Die Wohnung ist toll, aber ich bekomme sie nicht. Auch nicht die zweite, auch nicht die dritte. Die Makler schauen mich seltsam an, wenn ich nur meinen eigenen Namen auf das Formular schreibe, und wirken nicht begeistert bei dem Gedanken, dass hier bald zwei kleine Jungs das Parkett verkratzen könnten.
Heiligabend verbringe ich mit meiner Mutter, die mir aufgeregt erzählt, dass sie für den Kirchenchor vorsingen wird und sich für einen Sprachkurs angemeldet hat. Am ersten Weihnachtsfeiertag fahre ich zu meinem Vater, der Hilde und mich vernichtend im Rommé schlägt. Am zweiten Weihnachtsfeiertag rolle ich mich auf dem Sofa zusammen, schiebe ächzend das Stillkissen unter meinen Bauch und schaue Edgar-Wallace-Filme. Ich hatte schon schlechtere Feiertage.
Vor Silvester erwacht in mir plötzlich ein heftiger Drang, meinen Kleiderschrank auszumisten. Und meine Küchenschränke. Und meine Bücher. Brauche ich diese kurze Hose wirklich noch, die ich nie richtig mochte? Warum hat mir meine Mutter vor Jahren braune Dessertteller geschenkt, welches Dessert soll darauf denn appetitlich aussehen? Ist es sinnvoll, meine Ausgabe von Nathan der Weise mein ganzes Leben lang mit mir rumzuschleppen? Ich fürchte den Umzug eh schon genug ohne diesen ganzen überflüssigen Ballast. Zwei blaue Säcke und drei Kartons holt Dominik schließlich bei mir ab, um sie zum Sozialkaufhaus und zum Wertstoffhof zu fahren.
»Du musst keine Angst haben vorm Umzug, wir helfen dir doch!«, sagt er.
»Das ist wirklich lieb von euch. Erst mal muss ich überhaupt eine Wohnung finden, das wird ja auch nicht leichter, je dicker ich werde.«
»Stimmt, du passt bald nicht mehr durch jede Tür.«
»Du bist ein Monster. Hat Miriam dir nicht beigebracht, schwangere Frauen nicht zu verärgern?«
»Sie hat mir eigentlich nur beigebracht, sie nicht zu verärgern, schwanger oder nicht.«
»Deine Frau macht einfach alles richtig.«
An Neujahr ruft Philipp an. Ich habe mich gerade aus dem Bett gekämpft und mir einen Tee gemacht, als ich seine Nummer auf meinem Display sehe. Seufzend gehe ich ran.
»Hallo, Philipp.«
»Frohes neues Jahr, Laura!«
»Danke, dir auch. Wieso bist du schon wach?«
»Es ist zehn Uhr, wieso sollte ich schlafen?«
»Weil man an Silvester nicht um Mitternacht nüchtern im Bett liegt? Außer man ist schwanger, natürlich.«
»Ich war nicht um Mitternacht im Bett, aber ich trinke doch keinen Alkohol bis zur Geburt, genau wie du.«
»Ehrlich, immer noch nicht? Obwohl wir nicht mehr …«
»Erstens will ich solidarisch sein, und zweitens will ich immer Auto fahren können, falls du anrufst und mich brauchst.«
»Hm.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Dann plane ich dich und dein Auto auch schon mal für den Umzug ein, wenn ich jemals eine Wohnung finde.«
»Ist es schwierig? Gibt es keine Wohnungen mit Aufzug?«
»Das ist nicht das Problem, ich hab schon ein paar angeschaut, die mir gefallen würden. Aber niemand will einer Single-Mutter mit Zwillingen eine Wohnung vermieten.«
»O Mann. Das tut mir leid. Soll ich vielleicht mal mitkommen? Damit sie sehen, dass du nicht allein bist mit den Zwillingen?«
Bin ich doch, will ich schon sagen und beiße mir dann auf die Zunge. Bin ich ja nicht, nicht ganz.
»Willst du das wirklich?«, frage ich.
