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21. Oktober 1941–6. Dezember 1941

[Dienstag] 21. Oktober [1941], 6 Uhr.

Aus einem Brief von Rathenau an «Liebes Fräulein Lore»:

«Daß Sie begonnen haben, Ihr Leben wieder an Menschen der Umgebung, vor allem an ein Kind zu knüpfen, ist ein schöner und verheißungsvoller Schritt. Ich weiß sehr wohl, daß alle Materie zehrt, doch sie erwidert Liebe, und durch ihre Begrenzung hindert sie, daß man sich verliert. Die Welt des Gedankens und der Phantasie ist gefährlicher, denn sie ist ungemessen; sie verlangt, daß man sich ein Objekt als Ambos schaffe, sonst gehen die Schläge in die Luft und Mensch und Hammer wirbeln in den Abgrund.»[1]

Nach dem Essen.

Es ist ein langsamer und schmerzlicher Prozess, zur wirklichen, innerlichen Selbstständigkeit geboren zu werden. Die sich manifestierende Gewissheit, dass es nie und nimmer Hilfe, Unterstützung und Zuflucht bei anderen für dich gibt. Dass die anderen genauso unsicher, schwach und hilflos sind wie du selbst. Dass du immer die Stärkere sein musst. Ich glaube nicht, dass es deine Art ist, dass du Zuflucht bei anderen finden könntest. Du wirst immer wieder auf dich selbst gestellt sein. Es gibt nichts anderes. Alles andere ist Fiktion. Aber dies muss man immer wieder von Neuem erkennen. Vor allem als Frau. Es besteht doch immer der Drang in dir, dich in einem anderen, in dem sogenannten Einzigen, zu verlieren. Aber auch das ist eine Fiktion, wenn auch eine schöne. Es existiert keine Vereinigung zweier Leben. Zumindest für mich nicht. In einzelnen Momenten zwar schon. Aber rechtfertigen diese einzelnen Momente das Zusammenbleiben für ein ganzes Leben? Können diese wenigen Momente ein gemeinsames Leben zusammenhalten? Trotzdem auch ein starkes Gefühl. Und manchmal ein glückliches. Allein. Gott. Aber hart. Denn die Welt bleibt unwirtlich.

Mein Herz schlägt wie wild, aber niemals für einen einzigen Menschen. Für alle Menschen. Dieses Herz ist – glaube ich – auch sehr reich. Und früher habe ich mich immer gefragt, wie ich das einem einzigen Menschen geben könnte. Aber das geht nicht. Und wenn du in deinem 27. Lebensjahr zu derartigen bitteren «Wahrheiten» gelangen musst, beschert dir dies mitunter ein verzweifeltes und einsames und beängstigendes Gefühl, aber auf der anderen Seite auch ein Gefühl des Stolzes und der Unabhängigkeit. Ich bin mir selbst anvertraut und werde es allein hinkriegen müssen. Der einzige Maßstab, den du hast, bist du selbst. Ich wiederhole das für dich immer wieder. Und die einzige Verantwortung, die du in deinem Leben wirst übernehmen können, ist diejenige für dich selbst. Aber das musst du dann auch voll und ganz tun. Und nun S. anrufen.

abends.

Viel wissen zu wollen ist auch eine Art von Eitelkeit. Dir selbst einen Inhalt zu geben, der nicht dein eigentlicher Inhalt ist. Und doch ist der Wissensdurst etwas sehr Wesentliches. Und kann die treibende Kraft in einem ganzen Menschenleben sein. Ich möchte manchmal nichts mehr wissen wollen, kein Wissen besitzen wollen, sondern einfach nur sein, einfach nur voll mit Leben und mit ein bisschen Güte sein. Und ohne Wissen. Mein Studium ist auch eigentlich nicht ein Anhäufen von Wissen, sondern die Suche nach den Dingen hinter den Dingen, sehr bescheiden und einfach gesagt: die Suche nach dem Rätsel des Lebens. Wonach wahrscheinlich jeder Mensch auf seine Art und Weise sucht. Doch das Rätsel des Lebens existiert nicht. Gute Nacht.

Ich lebe zu sehr in der Welt der «Kunst», in der Welt der Literatur. Und dort ist alles ausgereift, manchmal nach viel Kämpfen und Leiden.

Siehst du, das ist jetzt wieder typisch. Ich stehe in der Küche und fülle einen Krug. Und plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Für mein Empfinden ein ziemlich erhellender Gedanke. Und den wollte ich sofort aufschreiben. Und jetzt fällt er mir nicht mehr ein. Ich finde keine Worte und der «Gedanke» schrumpft in sich zusammen. Und doch war es für mein Empfinden etwas Wesentliches. Und so geht es mir eigentlich immer. Meine Gedanken und Gefühle erscheinen mir ziemlich ausgereift, aber sie wollen noch nicht geboren werden. Vielleicht sind sie doch noch nicht so ausgereift. Oder fehlt mir die Geduld? Ich weiß es nicht.[2] Und nun wirklich gute Nacht.

Zu S. in einem späten Telefonat:

«Ich schlafe lieber mit Büchern als mit Männern.» – «Das ist ja schon ein Riesenfortschritt.» Und zu Han: «Nein, führe mich jetzt nicht in Versuchung, ich gehe wirklich in mein eigenes Bett.» Und Han, leicht beleidigt: «Ha! Versuchung! Schlaf du nur mit deinen Büchern!»[3]

Mittwochmorgen [22. Oktober 1941], 8 Uhr.

O Herr, gib mir am frühen Morgen etwas weniger Gedanken und etwas mehr kaltes Wasser und Gymnastik.

Das Leben kann nicht mit ein paar Formeln erfasst werden. Das ist es, womit du letzten Endes immer beschäftigt bist und was dazu führt, dass du zu viel nachdenkst. Du probierst, das Leben in einigen Formeln zu erfassen, aber das geht nicht, es ist unendlich vielfältig, und es kann nicht erfasst und vereinfacht werden. Aber deswegen kannst du selbst trotzdem einfach sein.

Nach dem Frühstück.

Eine Person hat nun einmal aufgrund ihres schlanken Körpers einen stärkeren und heftigeren Lebensstrom zu bewältigen als eine andere.

Die Stromschnellen werden bei mir zu Kopfschmerzen, die plötzlichen Strudel zu Magenschmerzen usw.

Geduld. – Empfindungen.

halb 12.

Das mit Aimé war wohl wirklich Inflation.[4] S. versetzte mir damals einen derartigen psychischen Stoß, dass ich wiederum jemand anderem einen Stoß versetzte. Aber meine Kraft reichte nicht aus, um diese Freundschaft aufrechtzuerhalten. Es ärgert mich ab und zu. Ich kann natürlich zu meiner Entschuldigung sagen: Ja, gut, er für seinen Teil hat auch nichts dazu beigetragen. Aber die Schuld liegt doch bei mir. Ich habe damals etwas begonnen, wozu – wie sich später zeigte – die Kraft nicht ausreichte. Sehr schwierig, seine eigenen Kräfte einzuschätzen. Es macht einen unsicher und zurückhaltender gegenüber Mitmenschen. Die nächsten Jahre müssen dir dazu dienen, dass du die eigenen Kräfte einzuschätzen und zu erforschen lernst, sodass du im Voraus weißt, was du bewältigen kannst und was nicht. Es ist schon schön, spontan und mit Temperament etwas zu beginnen, aber es ist so beschämend, stecken zu bleiben.

Ich heb mein schweres Herz

so feierlich,

Wie einst Elektra ihre Urne trug[5]

Den ganzen Tag über ertappe ich dich dabei, dass du in deinem Denken zu viele widersprüchliche Phänomene zu einer Einheit, in ein einziges System zusammenzwängen willst. Das ist ein Urbedürfnis in dir. Aber was ist das eigentlich? Du willst dir selbst ein abgegrenztes Gebiet der Sicherheit schaffen. Rührt das von einem Gefühl der Unsicherheit her, des Verlorenseins in der Vielfalt der Dinge? Aber diese Vielfalt muss man akzeptieren.

S. machte einmal an einem Sommerabend mit seinem Arm eine große und ausladende und freundliche Geste und sagte: «Es ist im Grunde eigentlich alles so einfach.» Und als ich dort bei ihm saß, glaubte ich das auch. Und ab und zu ist das Leben in mir auch einfach und stark und deutlich. Das sind die besten Momente. Es wird für mich niemals glücklichere Momente geben, als zu merken, dass das Leben wirklich einfach ist.

Inwiefern bin ich noch an meine eigene Kompliziertheit gebunden und kann davon nicht Abstand nehmen? Inwiefern bilde ich mir ein, dass dies für mich eine Quelle der Inspiration ist, und vielleicht denke ich doch heimlich, dass ich verarme, wenn ich nicht mehr so kompliziert wäre in meinem Denken und Fühlen? Ich weiß es nicht.

Rathenau an «Liebes Fräulein Lore»:

«Könnte ich Ihr armes Herz um ein paar Jahre altern machen! Ich kenne diese Sehnsucht und fühle sie Ihnen nach und weiß doch, wie vergeblich sie ist. Vereinigung gibt es nur im Bereich der Sinne und auch die ist flüchtige Täuschung. Die Seelen aber stürzen hintereinander her wie die bewegten Sterne, und können doch ihre Bahn nicht verlassen und begegnen sich nicht.»[6]

halb 6.

Das muss doch letztendlich das Ziel sein: selbst innerlich ganz einfach werden, aber die Kompliziertheiten der anderen bis ins kleinste Detail begreifen. Aber man muss da nun zuerst einmal hindurch. Nicht alles so final sehen, so statisch, so absolut. Sondern als Übergangsphase. Der Besuch heute Nachmittag bei S. war ein richtiges Labsal. Ich erforsche mich selbst noch viel zu viel. Aber das ist, glaube ich, deshalb so, weil ich jede Schwingung in meinem doch so schrecklich speziellen Gemüt meine analysieren und festhalten zu müssen für die vielen Meisterwerke, die ich noch glaube schreiben zu müssen. Und die ich überhaupt nicht schreiben will. Lass das Leben nur fröhlich und traurig in dir herumschwappen, so, wie es nun einmal ist, in all seinen Gegensätzen, liebe Kleine. Sei nicht so absolut. Furchtbar viel Erhellendes wurde heute Nachmittag gesagt. Wir sind wahrscheinlich schon zwei ziemlich Verrückte, er und ich, und doch fühle ich mich bei ihm am normalsten und natürlichsten. Meine Augen brennen nun vor Müdigkeit. Heute Abend ein bisschen Russisch und dann aber rechtzeitig ins Bett.

Jupiter ist bei mir zum Glück ja nicht der größte Berg, Apollo. Merkur ist der noch größere Berg.[7] Beide halten einander im Gleichgewicht. «Ich will, dass dieser Jupiter bei mir ganz verschwindet», maulte ich ihn an. «Sie sind doch ein originelles Luder.»

Er hat so etwas Bestimmtes. Und seine Sicherheit bringt dann diesen schrecklichen Chor der widersprüchlichen Stimmen in mir zur Ruhe. Aber ich darf ihn auch nicht zu sehr als Maßstab für mich selbst nehmen. Er ist 55 und hat sich die – ich würde fast sagen religiöse und starke – Einfachheit auch in einem langen Leben errungen, ich darf mich nicht damit messen.

Bei jedem lächerlichen Atemzug von mir sterben Tausende von Menschen, sie vernichten einander. Und doch darf man nicht sagen: Was ist im Augenblick ein Menschenleben wert? Es ist doch nichts wert.

Erst dann, wenn dies wirklich zu einer festen Lebenseinstellung wird: «Was ist ein einzelnes Leben wert, während sie ja fortwährend zu Tausenden sterben?», ist die Vernichtung vollkommen.

Donnerstagmorgen [23. Oktober 1941].

Verrückte, die du bist! Hör auf, dieses Gehirn zu zermartern!

Dich in voller Lebensgröße in einem Wort zu umreißen, in anschaulichen, umfassenden Worten. Aber diese Worte werden dich nicht gänzlich erfassen können. Gottes Welt und Himmel sind so weit. Etwa nicht weit genug?

Wieder zurück in die Dunkelheit wollen, in den Mutterschoß, in das Kollektive.

Selbstständig werden, die eigene Form finden, das Chaos bezwingen.

Dazwischen hin- und hergerissen.

[Freitag] 24. Oktober [1941].

Heute Morgen habe ich Levie unterrichtet.[8] Man darf sich nicht gegenseitig mit seiner schlechten Laune anstecken.

Heute Abend[9] neue Verordnung für die Juden. Ich habe mir selbst erlaubt, deswegen eine halbe Stunde lang deprimiert und unruhig zu sein. Früher hätte ich mich selbst getröstet, indem ich einen Roman gelesen und meine Arbeit sausen gelassen hätte. Nun die Analyse von Mischa ausarbeiten. Es ist viel zu wichtig, dass er am Telefon so gut reagierte. Man darf nicht zu optimistisch sein – aber er verdient es, dass man ihm hilft. Solange man durch das kleinste Schlupfloch Zugang zu ihm finden kann, muss man dies ausnutzen. Vielleicht kann ihm das später im Leben ein wenig helfen. Man sollte nicht immer großartige Ergebnisse anstreben, vielmehr muss man an die kleinen glauben.

Schon zwei Tage lang nur gearbeitet und mich nicht in meine eigenen Stimmungen vertieft.

Großes Mädchen, nicht wahr?

«Ich hänge so sehr an diesem Leben.» Was verstehst du unter diesem «Leben»?

Das bequeme Leben, das du zurzeit erträgst/führst? Ob du wirklich am nackten, am splitterfasernackten Leben hängst, in welcher Form es auch immer auftritt, wird sich im Laufe der Jahre noch zeigen müssen. Du verfügst über genügend Kräfte. Und es steckt auch dies in dir: «Ob man das Leben lachend oder weinend verbringt, es ist doch immer nur ein Leben.» Aber das ist es nicht allein. Es ist mit westlicher Dynamik vermischt, das spüre ich ab und zu sehr stark. In diesen nüchterneren Tagen der wirklichen Selbstdisziplin fühle ich dies sehr stark: Du bist kerngesund, du bist damit beschäftigt, zu dir selbst heranzuwachsen, dir eine Basis zu erschaffen. Und nun an die Arbeit.

Nach einem Gespräch mit Jaap.

Wir werfen einander ab und zu einmal Fragmente von uns selbst zu, aber ich glaube nicht, dass wir einander verstehen.

Montag [27. Oktober 1941].

Du musst mit deiner Seele leben und atmen, aber mit deinem Verstand arbeiten und studieren. Wenn du nur mit deinem Intellekt lebst, ist es ein erbärmliches Dasein.

