Kapitel 22

Außer Sophie, Johanna und meinen Eltern habe ich noch niemandem von der Schwangerschaft erzählt. Alle anderen sollen es erst nach dem Ultraschall in der zwölften Woche erfahren. Es gibt aber eine Ausnahme: Dominik, der vier Wochen lang versuchte, sich mit mir für eine Radtour zu verabreden. Zuerst behauptete ich, erkältet zu sein, aber irgendwann musste ich ihm doch sagen, dass mir permanent schlecht und deshalb an Radfahren nicht zu denken war.

Statt einer Gratulation kam als Nächstes eine Einladung zum Essen bei ihm und Miriam. Heute Abend sind wir verabredet. Und ich finde, wenn Philipp und ich uns schon näher kennenlernen, kann er auch mit zu meinen Freunden gehen. Außerdem soll er sehen, dass ich Freundschaften mit Ex-Freunden oder Ex-Freundinnen völlig in Ordnung finde. Sonst dürfte ich Dominik ja auch nicht mehr treffen. Aber von Dominik hängt wirklich kein einziges Bild in meiner Wohnung. Außerdem kann man nicht behaupten, ich hätte lange gebraucht, um über unsere Beziehung hinwegzukommen. Sieben Monate später war ich mit dem nächsten Mann zusammen, mit dem es auch nicht lange hielt.

Philipp verkneift sich erstaunlicherweise jeden spitzen Kommentar zum Thema Ex, als wir in der S-Bahn sitzen. Stattdessen hält er meine Hand und führt mich in die Details der Baugrundverbesserung ein. Wenn die Erde nicht ausreichend verdichtet oder ausgetauscht werden kann, muss man Pfähle bis in die nächste Gesteinsschicht hinunter bohren, erfahre ich. Tatsächlich finde ich das interessanter, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Vielleicht liegt es an seiner Stimme.

Dominik und Miriam wohnen in einem Reihenhaus mit Garten. Wenn man nicht aufpasst, fällt man schon vor dem Eingang über Bobbycars und Bälle. Wir balancieren mit Blumenstrauß und Weinflasche darüber hinweg.

»Herzlich willkommen!« Dominik sieht ganz ungewohnt aus ohne seine Fahrradklamotten. Er trägt einen Wollpulli und eine Cordhose. Wir werden alle nicht jünger. Philipp und er schütteln sich die Hand.

Miriam steht in der Küche und wedelt gerade den heißen Dampf aus dem geöffneten Backofen weg, als wir eintreten.

»Bitte sag, dass du was mit Käse überbacken hast!«, bettele ich.

»Gilt Lasagne?«

»Du machst mich sehr glücklich.« Ich umarme sie. »Das ist Philipp. Philipp: Miriam.«

»Wir haben noch absolut überhaupt nichts von dir gehört«, sagt Miriam. »Das könnte heute Abend also anstrengend für dich werden.«

»Solange ich Lasagne essen darf, beantworte ich alle Fragen.«

»Sehr gut.«

Miriam drückt uns Besteck in die Hand und schickt uns ins Esszimmer, wo Dominik gerade die Kinderstühle gegen richtige Stühle für uns austauscht.

»Habt ihr die Kinder schon ins Bett gesteckt?«, frage ich.

»Ja, aber wahrscheinlich kommt Elli noch dreimal runter und fragt, warum die Eiskönigin nicht friert oder warum Arielle keine Kiemen hat.«

»Das zeugt doch von einem kritischen Geist!«

»Oder davon, dass wir sie zu viele Disney-Filme gucken lassen.«

»Darauf könnt ihr euch schon mal freuen, wenn euer Kind da ist«, sagt Miriam, die gerade mit zwei gefüllten Tellern zur Tür reinkommt. Als sie unsere verlegenen Gesichter sieht, erschrickt sie. »Darf ich das noch nicht wissen? Ist alles okay?«

Ich nehme ihr die Teller ab.