»Wir haben versprochen, einander zu unterstützen. Ich finde, das ist so ein Fall.«
Eigentlich will ich Philipps Hilfe nicht. Aber die Wohnung, die ich mir als Nächstes anschauen will, sieht auf den Fotos wirklich super aus, und bezahlbar ist sie auch noch …
»Okay. Dann am Samstag um dreizehn Uhr bei mir.«
Wir verabschieden uns schnell voneinander und legen auf.
Am Samstag stehe ich sehr lange vor meinem ausgedünnten Kleiderschrank. Ich fühle mich wie ein Fass. Alles, was mir passt, lässt mich kugelförmig aussehen. Andere Schwangere haben dann wenigstens hübsche schlanke Beine darunter. Ich hatte erstens noch nie sonderlich schlanke Beine, und zweitens sind Wassereinlagerungen wirklich kein Spaß.
Ein schlichtes schwarzes Kleid ist das Einzige, in dem ich mich heute wohlfühle. Dazu trage ich Perlenohrringe und meine edelste Handtasche, damit die Vermieter mich für eine wohlsituierte Spießerin halten. Die Mappe mit meinen Unterlagen stecke ich ein. Dann übe ich vorm Spiegel lächeln. Da bin ich wohl etwas aus der Übung.
Mittendrin klingelt Philipp an der Tür. Viel zu früh, das Lächeln sitzt noch nicht. Es ist seltsam, ihn jetzt nach all den Wochen wiederzusehen. Als sein blonder Haarschopf im Hausflur auftaucht, ziehe ich scharf die Luft ein. Dann steht er auch schon vor mir.
»Wow«, sagt er. »Laura, du … du leuchtest ja. Du siehst toll aus.«
»Ich seh aus wie ein Flugzeugträger, aber danke«, sage ich, um einen lockeren Ton bemüht.
»Nein«, sagt er. »Wunderschön. Darf ich noch kurz reinkommen?«
Etwas unbehaglich trete ich beiseite und lasse ihn eintreten. Er bewegt sich anders durch meine Wohnung als früher. Ich schenke ihm einen Becher Tee ein und zeige ihm die Ausrüstung für die Jungs, die ich mit Sophie ausgesucht habe. Den Fläschchenzubereiter guckt er derart begeistert an, als handele es sich um einen seltenen Sportwagen. Ich lasse die Spieluhr für ihn dudeln. Dann streichelt er sanft über die Strampelanzüge, die ich schon gewaschen und in einer Schublade gestapelt habe.
»Den Doppelkinderwagen, den du ausgesucht hast, haben meine Eltern jetzt übrigens bestellt«, sagt er. »Hoffentlich kommt er nicht vorm Umzug.«
»Wieso, das wäre doch praktisch. Da drin können wir meinen halben Hausrat transportieren!«
Er lächelt. »Du machst das übrigens alles ganz toll. Sobald ich was tun kann, bin ich da und helfe.«
»Machst du ja heute schon«, sage ich.
»Ja. Komm, lass uns einen Immobilienmakler bezirzen.«
Die Wohnung liegt im gleichen Viertel wie die von Philipp, das ist ein klarer Pluspunkt. Zur Straße hinaus gehen eine gemütliche Küche und ein Wohnzimmer, nach hinten raus ein mittelgroßes Zimmer, das die Jungs sich teilen könnten, und ein kleines, in das mein Bett und mein Kleiderschrank komfortabel passen. Es ist alles nicht riesig, aber für uns drei wird es reichen.
Philipp erzählt dem Makler unterdessen eine längere Story darüber, dass er »aufgrund beruflicher Verpflichtungen« nicht so viel zu Hause bei seiner Verlobten und Kindern sein wird, wie er das gerne hätte, dass er aber kleinere Reparaturen im Haus gern selbst macht. Keine Ahnung, was er damit meint. Aber mit der Verlobten meint er mich, und auch wenn das gelogen ist, muss ich leise Quietschgeräusche unterdrücken.
»Reicht Ihnen denn der Platz hier, so zu viert?«, fragt der Makler.