Aber wegen der Seele brauchst du den Verstand nicht wegzuwerfen. Es ist gut, dass der Mensch beide hat. Wenn sie nur an der richtigen Stelle zum Einsatz kommen.

Dienstagmorgen [28. Oktober 1941].

Du darfst niemals von einem anderen etwas verlangen, das du selbst nicht geben kannst. Wenn ich selbst psychisch niedergeschlagen und abgespannt bin, dann bin ich viel schneller durch Langeweile und Geistlosigkeit bei anderen gereizt als sonst. Beispielsweise bei Tide. Gestern Abend fand ich sie stinklangweilig, kindisch, schulmeisterlich und öde. Ich selbst war wahnsinnig müde und deprimiert. Obwohl ich vor ein paar Tagen dachte: Geist habe ich ja selbst, den muss ich nicht suchen, bei anderen suche ich ein wenig Seele und menschliche Wärme und echte menschliche Liebe. Und dann musste ich an die Geste denken, mit der Tideman an Mischas Musikabend ihre Hand auf meine legte, und später schrieb sie auf das Programm: Ich bete für dich.[10] Und in niedergeschlagenen Momenten danach hatte ich manchmal den Drang, zu ihr zu laufen und zu sagen: «Ja, bete bitte für mich, ich habe es bitter nötig.»

Das war gestern Abend schon wieder einmal eine große Dissonanz. S. kam so frisch und ausgeruht aus Friesland,[11] rappelvoll mit «dem Leben nach dem Tod» und Kierkegaard und neuen Ideen. Und ich war zu müde, um zu atmen. Und er warf mit wertvollen Formulierungen um sich und ich versagte jämmerlich und fühlte mich zu müde, um etwas aufzunehmen.

Und dann frage ich mich, warum ich diesen Wahnsinn begonnen habe. Vor ein paar Tagen war es so, dass ich das Gefühl hatte, dass ich in die Chirologie hineinzuwachsen begann, dass es eine Sache war, die ich bis zum Äußersten verteidigen würde. Aber du willst zu schnell Ergebnisse sehen.

Wenn ich mich selbst so kraftlos fühle, dann hasse ich ihn mit all seiner Kraft beinahe. Mein Fehler ist immer wieder, dass ich mich dann nicht mit der temporären Müdigkeit meines Körpers abfinde, sondern dass diese Müdigkeit dann gerade mein ganzes Lebensbild angreift. Dann sehe ich alle Dinge, die ich anfangs positiv sah, nur negativ, obwohl mein Sinn für Gerechtigkeit direkt auf der Lauer liegt und mich warnt, dies nicht zu tun.

An Tagen, an denen ich aufgrund meines Mangels an Kraft niemanden liebhaben kann, fordere ich, dass die anderen mich doppelt liebhaben sollen. Oder besser gesagt, ich fordere das nun nicht mehr. Früher tat ich das. Je weniger ich anderen geben konnte, desto unangemessener wurde ich mit meinen Forderungen an die anderen. An Tagen wie diesen muss ich mit meinen Gedanken und Gefühlen von allen ablassen. So ein bisschen wie ein kranker Vogel zusammengekauert dasitzen und wissen, dass es schon wieder gut wird. Und verschwende nicht deine Energie, indem du gegen deinen Mangel an Kräften rebellierst. Und nicht denken: Ich muss noch dies und das erledigen, denn in deiner Fantasie erscheint es dann als viel mehr, als es in Wirklichkeit ist.

Entlang eines schmalen Pfades die Arbeit erledigen, die auf der Hand liegt.

Du hast immer noch zu hohe Ansprüche an dich selbst. Mit einer verstopften Nase und einem beduselten Kopf kannst du nicht die Rolle der Inspiratorin spielen. Du musst überhaupt nicht mit dem Anspruch herumlaufen, immer die Inspiratorin zu sein. – Rasch an die Arbeit jetzt.

Mittwochmorgen [29. Oktober 1941].

Das sind jetzt wieder solche Tage, an denen morgens beim Aufwachen mein erster Gedanke ist: heute Abend wieder früh ins Bett. Aber ob diese körperliche Müdigkeit von psychischer Unlust herrührt oder umgekehrt, das ist etwas, wo ich wirklich nicht dahinterkommen kann.

Du musst nicht mehr sein wollen, als du bist. Indem du krampfhaft versuchst, mehr sein zu wollen, verschwendest du dein letztes bisschen Energie, das du benötigst, um genau das zu sein, was du sein könntest.

Heute Morgen machte ich plötzlich einen Sprung zu du Perron. Es scheint mir schon, als ob ich auf einmal der «Seele» und Gottes, mit dem Henny so intim ist, und der Liebe und der Güte von S. überdrüssig geworden sei. Diese kämpferische Intelligenz, die sich niemals geschlagen gibt. Alles selbst untersuchen wollen, du Perron, ter Braak, Marsman, Slauerhoff,[12] die Namen sind mit der Zeit mit Lout[13] und Frans verbunden. Plötzlich taucht diese Zeit wieder vor mir auf und lässt mich aus meiner Niedergeschlagenheit hochschnellen.

Manchmal würde ich mich gerne geräuschlos in eine trübe Gracht sinken lassen und dort sanft einschlummern. Dann will ich mich geschlagen geben und bin dann so müde von allem, nicht nur körperlich.

Und dann plötzlich, inmitten der größten Müdigkeit, schnellt etwas in mir hoch, etwas, das sich behaupten und standhalten will und das sich bis ans Ende zu Tode kämpfen will. Jeder und alles ist mir dann im Weg, ich muss dann mit etwas ins Reine kommen. Ich weiß bloß nicht, mit was.

Aber geh nun heute Nachmittag bitte nicht schlafen. Den ganzen Morgen bereitest du die Flucht schon wieder vor, drum bleib bitte auf den Beinen.

Donnerstagmorgen [30. Oktober 1941].

Lebensangst auf der ganzen Linie.

Totales Tief. Mangel an Selbstvertrauen.

Abscheu. Angst.

Donnerstagnachmittag.

Ich falle schon seit ein paar Tagen wieder in mein eigenes «finsterstes Mittelalter» zurück. Fortwährend nur schlafen wollen, Hunderte Dinge an einem Tag planen und nichts davon erledigen.

Es ist, als ob wieder ein schweres Haus über mir eingestürzt ist, und ich weiß nicht, wie ich all die Steine von mir herunterwälzen kann. Wann hat das eigentlich angefangen? Letzten Freitag hatte ich mich selbst noch fest im Griff. Ich war noch so froh über Mischas gute Reaktionen abends auf das Telefonat mit S., ich freute mich über das Ergebnis, das auf einmal sichtbar wurde, ich war voller Lebensfreude und plante, auch mit Jaap ein eingehendes Gespräch über S. und seine Analyse von Mischa zu führen. Samstagmorgen plötzlich Mutter, die gut aussah, aber davon nichts hören wollte, scheinbar voller Leben und aufgedreht wie immer, zog über Tiere und Pelzmäntel her und klang auch wieder intelligent und außergewöhnlich, aber alles in allem ein sehr unruhiges Ganzes. Auf der einen Seite war ich froh, dass sie kam, ich wollte über Mischa sprechen. Sie sagte, dass sie für ihn sozusagen ihr letztes Hemd hergeben würde, wenn ihm etwas zustoßen würde, aber: Vaters Umstände[14] etc. Ich weiß noch, dass mir damals sehr stark bewusst wurde: Meine Mutter ist für mich ein Vorbild dafür, wie ich nicht werden will. Da ist sie nun, gut angezogen, beinahe elegant, jung für ihre 60 Jahre, lebhaft, vital, aber ich weiß, dass sie nur zeitweise so ist. Den einen Tag übertriebener Vitalität muss sie wieder damit bezahlen, dass sie sich tagelang schlecht fühlt. Ein chaotisches Leben, seufzen und klagen über ihre Müdigkeit, und damit verdirbt sie die ganze Atmosphäre im Haus, wie sie sie schon ihr Leben lang verdorben hat. Wie sie sich heute gibt, ist eigentlich Betrug. Es ist viel mehr Schein als Sein. Sie ist dann für einen einzigen Tag so, aber ansonsten ist sie nicht so, sie ist dann unbrauchbar, sie ist schlichtweg jemand anders, ein Fass voll mit den unmöglichsten psychologischen Komplikationen. Ich glaube, dass ich immer Angst habe, so zu werden wie meine Mutter: Zeitweise voller Enthusiasmus und Leben und Interesse und ansonsten zehre ich mich selbst auf, plage mich mit der Müdigkeit ab und kann ihr nicht entkommen. Und in den Momenten, in denen du dann wirklich wieder einmal ein richtig lebendiger Mensch bist, glaubst du da selbst nicht dran und bist nur eine Art Fassade für die Außenwelt, an die du selbst nicht glaubst.

Das ist feige und abscheulich von dir und das stammt aus deiner schlechtesten Zeit: Du flüchtest wieder in Bücher und Gedichtbände, du erzählst dir selbst wieder eine ergreifende Geschichte, dass niemand dich begreift, dass du gerne dichten würdest, aber dass du darunter leidest, dass du das nicht kannst, du rollst dich auf der Couch zusammen und lässt Käthe, die sich in letzter Zeit sehr schlecht fühlt, durch den Regen den Einkäufen hinterherrennen, du denkst wieder erhaben über Selbstmord nach, was reine Bequemlichkeit und Feigheit wäre, du bist ein sehr widerlicher Mensch. Und du entschuldigst dich selbst mit einem: Ich fühle mich doch so elend, ich kann wirklich nicht. Die Vorlesung heute Morgen hast du auch versäumt. Ich schäme mich für dich.

Eine Ohnmacht und eine Angst und nicht wissen, wo ich beginnen muss, um sie anzugreifen.

Zu Beginn des Morgens lief es noch recht gut mit Mutter, ich redete natürlich gleich viel zu aufgedreht über alles durcheinander, war aber dennoch angespannt; ich arbeitete weiter an Mischas Analyse mit dem stolzen Gefühl: Na, ich lasse mich doch nicht aus dem Konzept bringen von meiner Familie.

Mittags auf einmal Jaap und Mutter gemeinsam in meinem kalten Wohnzimmer. Jaap wirkt, so glaube ich, auf irgendeine Art und Weise mörderisch auf mich mit seiner eiskalten und unsicheren Verkrampftheit und mit seiner Arroganz, hinter der doch bestimmt auch Unsicherheit steckt. Ich habe schreckliches Mitleid mit ihm und er stößt mich ab. Letzteres rührt wohl daher, dass er mich, zumindest für mein Empfinden, ein bisschen verachtet.

Er schrieb mir einmal, als er krank war, zuoberst auf einen Brief: «Cogito, ergo sum. Credis, ergo non es.»[15]

Und ich glaube, dass dies auch heutzutage noch der Unterschied zwischen uns ist, der wahrscheinlich auch nicht zu überbrücken ist. Und ich muss ihn jedes Mal empfangen, weil er nun einmal mein Bruder ist, obwohl ich es ziemlich sinnlos finde, das als Grund dafür anzuführen. Er hat etwas Feindseliges mir gegenüber, er wird sich dessen selbst nicht bewusst sein, und vielleicht kommt es auch daher, dass ich nicht offenherzig genug zu ihm bin. Es liegt natürlich auch an mir. Und wenn ich jedes Mal wieder so sehr von seiner Kritik und seinem Skeptizismus getroffen werde, dann ist das nur ein Beweis dafür, dass ich in manchen Dingen unsicher bin, denn sonst würde seine kritische und überhebliche Haltung mich nicht treffen.

Gymnastik hast du auch schon seit mehreren Vormittagen nicht mehr gemacht, und dieses kalte Wasser hast du auch verabscheut. Kind, ich verachte dich. Früher habe ich manchmal wochenlang so weitergebrütet, und nun bekomme ich auf einmal wieder das Gefühl, dass ich mich selbst an meinem eigenen Schopf aus dem Sumpf herausziehen muss, eine Münchhausener Kraftprobe,[16] glaube ich. Ich bilde mir ein, dass ich wer weiß was fertigbringe, weil ich Wunder was alles denke und träume und fantasiere.

Die unwirkliche Welt ist für mich realer als die wirkliche, und je mehr Kräfte ich manchmal in die unwirkliche einsetze, desto kraftloser werde ich in der wirklichen Welt. Und das darf nicht sein. Alles sollte Hand in Hand gehen.

Ich schäme mich dann auch so. Und statt dass mir die Scham dann einen Schubs in die richtige Richtung gibt, macht sie mich manchmal noch machtloser. Du musst dich dir wieder vorknöpfen, Mädchen, und in einen eisernen Griff nehmen und nicht feige sein.

Und jetzt ein paar Dinge aus dem «Evangelium des vollkommenen Lebens»:[17]

«Denn durch die Verwicklung und Entwicklung wird die Erlösung der Welt vollendet werden durch das Herabsteigen des Geistes in den Stoff und das Emporsteigen des Stoffes in den Geist, durch alle Zeiten.»

«Sie sollen gezüchtigt werden», sagte S., als ich wie ein albernes Schulkind in einer nassen Regenjacke und mit einer Träne in meinem Gesicht ganz schuldbewusst vor ihm stand. Und er hat recht.

Und noch etwas aus diesem Evangelium:

«Die, welche Liebe haben, haben alle Dinge, und ohne Liebe gibt es nichts, das Wert hätte. Lasset alle halten, was sie als die Wahrheit erkennen in der Liebe, wissend, daß dort, wo keine Liebe ist, die Wahrheit ein toter Buchstabe ist, ohne Wert.

Es bleiben Güte, Wahrheit und Schönheit; doch die größte von diesen ist die Güte. Wenn etliche ihre Brüder gehaßt und ihre Herzen verhärtet haben gegen die Geschöpfe von Gottes Hand, wie können diese, deren Augen blind und deren Herzen verhärtet sind, für Gottes Schöpfung die Wahrheit sehen zu ihrem Heile?»[18]

Von du Perron bin ich doch wieder hier gelandet. Und hier fühle ich mich heimischer.

Han sagte gerade etwas Schönes: Er sagte, dass Lesen an sich keine Kunst ist, das machen alte Männer in Lesesälen auch. Er meinte, dass ich zu viel und zu flüchtig lese und dass ich ohnehin kein wahres Interesse am Buch habe. Ich glaube nicht, dass er recht hat. Aber es ist schon so, dass ich in den Zeiten, in denen ich am niedergeschlagensten bin, am meisten lese und dass dies dann immer degenerierender wirkt. Ich denke manchmal, dass etwas Grammatik studieren gesünder ist.

