Montagabend, 9 Uhr, 16. Februar 1942.
Wieder damit beschäftigt, den Weg zurück zu mir selbst zu finden mithilfe dieser Worte von Rainer Maria:
Alles ist austragen und dann gebären. Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewußten, dem eigenen Verstande Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen.
Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts. Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles![1]
Die innerlichen Erkenntnisse dieses Jahres gelangen auf immer wieder anderen und unerwarteten Wegen zu mir. Jetzt auch wieder, heute Abend am ausflackernden Ofen, mitten in einer beginnenden Unruhe und Gehetztheit kommen diese Worte auf mich zu und lassen mich plötzlich wieder auf die Dinge besinnen, um die es doch eigentlich wieder geht.
So, die ersten paar Zeilen im neuen Heft stehen schon wieder da, bin immer gehemmt angesichts eines neuen Heftes, kindisch eigentlich.
Es gibt so viel zu schreiben über die letzten 14 Tage, die eigentlich wieder ein ganzes Leben sein könnten. Vielleicht morgen Vormittag. Du darfst nicht sagen: Wenn diese schlimme Müdigkeit der letzten Tage vorüber ist. Es handelt sich um eine Wechselwirkung: Wenn du nicht für die Hygiene deiner Seele sorgst, bleibst du so müde. Morgen früh mit Vater in die Vorlesung von Becker. Ja wirklich, sie existieren immer noch, die Familienkomplexe und die Albträume voller Hass und Aggression gegenüber der eigenen Mutter. Alles geht immer weiter, auch wenn man weiß, um welche wichtigen Dinge es doch eigentlich geht. Ich glaube, dass ich noch eine Menge über Alice Levie schreiben muss. Wie sie damals in der Pause dieses Konzerts auf S. und mich zugelaufen kam: Damals sah sie wie eine zerbrechliche, aufgeschreckte Elfe aus mit diesen offenen, wogenden Haaren und dem fröstelnden, schlanken Körper. Aber irgendwo steckt da eine verborgene Kraft. Und diese Kraft werden wir nun mobilisieren, sodass diese nicht mehr gegen sie, sondern für sie genutzt werden kann. Dass sie beim Zahnarzt gewesen ist, ist doch schon eine Handlung großer Lebensbejahung. Heute Morgen Loekie,[2] und später Leonie und Vater und noch einmal Leonie und Hetty. Aimé auch ein paarmal. Und mit Alice Levie dieses Gespräch bis nachts um 3 Uhr, am folgenden Morgen Augen einer schlaflosen Nacht und müdes Gesicht, aber später die Beteuerung, dass dieses Gespräch so viel in ihr «aufgekrempelt» hatte. Es muss so sein: Je mehr man anderen von seiner Kraft abgibt, desto mehr Kraft sollte man wiedererhalten, sonst ist es nicht gut. In den letzten Tagen merke ich: Es kostet mich zu viel Kraft. Also lebe ich wieder irgendwie falsch. Noch kurz diesen einen Brief «an einen jungen Dichter» lesen und dann ins Bett.
O ja, Erdbeeren mit Sahne, d.h. eingemachte Erdbeeren mit Kunstschlagsahne,[3] ein luxuriöses Sprungbrett in eine Hungersnot, um das große Wort zu verwenden. Ich sagte zu Käthe, dass ich es in meinem Tagebuch mit plastischen Worten verewigen werde, dass wir im Februar 1941 bei 8 Grad Frost im zweiten Kriegsjahr Erdbeeren mit Schlagsahne gegessen haben aus purer Not heraus, aber für «Plastik» bin ich jetzt zu schläfrig.
Und gestern: Mischa und Hermann Schey[4] und Imre Ungar und seine Frau und Berthe Seroen[5] und ihr Mann und S. und Tide, Adri, Dicky, Jo Valkhoff, Lenie und meine zwei Schülerinnen, Hetty und Stella.[6] Es war sehr schön. «Dichterliebe» und «Lieder eines fahrenden Gesellen».[7]
Gute Nacht.
19. Februar ’42, Donnerstagnachmittag, 2 Uhr.
Wenn ich sagen müsste, was mich heute am meisten beeindruckt hat, dann wären das die großen violetten Frostbeulen an Jan Bools Händen. Es wurde auch wieder jemand zu Tode gefoltert: dieser sanftmütige junge Mann von Cultura.[8] Ich erinnere mich noch daran, dass er Mandoline spielte. Er hatte damals auch ein nettes Mädchen, das in meiner Klasse im Russischkurs saß. Dieses Mädchen ist inzwischen seine Frau geworden und ein Kind war auch schon da. «Diese Bestien», sagte Jan Bool in dem schmalen Gang der Universität, «sie haben ihn kaputtgemacht.»
