chef, der sich eigentlich besser auskennt, weil er auch schon mal in anderen Firmen gearbeitet hat.

(Der Oberchef behauptet steif und fest, er hätte das auch gerne gemacht, aber man habe ihm aus Angst vor Betriebsspionage in der Branche keinen Job geben wollen. In einer Schraubenfabrik hätte er Erfahrungen sammeln können, aber das habe er dann doch abgelehnt. Die meisten Kollegen glauben, seine Bewerbungen hätten damals auf die Funktion »geschäftsführender Praktikant« abgezielt und seien deshalb nicht von Erfolg gekrönt gewesen.)

Im Grunde teilen sich Chef und Oberchef den Laden fair auf: Der Oberchef kümmert sich um seine Herzensangelegenheiten, der Chef um alles andere. Da der Chef wiederum nicht dazu neigt, Herzensangelegenheiten zu entwickeln, weil sein Herz einzig und allein für Zahlen schlägt, funktioniert das ganz gut. Aktuelle Herzensangelegenheit des Oberchefs: die Jobrotation. Die Hälfte aller Mitarbeiter soll innerhalb der nächsten zwei Jahre eine Woche in einer anderen Abteilung verbringen, um die Abläufe besser kennenzulernen. Und da sind wir auch schon mittendrin im Schlamassel. Denn ich muss ihm gleich erklären, warum das nicht so gut laufen wird.

Strahlend empfängt er mich in seinem Büro. Vielleicht ist es auch nur das Licht, das mir so ins Gesicht knallt, denn er sitzt quer zu einer gewaltigen Fensterfront mit schönstem Blick auf den Main, in dem sich jetzt, zur Mittagszeit, weißgolden die Sonne spiegelt. Zwei Sekunden lang bin ich geblendet, dann sehe ich: Er lächelt tatsächlich.

»Frau Färber! Wir sprechen heute über die Jobrotation, richtig?«

»Richtig! Ich habe hier eine erste Auswertung der Wünsche der Mitarbeiter.«

»Und, haben sich alle was Schönes ausgesucht?« Das schwarze Leder seines Bürostuhls knarzt, als er sich zurücklehnt.

»Ich denke, wir sollten die Verteilung anders organisieren.«

»Aber Frau Färber!« Sofort hängt er wieder vorne auf seiner Stuhlkante. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Freiwilligkeit entscheidend für den Erfolg dieses Projekts ist!«

»Und ich war Ihrer Meinung«, antworte ich. »Vielleicht darf ich Ihnen erst mal zeigen, wofür die Mitarbeiter sich entschieden haben.« Ich schlage meine blaue Mappe auf und hole eine ausgedruckte Tabelle hervor. Der Oberchef will immer alles ausgedruckt. »Also, mir sind die Gründe dafür nicht ganz klar, aber zwanzig Mitarbeiter wollen in die Lohnbuchhaltung.«

Diesmal knarzt nicht der Stuhl, sondern sein Besitzer. »Ach. Das geht natürlich auf keinen Fall! Wie kommen die denn darauf?«

»Ich vermute, sie hatten die Idee, ihre Gehälter auf diese Weise mal mit denen der anderen vergleichen zu können.«

»Die Lohnbuchhaltung ist von der Rotation ausgenommen. Das hätten Sie den Mitarbeitern sagen müssen!«

»Wir wollten doch bewusst keine Einschränkungen dazuschreiben, damit sie sich in ihren Wünschen frei fühlen können.«

»Ja, meinetwegen, dann müssen die zwanzig sich eben was anderes überlegen. Teilen Sie ihnen das mit.«

»Gut. Dann habe ich hier die Wünsche von den Reiseplanern, die sind  … nicht sehr originell.«

»Nämlich?«

»Also, bis auf eine wollen alle einfach nur in einen anderen Kontinent. Afrika will Nordamerika, Asien will Europa, Ozeanien will Südamerika und so fort.«

»So habe ich mir das aber nicht vorgestellt! Die sollen was ganz anderes lernen, in der Unternehmenskommunikation, in unserem Reiseführerverlag, meinetwegen sogar in der Rechtsabteilung! Und die eine, wo will die hin? Ins Marketing?«

»In die Lohnbuchhaltung. Das ist eine von den zwanzig.«

Der Oberchef sieht plötzlich sehr müde aus. Als wären alle Muskeln in seinem Gesicht auf einmal erschlafft.

»Frau Färber, haben Sie manchmal das Gefühl, als Erzieherin im Kindergarten zu arbeiten?«

»Manchmal. Aber dann fällt mir wieder ein, dass wir die Leute bezahlen.« Der Gedanke scheint ihm den Rest zu geben, er verdreht die Augen, ich spreche schnell weiter. »Und mich bezahlen Sie unter anderem dafür, dass ich diese Aktion irgendwie rette, also machen Sie sich keine Gedanken, ich werde die Mitarbeiter mit sanftem Druck zu ihrem Glück zwingen.«

»Machen Sie das, in Gottes Namen.«

»In Ihrem Namen werde ich das machen, Oberchef«, murmele ich, als ich die Tür hinter mir schließe.

So läuft es also im Kindergarten? Dann ist das mit dem Kind vielleicht doch keine so gute Idee. Ich zweifle ja sowieso immer wieder daran. Aber dann kommt mir auf der Straße eine Schwangere entgegen, und ich bin augenblicklich sicher: Das will ich auch. Okay, vielleicht nicht unbedingt die Schwangerschaft selbst. Auch Gebären klingt grauenvoll, genauso wie die ersten Monate, kein Schlaf, immer Geschrei. Aber später dann. Wenn die Kinder anfangen zu reden, wenn sie mit ihren kurzen Beinen wackelig losrennen und stundenlang Tiere anstaunen wollen. Das stelle ich mir toll vor.

Mein Handy brummt. Es ist eine SMS von meiner Mutter, der ich gestern am Telefon von meinem Kummer erzählt habe. Sie hat versucht, mich aufzumuntern. Achtunddreißig sei doch heutzutage gar nicht mehr alt für eine Mutter. Die hat leicht reden, bei meiner Geburt war sie zehn Jahre jünger als ich jetzt. Aber offenbar ist ihr noch ein Argument eingefallen:

Laura, deine Urgroßmutter Friederike hat mit zweiundvierzig noch ein Kind bekommen. Und die war Jahrgang 1900! Okay, der Junge war ein Depp, aber immerhin Akademiker.

Ich brauche eine Weile, um draufzukommen, dass sie meinen Großonkel Hans meint. Er ist tatsächlich ein Depp, da hat sie recht.

Aber mein Kind wird natürlich super. Wenn es doch nur schon da wäre. Einstweilen muss ich eben an Erwachsenen üben. Und eine Mail aufsetzen, in der ich die Mitarbeiter freundlich daran erinnere, dass wir eine Agentur für Eventreisen sind und auch sie deshalb ruhig mal ein bisschen Aufregung wagen dürfen bei ihrer Rotation.