Ich habe mich schon ein ordentliches Stück aus dem Sumpf herausgezogen. Das scheint jetzt zumindest so. Bin gerade durchs Zimmer gegangen und habe eine leidenschaftliche Rede darüber gehalten, was ich morgen S. sagen werde. Bin gespannt, ob ich es tun werde.

Ich spreche zu viel über mich selbst, sagt Han. Aber nur mit ihm, mit anderen dafür zu wenig. Der Gute hat von seinem Standpunkt aus zwar recht, aber ich werde doch noch weitermachen müssen, ich werde mich nun viel mit mir selbst beschäftigen müssen, um auf die Dauer vielleicht endgültig von mir wegzukommen.

Das «Alles oder nichts», das du in deiner Jugend (höre nur, wie ich rede!) mit so viel Leidenschaft und stolz verfochten hast, ist im Grunde doch falsch. Es ist eine Phase, durch die du hindurchmusst. Wenn das «Alles» unmöglich scheint, ziehst du dich oft in Verbitterung und Scham zurück auf das Nichts, sei es im Bereich der Liebe oder in Bezug auf die Ansprüche, die du an deine Arbeit stellst.

abends 8 Uhr.

Da habe ich mich selbst in Ruhe und Frieden an meinem Schreibtisch wiedergefunden. Für wie lange?

[Freitag] 31. Oktober 1941.

Man kann sich natürlich weismachen, dass man aus Neugierde am Leben bleiben will. Aber das wäre schon nicht mehr die wahre Lebensfähigkeit. Es gibt auf die Dauer nichts mehr Neues, oder man hat es auf die ein oder andere Weise bereits erlebt, in sich selbst oder in der eigenen Fantasie. Neugierde, was aus dir wird, ist kein ausreichender Motor. Dieser Motor muss die wahrhafte Liebe zu diesem Leben sein.

In einer Nacht wie heute Nacht bin ich wieder ein Stück auf mich selbst zugewachsen, habe ich mich selbst wiedergefunden. Das Leben war auf einmal wieder transparent in mir. Dieses Gefühl von vollkommener Harmonie ist das Höchste, was man erreichen kann. Für mich zumindest. Von so einer Nacht muss ich wieder lange zehren können. Man kann auch nicht erwarten, fortwährend in so einer seligen Harmonie herumlaufen zu können.

[Dienstag] 11. November [1941], morgens.

Es scheint, als wären wieder sehr viele Wochen verstrichen und als hätte ich wieder furchtbar viel erlebt, und doch findest du dich selbst irgendwann wieder vor dasselbe Problem gestellt:

Diesen Drang in dir oder die Fiktion oder die Fantasie oder wie du es auch immer nennen willst, einen Menschen ein Leben lang besitzen zu wollen, musst du in dir in tausend Stücke zerschlagen. Diese Absolutheit muss in dir zerbröckelt werden. Und dann nicht denken, dass der Mensch dadurch ärmer wird, nein, er wird sogar reicher. Aber auch schwieriger, vielfältiger. Das Auf und Ab in Beziehungen akzeptieren, und dies positiv sehen und nicht als etwas Trauriges. Jemand anderes nicht besitzen zu wollen bedeutet aber nicht, auf jemand anderes zu verzichten. Jemand anderem völlige Freiheit lassen, auch innerliche, bedeutet keineswegs Resignation. Ich beginne jetzt meine Leidenschaftlichkeit in meiner Beziehung mit Max[19] zu erkennen. Es war schiere Verzweiflung, weil du spürtest, dass er letztendlich doch unerreichbar war, und das trieb dich immer mehr an. Aber das war dann wahrscheinlich, weil du den anderen auf die falsche Art und Weise erreichen wolltest. Zu absolut. Und das Absolute existiert nicht. Ich weiß, dass das Leben und die menschlichen Beziehungen unendlich vielfältig sind und dass es nirgends etwas absolut oder objektiv Gültiges gibt, aber dieses Wissen muss auch in dein Blut, in dich übergehen, nicht nur in deinem Kopf vorhanden sein; du musst es auch leben. Und darauf komme ich immer wieder zurück: Man muss sich ein Leben lang darin üben, dass man das Leben nicht nur gemäß der eigenen Weltanschauung lebt, sondern auch mit den entsprechenden Gefühlen; das ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, um ein Gefühl von Harmonie zu erhalten.

Mittwochnachmittag [12. November 1941].

Auf einmal, mitten im Anfertigen eines Protokolls, rebellisch und zugleich schicksalsergeben:

Man kann seine innerlichen Ziele nicht verwirklichen in der Außenwelt.

Vielleicht können manche das, und manche probieren es und machen dann aus ihrem Leben ein buntes Irrenhaus oder einen Jahrmarkt, auf alle Fälle etwas sehr Verzweifeltes. Arbeite jetzt weiter! Formung! Formung! «Gestalten».

[Freitag] 14. November [1941].

Gestern Abend S. Diese Abende mit ihm sind doch stets die Höhepunkte der Woche oder der Wochen. Ich spüre die angenehme Nachwirkung, jetzt, wo ich hier an meinem Schreibtisch sitze und voller Schwung in den neuen Wochentag starte.

[Freitag] 21. November [1941].

Es ist interessant, dass ich in letzter Zeit voller Schöpfungsdrang bin und eine Novelle schreiben möchte: «Das Mädchen, das nicht knien konnte» oder so etwas in der Art, und dann etwas über diese schmale, kleine Frau Levie, die mich beschäftigt, und so vieles, so schrecklich vieles mehr, aber als ich dies aufschreibe, auf einmal: Wie von einer Tarantel gestochen springe ich plötzlich mit meinem rumorenden Magen von der blauen Couchdecke hoch: ja, dieser Magen. Obwohl ich schon viele Probleme mit der Ethik und der Wahrheit und Gott selbst habe, taucht da auf einmal noch ein «Essensproblem» auf. Doch etwas für eine Analyse vielleicht. Ab und zu, nicht mehr so oft wie früher, verderbe ich mir meinen Magen, ganz einfach, weil ich zu viel esse. Durch Unbeherrschtheit also. Ich weiß, dass ich aufpassen muss, und auf einmal überkommt mich dann eine Art Gefräßigkeit, gegen die keine Argumentation ankommt. Ich weiß dann, dass ich dieses bisschen Genuss oder diesen einen Bissen viel zu sehr werde büßen müssen, und doch kann ich es dann nicht lassen. Und ich glaube auf einmal, dass es da eine Essstörung gibt, die behandelt werden könnte. Es ist letzten Endes nur symbolisch. Diese Gier habe ich wahrscheinlich auch in meinem geistigen Leben. Ich will schrecklich viel aufnehmen, und das gipfelt ab und zu in schweren Verdauungsstörungen.

Irgendwo muss hier ein Grund dafür zu finden sein. Vielleicht hängt es mit meiner lieben Mama zusammen. Mutter spricht immer übers Essen, es existiert für sie nichts anderes. «Komm, iss noch was. Du hast noch nicht genug gegessen. Wie mager du geworden bist.» Ich erinnere mich noch, wie ich vor Jahren meine Mutter auf einer Hausfrauenparty essen sah. Ich saß auf dem Balkon in dem kleinen Theatersaal in Deventer. Mutter saß an einem langen Tisch inmitten vieler Hausfrauen. Sie trug ein blaues Spitzenkleid. Und war am Essen. Sie war völlig ins Essen vertieft. Sie aß gierig und mit Hingabe. So wie sie da saß, als ich sie von da oben vom Balkon aus plötzlich beobachtete, hatte sie etwas an sich, das mich furchtbar erschütterte. Sie stieß mich ab, so wie sie da saß, und gleichzeitig hatte ich wahnsinnig Mitleid mit ihr. Ich kann es gar nicht erklären.

In dieser Gier steckte eine Art Angst, sie könnte im Leben ein wenig zu kurz kommen. Etwas schrecklich Bedauernswertes und gleichzeitig etwas tierisch Abstoßendes war an ihr. So schien es mir. In Wirklichkeit war sie eine Hausfrau in einem blauen Spitzenkleid, die Suppe aß. Aber wenn ich verstehen könnte, was ich alles in Bezug auf sie empfand, als ich sie dort so beobachtete, dann könnte ich viel von meiner Mutter verstehen. Diese Angst, im Leben ein wenig zu kurz zu kommen, und aufgrund dieser Angst kommt man dann eigentlich komplett zu kurz. Man kommt nicht an das Wesentliche heran.

Psychologisch könnte man es vielleicht so formulieren – hört mal den blutigen Laien: Ich verspüre einen Widerstand gegen meine Mutter, der noch immer nicht gebrochen wurde, und deshalb mache ich Dinge, die ich an ihr verabscheue, genau gleich wie sie. Ich bin schließlich kein Mensch, der sehr aufs Essen aus ist oder so, auch wenn das seine geselligen und angenehmen Seiten hat. Aber darum geht es nicht. Es steckt etwas dahinter, dass ich mir wissentlich oder besser gesagt wider besseres Wissen immer wieder den Magen verderbe. Damit verbunden ist natürlich auch mein starkes Verlangen nach Askese, nach einem Klosterleben mit Roggenbrot, klarem Wasser und Obst.

Man kann Lebenshunger haben. – Aber mit Lebensgier schießt man genau am Ziel vorbei. Nun ja, tiefsinnige Dinge kannst du ja immer noch später erzählen.

Aber ich finde es doch interessant, dass ich mich – während in mir die stärkste Poesie herumgeistert, die immer noch nicht weiß, wie sie sich äußern soll – plötzlich dazu gezwungen fühlte, einige Worte meinem Magen und dem, was dahinterstecken könnte, zu widmen. Das rührt natürlich auch von den Gesprächen mit S. in letzter Zeit über die Vor- und Nachteile der Analyse her. Und all dies wurde durch ein Gespräch mit Münsterberger[20] ausgelöst. S. wirft den Psychoanalytikern ihren Mangel an Menschenliebe vor. Ihr sachliches Interesse. «Man kann keinen gestörten Menschen ohne Liebe heilen.» Und doch könnte ich mir vorstellen, dass man sich so einem Magen rein sachlich nähern könnte. Dass eine Analyse täglich eine Stunde kostet und manchmal Jahre dauert, findet auch S. schlimm. Er ist der Meinung, dass der Mensch dadurch eigentlich für die Gesellschaft unbrauchbar wird. Ich schreibe dies jetzt natürlich sehr krass und undifferenziert auf. Ich habe jetzt keine Zeit mehr und eigentlich auch keine Lust, damit weiterzumachen. Es ist so ein schwieriges Gebiet und ich bin so ein blutiger Laie. Trotzdem lassen mich diese Dinge nicht los und ich werde meinen Weg damit schon machen. Ui, ui, ui, was ist das für eine Menge dorniger Pfade, die ich beschreiten muss. Und ich muss überall durch. Ich ganz allein bin mein Maßstab für mich selbst und muss alles selbst herausfinden und werde zu meinen eigenen Formulierungen und meinen eigenen kleinen Wahrheiten gelangen. Manchmal verfluche ich es, dass schöpferische Kräfte in mir stecken, die mich, weiß nicht wie, antreiben, aber manchmal erfüllt es mich auch mit großer Dankbarkeit und beinahe mit Ekstase. Und diese Höhepunkte der Dankbarkeit dafür, so voller Leben sein zu dürfen, und auch für die Möglichkeit, die Dinge allmählich begreifen zu können, wenn auch auf meine eigene Art und Weise, machen jedes Mal mein Leben wieder lebenswert, sie werden eigentlich jedes Mal wieder zu den Grundpfeilern meines Lebens.

Aber jetzt geht es gerade wieder schief. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass Mischa wieder in der Stadt ist. Ich weiß es wirklich nicht. Ach, lieber Gott, es gibt so viel.

Am selben Tag.

Schreckliche Abneigung gegen die Arbeit von S. Der Gedanke, dass ich meine Zeit verschwende, dass es Unsinn ist. Bewusste Argumentation dagegen: Betrachte es als einen kleinen Job, du verdienst Geld damit, auch wenn es nicht viel ist, und man kann nie wissen, wozu es noch gut sein wird, und es ist ja interessant. Wirklich große Abneigung. Ein Gefühl von: Ich will das nicht. Außerdem Magenschmerzen. Unlustgefühle. Allem mit Schrecken entgegensehen. Auch dem Russischunterricht, den ich morgen erteilen muss.

Gestern Abend genau andersherum: Höhepunkt. Psychoanalyse und Weltanschauung von Pfister[21] gelesen. Ich konnte es durchdringen, es hat mir viel gegeben und mit Dankbarkeit habe ich an S. gedacht und daran, welche Erweiterung des Horizontes ich ihm verdanke, dem Umgang mit seiner Person, aber auch dem psychologischen Arbeiten bei ihm. Echte, aufrichtige Dankbarkeit und Liebe für ihn.

Jetzt große Abneigung. Wir werden es jetzt einmal sachlich halten. Mal schauen, wann der Enthusiasmus zurückkehrt.

abends.

Andererseits: Es tut doch eigentlich nichts zur Sache, was du tust. – Ach nein, jetzt nichts mehr davon.

Samstagmorgen [22. November 1941].

Ich hoffe und ich fürchte auch, dass in meinem Leben einst eine Zeit kommen wird, in der ich ganz mit mir allein und einem Stückchen Papier bin. Dass ich dann nichts anderes mache als schreiben. Ich traue mich das noch nicht. Ich weiß nicht, warum. Als ich mit S. in diesem Konzert war am Mittwoch. Wenn ich viele Menschen beieinander sehe, möchte ich einen Roman schreiben. In der Pause hatte ich das Bedürfnis nach einem Stück Papier, um etwas aufzuschreiben. Ich wusste selbst noch nicht, was. Eigene Gedanken weiterspinnen. Stattdessen diktierte S. mir etwas über einen Patienten. An sich spannend genug. Und auch bizarr. Aber ich musste mich selbst wieder beiseiteschieben und das Rechenschaftablegen über mich selbst. Das Bedürfnis haben, stets zu schreiben, und es doch noch nicht zu wagen, sich dazu zu bekennen. Ich schiebe – glaube ich – überhaupt zu viel von mir selbst beiseite. Ich glaube manchmal, dass ich eine viel stärkere Persönlichkeit bin, aber nach außen zeige ich immer Interesse, ewige Freundlichkeit und Güte, was oft auf meine eigenen Kosten geht. Die Theorie lautet dann: Ein Mensch muss so sozial sein, dass ein anderer nicht unter seinen Stimmungen leidet. Aber dies hat nichts mit Stimmungen zu tun. Indem ich viel von mir selbst unterdrücke, werde ich in anderer Hinsicht wieder asozial, nämlich wenn ich dann tagelang für niemanden zu sprechen bin.