Und Jan Romein[9] und Tielrooy[10] und noch mehr dieser zerbrechlichen älteren Professoren. Sie sind nun in einer zugigen Baracke[11] in derselben Veluwe gefangen, in der sie früher ihre Sommerferien in einer freundlichen Pension verbrachten. Sie dürfen nicht einmal ihren eigenen Pyjama tragen, sie dürfen gar nichts von sich selbst haben, erzählte Aleida Schot in der Cafeteria. Die Absicht dahinter ist, sie gänzlich zu verwildern und ihnen ein Gefühl der Minderwertigkeit zu vermitteln. Moralisch sind sie stark genug, diese Männer, aber die Gesundheit der meisten ist doch sehr angeschlagen. Pos[12] hat es geschafft. Er befindet sich jetzt in einem Kloster in Haaren und schreibt ein Buch. Das erzählt man zumindest. Und so weiter. Es war schon trostlos in der Vorlesung heute Morgen.
Es war doch nicht völlig trostlos, es gab einen Lichtblick. Ein kurzes, unerwartetes Gespräch mit Jan Bool in der kalten, schmalen Langebrugsteeg[13] und an der Straßenbahnhaltestelle. «Was ist das nur in den Menschen, andere kaputtmachen zu wollen?», fragte Jan verbittert.
Ich sagte: «Die Menschen, ja die Menschen, aber bedenke, dass du selbst auch dazu zählst.» Und das gab er sogar unerwartet ohne Weiteres zu, dieser bockige, mürrische Jan. «Und diese Schlechtigkeit der anderen steckt auch in uns», predigte ich weiter. «Und ich sehe keine andere Lösung, ich sehe wirklich keine andere Lösung, als sich auf sein eigenes Zentrum zu besinnen und dort all diese Fäulnis auszurotten. Ich glaube nicht mehr daran, dass wir in der Außenwelt etwas verbessern können, das wir nicht zuerst in uns selbst verbessert haben. Und das scheint mir die einzige Lehre aus diesem Krieg zu sein: dass wir gelernt haben, dass wir alles nur in uns selbst und nirgendwo anders suchen müssen.»
Und Jan war sofort mit mir einverstanden, er war zugänglich und stellte Fragen und kam mir nicht wie früher mit den knallharten sozialen Theorien. Und er sagte: «Sie sind auch so billig, diese Rachegefühle nach außen. Nur diesen einen Moment der Rache herbeisehnen. Darauf können wir doch auch verzichten.» Wir standen da in der Kälte und warteten auf die Straßenbahn, Jan mit seinen großen violetten Frostbeulen an den Händen und mit Zahnschmerzen. Und es waren doch keine Theorien, die wir verkündigten. Unsere Professoren sind verhaftet, es wurde wieder einmal ein Freund von Jan umgebracht und es ist zu viel, um alles einzeln aufzuzählen, und wir sagten zueinander: «Sie sind so billig, diese Rachegefühle.»
Das war doch wirklich ein Lichtblick heute.
Und nun ein bisschen schlafen und dann Bekanntschaft mit dieser Freundin von Rilke[14] machen. Alles geht immer weiter, warum auch nicht?
Ich werde wieder etwas regelmäßiger auf diese blauen Linien schreiben müssen. Aber viel zu wenig Zeit –