»Es ist alles okay, nur noch zu früh, um sicher zu sein. Ich wusste nicht, ob Dominik verstanden hat, was los ist, als ich ihm das mit der Übelkeit gesagt habe.«

»Zuerst dachte ich, du suchst nur ne Ausrede, weil es so kalt geworden ist«, sagt er.

»Das hätte ich nie  …«

»… so wie letzten Winter.«

»Pscht«, mache ich und werfe Philipp einen Blick zu. »Also, ja, Kind ist unterwegs, aber wir haben erst nächsten Mittwoch die drei heiklen Monate hinter uns und gehen zum Ultraschall.«

»Oh, ich verstehe!«, sagt Miriam. »Ich habe mich auch nie getraut, mich vor der zwölften Woche zu freuen.«

»Ach, das mit der Freude klappt eigentlich schon ganz gut«, sagt Philipp.

»Das ist ja schön! Und ihr, also, Dominik!«, ruft sie in den Flur. »Darf ich auch nicht wissen, dass sie zusammen sind?«

»Du wärst auch ne gute Geheimagentin geworden«, sagt er, als er im nächsten Moment mit zwei weiteren Tellern um die Ecke biegt.

»Woher weißt du das überhaupt?«, frage ich ihn.

»Ich habe nur geraten. Wenn du Philipp zum Essen mitbringst, ist er wahrscheinlich mehr als dein Geschäftspartner.«

»Das stimmt.« Außerdem stehen Philipp und ich gerade schon wieder so nah nebeneinander, dass wahrscheinlich ziemlich offensichtlich ist, was zwischen uns läuft. »Da sind wir allerdings auch noch nicht über die heiklen drei Monate hinweg.«

»Aber ebenfalls guter Hoffnung«, sagt Philipp.

»Das freut mich für euch!«

»Miriam, die Lasagne ist der Hammer.«

»Danke schön. Und wie macht ihr das jetzt, sucht ihr euch eine gemeinsame Wohnung?«

»Nein«, sagt Philipp.

Miriam schaut fragend zu mir herüber, während Dominik ein Gesicht macht wie ein Vater im Beschützermodus.

»Wir haben beschlossen, dass erst mal jeder seine Wohnung behält«, erkläre ich. »Dass wir aber mehr Zeit beieinander verbringen. Das wird uns auch flexibler machen mit dem Baby.«

»Na, das ist doch ganz praktisch«, sagt Dominik.

Sein Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran zu, dass er es für bekloppt hält. Aber ich habe mich ja nicht vor etlichen Jahren von ihm getrennt, um jetzt seine Launen zu antizipieren. Also ignoriere ich ihn und verwickle Miriam und Philipp in ein Gespräch über Gartengestaltung.

Müde und ruhig sitzen wir später in der S-Bahn nach Hause. Ich muss immer noch über etwas nachdenken, das Philipp gesagt hat: dass er mir näherkommen konnte, weil er jetzt Vater wird und sich damit seinen größten Wunsch erfüllt. Ich fand das anfangs romantisch, bis mir auffiel, dass es nicht besonders schmeichelhaft für mich klingt. Ist Philipp nur mit mir zusammen, weil ich sein Kind ausbrüte? Bin ich die nächstbeste Frau in dem Moment, in dem er wieder eine Beziehung eingehen will? Oder geht es ihm wirklich um mich?

Leider weiß ich nicht so ganz, wie ich ihn das fragen soll. Aber ich muss es mir überlegen, denn ich weiß genau, wie es irgendwann doch zur Sprache kommt: indem ich es in einem emotionalen Moment rausschieße, möglichst verletzend formuliert und auf jeden Fall so, dass wir dann sofort streiten.