Irgendwo sind in mir eine Wehmut und eine Zärtlichkeit und auch ein wenig Weisheit, die dort ihre Form suchen. Manchmal spielen sich in mir ganze Dialoge ab. Bilder und Figuren. Stimmungen. Der plötzliche Durchbruch zu etwas, das meine eigene Wahrheit werden soll. Menschenliebe, für die es zu kämpfen gilt. Aber nicht in der Politik oder in einer Partei, sondern in mir selbst. Aber noch falsche Scham, es offen zu vertreten. Und dann Gott. «Das Mädchen, das nicht knien konnte und es dann doch lernte auf der rauen Kokosmatte in einem unordentlichen Badezimmer.» Aber diese Dinge sind fast noch intimer als die sexuellen. Dieser Prozess in mir, von dem Mädchen, das zu knien lernte, möchte ich in all seinen Nuancierungen schildern.

Das ist Unsinn. Ich habe natürlich sehr wohl Zeit zum Schreiben. Mehr Zeit als viele andere wahrscheinlich. Aber es liegt an dieser inneren Unsicherheit. Weshalb eigentlich? Weil du denkst, dass du geniale Dinge sagen musst? Weil du doch nicht sagen kannst, worum es wirklich geht? Aber das kommt stufenweise. Das «stehen zu sich». S. hat vermutlich immer recht. Ich habe ihn so lieb und gleichzeitig hege ich eine riesige Abneigung gegen ihn. Und diese Abneigung hängt mit tieferen Dingen zusammen, an die ich selbst nicht ganz herankomme.

Samstagabend.

Wie viel kann an einem Tag passieren! Alles, was sich in einem ganzen Leben ereignen kann, erlebe ich manchmal an einem einzigen Tag. Prof. Becker und Eleonora Duse. Russische Geschäftskorrespondenz[22] und sich in Träumen verlieren. Zuversicht und Angst. Gott und Spott und alles. Ermüdung und Fitness. Eine Übersetzungsübung mit einem Wörterbuch und das Gefühl, dass man älter wird, und der Glaube, etwas zu können, und wieder Zweifel und diese Erschöpfung am Ende des Tages und nun das breite Bett mit dem alten Freund und viel zu viele Gedanken und Bilder.

Die zwei Gulden von S. und das Gespräch mit Gera, die sagte: «Tide beschäftigt sich mit Gott wie mit ihrem Unterrock.» Und dann hatte Gott auch noch Eiweiß in ihren Urin getan, weshalb sie nicht nach Niederländisch-Indien konnte. Zweifellos hatte er dafür seine Gründe.[23] Und Kierkegaard. Und die Grenze zwischen Psychologie und Literatur. Und du Perron und Jung. Und die reinen, aufrichtigen Frauenfiguren in der russischen Literatur im Gegensatz zu den zerrissenen und chaotischen Männerfiguren. Kann man daran mit einer Anima-Konstruktion[24] herangehen? Und die Russen, die einander mit «Seele» (Душа)[25] anreden und die so viele Ausdrücke für das Wort «schlagen» haben wie keine andere Sprache dieser Welt. Und Beckers Leben, das einen Fehler aufweist. All die Leben, die einen Fehler aufweisen. Und die Psychoanalyse und was Gott damit zu tun hat.

Und nun so herrlich müde und erschöpft, nur noch etwas vor mich hinträumend, nicht mehr denken.

Noch ein Aufflackern vor dem Einschlafen.

Und doch ist es wahr, ich weiß es ganz gewiss: Ich arbeite sehr hart. Mein näheres Umfeld würde lachen, wenn es dies hören würde. Doch in mir, in meinem Gehirn ist eine riesige Werkstätte und dort wird gearbeitet und geschmiedet und geschuftet und gelitten und geschwitzt. Aber was bei dieser Arbeit herauskommen wird, weiß ich nicht. Es ist nicht nur vage Träumerei. Es möchte etwas herauskristallisiert werden. Es ist etwas an der Arbeit, und in einem Moment wie diesem akzeptiere ich das auch, ohne mich dagegen zu sträuben.

«Das Leben von mir abschütteln wie etwas Lästiges», kritzelte ich heute Vormittag auf einen Zettel. Jetzt finde ich das eine billige und verantwortungslose Äußerung. Ich weiß, dass ich es doch ausleben werden muss. Und die Werkstatt in mir darf nicht geschlossen werden, die muss ich nun einmal zur Verfügung stellen.

Ich werfe mich heute Nacht mit mehr Wonne in Morpheus’ Arme als in diejenigen von Han.

Sonntagmorgen [23. November 1941], 10 Uhr.

Interessant, dieser Zusammenhang zwischen bestimmten Stimmungen und deiner Menstruation. Gestern Abend in einer auffällig «gesteigerten» Stimmung. Und heute Nacht auf einmal, als ob meine ganze Blutzirkulation anders würde. Ein ganz anderes Lebensgefühl in dir. Du weißt nicht, was los ist, und plötzlich erkennst du: die bevorstehende Menstruation. Ich habe manchmal gedacht: Ich will sowieso keine Kinder, warum muss dieses sinnlose monatliche Schauspiel dann weiterhin stattfinden, das so viele Unannehmlichkeiten mit sich bringt? Und ich dachte in einem unüberlegten und bequemen Moment schon darüber nach, ob diese Gebärmutter nicht wegkönnte. Aber du musst dich nun einmal so akzeptieren, wie du geschaffen bist, und du kannst nicht sagen, dass es einfach nur lästig ist. Diese Wechselwirkung zwischen dem Körper und der Seele ist sehr mysteriös. Diese sehr merkwürdige und verträumte und doch auch wieder erhellende Stimmung von gestern Abend und heute Morgen rührte von jener Veränderung in meinem Körper her.

Auf diesen soeben aufgetauchten «Essenskomplex» reagierte ich heute Nacht mit einem Traum. Er war ein sehr deutliches Fragment, zumindest dachte ich das, aber wenn ich es aufschreiben will, entzieht es sich mir. Mehrere Menschen um einen Tisch herum, darunter ich, und S. am Tischende. Er sagte dann etwas in der Art von: «Warum stattest du anderen nie Besuch ab?» Ich: «Ja, es ist so schwierig mit dem Essen.» Und dann sah er mich auf einmal mit seinem berühmten Blick an, mit einem Ausdruck, für den ich ein ganzes Leben benötigen werde, um ihn zu beschreiben, ein Ausdruck, den er hat, wenn er verärgert ist, und der meines Erachtens seinem Gesicht den stärksten Ausdruck verleiht, den es haben kann. Ich las aus seinem Gesicht etwas wie: So bist du also, ist dieses Essen so wichtig für dich. Und ich hatte plötzlich so ein Gefühl von: Jetzt hat er mich durchschaut, jetzt weiß er ganz genau, wie materialistisch ich bin. Ich habe diesen Traum nicht gut wiedergegeben, er ist nicht zu fassen. Doch war bei mir plötzlich die Empfindung sehr stark: Jetzt hat er mich durchschaut, jetzt sieht er also, wie ich eigentlich bin. Und das Erschrecken darüber.

Von der «verklärten» Weite von heute Nacht hallt nun noch etwas nach. Ruhe und wieder Raum für alles. Ein wenig Verliebtheit und noch mehr Zuneigung für Han. Und keine Abneigung mehr gegen S. Auch nicht gegen die Arbeit. Ich werde trotzdem meinen eigenen Weg gehen. So ein kleiner Umweg ist nicht schlimm. Warum sich beeilen? «Ihr Leben reifte allmählich zur Erfüllung.»[26] So ein Gefühl manchmal. Wenn es nur wahr wäre. Dieser ganze weite freie Tag liegt vor mir. Ich gleite ganz langsam in diesen Tag hinein, ohne Verkrampftheit, ohne Hast. Dankbarkeit, plötzlich sehr bewusste, starke Dankbarkeit für dieses helle geräumige Zimmer mit der breiten Couch, den Schreibtisch mit den Büchern, für den stillen alten und doch auch wieder sehr jungen Mann. Und für den Freund im Hintergrund mit dem schweren, guten Mund, der keine Geheimnisse mehr vor mir hat und der manchmal doch plötzlich wieder so geheimnisvoll werden kann. Aber am meisten Dankbarkeit für die Klarheit und Ruhe und auch für das Vertrauen in mich selbst. Als ob ich in einem dichten Wald plötzlich zu einer Lichtung gelangt wäre, auf der ich mich auf meinen Rücken zum Ausruhen hinlege, um in den weiten Himmel hinaufzuschauen. Es kann in einer Stunde bereits wieder anders sein, das weiß ich. Vor allem in diesem prekären Zustand mit diesem brodelnden Unterleib.

Eine psychologische Studie über den «Dämon» von Lermontow.[27] Ein wachsendes Vertrauen/Sicherheit, dass ich diese Werke eines Tages selbstständig und auf eine nicht abgedroschene, neue Art und Weise angehen und erforschen kann.

Das Leben gibt jedem ein anderes Rätsel auf, immer je nach Art und Beschaffenheit des Menschen. Ich will das Rätsel des Lebens lösen. Aber ich muss eigentlich sagen: mein Rätsel, oder besser: das Rätsel, das mir gestellt wird.

Auf einmal fallen mir die beiden Werke von Ödön von Horváth[28] ein.

Ich glaube, das eine heißt «Menschen ohne Gott», und das zweite, das einfacher, aber doch bedeutender war, heißt, meine ich: «Es war einmal»[29] oder so. Und jetzt die russische Übersetzung.

abends.

Du stellst zu maßlose Forderungen an dieses Leben. Ich weiß doch eigentlich immer noch nicht, was ich mit dir anfangen soll.

In diesen Tagen aufpassen. Es kommen wieder solche Momente der großen Gereiztheit und Unerfülltheit. Sie spiegeln eigentlich das Verlangen in dir: alte Dinge auf eine neue, noch nie da gewesene Art und Weise zu sagen. Allem einen ganz besonderen Glanz zu verleihen. Eine eigene neue Welt zu erschaffen. Figuren zu gestalten und zu erwecken. Und auf der anderen Seite: die Erschöpfung, wenn man dies tut, da man in gewisser Hinsicht die Dinge bereits so stark durchlebt hat, dass die Vergegenwärtigung dieser Dinge zu einem grauen und alltäglichen Handwerk werden würde. Auch Faulheit und Bequemlichkeit. Und ein Gefühl von: alles schon dagewesen. Und doch auch wieder: alles auf eine eigene Art und Weise äußern.

Gestern Abend fühlte ich mich noch in dieses Leben eingebettet, wie wenn es ein vertrautes Element für mich wäre, es umspülte mich gleichsam mit lauwarmen Wellen, ich kuschelte mich an dieses Leben an und fühlte mich darin heimisch.

Du sehnst dich nach einer Art unaufhörlichem Gefühl der Behaglichkeit oder so etwas in der Art. O, dieses Bäuchlein! Sehr seltsam, ich fühle mich, wie wenn ich ganz anders zusammengesetzt wäre. Han fand das einfach nur komisch. So etwas hatte ihm noch nie eine Frau erzählt. Und alle drei Wochen eine Woche lang eine andere Zusammensetzung, das fand er doch auch bedenklich. Und nun kuschele ich mich in die Reisedecke und weiß noch nicht, ob es van Gogh, Kinkel,[30] Stekel oder Rilke sein wird, den ich mitnehme. Verwöhntes Kulturtier. Mit nackten Füßen durch die Kälte und trockenes Brot und ein Konzentrationslager. Irgendetwas in mir sehnt sich danach, Sehnsucht ist ein starkes Wort, aber es nagt etwas an mir, das mir ein Schuldgefühl gibt, dass ich noch nie mit der echten Härte dieses Lebens in Berührung gekommen bin. Und ich frage mich manchmal, ob ich das Recht habe zu sagen: Was finde ich dieses Leben doch furchtbar schwer. Und doch empfinde ich es so. Trotz der Couch mit der blauen Decke und des teuren Gasofens mit dem Ölgemälde mit dem proletarischen Mädchen darüber.[31] Es gibt noch ein anderes Leiden als das rein körperliche, aber vielleicht darf man erst sagen: Ich habe so sehr gelitten (multatuli[32]), wenn man das Leben in seiner ganzen brutalen Härte erlebt hat. Und vielleicht ist dieser Ausdruck «brutale Härte» auch nur eine romantische Bezeichnung. Aus dem Zusammentreffen der Realität mit der Empfindlichkeit des Einzelnen … aber das ist wieder zu schwierig.

Verrückt, nicht wahr, es ist doch manchmal so glasklar und deutlich umrissen in mir, aber auf dem Papier bin ich so tollpatschig. Auch das ist eine Art des Leidens, der Kampf darum, eine Form zu erobern in dem Chaos in dir, gegen das ich noch nicht angehen will. Obwohl auch darin die einzige wirkliche Befriedigung für mich liegen wird und nicht in einem Mann oder einem Kind. Das spüre ich immer stärker. Aber es ist wahrscheinlich einfach zu sagen, dass der Mann nicht das Ziel ist, wenn man mit einem Mann zusammenlebt, auch wenn er nicht das A und O in meinem Leben ist.

Was ist das für ein merkwürdiges Bedürfnis im Menschen, leiden zu wollen? Um damit seine Existenz zu rechtfertigen. Es ist keine große Kunst, das Leben zu preisen und Gott zu preisen, wenn es einem gut geht.

Doch bei mir stimmt etwas nicht. Ich will keinen Mann, ich will keine Kinder, weil ich mich niemals trauen würde, die Verantwortung für andere zu übernehmen, die Verantwortung für mich selbst kostet mich bereits alle Kräfte, und weil ich mich vor dem Leiden, vor der Traurigkeit und der Einsamkeit fürchte, die aus so einer kleinen Gemeinschaft von Menschen hervorgehen.

Ich glaube auch, dass ich extrem egozentrisch bin und niemanden neben mir ertragen kann. Und auf der anderen Seite dieses große Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Verständnis und Wärme und einem Menschen ganz für mich allein. Aber gleichzeitig nicht daran glauben, dass das möglich ist. Und es auch zu beengend finden. Aber warum darüber Spekulationen anstellen? Das findet sich alles von selbst in diesem Leben. Und doch ist es auch etwas Seltsames. Traum und Wirklichkeit. Das ewige Thema. Die Glaskugel des Traumes, die bei einem Zusammentreffen mit der Realität zerbricht. Bei aller Kraft, die ich manchmal in mir spüre, gibt es da doch auch eine enorme Zerbrechlichkeit, die sich vor der geringsten Berührung fürchtet.