20. Februar ’42. Freitagmorgen, 10 Uhr.
Dieser Vormittag gehört mir. Und jetzt, wo ich mich zwinge, mich in Ruhe vor dieses Heft und zu mir selbst hinzusetzen, jetzt merke ich wieder, wie viel Mühe mich das eigentlich noch kostet, von wie viel Unruhe und Ungeduld man stets beherrscht wird. Die Ausrede ist immer: Ich habe keine Zeit, ich habe viel zu viel zu tun. Aber es ist doch eigentlich die eigene Unruhe. Die Stille nicht zu ihrer weitesten Ausdehnung heranwachsen lassen, sondern schon zufrieden sein mit den kurzen Momenten der Ruhe und Selbstbesinnung, die allerdings immer mehr mit meinem alltäglichen Leben verwoben werden. Aber ich stolpere doch immer noch über die kleinen Pausen der Stille, aus purer Ungeduld, und bin viel zu schnell zufrieden und denke, dass ich in mich selbst «hineinhöre», aber jetzt, wo ich mich nach Wochen wieder zwinge zu sagen: «Dieser Vormittag gehört ganz und gar mir», jetzt merke ich wieder, wie viel Ungeduld und wie sehr ein «in den Tag hineinleben» noch immer in mir stecken. Am dritten Februar bin ich ein Jahr alt geworden. Ich glaube, dass ich den 3. Februar sogar als festes Geburtsdatum beibehalten werde, er ist wichtiger als der 15. Januar, als ich von der Nabelschnur losgeschnitten wurde. Aber darüber will ich überhaupt nicht sprechen. Er scheint schon so lange her zu sein, dieser 3. Februar, ich hatte damals tagelang kein Bedürfnis gehabt zu schreiben, ich musste nicht in mich selbst «hineinhorchen», weil ich in einem Zustand des andauernden «Hineinhörens in sich» war. (Warum kann ich dafür keinen passenden niederländischen Ausdruck finden?) Ich habe damals nicht mehr gebetet, weil ich eigentlich innerlich unablässig betete.
Abends, als ich ins Bett ging, war es, als ob in meinen Armen hoch aufgeschichtet die reiche Ernte dieses Tages lag, beinahe nicht zu umschließen vor lauter Überfluss. Es ist gut, dass so ein Zustand nicht anhält. Man muss jedes Mal wieder aus dem eigenen Zentrum in die Unruhe gestoßen werden, um sich eine größere Ruhe aufs Neue zu erobern. Und sich einer Sache sicher sein darf man niemals, dann steht jede Entwicklung still. Aber dies wollte ich eigentlich auch nicht schreiben heute Morgen.
Man kann Worte nicht direkt aus seinen einsamen und reich durchdachten Nächten in den Tag mittragen. Das merke ich jetzt auch wieder. Ich habe euch so lieb, meine einsamen Nächte. Man liegt einfach hingestreckt auf dem Rücken in dem schmalen Bett, voller Hingabe an die Nacht – mit Frostbeulen an den Füßen, einer Wärmflasche und einem Wolltuch um den erkälteten Kopf, aber das spielt alles keine Rolle –, gegenüber meinem Bett steht noch immer S.s großer Bücherschrank wie ein bedrohlicher, geheimnisvoller Tempel, der Vorhang ist offen, die Nacht steht grau und weit im Fenster, das Eissportgelände ist eine weite weiße Schneesteppe. Ich liege da auf meinem Rücken und fühle, wie ich an einem großen Wachstumsprozess beteiligt bin. Ich hatte auf einmal das Gefühl heute Nacht, dass meine innere Landschaft wie weite Getreidefelder aussah, die gerade reiften. In der Nacht klingt das so einfach und naheliegend: In mir drin sind Getreidefelder, die wachsen und gerade reifen. Wenn man versucht, solche Worte mit sich über die Schwelle des frühen Morgens in den Tag hinein mitzunehmen, dann stehen sie da ein wenig ungewohnt. Es gab heute Nacht so viel, was ich in Worten auf diese blauen Linien hätte mitnehmen wollen, aber ich weiß ja jetzt, dass das nicht so einfach geht. – «Alles ist austragen und dann gebären … und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten.»[15]
Es ist schon sehr viel, wenn man weiß, dass man Teil eines großen Wachstumsprozesses ist, dass man sich eines solchen Prozesses bewusst ist. Ich glaube, dass noch für viel zu viele das Leben aus zufälligen Momenten ohne allzu viel Zusammenhang besteht.
Gerade 5 große Buchhandlungen angerufen, um danach zu fragen: Briefe an einen jungen Dichter und die an eine junge Frau.[16] Nicht mehr erhältlich. «Briefe an einen jungen Dichter». Früher auch gelesen, wahrscheinlich als lyrische Kuriosität, als ein wenig Luxus für eine Mußestunde. Und nun? Man findet darin sein ganzes Lebensprogramm wieder und es stehen Worte darin, die einen eigentlich ein Leben lang nicht mehr verlassen dürfen.
