Ich weiß auch nicht, warum ich zugestimmt habe, mit Philipp ins Mineralogische Museum zu gehen. Vielleicht weil er so enthusiastisch davon erzählt hat. Vielleicht auch, weil ich gerührt war von dem riesigen Blumenstrauß, den er mir nach dem Geburtsvorbereitungskurs geschickt hat. Jedenfalls lasse ich mich und meinen Leibesumfang von ihm ins Auto packen und nach Marburg fahren, und ich bereue es nicht mal. Als ich in einem dunklen Raum voller fluoreszierender Steine stehe, fange ich an zu begreifen, was ihn daran begeistert. Es ist wirklich ziemlich abgefahren. Philipps Gesicht leuchtet auch im Dunkeln fast vor Freude.
Dass ich mich alle fünf Minuten hinsetzen muss, um mein schmerzendes Kreuz zu entlasten, stört kaum. Philipp hat einen von diesen Klapphockern für ältere Besucher vom Eingang mitgenommen und trägt ihn jetzt für mich umher. Wenn ich mich hinsetze, stellt er sich hinter mich, damit ich mich anlehnen kann. Ich schließe meine Augen im Halbdunkel. Was wird das hier eigentlich? Technisch gesehen, mache ich einen Wochenendausflug mit meinem Ex, der manchmal meine Hand hält. War das jemals eine gute Idee? Andererseits: Könnte es eine schlechte Idee sein, es noch mal zu versuchen mit einem Mann, mit dem ich gerade Kinder kriege – und, viel wichtiger, in dessen Nähe ich mich so wohlfühle wie mit niemand anderem?
Ich greife nach Philipps Hand und drehe mich zu ihm um, damit er mich vom Hocker hochziehen kann. Ich will ihn umarmen, aber das geht nur noch seitlich, weil der Bauch im Weg ist. Philipp legt einen Arm um mich und küsst mich auf die Wange. Dann nimmt er den Hocker wieder.
»Komm, wir müssen das Marsgestein anschauen!«
»Das was? Wie kommt das denn hierher?«
»Es ist ein Meteorit«, erklärt Philipp, während er mich in den nächsten Raum führt. »Ein anderer Meteorit hat beim Einschlag auf dem Mars Gesteinsbrocken gelöst, und einige von denen sind Richtung Erde getrudelt und 2011 in Marokko gelandet. Mehrere Kilo Marsgestein. Das hier ist nur ein Teil davon.«
»Passiert so was öfter?«
»Man weiß von etwa zweihundert Marsmeteoriten auf der Erde. Also nicht sehr oft, nein.«
Wir bleiben vor einem schwarz glänzenden Klumpen stehen.
»Warum sieht der aus wie lackiert?«, frage ich.
»Das passiert beim Eintritt in die Erdatmosphäre.«
»Ah, wegen der Hitze.«
»Genau.«
Ich vergesse meine müden Füße. Dieser Klumpen sieht gleichzeitig total unspektakulär und vollkommen fremdartig aus. Am liebsten würde ich ihn anfassen.
»Warum hast du eigentlich Geologie studiert?«, frage ich beim Weitergehen.
»Das klingt jetzt vielleicht bescheuert, aber ich fand es toll, dass Steine so unvorstellbar alt sind.«
»Dann wirst du mich also auch toll finden, wenn ich irgendwann unvorstellbar alt bin?«
»Dich finde ich jetzt schon toll.«
Auf dem Heimweg mache ich die Augen zu und versuche zu schlafen. Draußen ist es schon dunkel, und Philipp lässt leise das Autoradio dudeln. Aber meine Gedanken lassen mich nicht schlafen. Ich sehe genau, worauf das hier hinausläuft, und ich weiß nicht, ob ich das will. Philipp hat mich verlassen, als ich ihn gebraucht habe. Daran ist nicht zu rütteln. Er hat unsere Verabredungen eingehalten, das schon, aber von Liebe war plötzlich keine Rede mehr. Ich hatte mich auf ihn verlassen. Jetzt fühlt es sich an, als wäre ich kurz davor, den gleichen Fehler noch mal zu begehen. Ich mache die Augen auf.
»Woher weiß ich, dass du nicht wieder gehst?«, frage ich.
Philipp fährt zusammen und verreißt mit einem winzigen Schlenker das Lenkrad.
»Laura, erschreck mich doch nicht so!«
»Entschuldigung!« Ich lege die Hand auf seinen Oberschenkel und streichle ihn beruhigend. »Alles okay?«
»Puh. Es geht schon. Ich dachte, du schläfst.«
»Nee, ich grüble.«
»Hello darkness, my old friend.«
»O ja, Sound of Silence! Muss auf die Liste der Lieder, die jeder kennt.«
»Langweilig wird es mit dir auch nicht. Wie war die Frage eben noch mal?«
»Woher weiß ich, dass du nicht wieder gehst, wenn die Jungs geboren sind und du feststellst, dass es noch stressiger ist, als du dir vorgestellt hast?«
»Ich kann nicht gehen, wir haben einen Vertrag. Und ich will auch gar nicht gehen.«
»In unserem Vertrag steht nichts über gemeinsame Museumsbesuche und Händchenhalten.«
»Das meinst du also.«
»Ja.«
Philipp schweigt.
»Können wir dieses Gespräch irgendwie so führen, dass ich mir dabei nicht total blöd vorkomme?«, frage ich.