Ich werde mich, wenn ich jemals «schreiben» möchte, den kleinen alltäglichen, konkreten Dingen zuwenden müssen, den einzelnen Gesten. Ich spreche immer über «das Leben», das «Leiden», «den» Menschen. Das starke, allumfassende Gefühl. Die kleinen Dinge, die plötzlich erhaschten Gesten, mit Liebe und Geduld wahrgenommen und untersucht und ausgedrückt – usw. Das meine ich mit zu maßlos.

Montagmorgen [24. November 1941].

Das wäre ein Beispiel für Heldenhaftigkeit auf den nüchternen Magen: das zurückgewiesene Brot mit Käse. Aber im psychologischen Moment war dieses Brot abwesend. Schade. Diese Geste, die überlegen und voller Heiterkeit gewesen wäre, mit der ich gesagt hätte: Nein, danke schön, ich habe schon ein Brot gehabt und habe nun keinen Hunger mehr. Das wäre eine Ruhmestat gewesen! Vielleicht kannst du auch in diesem Bereich mit ein wenig Selbsterziehung beginnen: nicht alles im Leben haben wollen. Nicht gierig sein. Nicht Angst haben, dass dir irgendetwas entgeht. Ein Versuch, zu Harmonie zu gelangen. Einerseits: das Verlangen nach Hunger, Kälte und Einsamkeit. Wahrscheinlich aus Schuldgefühlen heraus. Andererseits: es nicht ausstehen können, wenn der Ofen nicht recht funktioniert.

Du darfst auch Gott nicht als ein Mittel gebrauchen, um dich selbst zu besänftigen, um dich selbst zu beruhigen.

«Ruhen in sich». Jawohl! Aber auf Disteln lässt es sich nicht gut «ruhen».

Montagvormittag, halb 12.

Und nun denke ich nicht einmal daran! Das ist ständige Selbstvergewaltigung. Ich betreibe keine Chirologie mehr, und damit basta. Ich kann so etwas nicht. Dass ich etwas von der Technik verstehe, ist deshalb sinnvoll, weil ich dann seinen Ausführungen etwas besser folgen kann.

Gerade diese kindliche niederländisch-indische Hausangestellte aus Berlin[33] angerufen, dass ich keine Zeit mehr habe. Irrsinnig tapfer von mir! Ein Mensch kann sich doch nicht zu sehr vom Kurs abbringen lassen. Auch nicht, um 15 Gulden dazuzuverdienen. Am besten beschränke ich mich doch auf einen einzigen Bereich. Ich möchte gern seine Sekretärin sein und die psychologische Richtung interessiert mich. Aber ansonsten ist es aus. Und nun: Karl Nötzel: Das heutige Rußland.[34]

Genauso gut, weil ich auf einmal wusste: Geschäftskorrespondenz ist auch nicht mein Ding.

Chirologie ist auch nicht mein Ding. Psychologie schon, aber dann rein theoretisch und als Instrument, um mich besser der Literatur nähern zu können. Schade, diese Frau hatte auf einmal so ein betrübtes Stimmchen am Telefon. Na ja. Wenn es nicht anders geht, will ich später doch meinen Lebensunterhalt als Tellerwäscherin verdienen, oder sagen wir mit Dingen, hinter denen meine Person nicht stehen können muss, und dann behalte ich einfach ein Studienfach für mich selbst bei.

Das ist wirklich eine Erleichterung und es ist keine Faulheit. Aber es wurde mir zu blöd. Gespannt, wie ich dies S. mitteilen werde.[35]

nachmittags halb 6.

Weißt du, Gott: Ich werde mein Bestes geben. Ich werde mich diesem Leben nicht entziehen. Ich werde mich weiterhin beteiligen und versuchen, alle Begabungen, die ich habe, wenn ich sie habe, zu entfalten. Ich werde nicht Sabotage treiben. Aber gib mir ab und zu ein Zeichen. Und lass ein wenig Musik aus mir herausströmen, lass das, was in mir steckt, eine Form finden, es verlangt so sehr danach.

Plötzlich in einer sehr merkwürdigen Stimmung.

Dienstagmorgen [25. November 1941], halb 10.

Es geschieht etwas mit mir, und ich weiß nicht, ob das einfach so eine vorübergehende Stimmung ist oder etwas Grundlegenderes. Es ist, als wäre ich mit einem Ruck auf meine eigene Basis zurückgekehrt. Ein kleines bisschen selbstständiger und unabhängiger.

Gestern Abend auf dem Fahrrad durch die kalte dunkle Lairessestraat, ich wünschte, ich könnte das wiederholen, was ich dann laut murmelte: Gott, nimm mich an deine Hand, ich werde brav mitgehen, ohne großen Widerspruch. Ich werde mich nichts von alledem, was in diesem Leben auf mich zustürmt, entziehen, ich werde es nach besten Kräften verarbeiten. Aber gib mir ab und zu einen kurzen Augenblick der Ruhe. Ich werde in meiner Naivität auch nicht mehr denken, dass diese Ruhe, wenn ich sie habe, ewig sein wird, ich werde auch die Unruhe und die Auseinandersetzung, die dann wieder kommen werden, akzeptieren. Ich bin gerne in der Wärme und in Sicherheit, aber werde auch nicht aufständisch werden, wenn ich in die Kälte gehen muss, vorausgesetzt, ich kann dies an deiner Hand tun. Ich werde an deiner Hand überallhin mitgehen und ich werde versuchen, keine Angst zu haben. Ich werde versuchen, etwas von der Liebe, von der echten Menschenliebe, die in mir steckt, auszustrahlen, wo immer ich auch bin. Aber auch mit diesem Wort «Menschenliebe» musst du nicht prahlen. Du weißt nicht, ob du sie tatsächlich besitzt. Ich möchte nichts Besonderes sein, ich will nur versuchen, diejenige zu sein, die in mir noch nach voller Entfaltung sucht. Ich denke gelegentlich, dass ich mich nach der Abgeschiedenheit eines Klosters sehne. Aber ich werde doch unter den Menschen und in dieser Welt danach suchen müssen. Und das werde ich auch tun, trotz des Widerwillens und der Müdigkeit manchmal. Aber ich verspreche, dass ich dieses Leben ausleben und weitermachen werde. Manchmal denke ich, dass mein Leben gerade erst beginnt. Dass die Schwierigkeiten noch kommen müssen, auch wenn ich manchmal glaube, dass ich mich schon durch eine ganze Menge durchgekämpft habe. Ich werde studieren und versuchen, alles zu ergründen, aber ich denke, dass ich es tun muss, ich werde mich verwirren lassen von allem, was auf mich zukommt und was mich scheinbar von meinem Weg zu meiner eigenen kleinen Wahrheit abbringt, aber ich werde mich immer wieder verwirren lassen, um vielleicht zu immer größerer Sicherheit zu gelangen. Bis ich mich nicht mehr verwirren lassen kann und ein sehr großes Gleichgewicht entstanden ist, in dem jedoch immer noch alle Erschütterungen möglich sein werden.

Ich weiß nicht, ob ich eine gute Freundin für andere sein kann. Und wenn ich das aufgrund meiner Art nicht sein kann, muss ich dieser Tatsache auch ins Auge blicken. Du darfst dir auf alle Fälle niemals etwas vormachen. Und du musst in der Lage sein, Maß zu halten. Und du kannst nur dir selbst ein Maßstab sein.

Es ist, als ob ich jeden Tag aufs Neue in einen großen Schmelztiegel geworfen werde, und ich kann doch immer wieder hinausklettern.

Es gibt manchmal Momente, in denen ich denke: Mein Leben ist völlig falsch, es steckt ein Fehler drin, aber das ist nur so, wenn man sich eine bestimmte Art von Leben vorstellt und das Leben, das man wirklich führt, damit vergleicht, dann scheint es manchmal falsch zu sein.

Es ist, als ob ich auf einmal anders zu S. stehen würde. Wie wenn ich mich mit einem Ruck von ihm losgerissen hätte, auch wenn ich mir doch eingebildet habe, dass ich mich bereits von ihm gelöst habe. Wie wenn auf einmal in mein Innerstes durchgedrungen wäre, dass mein Leben gänzlich losgelöst von seinem sein wird. Ich erinnere mich noch, als vor einigen Wochen die Rede davon war, dass alle Juden in ein Konzentrationslager in Polen gehen müssten,[36] und er damals sagte: «Dann werden wir heiraten, dann können wir zusammenbleiben und wenigstens noch etwas Gutes tun.» Und obwohl ich genau begriff, wie diese Worte zu verstehen waren, erfüllten sie mich doch noch einige Tage mit einer Freude und einer Wärme und einem Gefühl der Verbundenheit mit ihm. Aber dieses Gefühl ist jetzt weg. Ich weiß nicht, was das ist, so ein Gefühl, als ob ich mich auf einmal gänzlich von ihm losgerissen hätte und meinen eigenen Weg weitergehe. Wahrscheinlich hatte ich doch noch vielerlei Kräfte auf ihn verwendet. Gestern Abend auf diesem kalten Fahrrad überblickte ich auf einmal in einer plötzlichen Rückschau, mit welcher enormen Intensität, mit welchem Einsatz meiner ganzen Person ich diesen Mann und seine Arbeit und sein Leben in einem halben Jahr in mir aufgenommen und verarbeitet habe. Und nun ist das geschehen: Er ist zu einem Bestandteil von mir geworden. Und mit diesem neuen Bestandteil in mir gehe ich wieder weiter, aber allein. Äußerlich ändert sich natürlich nichts. Ich bleibe seine Sekretärin und bleibe an seiner Arbeit interessiert, aber innerlich bin ich doch freier.

Oder ist dies alles nur eine momentane Stimmung? Es rührte – glaube ich – daher, dass ich diese für mich sehr selbstständige Tat vollbrachte, ohne sein Wissen und auf eigene Faust das Telefon zu nehmen, dieser Frau telefonisch abzusagen und zu sagen: «Ich werde es nicht tun, das ist nichts für mich.» Wenn plötzlich in dir etwas drinsteckt, das stärker als du selbst ist und das dich «Handlungen» (ach Gott!) verrichten und Maßnahmen treffen lässt, die du tun musst, zu denen du dich berufen fühlst, dann fühlst du dich auf einmal auch stärker. Und auch, wenn du plötzlich mit großer Sicherheit sagen kannst: Das ist nichts für mich.

Das Verhältnis der Literatur zum Leben.[37] In diesem Bereich meinen eigenen Weg finden.

Reaktion von S. am Telefon:

«Sie, heimtückisches Luder», usw.

Wir müssen über «die Angelegenheit» sprechen. Ich hoffe, dass ich mit meinen Worten genauso mutig bin wie in «Gedanken». Es wird nicht allzu einfach sein. Ich muss wieder einen Teil von mir selbst von ihm zurückerobern. Einen beträchtlichen Teil sogar.

Mittwochabend [26. November 1941].

Und so machst du dann weiter. Eine Liebesnacht, eine gute Atmosphäre und eine schlechte Atmosphäre und viel Traurigkeit und auch ein wenig Mut und Unlustgefühle in dir selbst, wobei die Gefahr so groß ist, dass du diese auf Menschen überträgst, die dir sonst lieb sind, und dadurch dann wieder dieses Gefühl, kein Vertrauen in dich selbst haben zu können, keinen Halt in deinen eigenen Gefühlen zu finden.

Und ich werde später dennoch prima darüber schreiben, was jetzt in mir verworren heranreift. Es wird vielleicht doch ein Fluss werden, der sich seinen Weg bahnt und der zu lange an seinem Lauf gehindert wurde.

Freitagmorgen [28. November 1941], Viertel vor 9.

Ich hatte gestern Abend das Gefühl, ich müsste ihn um Verzeihung bitten für all die scheußlichen und rebellischen Gedanken, die ich in den letzten Tagen gegen ihn gehegt habe. Ich weiß allmählich, dass, wenn es Tage gibt, an denen man seine Nächsten verabscheut, dies auf Abscheu vor sich selbst zurückzuführen ist. «Liebe deine Nächsten wie dich selber.»[38] Ich weiß auch, dass es immer an mir liegt und niemals an ihm. Wir haben nun einmal beide einen sehr unterschiedlichen Lebensrhythmus und man muss sich gegenseitig die Freiheit lassen, so zu sein, wie man ist. Wenn man einen anderen nach seiner Vorstellung formen will, läuft man immer wieder gegen eine Mauer und wird immer wieder enttäuscht, nicht vom anderen, sondern von den Erwartungen, die man an den anderen heranträgt. Das ist dumm und eigentlich sehr undemokratisch, aber es ist menschlich. Vielleicht führt der Weg zur wahren Freiheit über die Psychologie, man kann sich nie genug darauf besinnen, dass man sich innerlich von dem anderen frei machen muss, aber auch dem anderen Freiheit gewährt, indem man sich nicht bestimmte Vorstellungen von ihm in der Fantasie macht. Es bleiben noch genügend große Bereiche für die Fantasie übrig, auch wenn man ihr in Bezug auf die Personen, die man liebt, nicht freien Lauf lässt.

Gestern Nachmittag radelte ich zu ihm mit einem Gefühl von: Ich habe keine Lust, ich sage kein Wort zu viel, ich fühle mich wie gelähmt. Plötzlich überkam mich an der Ecke Apollolaan und Michelangelostraat[39] das dringende Bedürfnis, etwas auf meinen Notizblock zu schreiben. Und da stand ich in der Kälte und schrieb. Darüber, dass in der Literatur so viele Leichen vorkommen und wie seltsam das ist. So viele leichtsinnige Tote übrigens. Na ja, es war nur Unsinn, wie so oft, wenn man denkt, dass weiß Gott was für großartige Gedanken im Gehirn entstanden sind, und dann ein wenig unzusammenhängendes Gestammel auf ein paar blauen Linien entsteht, an der Ecke zweier Straßen in der Kälte. Ich trat bei S. ein, in das kleine vertraute Zimmer, für das er beinahe zu riesig ist. Gera war dort, wir tuschelten so ein bisschen an seinem schwerhörigen Ohr vorbei und es kam wieder dieses Gefühl der Behaglichkeit in mir auf. Ich begann dann damit, obwohl ich mich ja «wie gelähmt» fühlte, meine Jacke, meinen Hut, die Handschuhe, die Tasche, den Notizblock, alles kreuz und quer durch das Zimmer zu werfen, zum entsetzten Vergnügen von S. und Gera, die fragten, was jetzt schon wieder los sei. Woraufhin ich sagte: «Ich habe keine Lust, ich sabotiere», und es ist ein Wunder, dass die Blumentöpfe nicht in Scherben vom Fensterbrett geflogen sind. Mein Ausbruch tat Gera sichtlich gut. Weil ich auf eine Art und Weise explodierte, wie sie sie vielleicht öfters ersehnte, es sich ihm gegenüber aber nicht traute. «Gut so», sagte sie, und in meiner aufständischen Raserei brachte ich vielleicht auch für sie ein Aufbegehren zum Ausdruck, das sie vermutlich auch manchmal gegen ihn spürt, wie man es wahrscheinlich immer von Zeit zu Zeit gegen viel stärkere Persönlichkeiten spürt.