Ich werde so wütend auf diejenigen, die sagen, dass Rilke «weichherzig» ist. Er ist nicht weichherzig. Es steckt eine Kraft in ihm, so stark wie ein Diamant. Siehst du, mir fehlt jetzt doch die Geduld dazu, die Worte zu suchen, mit denen ich die Kraft, die ich in ihm spüre, dokumentieren könnte. Aber das kommt später schon noch.
Es ist eigentlich so traurig. Eine Frau wie Ilse Blumenthal,[17] die mit ihm korrespondiert hat und die jetzt auch im Nachhinein sagt: «Ja, eigentlich ist er schon weichherzig.»
Von Rilke «kommt man nicht mehr los», wenn man ihn wirklich gut gelesen hat. Wenn man ihn nicht während eines ganzen Lebens mit sich mitträgt, hat es überhaupt keinen Sinn, ihn zu lesen.
Ich bin noch immer in der Phase des genüsslichen Abschreibens, statt dass ich einen eigenen Kommentar abgebe. Aber ich muss daraus Teile abschreiben:
«Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.»[18]
Ich fühle mich nun verwandt mit demjenigen, der zu dem jungen Dichter spricht. Und jetzt, da ich beginne «in die Antwort hinein zu leben», jetzt erst verstehe ich diese Worte. Zu der Zeit, als ich noch mit den Fragen leben musste, habe ich sie überhaupt nicht verstanden. Ich muss dieses kleine Buch vielen jungen Menschen geben und versuchen, ihnen zu helfen, es zu verstehen. Man kann nur helfen, wenn man selbst vorlebt, was man anderen klarmachen will, und ich spüre immer mehr Kraft in mir wachsen, um anderen eine kleine helfende Hand anzubieten, nur schon indem ich ihnen klarmache, dass ein anderer ihnen eigentlich nicht helfen kann und dass sie das akzeptieren müssen, aber nicht als etwas, das einen unglücklich machen muss, sondern als etwas, das einem die eigenen Kräfte und das eigene Innere bewusst werden lässt, dass man mit Geduld zuhören muss, bis einem Gewissheiten aus dem eigenen Inneren zuteilwerden, aber man muss geduldig sein.
«… kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!»[19]
Gerade kommt der Arzt herein. Es ist doch eine Lungenentzündung bei Hans. Man steht der Tatsache so machtlos gegenüber, dass die Widerstandsfähigkeit der Menschen so stark abnimmt.
Gerade rief Kees de Groot an und sagte, dass er um 2 Uhr kommt. Treuer Kees, ich freue mich, und um 4 Uhr eine Verabredung mit meinem Vater und meiner Mutter bei Lenie Wolff. – Heute Abend vermutlich ein wenig arbeiten. Nun noch eine Stunde für mich selbst.
«Aber alles, was vielleicht einmal Vielen möglich sein wird, kann der Einsame jetzt schon vorbereiten und bauen mit seinen Händen, die weniger irren. Darum, lieber Herr, lieben Sie Ihre Einsamkeit, und tragen Sie den Schmerz, den sie Ihnen verursacht mit schönklingender Klage. Denn die Ihnen nahe sind, sind fern, sagen Sie, und das zeigt, daß es anfängt weit um Sie zu werden. Und wenn Ihre Nähe fern ist, dann ist Ihre Weite schon unter den Sternen und sehr groß; freuen Sie sich Ihres Wachstums, in das Sie ja niemanden mitnehmen können, und seien Sie gut gegen die, welche zurückbleiben, und seien Sie sicher und ruhig vor ihnen und quälen Sie sie nicht mit Ihrer Zuversicht oder Freude, die sie nicht begreifen könnten. Suchen Sie sich mit Ihnen irgendeine schlichte und treue Gemeinsamkeit, die sich nicht notwendig verändern muß, wenn Sie selbst anders und anders werden; lieben Sie an ihnen das Leben in einer fremden Form».
«Vermeiden Sie, jenem Drama, das zwischen Eltern und Kindern immer ausgespannt ist, Stoff zuzuführen; es verbraucht viel Kraft der Kinder und zehrt die Liebe der Alten auf, die wirkt und wärmt, auch wenn sie nicht begreift. Verlangen Sie keinen Rat von ihnen und rechnen Sie mit keinem Verstehen; aber glauben Sie an eine Liebe, die für Sie aufbewahrt wird wie eine Erbschaft, und vertrauen Sie, daß in dieser Liebe eine Kraft ist und ein Segen, aus dem Sie nicht herausgehen müssen, um ganz weit zu gehen!»[20]
Ich muss auf einmal an meinen lieben Vater denken, der mir da klein und gebückt mit einem zerknitterten unpraktischen Filzhut und mit einem schwarz-weiß karierten Jungsschal vor ein paar Tagen ein Ei, sage und schreibe ein Ei, und etwas Butter in einem Papier vorbeibrachte, um danach mit noch einem Ei und einem Klümpchen Butter und noch einem Brötchen mit Räucherfleisch zu Mischa weiterzuspazieren.