»Das war ein netter Abend«, sagt Philipp und legt den Arm um mich. »Wie lange ist das her, dass du mit Dominik zusammen warst?«

»Etwa zwölf Jahre. Wieso?«

»Ich kann mir heute gar nicht vorstellen, wie ihr zusammenpassen konntet.«

»Ich mir auch nicht mehr. Er ist viel konservativer als ich geworden, das war damals noch anders. Wahrscheinlich hat jeder von uns das Familienmodell gefunden, das am besten zu ihm passt.«

»Wenn du ganz klassisch jemanden kennengelernt hättest, würdest du heute auch in einem Haus im Vorort wohnen?«

»Nein. Es ist nichts falsch daran, aber für mich ist das nichts. Und du?«

»Eher nicht, nein. Früher vielleicht. Heute nicht mehr.«

 

Am nächsten Morgen fährt Philipp mit Rucksack und Hammer in den Odenwald, und ich bleibe alleine mit meinen Gedanken zurück. Ich packe meine Schwimmsachen und fahre ins Hallenbad  – eine Idee, die offenbar alle Familien der Stadt just heute Morgen auch hatten. Es ist ein einziges Chaos in bunten Badehöschen; das Gekreische wird von den gelb gekachelten Wänden zurückgeworfen.

Ich flüchte mich in die Schwimmerspur, wo allerdings ich selbst der Störfaktor bin, weil ich im Gegensatz zu den anderen nicht rasant durchs Wasser pflügen, sondern einfach nur schwimmen und dabei nachdenken möchte. Nachdem ich zum fünften Mal innerhalb kürzester Zeit überholt wurde, mache ich doch Tempo und verschiebe alles andere auf später. Deshalb geht man ja eigentlich auch zum Sport: um den Kopf frei zu bekommen.

Am liebsten würde ich in die Sauna gehen, aber das traue ich mich nicht. Mein Körper hat sich gerade erst einigermaßen an die Hormonumstellung gewöhnt, und ich habe nicht das Gefühl, mich auf meinen Kreislauf voll verlassen zu können. Stattdessen gehe ich in mein Handtuch gewickelt in die ruhigste Ecke des Wellnessbereichs, mache mir ein warmes Fußbad, lehne mich zurück und genieße den typischen Duft nach Holz und ätherischen Ölen, der aus den Saunen und Dampfbädern herauswabert. Genau solche Momente solle ich sammeln, hat mir Sophie geraten  – damit ich daran zurückdenken kann, wenn das Baby die ganze Nacht schreit und ich kurz davor bin, den Verstand zu verlieren.

Obwohl ich eigentlich an gar nichts denken möchte, sehe ich immer wieder Philipps Gesicht vor meinem inneren Auge. Ich habe mich bestmöglich zusammengerissen, weil wir uns ja vorgenommen hatten, ganz langsam zu machen, aber mittlerweile bin ich bodenlos, haltlos, erschütternd verliebt. Wenn er abends im Bett die Decke über mich zieht und mich in den Arm nimmt, klopft mein Herz so, dass ich lange nicht einschlafen kann. Manchmal schaue ich ihm dann beim Schlafen zu und wundere mich, wie dieser tolle Mensch in meinem Bett gelandet ist und wie es sein kann, dass er sich dort so zu Hause fühlt.

Trotzdem werde ich den einen hässlichen Gedanken nicht ganz los: Geht es ihm wirklich um mich, oder passen nur das Timing und die Umstände gerade? Und andererseits  – könnte er sich nicht genau das Gleiche fragen? Ich hätte mich zwar nicht als beziehungsunfähig bezeichnet, ehe wir uns trafen, aber Single war ich trotzdem, und zwar schon eine ganze Weile.

Als mein Fußbad kalt wird, habe ich immer noch nicht den richtigen Satz gefunden. Aber die richtige Haltung: Ich werde Philipp Gelegenheit geben zu zeigen, dass es ihm um mich geht. Bis jetzt hat er nichts getan, was auf das Gegenteil hingedeutet hätte. Also presche ich ausnahmsweise mal nicht vorwärts, sondern warte ab. Zumindest bis nach dem Ultraschall.