Ein Mensch sollte niemals vorausdenken, nicht einmal 5 Minuten voraus: Und jetzt werde ich gleich so und so sein und das und das sagen. Ich hatte mir alles Mögliche vorgenommen, was ich ihm sagen würde. «Grundsätzliche Dinge.» Und abrechnen mit der Chirologie. Usw. Sehr heftig und so gewichtig. Und direkt bevor ich zu ihm ging, war meine Stimmung so, dass ich überhaupt nichts sagen wollte.

Und sobald Gera weg war, geriet ich auf einmal in ein kurzes Blitzgefecht mit ihm, schmiss ihn nach einem kurzen Kampf auf die Couch, ermordete ihn dort beinahe, und dann mussten wir eigentlich hart arbeiten. Aber stattdessen saß er plötzlich in dem großen, von Adri so schön überzogenen Lehnstuhl in der Ecke, und ich lag wieder auf die gewohnte Art und Weise um seine Füße geschlungen und wir waren plötzlich in eine leidenschaftliche Diskussion über die Judenfrage verwickelt. Und bei seinen wortreichen Ausführungen war es mir wieder einmal, als ob ich aus einer kraftspendenden Quelle trinken würde. Und ich sah auf einmal wieder deutlich sein Leben, wie es sich von Tag zu Tag fruchtbar weiterentwickelt, vor mir ablaufen, jetzt aber nicht durch meine eigene Gereiztheit entstellt.

Es passiert mir in letzter Zeit ab und zu, dass ein einzelner Satz aus der Bibel vor mir in einer deutlichen, neuen, inhaltsreichen und auf Erfahrung beruhenden Bedeutung aufleuchtet. Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild[40] – Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Usw.

Das Verhältnis zu meinem Vater werde ich nun endlich auch einmal mit Kraft und Liebe in Angriff nehmen müssen.

Mischa kündigte mir Vaters Ankunft für Samstagabend an. Erste Reaktion: fürchterlich. In meiner Freiheit bedroht. Lästig. Was soll ich mit ihm anfangen? Anstelle von: Wie schön, dass dieser gute Mann ein paar Tage weg von seiner gereizten Ehefrau und seinem langweiligen Provinzstädtchen ist. Wie kann ich versuchen, es ihm, mit meinen geringen Kräften und Mitteln, möglichst angenehm zu machen? Ich Strolch und Widerling und träges Biest. So, das hat gesessen. Immer zuerst an dich selbst denken. An deine kostbare Zeit. Die du doch nur brauchst, um noch etwas mehr Bücherweisheit in deinen schon so verwirrten Kopf einzupauken. «Und was nützt mir alles, wenn ich die Liebe nicht habe?»[41] Ein Schatz an Theorien, um dir selbst ein wohliges und edles Gefühl zu geben, aber vor der kleinsten Liebestat in der Praxis scheust du dich dann. Nein, das ist keine kleine Liebestat. Es ist etwas sehr Grundsätzliches und Wichtiges und Schwieriges. Innerlich seine Eltern zu lieben. Das heißt, all die Schwierigkeiten, die sie dir – allein schon durch ihre Existenz – bereitet haben, zu verzeihen: die Bindung, die Abneigung, die Belastung deines eigenen, bereits schon so schweren Lebens durch ihr eigenes kompliziertes Leben. Ich glaube, dass ich gerade die schwachsinnigsten Dinge aufschreibe. Na ja, das ist nicht schlimm. Und nun muss ich mal das Bett von Pa Han beziehen und den Unterricht für die Schülerin Levie vorbereiten usw. Aber dies steht auf jeden Fall auf dem Programm für dieses Wochenende: meinen Vater wirklich innerlich zu lieben und ihm zu vergeben, dass er kommt und mich aus meiner trägen Ruhe aufscheucht. Ich liebe ihn letzten Endes sehr, aber dies ist eine – oder besser gesagt war eine – komplizierte Liebe: übertrieben, verkrampft und dermaßen mit Mitleid vermischt, dass es mir beinahe das Herz gebrochen hat. Aber ein Mitleid, das masochistisch wurde. Eine Liebe, die zu exzessivem Mitleid und Verdruss führte, aber nicht zu einer einfachen Liebestat. Zwar schon zu viel Herzlichkeit und dazu, dass ich mich ins Zeug legte, aber so heftig, dass mich jeder Tag, an dem er hier war, ein Röhrchen Aspirintabletten kostete. Aber das ist alles schon lange her. In letzter Zeit war es schon viel normaler. Aber doch noch immer ein Gefühl des Gehetztseins. Und damit hing sicherlich auch das Gefühl zusammen, dass ich es ihm doch eigentlich übel nahm, wenn er hierherkam. Und das muss ich ihm nun innerlich vergeben. Und denken und auch wirklich meinen: Wie schön, dass er mal kurz weg ist. So, das war ein schönes Morgengebet.

Samstagmorgen [29. November 1941].

Gestern Abend: Diskussion zwischen S. und Dr. L. Ergebnis: S. ging mit «Kastein» unter dem Arm nach Hause, L. wird sich in das Neue Testament vertiefen und am Ende waren mehr Kekse in der Schale als zu Beginn.[42]

Ging das nicht so? «Was hilft mir alles Wissen, wenn ich die Liebe nicht habe?»

Aber kann man überhaupt beide haben? Schließt das eine das andere denn nicht aus?

Die Mühlsteine des Gehirns werden wieder lange zu mahlen haben an diesem Abend.

Eigentlich bin ich noch eine ziemliche Analphabetin.

Da sitze ich nun vor dem leicht flackernden Gasofen, um halb 10 Uhr morgens. Das graue Tageslicht, das durch die gardinenlosen großen Fenster hereinkommt, vermischt sich mit dem treibhauspflanzenartigen Licht, das aus dem Schirm der schmalen Stehlampe kommt. Ach, wie besonders toll und schön gesagt! Die Chrysanthemen des charmanten Ehepaars L. beginnen endlich damit, Anzeichen von Lebensmüdigkeit zu zeigen.

Die Psalmen, Vincent van Gogh und Botticelli[43] – und meine kalten Füße. Und «Psychoanalyse und Weltanschauung».[44] Und Pa Han, der in dem kalten Wintergarten mit seiner unendlichen Geduld mit seinen Pflanzen beschäftigt ist. Ich sitze hier auf der chinesischen Binsenmatte und starre mit weit offenen, munteren Augen in den nicht sehr lebhaften Ofen. – Und jetzt zum Donnerwetter an die Arbeit.

Sonntagmorgen [30. November 1941], halb 11.

Den Mut zu sich selbst haben. Ein großer Ausspruch, jedes Mal wieder auf Kleinigkeiten angewandt. Das beinhaltet nun z.B., dass ich eine Stunde lang mich selbst zwingen muss, ein paar Dinge über gestern aufzuschreiben. Hatte ich heute Morgen im Bett auch vor. Bin eine halbe Stunde früher in den kalten Sonntagmorgen gestartet, anstatt mich weiter unter den warmen Decken zu wärmen. Aber dann war ich doch nicht so diszipliniert, denn während meines Zigeunerfrühstücks kam mir ein Artikel von einem modernen jungen Autor in die Hände: zynisch, kühl, ziemlich geistreich, dennoch voller dichterischer Akzente und, wie es mir schien, hervorragend geschrieben. Und dann wollte ich auf einmal nichts mehr aufschreiben. Wenn ich etwas Gutes lese von anderen, etwas, das überzeugend klingt, das aber komplett anders ist als die Stimmung, in der ich mich selbst gerade befinde und die ich gerne beschreiben würde, dann werde ich gelähmt, was das Schreiben betrifft. Dann fühle ich mich wie eine weggeblasene Fliege, die kein Anrecht auf Existenz hat. Wohingegen in anderen Momenten Stimmungen, Gedanken und ein bestimmtes Lebensgefühl so stark und übermächtig in mir sein können, dass ich finde, dass alles andere kein Anrecht auf Existenz hat. Etwas von diesem Egozentrischen ist notwendig, um wirklich zum Schöpferischen zu gelangen, aber die Kehrseite der Medaille ist, sich gänzlich als Nichts und etwas sehr Lächerliches zu fühlen. – Und das ist dann: nicht den Mut zu sich selbst haben.

In mir ist doch noch nicht genug Raum, um den vielen Gegensätzlichkeiten in mir selbst und in diesem Leben einen Platz einzuräumen. In dem Moment, in dem ich das eine akzeptiere, werde ich dem anderen wieder untreu.

Freitagabend Diskussion zwischen S. und L. – Christus und die Juden. Zwei Lebensanschauungen, beide scharf umrissen, glänzend dokumentiert, abgerundet, mit Leidenschaft und Aggressivität verteidigt. Doch bei mir immer wieder das Gefühl, dass in jeder bewusst verteidigten Lebensanschauung Betrug steckt. Dass stets mehr auf Kosten «der Wahrheit» geschändet wird. Und doch muss und will ich selbst auch danach streben, nach einem Stück eigener Umzäunung; ein zuerst blutig erobertes, später leidenschaftlich verteidigtes Gebiet. Und dann doch wieder das Gefühl, dem Leben nicht gerecht zu werden. Aber Angst, sonst in der Vagheit und der Unbestimmtheit und dem Chaos zu versinken.

Wie auch immer, nach dieser Diskussion ging ich mit einem beschwingten, sehr angeregten Gefühl nach Hause. Aber immer wieder bei mir eine Reaktion in der Art von: Ist es nicht eigentlich alles Unsinn? Warum machen sich die Menschen immer so lächerlich viele Gedanken? Machen sie sich nicht etwas vor? Das bleibt doch immer im Hintergrund.

Dann kam mein Vater. Mit so viel Liebe, einstudierter Liebe, erwartet. Am Tag zuvor, nach diesem energischen Morgengebet, habe ich mich befreit und glücklich und leicht gefühlt. Aber als er dann auf mich zukam, mein kleiner Papa, mit seinem vertauschten Regenschirm und seiner neuen karierten Krawatte und vielen Butterbrotpäckchen, scheinbar hilflos, da tauchte wieder diese Befangenheit auf, das Schwinden der Kräfte, ich fühlte mich befangen und todunglücklich. Noch unter dem Einfluss der Diskussion des Vorabends, stand ich ihm ablehnend gegenüber. Und die Liebe half nicht. Die war übrigens weg. Vollkommen gelähmt, sehr seltsam. Wieder Chaos und Verwirrung in mir. Und ein paar Stunden der Krise und des «Rückfalls» wie in den schlimmsten Zeiten. Ich konnte daran ermessen, wie schlimm manche Zeiten früher gewesen sind. Mittags in mein Bett gekrochen. Ich empfand das Leben aller Menschen wieder als eine große Leidensgeschichte usw. Ein zu weites Feld, um darüber zu schreiben.

Da ist mir ein Zusammenhang klar geworden. Mein Vater, der im höheren Alter all seine Unsicherheiten, Zweifel, wahrscheinlich auch einen ausgeprägten körperlichen Minderwertigkeitskomplex, Schwierigkeiten in seiner Ehe, die er nicht lösen konnte, usw. usw. mit einem philosophischen Verhalten überspielt hat, das völlig echt, liebenswürdig und voller Humor und sehr scharfsinnig ist, aber bei allem Scharfsinn doch sehr vage. Mit seiner Philosophie, die alles beschönigt, die nur das Anekdotische sieht, ohne tiefer auf die Dinge einzugehen, obwohl er weiß, dass Tiefen existieren, vielleicht gerade, weil er das weiß, weiß, wie unermesslich tief die Dinge liegen, hat er es darum schon vorher aufgegeben, Klarheit zu erlangen. Unter der Oberfläche seiner resignierten Lebensphilosophie, die besagt: «Ach ja, und wer kann das wissen?», klafft doch das Chaos. Und es ist dasselbe Chaos, das auch mich bedroht, aus dem ich herausfinden muss. Ich muss meine Lebensaufgabe darin sehen, aus dem Chaos herauszukommen, und falle doch immer wieder ins Chaos zurück.

Und überhaupt die kleinste Äußerung meines Vaters, die Äußerungen der Resignation, des Humors, des Zweifels appellieren an etwas in mir, das ich mit ihm gemein habe, aber aus dem heraus ich mich weiterentwickeln muss. Also diese scharf umrissene Diskussion gestern Abend; hinter all meinen Reaktionen steht natürlich immer dies: «Ist es nicht alles Unsinn?» Und dieser kaum hörbare Klang im Hintergrund wurde plötzlich durch den Einbruch meines Vaters in meine Welt verstärkt. Und daher natürlich auch wieder dieser Widerstand gegen Vater, dieses Gelähmt- und Kraftloswerden. Es hat also eigentlich nichts mit meinem Vater zu tun. Das heißt nicht mit seiner Person, mit seiner äußerst teuren, rührenden, liebenswürdigen Person, sondern es ist ein Prozess in mir selbst. Das Verhältnis der Generationen. Wegen ihres Chaos, weil sie nicht gegenüber den Dingen Stellung bezogen haben, muss ich mich jetzt selbst formen, indem ich eben doch Stellung beziehe, indem ich mich mit den Dingen «auseinandersetze», obwohl ich doch immer wieder überfallen werde von der Frage: «Ist das nicht alles Unsinn?» Ach ja, Kinderchen, so ist das Leben nun einmal. Usw. usw.

Als mir der Zusammenhang klar wurde, kehrten meine Kräfte wieder zurück und auch die Liebe kam wieder zurück und diese paar Stunden des Grauens waren wieder überwunden.

Es kam auch noch Folgendes hinzu: «O Herr, ich habe gesagt, dass ich das Leiden, das da kommt, auf mich nehmen werde.» Aber es scheint mir doch, dass ich selbst dieses Leiden aussuchen möchte, so im Sinne von: Ja, dieses Leiden akzeptiere ich zwar, aber jenes nicht. Die Schwierigkeiten und dieses wirkliche Leiden, das da manchmal aufgrund des Verhältnisses zu meinen «Vorfahren» ist, oder um es gewichtiger zu formulieren, zum Chaos meiner «Erbmasse», gehören da sicherlich auch dazu? Und das ist etwas, das ich nicht akzeptiere, ich lehne mich dagegen auf. Es waren wieder ein paar Stunden, in denen ich das Leben verabscheute und keinen Ausweg mehr sah und mein Leben als einen Leidensweg ohne Ende vor mir sah.