«Es klingt ja wie ein Märchen», sagte Alice Levie, als ich ihr erzählte, wie ich zwischen meinem Vater und meiner Mutter auf den Bänken des Hörsaals[21] gesessen habe, Puschkin vor uns. In Mutter kamen Jugenderinnerungen hoch und Vater strahlte voller kindlicher Freude, wenn er ab und zu ein Wort verstand.
«Es klingt wie ein Märchen», sagte die schlanke Alice – ihr Vater[22] ist kürzlich in einem Konzentrationslager gestorben.
Als ich am Dienstagmorgen aufstand, war mein erster Gedanke: Und nun muss ich dafür sorgen, dass ich meinen Vater mit wahrhafter Liebe mitnehme. Es spukten wieder Reste eines Minderwertigkeitskomplexes herum, so wie dies wohl fast jedes Kind vor seinen Eltern hat: Werden sie sie nicht komisch finden?
Alle Menschen müssen viel Selbsterziehungsarbeit leisten. Ja, und was nützt mir alles, wenn ich die Liebe nicht habe.
«Man könnte eine Geschichte darüber schreiben», sagte Wiep gestern Abend, als ich ihr erzählte, wie Mischa seine zwei betagten lieben Eltern durch das eiskalte Land hinter sich herschleppt bei seinen Hauskonzerten. Er weigert sich schlicht zu spielen, wenn sie nicht kommen. Sehr rührend. Früher besuchten sie psychiatrische Kliniken und Ärzte und jetzt besuchen sie seine Konzerte. Ich bin mir noch nicht ausreichend bewusst, welch ein großes Glück dies doch alles in sich birgt und wie viele Gründe zur Dankbarkeit es gibt, was die eigene Familie betrifft. Man ist sich dessen noch nicht voll und ganz bewusst, weil immer noch Reste von Unlustgefühlen gegenüber der eigenen komplizierten Familie herumspuken. Noch immer wieder Angst, dass man plötzlich überrumpelnde Überraschungen erleben könnte, die einfach lästig für die eigene Ruhe sind. Diesbezüglich werde ich noch am stärksten mit mir selbst ins Reine kommen müssen.
«Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter als man meint, und die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin bestehen, daß Mann und Mädchen sich, befreit von allen Irrgefühlen und Unlüsten, nicht als Gegensätze suchen werden, sondern als Geschwister und Nachbarn und sich zusammentun werden als Menschen, um einfach, ernst und geduldig das schwere Geschlecht, das ihnen auferlegt ist, gemeinsam zu tragen.»[23]
Ich habe meine einsamen Nächte so lieb, aber man darf nicht immer nur an sich selbst denken. Es ist gut, sich einmal einem Mitmenschen entgegenzustrecken, der einen benötigt, auch nachts. Ich erschrak so, als Han neulich nachts sagte: «Ja, ich war schon stark am Vereinsamen in letzter Zeit.» Und in die Hingabe als Frau schlich sich ein sehr starkes menschliches Element ein.
Gestern küsste ich S.s Haar, das an der rechten Schläfe schon ganz weiß wird. Aber sein Nacken ist noch so jung. Ich liebe ihn mit einer Liebe, die immer weniger besitzen will und die dadurch immer mehr besitzt. Ab und zu kommt eine kleine Eifersucht auf, zudem auch Wildheiten, die Unbefriedigtheit und ein großes Verlangen. Und das ist gut. Sonst würde man sich beinahe heilig fühlen.
Meine zwei greisen Freunde. Was ist eigentlich mit mir los?
Der Vormittag ist schon wieder vorüber. Ich habe so furchtbar viel zu schreiben. Ich habe eigentlich nichts gemacht heute Morgen, ein wenig rastlos in diesem Zimmer auf und ab gegangen, ein wenig in den Ofen gestarrt, ein wenig mit Käthe geredet, ein paar Zeilen in dieses Heft geschrieben. Ich habe trotzdem viel gemacht: Ich spazierte wieder einmal entlang der Grenzen des innerlichen Reichs, habe wieder einmal gänzlich in der Stille verweilt – noch lange nicht still genug – und gespürt, wie dringend nötig ich dies habe.
abends halb 8.