»Ach, sicher. Wir leben eher minimalistisch«, sagt Philipp.
Ich muss an seine umfangreiche Steinsammlung denken und tarne mein Kichern mit einem Hustenanfall. Der Makler bietet mir einen Hocker an, der als einziges Möbelstück verloren in der Küche herumsteht, und nimmt meine Mappe entgegen. Ich bin ganz positiv gestimmt. Bis ich den Stapel an Mappen auf dem Fensterbrett sehe, auf den er meine auch legt.
»Das war doch ganz gut!«, sagt Philipp unten auf der Straße.
»Schon. Aber wundert der sich nicht, wenn es in der Mappe nur um mich geht?«
»Nee, ich hab ihm erzählt, ich müsse für die Arbeit einen zweiten Wohnsitz in Stuttgart unterhalten und die Wohnung laufe deshalb nur auf dich.«
»Ich bin ein bisschen schockiert, wie routiniert du lügst.«
Philipp schaut mich ernst an. »Das mache ich für dich. Für dich und für die Jungs. Damit es euch gut geht. Der Vermieter bekommt ja sein Geld, ob von dir allein oder von uns zusammen. Außerdem lügen die auch: Die Küche hat nie und nimmer fünfzehn Quadratmeter.«
»Das stimmt. Wenn es funktioniert, soll es mir recht sein. Ich kann mir momentan keine moralische Überlegenheit leisten.«
»Was hast du jetzt noch vor?«
»Ich habe meiner Mutter versprochen, Wolle für die Babydecken auszusuchen. Hier ist ein Laden ganz in der Nähe.«
»Oh, schön!«
»Willst du vielleicht mitkommen?«
»Klar!«
Philipp strahlt, als hätte ich ihn auf die Malediven eingeladen. Dabei geht es nur in »Gabi’s Wollparadies«.
Eine ältere Dame (womöglich die echte Gabi?) berät uns freundlich und ausdauernd zur Waschbarkeit unterschiedlicher Qualitätstypen, hält einen kleinen Vortrag über Allergien im Kindesalter und lässt uns die Flauschigkeit der verschiedenen Knäuel durch Streicheln testen. Aber bei den Farben kann sie uns nicht helfen. Dass ich zwei unterschiedliche Farben will, habe ich schon entschieden. Aber welche, das will ich mit Philipp zusammen entscheiden.
»Einfach zwei Blautöne?«, schlage ich vor.
»Oder Blau und Grün?«
»Oder Orange und Rot? Die Farben sind alle schön.«
»Orange wäre total praktisch, da sieht man Karottenbrei nicht drauf«, sagt Philipp.
»Das spricht sehr gegen dieses elegante Beige.«
»Auf keinen Fall Beige. Das können sie noch tragen, wenn sie als Rentner auf Safari gehen.«
»Haha, als gäb’s dann noch Tiere.«
Philipp schüttelt den Kopf. »Mehr positive Gedanken, die Babys spüren das!«
»Es war nur ein Scherz. Ich finde Blau und Grün gut. Wenn vielleicht die grüne Decke einen blauen Streifen bekommt und umgekehrt?«
»Sehr gut.«
Es dämmert, als wir auf die Straße treten.
»Hier ums Eck ist ein Spanier, hast du vielleicht Hunger? Darf ich dich zum Essen einladen?«
Ich überlege kurz. Einerseits wäre es wahrscheinlich gut, Distanz zu wahren. Andererseits habe ich wirklich dauernd Hunger, seit die Übelkeit vergangen ist. Als ich Ja sage, spüre ich das Flattern im Bauch, das mir die Frauenärztin als Vorstufe für die kräftigen Tritte angekündigt hat. Okay, die Jungs freuen sich also auch schon aufs Essen. Sind eben eindeutig meine Kinder.
Und eindeutig Philipps Kinder. Der bestellt nämlich erst mal zwölf verschiedene Tapas für uns.
»Bist du sicher mit der Menge?«, frage ich.