Aber ich werde allem, was kommt, ins Auge blicken – usw. usw. In dem Moment, in dem mir so etwas durch den Kopf geht, erscheint es eindrücklich und gewaltig und ich finde dichterische Worte, von denen ich spüre, dass sie gut sind, aber in dem Moment, in dem ich sie niederschreiben will, sind sie verschwunden.

Es ist noch nicht vorbei. Meinen Vater also wieder in Liebe und Gnade akzeptiert. Dadurch Rückkehr der Kräfte. Wieder offen sein für alles und sich wieder mit Leben füllen. Abends Mischa. Ich habe dem zuerst mit Schrecken entgegengesehen. Weiß gewissermaßen zu viel, was dahintersteckt, hinter dieser Maske,[45] wenn er am Klavier sitzt, und kann dann seine Musik nicht mehr genießen. War jetzt anders. Wirklich tief berührt von seinem Spiel und habe mich auch gefragt, ob ich wirklich eine richtige Vorstellung von seiner Persönlichkeit habe, ob ich ihn auch nicht zu einseitig aus dem Blickwinkel eines verkrampften Familienkomplexes sehe und ihm dadurch Unrecht mit meiner Beurteilung tue. Ich werde nun wieder über die Liebe schreiben müssen, eine wirklich höhere Art der Liebe, die dann in mir ist, auch im Streben danach, meinen Mitmenschen gegenüber so gerecht wie möglich zu sein, wenn ich sie beurteile, aber es wird langweilig, dieses Wort «Liebe». Finde ich dann plötzlich. Aber auch das ist wieder: nicht den Mut zu sich selbst haben. Zu den tieferen Urgefühlen in sich selbst. Es sentimental finden. Fürchten, dass andere es sentimental finden. Und es ist nicht sentimental, es sind die 2 großen Grundgefühle in mir: Liebe, eine unerklärliche, vielleicht nicht näher analysierbare (weil es ein Urgefühl ist) Liebe für die Lebewesen und zu Gott, was ich dann Gott nenne, und Mitgefühl, ein grenzenloses Mitgefühl, aufgrund dessen ich manchmal plötzlich in Tränen ausbreche.

Jawohl, Liebe und Mitgefühl. Geh sehr sparsam mit diesen Begriffen um. Zumindest in der Theorie und im Sprachgebrauch. Leben darfst du so, wie du das möchtest. Dahingegen: Spott, scharfer Verstand, analytischer Geist, Zynismus, Zweifel, Unsicherheit.

Am Ende des Konzerts, als Mischa fertig war mit seinem Spiel auf dem rot lackierten Flügel, saßen wir noch eine Weile in einer Ecke, Jan Polak[46] mit seiner straßenköterblonden Germanin, Vater und ich. Und da war Vater in Höchstform. Humor und Ironie, gepaart mit Gutmütigkeit. Jede Bemerkung saß. Nicht schwerfällig. Anekdotisch. Feinfühlig, diszipliniert. Und vor allem aber: nicht schwerfällig. Und dann auf einmal wieder die innere Ablehnung von S. und seinem Kreis. Sie scheinen viel zu gewichtig und nachdrücklich mit ihrer «Liebe» und Gott usw. usw. Es handelt sich sicherlich um Ambivalenz. Himmel noch mal, warum ist nicht Platz für alles in mir? Es ist doch auch all dies in mir: der schwere Ernst des Lebens und der «Witz» und die kreative Erfindungsgabe. Das wirklich tiefgründige Gefühl in dir wird doch kein falsches Gefühl sein? Und das Schwere und das Leichte, es muss doch alles akzeptiert werden, und zwar als verschiedene Seiten meines Lebens. Und weshalb einen Teil von dir verleugnen, sobald ein anderer Teil von dir stärker zur Geltung kommt? Das ist doch: nicht den Mut zu sich selbst haben. Ich befinde mich wahrscheinlich am Rande einer gewissen inneren Zerrissenheit, kann man das auch Ambivalenz nennen? Aber das wird auch meine Aufgabe sein – na ja, jetzt aber genug davon.

«Ach Gott!», diese Devise meines Vaters ist eigentlich der Dämpfer meiner ganzen Jugend gewesen, aber natürlich nur deshalb, weil in mir auch ein Stück weit «Ach Gott»-Lebensanschauung steckt, die doch wirklich überwunden werden muss.

Montagnachmittag [1. Dezember 1941].

Allmählich in einer angenehmen Schläfrigkeit wegen dieser 12 Aspirintabletten. Wenn ich etwas tue, dann mache ich es auch richtig. Also doch Aspirin. Aber nicht nur wegen meiner Vorfahren. Ich bin doch eigentlich schwer beschäftigt gewesen in diesen paar Tagen.

Gestern Nachmittag S. Das Gefühl, als ob wir uns näherstehen als je zuvor. – «Sagen Sie mal etwas Nettes.» Usw. Diskutiert und geliebt. «Ich habe Sie in meinem Tagebuch um Verzeihung gebeten.»[47] – «Aber wissen Sie denn immer noch nicht, daß wenn Sie diese Opposition fühlen, diese nicht mir gilt.» – «Ja, ich weiß.» Ein Mensch, der sich selbst als eigenständige Persönlichkeit empfindet, wird niemals gerne zugeben, dass ein anderer großen Einfluss auf seine Entwicklung gehabt hat. Er prägt und formt mich. So schlecht ausgedrückt. Aber weil ich immer wieder in sehr engen Kontakt mit ihm trete, geschieht etwas mit mir. Ich gewinne an Tiefe und Reichtum. Er ist immer da, er ist der Fels, der nicht von der Stelle weicht, und meine Stimmungen umspülen ihn. Ich lächerlicher Idiot, ich wollte überhaupt nicht über dich schreiben. Gestern Abend warst du einzigartig. Du warst jungenhaft und auf eine gewisse Art ausgelassen, was mich aber nicht störte. Mich störte es vielleicht deshalb nicht, weil ich erkannte, dass ich teils zu dieser ausgelassenen Fröhlichkeit beigetragen hatte: Ich sah das Liebesspiel dieses Mittags durchschimmern.

Jesssesss, warum kann ich nicht schreiben? Doch, später, «wenn ich groß» bin, werde ich schon schreiben können.

O ja, diesen Traum von heute Nacht wollte ich aufschreiben.

Jaap saß bei S. wegen seiner Hände. S. betrachtete zuerst die Rückseite der Hand und Jaap lachte ihm frech ins Gesicht bei allem, was er sagte, mit einer Menge blitzender Zähne und einem eisigen Gesicht. Er lachte diabolisch. Und dann betrachtete S. seine Handinnenfläche, fummelte ein wenig darin herum und rief plötzlich in allen Tonarten der Entzückung: «Aber Sie haben ja eine Menschheitsliebelinie», und da, wo er auf diese Linie zeigte, war eine tiefe Furche in der Hand. Es war auf einmal, so fühlte ich es, wie wenn diese Furche in meiner Hand wäre. Ich saß daneben und sagte: «Ja, er hàt auch Menschenliebe.» Worauf S. noch etwas sagte in der Art von: «Ja, ich wusste schon, dass es mit dieser Hand noch etwas Außergewöhnliches auf sich hat.» Oder so etwas in der Art. Und dann: «Wenn du nur nicht die ganze Aufmerksamkeit der Außenwelt, den vielen Menschen widmen würdest, sondern mehr dem Innern.»

Menschheitsliebelinie.[48]

In jeden -ismus schleicht sich zwangsläufig ein Element des Betrugs, denn:

Nichts ist wahr, und nicht einmal das.[49]

Das war kürzlich eine falsche Aussage: «Ich bin eine Analphabetin.»[50] Das kommt daher, dass ich noch immer zu viel Respekt vor der angeeigneten Bücherweisheit habe.

Ich lasse heute die Zügel mal ein bisschen schleifen. O dieser Bauch, und diese 12 Aspirintabletten, und doch hat mich das mit meinem Vater überhaupt nicht gestört, aber ich beginne langsam, die hintergründige Wechselwirkung zwischen ihm und mir, deren er sich wahrscheinlich überhaupt nicht bewusst ist, zu erkennen. Und diese Bewusstwerdung des eigenen Selbst ist harte Arbeit. Ein großer Teil dieser Aspirintabletten ist doch sicherlich diesem barbarischen Tief vom Samstagnachmittag geschuldet, aus dem ich mich energisch herausgearbeitet habe. Ich habe mich danach, bis zum jetzigen Moment, geistig herrlich frisch und befreit und fit gefühlt und körperlich miserabel, aber Letzteres ist eigentlich nie schlimm. Der Geist ist doch das Wichtigste.

Als ich gestern Nachmittag Abschied nahm, sagte er aus Versehen: «Gute Nacht.» Er grinste auf einmal vor Vergnügen, sagte etwas von Freud und «das entspricht mal der Situation» usw. Warum schreibe ich so etwas Langweiliges und an sich relativ Geschmackloses eigentlich auf? Nur um etwas davon aufzuschreiben, um später einen kleinen Anhaltspunkt zu haben, anhand dessen ich einen solchen Nachmittag wiederaufleben lassen kann.

Dienstagmorgen [2. Dezember 1941], halb 10, im Badezimmer.

Kälte, Bauchschmerzen, noch kein bewohnbarer Fleck im Haus.

In Augenblicken, in denen mich Unlustgefühle stark bedrohen, stelle ich mir gegenwärtig regelmäßig die Frage: Meinst du das jetzt wirklich, dass du Ernst machen willst mit diesem Leben? Es ist schon inspirierend, in guten Momenten zu sagen: «Ich vertraue auf Gott, ich will etwas aus meinem Leben machen, ich akzeptiere alles Leiden, das auf mich zukommt.» Aber ist es auch ernst gemeint, wenn man sich in jedem Tief wieder gehen lässt?

Aber ich lasse mich in letzter Zeit nicht mehr gehen. Ich übe mich darin, beständiger zu leben, den Abstand zwischen Hochs und Tiefs nicht mehr allzu groß sein zu lassen. Alle Kräfte mobilisieren und sie auch mobilisiert halten. Und doch auch träumen. Das muss doch beides möglich sein. Früher habe ich viele Tage verschwendet, aus reinen Unlustgefühlen heraus. Habe mich auch selbst verwöhnt. Habe mich mit Büchern auf der Couch und viel Schlafen und Träumen verhätschelt. Bis dann wieder ein Moment voller Energie kam, in dem ich mir vorgenommen habe, alles Mögliche zu tun.

Aber wenn ich diese Momente, in denen ich spüre, dass etwas in mir steckt, das energisch nach Entfaltung sucht, und in denen ich mir vornehme, meine Zeit ertragreich zu verwenden, ernst nehme und nicht nur so als eine Anwandlung betrachte, dann muss ich auch, wenn ich weniger inspiriert und deprimierter bin, weiterleben und arbeiten, auch wenn es mir in so einem Moment sinnlos erscheint. Sonst stehen die beschwingten Momente auf Dauer zu oft allein da. So ein einzelner beschwingter Moment muss in der Lage sein, für lange Zeit weiterzustrahlen und Kraft zu spenden. Du forderst immer noch zu sehr, auf Höhepunkten zu leben, und du hast das Gefühl, zu kurz zu kommen, wenn das Leben manchmal grau und banal oder einfach nur lästig erscheint. Wenn ich mich früher so schlapp und down fühlte wegen dieser monatlichen Bauchschmerzen, glaubte ich damit einen Freibrief erhalten zu haben, nichts mehr machen zu müssen, ließ mich dann so ein bisschen gehen und wartete, bis ich von selbst wieder Lust hatte zu beginnen. Verstehe mich bitte recht, du musst nicht immer gleich straff leben, das wäre sogar gänzlich falsch für dich, aber du darfst dir selbst ruhig ab und zu einen Stoß versetzen und bewusst auf einem bestimmten Weg weitergehen und dich nicht immer wieder unterkriegen lassen. Aber das klappt eigentlich schon ganz gut in letzter Zeit.

Mittwochmorgen [3. Dezember 1941], 8 Uhr, im Badezimmer.

Mitten in der Nacht wach. Ich erinnerte mich plötzlich, dass ich geträumt hatte, Vieles und Bedeutungsvolles. Mich einige Minuten intensiv anstrengen, um mir diesen Traum zu vergegenwärtigen. Gierig. Hatte das Gefühl, dass dieser Traum auch ein Teil meiner Persönlichkeit war, der zu mir gehörte, auf den ich ein Recht hatte, den ich mir nicht entgehen lassen wollte, den ich kennen müsste, um mich als abgeschlossene und ganze Persönlichkeit fühlen zu können.

Um 5 Uhr wieder wach. Übel und ein bisschen schwindelig. Oder bildete ich mir das nur ein? Danach 5 Minuten lang alle Ängste aller jungen Mädchen in mir gespürt, die plötzlich zu ihrem großen Schrecken ein Kind erwarten, das sie sich nicht gewünscht haben.

Der Mutterinstinkt fehlt mir – glaube ich – völlig. Ich erkläre mir das selbst wie folgt: Im Grunde empfinde ich das Leben doch als großen Leidensweg und alle Menschen nur als unglückliche Wesen, und ich kann meinerseits nicht die Verantwortung übernehmen, die Menschheit mit noch einem unglücklichen Lebewesen zu vergrößern.

Später: Ich habe mir einige unvergessliche Verdienste um die Menschheit erworben:

Ich habe niemals ein schlechtes Buch geschrieben und ich bin nicht dafür verantwortlich, dass ein Unglücklicher mehr auf dieser Erde herumläuft.

Ich knie wieder auf der rauen Kokosmatte, die Hände vor meinem Gesicht, und bitte: O Herr, lass mich in einem einzigen großen und ungeteilten Gefühl aufgehen. Lass mich die tausend kleinen alltäglichen Dinge mit Liebe verrichten, aber lass jede kleine Handlung aus einem einzigen großen, zentralen Gefühl der Bereitschaft und der Liebe hervorgehen. Denn dann tut es eigentlich nichts zur Sache, was man tut und wo man ist. Aber so weit bin ich noch lange nicht.

Ich werde aber heute 20 Chininpillen schlucken, ich fühle mich schon ein bisschen komisch, dort südlich meines Zwerchfells.

4. Dezember [1941], Donnerstagmorgen, 9 Uhr.

Eine Liebesnacht, erstickt in Chininpillen und eventuell noch in heißem Kognak. Man könnte sich zynisch darüber auslassen. Es gibt Menschen, die ihr Leben lang damit beschäftigt sind, sich Zynismen auszudenken und zu propagieren. Ich spüre noch kein Bedürfnis danach. Vielleicht auch, weil mich heute Morgen so ein liebes Gesicht aus den Kissen anschaute und sagte: «Mein Lämmchen». Und dann war doch alles wieder gut.