O Herr, lass mich doch etwas mehr im Geiste leben. Und lass mich nicht abends direkt nach dem Essen ein Stück Brot aus dem Schrank holen.
Und zu Han sagte ich kurz davor mit so viel Sachverstand in Bezug auf Bernard, der nach 2 vollen Tellern Buttermilchbrei Käthe um ein Stück Brot für abends bat: «Dieses andauernde Hungerhaben kommt auch dadurch, dass du derzeit zu viel ans Essen denkst. Du musst versuchen, deinen Geist von deinem Magen abzulenken, du darfst nicht zu viel ans Essen denken. Du musst deinen Geist in eine andere Richtung lenken.» Und kurz danach war ich am Brotkasten. Und das Schlimme ist, dass ich nicht einmal starken Hunger habe, es ist einfach nur die Lust, etwas zu essen. In Zukunft wird das noch sehr schwierig werden in diesem leergeplünderten Europa, aber auch hier geht es um innerliche Disziplin. Wissen, dass man bei einem Minimum wahrhaftig nicht umkommen wird, und ansonsten versuchen, seinen Geist von dem Magen abzuwenden. Auch ein wenig Selbstbeherrschung. Und Selbsterziehung. Auch in diesen Dingen. So sonderbar. Ich hatte monatelang nicht gekniet, weil ich eigentlich immer innerlich betete. Und auf einmal fiel ich nach vorn auf den Boden, mit diesem Butterbrot mit heimlichen Schokoladenstreuseln, das noch schwer im sündigen Magen lag, schlug die Hände vor mein Gesicht und sagte fast verzweifelt: «O Herr, lass mich doch ein wenig mehr im Geiste leben.»
Auch hier Selbsterziehung und Disziplin. Sonst gelangt man nicht zu einer Harmonie.
Ich bin schon sehr müde abends. Aber ich muss mich doch wirklich eine Stunde «zusammennehmen» und ein wenig am Russischen arbeiten, und danach habe ich wieder eine freie Hand für Rilke.
Samstagmorgen [21. Februar 1942], halb 10.
Gestern Abend auf einmal so müde und überreizt und unzufrieden und Schmerzen in meinem Rücken. Unfreundlich zu Han. Auf dem breiten, ruhigen Fundament des Vormittags habe ich meinen weiteren Tag nicht gut aufgebaut.
Und meine Tage, sie ruhen auf dem breiten Fundament einer «stillen Stunde» am Morgen – und wenn es manchmal nur auch 5 Minuten sind.
Heute Morgen fand ich mich selbst auf einmal kniend am erloschenen Ofen im Wohnzimmer wieder und sagte: «Mein Gott, gib mir ein wenig Geduld und ein wenig Liebe für die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens. Lass mich mich nicht über dieses andauernde Husten von Hans ärgern.» Ich verdächtige ihn manchmal, dass er – aus reiner Dramatisierung – etwas schlimmer hustet, als es notwendig ist. Aber bedenke dies: Das Bedürfnis zu dramatisieren ist auch ein Teil seiner Krankheit und an dieser Pathetik, die er hat, leidet er vielleicht noch stärker als an seiner Krankheit selbst. Früher schlug man Geisteskranke. Dieses Verärgertsein über Hans’ übertriebene Besorgtheit ist noch ein primitiver Rest solcher mittelalterlicher Reaktionen auf die Mitmenschen. Die Besorgnis um etwas Imaginäres – und hier ist kaum die Rede von etwas Imaginärem, diese Lungenentzündung ist wirklich völlig echt – ist genauso gut etwas Wirkliches für den Patienten und man muss sie als Krankheit betrachten und man muss ihr auch mit Liebe und Verständnis begegnen. Wenn man seine Gereiztheit diesbezüglich nicht besiegt, bleibt die Menschheit immer in diesem primitiven Stadium stecken, und man kann nur zum Fortschritt der Menschheit beitragen, wenn man beginnt, all diese primitiven Reste in sich selbst zu überwinden. Das ungefähr überlegte ich mir, als ich neben dem erloschenen Ofen kniete. Und später: «Und lass mich auch ein wenig Mitgefühl und Verständnis für Bernards ewig hungrigen Magen haben und nicht fortwährend denken, dass das seine Gefräßigkeit ist, und lass mich ihm ehrlich alles, was er isst, gönnen.»