»Wir können ja nachbestellen.«
»Das meinte ich nicht … Aber wir schaffen das schon.«
»Das Essen?«
»Das auch, ja.«
Die Kellnerin bringt bunte Schälchen und Teller voller Essen und muss die Kerze vom Tisch räumen, weil für die wirklich kein Platz mehr ist. Wir stürzen uns auf das Essen.
»Ich vermisse dich«, sagt Philipp zwischen zwei Bissen ganz nebenbei.
»Aha. Lass das nicht deine Freundin hören«, antworte ich ebenso leichthin.
»Meine Freundin? Ich hab doch keine Freundin!«
»Also, ich habe gehört, du bist wieder mit deiner Ex zusammen. Herzlichen Glückwunsch übrigens.« Das ist jetzt vielleicht ein bisschen hoch gepokert, aber es tut mir irgendwie gut. Ich nehme mir noch eine Speckdattel, auf dass ich selbst eine Speckdattel werden möge. Dabei lächle ich freundlich, aber Philipp schaut mich an wie versteinert.
»Das stimmt nicht. Seit wann denkst du das denn?«
»Seit ein paar Wochen. Ihr wart oft zusammen essen!«
»Laura, falls du dir da Candle-Light-Dinner vorstellst: Wir waren dreimal zum Mittagessen in einem Bistro. Zweimal waren gemeinsame Freunde dabei. Und beim dritten Mal hat sie mich zusammengeschissen, weil ich dich im Stich gelassen habe. Moment mal, woher weißt du das überhaupt?«
»Egal. Sie hat dich zusammengeschissen?«, frage ich interessiert.
»Ja. Und sie hatte recht, und ich wollte dir das sagen, aber ich wollte dir nicht sagen, dass ich meine Ex gebraucht habe, um das zu kapieren.«
»Finde ich auch ganz schön peinlich.«
»Ich weiß. Du kannst ruhig auf mir rumhacken, ich hab’s verdient.«
»Ja. Hast du echt.«
»Es tut mir leid, dass ich die Nerven verloren habe. Ich habe die letzten Wochen gebraucht, um wieder runterzukommen.«
»Schon okay. Dass ein Mann von Ende vierzig, der nie verheiratet war, ganz leichte Probleme mit festen Bindungen haben könnte, hätte ich mir denken müssen.«
Philipp stöhnt. »Ich kann das jetzt leider nicht widerlegen. Aber es fühlt sich falsch an!«
»Weißt du, was sich noch falsch anfühlt?«
»Na?«
»Wenn man als erwachsene Frau nur noch Schuhe zum Reinschlüpfen tragen kann, weil es unmöglich ist, sich zu bücken.«
»Oh. Ist der Bauch so im Weg?«
»Das ist das geringere Problem. Ich hab Sorge, nicht mehr hochzukommen.«
»Es tut mir wirklich leid. Ich weiß, dass ich da sein und dir jeden Morgen die Schuhe zubinden sollte.«
»Zu spät, ich hab schon zwei Paar neue Stiefel gekauft.«
»Kommst du denn sonst zurecht? Du erzählst mir ja immer nur die großen Sachen und nie die kleinen.«
»Es geht schon. Die Spülmaschine räume ich jetzt im Sitzen aus, und es dauert doppelt so lange wie früher.«
»Schläfst du gut?«
»Mit Unterbrechungen. Wenn ich mich im Schlaf umdrehen will, hält mich immer der Bauch zurück. Dann wache ich kurz auf und wundere mich, bis mir wieder einfällt, dass ich schwanger bin.«
Wir futtern das ganze Essen auf. Danach habe ich ein leichtes Völlegefühl, aber es ist auch warm und wohlig. Philipp besteht darauf, mir ein Taxi nach Hause zu spendieren, und ich halte ihn nicht davon ab.
Wir umarmen uns kurz, bevor ich einsteige. Nachdenklich lasse ich mich in die Polster sinken und erkläre dem Fahrer den Weg. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber wenn ich es richtig gehört habe, hat Philipp uns gerade hinterhergerufen: »Ich ruf dich an!«