»Es wäre ein bisschen leichter, wenn ich dabei nicht Auto fahren müsste. Jetzt fängt es auch noch an zu schneien, schau mal«, sagt Philipp.
Winzige Schneekristalle landen auf der Windschutzscheibe und schmelzen sofort zu kleinen Wasserpünktchen.
»Willst du lieber später reden?«
»Ich brauche nur länger zum Antworten, wenn das okay ist.«
»Ist okay.«
»Gut.«
Immer dickere Schneeflocken landen auf unserer Scheibe. Auf der Fahrbahn bleiben sie zum Glück noch nicht liegen. Philipp setzt den Blinker und fährt auf die rechte Spur.
»Unsere Trennung hatte nichts damit zu tun, was ich für dich empfinde«, sagt er. »Ich war einfach überwältigt und überfordert und konnte nicht so weitermachen.«
»Es ging mir wahnsinnig scheiße«, erwidere ich.
»Das tut mir so leid.«
»Dir wenigstens auch?«
»Ich hab zwei Wochen fast nicht geschlafen. Dann ist mir klar geworden, dass das nicht die Panik ist, sondern die Sehnsucht, aber ich habe mich so geschämt. Sonst hätte ich angerufen und es dir gesagt. Ich dachte, du lachst mich wahrscheinlich aus.«
»Nee«, sage ich. »Ich hätte dich angebrüllt.«
»Hm.«
Mittlerweile schleichen wir mit Tempo achtzig über die dunkle Autobahn.
»Du schämst dich immer noch«, stelle ich fest.
»Ja! Natürlich schäme ich mich noch. Ich hab meine Freundin und meine Kinder allein gelassen.«
Seine Freundin. Damit meint er mich. Na ja, mich vor ein paar Monaten.
»Die Kinder sind ja noch nicht mal geboren«, besänftige ich ihn.
»Trotzdem hätte ich da sein müssen.«
»Ja.« Was soll ich auch sonst sagen? Er hätte da sein müssen. Und ich weiß nicht, ob er das jetzt nachholen kann oder ob ich mich lieber ganz auf den einzigen Menschen verlasse, der mich garantiert nicht verlässt: mich selbst.
Vor uns tauchen die Hochhäuser von Frankfurt auf. Schweigend passieren wir die Stadtgrenze. Philipp setzt mich zu Hause ab und umarmt mich lange.
»Und dann?«, fragt Sophie.
»Bin ich hoch in meine Wohnung, ich musste dringend aufs Klo. Er ist heimgefahren.«
»Ach, Mann, ich hatte gehofft, ihr küsst euch wenigstens!«
»Hey, auf wessen Seite stehst du eigentlich? Solltest du mich nicht warnen, dem Typen nicht zu vertrauen, der mich im Stich gelassen hat?«
»Sorry. Ich mag den Typen, der dich im Stich gelassen hat.«
»Du kennst ihn nicht mal persönlich.«
»Weil meine beste Freundin mich ihm nicht vorgestellt hat. Wahrscheinlich hatte sie Angst, ich würde mit ihm durchbrennen. Das wäre eine interessante Patchworkfamilie geworden.«
»Kannst du vielleicht mal ernst bleiben? Ich weiß nicht, was ich machen soll. Morgen gehen wir zusammen ins Kino.«
»Ein Kinobesuch ist doch kein Heiratsantrag. Was sollst du da schon machen? Setz dich hin und iss Popcorn. War es dein oder sein Vorschlag?«
»So halb und halb.«
»Weißt du noch, letztes Mal, als wir dir gesagt haben, du sollst es langsam angehen lassen?«
»Ja?«
»Vielleicht hältst du dich diesmal dran.«
»Langsam angehen lassen heißt dann wohl …«
»… nicht knutschen.«
»Kann ich vielleicht mit ihm knutschen und ihm trotzdem weiterhin nicht vertrauen?«
»Wenn du nicht in ein paar Wochen seine Kinder kriegen würdest, würde ich sagen: Kannst du ja mal versuchen. Aber so: Bitte keine Experimente. Ihr könnt beide froh sein, dass ihr euch überhaupt wieder so gut versteht.«
Natürlich hat Sophie recht. Das ist mir schon klar. Deshalb sitze ich im Kino wie auf glühenden Kohlen, um nicht meinem Gefühl zu folgen, das mir befiehlt: Jetzt einfach nach rechts fallen lassen und auf Philipps Schulter ausruhen.
Nichts da. Hier lässt sich niemand fallen.
Auch Philipp macht heute überhaupt keine Anstalten, auch nur meine Hand zu nehmen. Wir halten den ganzen Film durch, ohne uns zu berühren. Danach haben wir beide fantastische Laune und gehen noch was trinken – ich werde in nächster Zeit nicht allzu viele Bars von innen sehen, da muss man jede Gelegenheit nutzen. Nach zwei alkoholfreien Cocktails, bei denen Philipp mir verspricht, mich auch zur nächsten Wohnungsbesichtigung zu begleiten, als Freunde natürlich, na klar, gehen wir gemeinsam zur Haltestelle. Meine Straßenbahn kommt zuerst. Ich drehe mich zu Philipp, um ihn zu umarmen.
Zehn Sekunden später sitze ich in der Straßenbahn. Ich frage mich, wo jetzt dieser sonderbar routinierte Kuss auf den Mund herkam.