Dieser Kerl leidet wirklich Hunger, ich habe nicht das geringste Mitgefühl, weil ich ihn für so einen Materialisten halte und meine, dass er an nichts anderes als ans Essen denkt. Aber versuche doch, dir dies klar bewusst zu machen: Dieser Kerl arbeitet hart, er fährt lange Strecken durch die Kälte zur Arbeit, er nimmt stark ab und hat chronischen Hunger. Die innerliche Haltung, die du ihm gegenüber einnimmst, ist eigentlich nicht sehr menschlich. – Und so weiter und so fort.
Das Ergebnis war, dass Bernard einen zusätzlichen Teller Brei – mit Liebe geschöpft – zum Frühstück bekam.
Und ich glitt so freundlich an Hans’ Bett vorbei, dass ich spürte, dass es ihm selbst dadurch besser ging. Es geht mir jetzt sehr gut. Diese ganze Gereiztheit ist weg. Die Müdigkeit bleibt, aber dann muss ich einfach ein etwas ruhigeres Tempo anschlagen.
Wieder minus 9 Grad. Vielleicht kommt Enkhuizen nicht,[24] obwohl ich ein ernstes Gespräch über diese Erbsen und Bohnen führen muss. Auf diese Fragestunde von Spier am Nachmittag bei Tide freue ich mich sehr. Dann noch Vater und Mutter und um 8 Uhr rein.[25]
Und nun an die Arbeit.
22. Februar 1942, Sonntagabend, 9 Uhr.
«Und was schreibst du jetzt heute Abend auf, Tide?»,[26] fragte ich, als ich die Kartoffeln servierte. «Oh, Dankbarkeit, Dankbarkeit, nichts als Dankbarkeit», sagte Tide mit glänzendem rotblondem Haar und einer Küchenschürze und sehr unpathetisch. Heute Nachmittag, Sonnenschein auf den Hyazinthen und Narzissen, Beethoven, die Spierlinge[27] um das 3-jährige niederländische Baby herum, das bereits weißes Haar an den Schläfen hat, und selbst gebackener Rührkuchen aus Beetsterzwaag[28] und Atmosphäre, so eine gute Atmosphäre um uns herum, so viel gute Ausstrahlung von allen zu allen, mein Gott, für so viel Gutes kann man wirklich dankbar sein – und einige Häuser weiter das Gebäude, zu dem wir am Mittwochmorgen um 8 Uhr hinmüssen,[29] S. und ich, mit strammer Haltung und nur mit «Ja» oder «Nein» antworten und von halbwüchsigen Kerlen angeschnauzt werden, obwohl man weißes Haar an der rechten Schläfe hat.
Und doch trifft mich dies nicht, ich frage mich, ob das daher rührt, dass ich nicht in der Wirklichkeit lebe, und ob das unverantwortlich ist. Ich glaube es nicht. Ich weiß, dass wir uns im Griff eines großen und bedrohlichen Schicksals befinden, dieser Mittwochmorgen ist so eine Momentaufnahme, davor habe ich keinen Moment lang Angst, ich erwarte sogar nicht einmal etwas unerwartet Aufsehenerregendes. Er hatte Angst, der alte Schatz. «Er hat es mir am Freitag ehrlich eingestanden», sagte Tide in der Küche, «findest du das nicht stark und reizend?» Er hat gesagt, dass er Angst hatte. Es ist alles so seltsam. Das Realste ist für mich noch immer dieser Sonnenschein auf den Hyazinthen, das Kaninchen, der Schokoladenpudding und Beethoven und sein weißes Haar an der Schläfe und sein junger Nacken. Als er vor dem Essen diesen Psalm vorlas, unter der Lampe stehend, unpathetisch, beinahe nüchtern, lag da so eine unendliche Güte über die liebe Landschaft seines Gesichtes ausgebreitet. Und für einen Moment liebte ich ihn mit einer Liebe, die fürchterlich wehtat, weil sie weit über alle Erotik und Sinnlichkeit hinausging, und die deshalb auf einmal so ungreifbar schien. Ich weiß dann, dass ich in einer Umarmung, selbst in einer vollkommenen Hingabe meine Liebe für ihn nicht ausdrücken könnte, und das tut weh, weil man dann einfach ruhig auf seinem Platz sitzen bleiben muss und diese Liebe in sich tragen muss, es ist dann auf einmal ein Gewicht, das fast zu schwer ist für so ein kleines sinnliches Mädchen. Und ein kleines stilles Lächeln über die Kartoffeln hinweg kann dann mehr bedeuten als eine ganze Nacht unter gemeinsamen Bettlaken, und als ich ihn anschaute, merkte ich, dass auf einmal Tränen in meine Augen schossen, und fast geblendet von seinen gutmütigen Augen wandte ich mich ab. Und dazwischen harmlosen Blödsinn verzapfen. Aber keine Disharmonie zwischen diesem oberflächlichen Scherzen und den tieferen Gefühlen, das eine ergänzte das andere und so weiter.