Und jetzt ist Schluss mit diesem Theater, du Quatschkopf. Die meiste Energie und Zeit verschwendest du damit, zu grübeln und über Dinge nachzudenken, die sinnlos sind. Es gab eine Zeit, die erste Zeit der Behandlung bei S., in der du in keiner Minute daran dachtest, was du in der folgenden Minute tun würdest. Und dadurch erlebtest du jeden Moment des Tages so intensiv, weil du dir deine Kräfte nicht im Voraus auf die Dinge, die kommen sollten, aufgeteilt hast. Und jetzt war da in letzter Zeit wieder eine fürchterliche Desorganisation.

Z. B. am Donnerstagabend, also genau heute in einer Woche, wird der blinde Imre Ungar[51] am Flügel in unserem Wohnzimmer sitzen und es werden 20 Menschen da sein. Also dann tragen wir 20 Stühle aus dem ganzen Haus zusammen, und Lenie Wolff sorgt für Kakao und ich für Tassen und Ungar für die Musik und die Atmosphäre kommt von selbst. Fertig. Aus. Erfreuliche Aussicht. Gute Tat. Hagenpreek.[52]Aber meine Gedanken schweifen fortwährend sorgenvoll zu diesem Abend. Wie wir die Stühle hinstellen müssen, ob es wohl gemütlich sein wird, dass ich zusehen muss, dass ich an Blumen komme, dass ich doch eigentlich gar keine Lust dazu habe, kurzum, dass es doch sehr lästig ist. – Wie ekelhaft von dir! Zeitverschwendung.

Es gab bei dir eine Zeit, und in meiner Erinnerung erscheint es mir als eine glorreiche und sinnvolle Zeit, in der du mit Kraft und sehr bewusst gegen die erotischen Tagträume mit S. gekämpft hast, die dich von deiner Arbeit abhielten und deine Kraft zerstörten. Du hast um dich geschlagen wie eine Rasende, wenn du bei deiner Arbeit davon überfallen wurdest, du bist nachts aus deinem Bett in die Kälte herausgesprungen und hast geflucht wie ein Kutscher und es hat geholfen. Du dachtest damals, du hättest damit ein für alle Mal abgeschlossen.

Und jetzt musst du wieder von Neuem beginnen, den Streit gegen die Grübelei wieder aufnehmen. Zum Beispiel kommt am Samstagnachmittag dieser Samenhändler aus Enkhuizen,[53] um Russisch zu lernen. Und was habe ich mir schon viele Sorgen darüber gemacht, ob ich diesen Mann wirklich unterrichten kann und wie, obwohl ich doch weiß, dass ich in der Lage dazu bin, diesen Unterricht zu erteilen.

Etty, jetzt, wo ich mich darein vertiefe, bin ich eigentlich entrüstet über dich.

Und jetzt dieser Bauch wieder. Bei wie vielen Ärzten ich in diesen Tagen in meiner Fantasie in Wartezimmern gesessen habe und wie viele Pillen ich schon geschluckt habe und wie viele Unannehmlichkeiten ich schon erlebt habe – kein Wunder, dass ich nicht gut arbeiten kann! Große Weisheit in dieser einfachen Volksweisheit:

«Der Mensch leidet oft am meisten

an dem Leiden, das er fürchtet.»[54]

Bis Montag oder Dienstag werde ich nicht mehr an meine gestörte Blutzirkulation denken und dann weitersehen. Aber es dann auch nicht im Kopf durchspielen.

Und für diesen Herrn aus Enkhuizen werde ich mich schon sehr intensiv vorbereiten, aber dann werde ich auch nicht mehr über ihn nachdenken, bis er direkt vor mir steht am Samstagnachmittag.

Und was für ein Kleid ich dann anhaben werde. – Und ob ich am Sonntag nach Bilthoven[55] mitgehen werde; im einen Moment erscheint mir das reizend, im anderen möchte ich es nicht, das hängt von meiner Stimmung ab. Usw. usw.

Es ist eine fürchterliche Desorganisation. Dadurch habe ich vielleicht in letzter Zeit das Gefühl, dass ich so wenig tue, und ich habe manchmal das Gefühl, dass mein Programm überladen ist und nichts mehr hinzukommen darf.

Und es geht auch anders, das hast du schon selbst erlebt. Mädchen, Mädchen, was bist du eigentlich für ein Reinfall. Ich fühle mich im Moment in der Tat ziemlich kaputt und körperlich in einer sehr schlechten Verfassung, aber deshalb musst du doch nicht alles hinschmeißen. Es ist wahrlich keine Kunst, in Zeiten, in denen du dich gut und fit fühlst zu arbeiten usw. Gerade an solchen Tagen wie diesen kommt es darauf an, dir selbst zu zeigen, was du draufhast. Du musst wirklich etwas weniger Mitleid mit dir selbst haben. Wenn du dir wirklich einbildest, mehr als ein Durchschnittsmensch in deinem Leben leisten zu müssen, dann musst du anders leben.

Innerliche Hygiene und Organisation. Nicht so viel Zeit vertrödeln und verschwenden.

Freitagmorgen [5. Dezember 1941], 9 Uhr.

Bin sehr zufrieden mit dir, Mädchen. Sobald ich mich selbst «mit Kraft in Angriff nehme», geht es. Ich grüble dann auch nicht mehr, sondern arbeite. Und kann das Leben dann eigentlich sehr gut bewältigen.

Es spukt noch in den Gewölben. Es muss schon etwas nicht in Ordnung sein. Gute, liebe diskrete Käthe, die heute Morgen mit einer Kognakflasche ankam. Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Zu der Beklemmung und der Unruhe dieses unerwarteten Zustands kommt auch noch die kribbelnde Empfindung des Ungewohnten für eine Weile hinzu. Jetzt, wo ich mir selbst verboten habe, unruhig zu sein, bin ich es seltsamerweise auch nicht mehr.

Gestern Nachmittag S. und abends Ηoчь любви здecь.[56] Und wieder vollkommen dankbar für diese zwei Freunde. Verrückt, dass meine nächsten Menschen, meine дopoгeйщиe дpyзья,[57] Männer sind, die ich sieze.

Gestern Vormittag, als ich im Nebel spazierte, wieder dieses Gefühl: Ich habe doch meine Grenzen bereits erreicht, alles schon dagewesen, ich habe doch alles schon erlebt, weshalb lebe ich eigentlich noch weiter; ich weiß es natürlich schon, ich komme niemals weiter, als ich schon gegangen bin, die Grenzen werden zu eng und jenseits der Grenze gibt es doch eigentlich nur die Irrenanstalt. Oder den Tod? Aber so weit habe ich noch nicht gedacht. Bestes Mittel dagegen: ein knochentrockenes Stück Grammatik studieren oder schlafen.

Die einzige Erfüllung für mich in diesem Leben: mich selbst in einem Stück Prosa, in einem Gedicht verlieren, das ich mühselig Wort für Wort selbst erobern muss. Ein Mann ist für mich nicht das Wichtigste. Das rührt vielleicht daher, dass immer so viele Männer um mich herum waren? Manchmal ist es gerade so, als wenn ich gesättigt wäre von Liebe, aber auf eine gute Art und Weise. Das Leben war eigentlich sehr gut zu mir, immer, und ist es auch noch. Manchmal scheint es gerade so, als ob ich das «Ich-und-Du»-Stadium[58] überwunden hätte. Es ist leicht, so etwas nach so einer Nacht zu sagen. Und jetzt meine lieben Füßchen ins Wasser. Sogar diese Verwirrung wegen eines ungeborenen Kindes ist etwas Unwirkliches für mich. Es wird schon gut werden.[59]

nachmittags, Viertel vor 5.

Jetzt kommt es darauf an, dass ich mich nicht von dem, was in mir geschieht, beherrschen lasse. Es muss doch irgendwie nebensächlich bleiben. Ich meine damit Folgendes: Man darf sich eigentlich niemals durch eine einzige Sache gänzlich lahmlegen lassen, wie schlimm sie auch sein mag, der große Strom des Lebens muss immer weiterfließen.

Ich nehme mich immer wieder selbst an die Hand und sage: Jetzt musst du diese Unterrichtstunde für morgen vorbereiten und heute Abend musst du mit dem «Idioten» von Dostojewski[60] beginnen, nicht zur Unterhaltung, sondern du musst dieses Buch jetzt wirklich einmal erschöpfend durcharbeiten. Wie ein Tagelöhner. Und dazwischen werde ich dann ab und zu schon mal die Treppe hinunterrennen und Zeremonien mit heißem Wasser abhalten. Auch ein Gefühl, als ob sich etwas Geheimes in mir ereignet, von dem niemand etwas weiß. Es ist letzten Endes auch ein Teilhaben an einem elementaren Geschehen.

Und dann stelle ich bei mir selbst in einer doch etwas brenzligen Lage (und brenzlig ist sie zweifellos) ein starkes Gefühl fest: mich nicht unterkriegen lassen. Ich sorge schon dafür, dass es in Ordnung kommt. Und es wird schon in Ordnung kommen. Arbeite nur ruhig weiter, verschwende nicht all deine Kräfte darauf.

Das war gerade ein kurzer, flotter Spaziergang mit S. um 2 Uhr. Er hatte wieder etwas Strahlendes und Jungenhaftes an sich. Eine wahrhafte Menschenliebe strahlt er dann nach allen Seiten aus, auch ein bisschen auf mich, und ich strahle zurück. Weiße Chrysanthemen. «So bräutlich.» Ich bin ihm ja treu innerlich. Und Han bin ich auch treu. Ich bin allen treu. Ich gehe auf der Straße neben einem Mann mit weißen Blumen, die wie ein Brautstrauß aussehen, und sehe strahlend zu ihm auf, und vor zwölf Stunden lag ich in den Armen eines anderen Mannes und liebte ihn und liebe ihn auch jetzt.

Ist das geschmackslos? Ist das dekadent?

Für mich ist das alles vollkommen in Ordnung. Vielleicht weil das Körperliche für mich nicht so wesentlich ist bzw. nicht mehr ist. Es ist eine andere, umfassendere Liebe. Oder rede ich mir das ein? Bin ich zu unbeständig? Auch in meinen Beziehungen? Ich glaube es nicht. Wie komme ich auf einmal auf dieses völlig abwegige Geschwafel?

Es gibt eigentlich kein Ziel. Man muss sich kein Ziel außerhalb von sich selbst setzen. Jeder Augenblick dieses Lebens muss an sich Ziel sein. Selbstverwirklichung. Höhepunkte erreichen in vereinzelten Momenten. Und dann wieder weitermachen. Vertrauen, dass das alles irgendwo hinführt, und nicht mit aller Gewalt ein Ziel sehen wollen.

Den Männern gegenüber gerecht bleiben, Mädchen, auch wenn wir den Ärger haben. Rührender Pa Han. Han schleppte gerade mit meiner Pfanne heißes Wasser ins Badezimmer. Wir müssen da zusammen durch, aber wenn Gereiztheit in mir aufsteigt, darf ich sie nicht an ihm auslassen.

Samstagmorgen [6. Dezember 1941], halb 10.

Zuerst mir selbst wieder einmal gut zureden, um ein wenig Mut für diesen Tag zu fassen. Heute frühmorgens beim Aufwachen kurz diese bleischwere Beklemmung, pechschwarze Unruhe, frei von jedem sensationellen Zusatz. Es ist schließlich keine Kleinigkeit.

Ich habe das Gefühl, als wäre ich damit beschäftigt, einem Menschen das Leben zu retten. Nein, das ist lächerlich: einem Menschen das Leben zu retten, indem man ihn mit aller Gewalt von diesem Leben fernhält. Ich will es jemandem ersparen, dieses Jammertal zu betreten. Ich werde dich in der sicheren Ungeborenheit belassen, du werdendes Wesen, sei mir bloß dankbar. Ich empfinde beinahe Zärtlichkeit für dich. Ich rücke dir mit heißem Wasser und abscheulichen Instrumenten zu Leibe, ich werde dich geduldig und ausdauernd bekämpfen, bis du dich wieder im Nichts aufgelöst hast, und dann werde ich das Gefühl haben, eine gute Tat vollbracht und verantwortungsvoll gehandelt zu haben. Ich kann dir ohnehin nicht genügend Kraft mitgeben und es schwirren viel zu gefährliche Krankheitserreger in meiner vorbelasteten Familie herum. Als Mischa neulich vollkommen verwirrt war und mit Gewalt in eine Anstalt[61] abtransportiert wurde und ich den ganzen Tumult als Augenzeugin miterlebt hatte, habe ich mir geschworen, dass ich niemals zulassen werde, dass aus meinem Schoß so ein unglücklicher Mensch hervorgeht.

Wenn es bloß nicht zu lange dauert. Dann werde ich so fürchterlich ängstlich. Es ist nun erst eine Woche her und ich habe es bereits satt und bin müde von all diesen Maßnahmen. Aber ich werde dir den Zutritt zu diesem Leben versperren, und wirklich, darüber wirst du dich nicht beklagen müssen.

Programm (abgesehen von dieser ganzen edlen Lebensretterarbeit): mich noch einmal darein vertiefen, wie ich diesem Mann aus Enkhuizen die Aussprache der russischen Buchstaben verdeutliche, diese kurzen Stenogramme von S. ausschreiben, eine Stunde lang unterrichten, einkaufen, heute Abend Musik und morgen Bilthoven. Ich werde versuchen, mich darauf zu freuen. Ich fühle mich körperlich sehr unwohl, ich hoffe, dass es nicht noch schlimmer wird.

Aus Suarès: «Die Intuition ist sehendes Herz in der Finsternis.»[62]

Samstagabend, 12 Uhr.

Ich kann natürlich backfischhaft schreiben, es war ein herrlicher Tag. Es war wirklich herrlich! Ich wollte, ich könnte diese Worte in tausend Stücke schlagen und all diese Stücke zusammen würden dann den Tag widerspiegeln. Ich begreife nun etwas von Paul van Ostaijen,[63] der Worte kreuz und quer über eine Seite schleuderte.

Eigentlich ist das mein einziges Problem: wie ich mich ausdrücken muss. Die eigene Form zu finden.

Tides Stimme, die strahlend und ungebrochen in die Luft schießt, und gleichzeitig an meinem Ohr durch das Telefon Claras tiefe, traurige Stimme, die aus einer ganz anderen Welt kam. Die roten Vorhänge und Glassners[64] unbeholfener, schwerfälliger Körper an dem edlen, hervorragenden Instrument.

Jetzt aber gute Nacht.

Morgen Spier mit Harem und Glassner nach Utrecht.[65] Ich bin gespannt.