«Und, Herr Glassner», fragte S., «wie fühlen Sie sich nun in unserem Kreis, spüren Sie daß wir hier einen bestimmten Geist haben? Und mit so verschiedenen Mentalitäten. Gucken Sie sich die Hillesum und die Tideman mal an, man sollte sagen, die passen zueinander wie Wasser und Feuer, wenn man sie so sieht» – Glassner schmunzelte nur ein wenig und aß Kaninchen.
Ich dachte, dass ich heute Abend sehr viel werde schreiben müssen, aber eigentlich ist alles schon gesagt. Ich radle mit einem Segelschiff hinten auf meiner Persianermütze entlang der gefrorenen Schneehügel, die entlang der Straßen liegen. Um 8 Uhr müssen wir drinnen sein und um 9 Uhr geht der Ofen mit einem Plopp aus. Kürzlich war die Buttermilch im Wohnzimmer gefroren und die Kartoffeln waren süß, weil sie gefroren waren; es sind alles Kleinigkeiten, sie gehen alle vorbei, und all das Aufheben, das um sie gemacht wird, ist zu viel. Heute Mittag – während Beethoven – musste ich auf einmal den Kopf tief beugen und für alle beten, die sich in kalten Konzentrationslagern befinden, und ich bat um Kraft für alle und wünschte ihnen, dass sie sich an gute Momente in ihrem Leben erinnern, so wie ich mich später, in schwierigeren Zeiten, an diesen Tag und an viele Tage des letzten Jahres erinnern werde und sie mir Kraft geben werden, nicht über das Leben verbittert zu sein. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass täglich die Kräfte wachsen, um die Zeiten tragen zu können, die kommen werden. Auf einmal muss ich an eine Passage aus einem Brief von Rilke denken – mal kurz im Buch von Betz suchen –, deren Worte ich für mein eigenes Leben beanspruchen will. Ja, da habe ich sie gefunden.
«Von allem, was das Leben mir an Unvorhergesehenem zufügen könnte, bleibt die Enttäuschung die entfernteste Möglichkeit; manche seiner Gaben, die ich in meiner Arbeit verwirklichen konnte, haben mich zu sehr erfüllt und für immer entzückt, als daß ich jemals an seiner unwandelbaren Großmut zweifeln könnte …»[30]
Ich bin schon noch sehr jung, aber es gab Tage und Momente in meinem Leben und es gibt sie noch täglich, durch die ich niemals verbittert werden könnte. Es ist, als ob das Leben mir niemals etwas Schlechtes anhaben könnte, weil all das Schwere und Schwierige, das kommen kann, schon im Voraus akzeptiert ist.
Mein Körper richtet sich sehr stark nach meinem Geist. Je vertrauender und ausgeglichener ich mich fühle, desto stabiler scheinen sich die Zellen meines Körpers zu einem starken Bau zu vereinigen. Ja, es ist wahr, ich habe nun Kopfschmerzen und Magenschmerzen, aber ich werde nicht mehr davon beherrscht so wie früher, es fällt von mir ab, was ich fühle, ist ein unzerstörbarer starker Kern, der nur so stark bleibt bei einer andauernden «seelischen» Disziplin. Wenn ich diesbezüglich nachlasse und nur so unordentlich «in den Tag hineinlebe», dann überkommt meinen Körper auch direkt eine Müdigkeit und Unlust.
«Es war schön», sagte Alice Levie mit ihrer verschleierten Stimme auf der Eingangstreppe beim Zahnarzt, und ihre Augen und wogenden blonden Haare blickten mich aus der schwarzen Pelzmütze heraus an. Schmal und fröstelnd zusammengekauert stand sie dort und ich fuhr mit dem Fahrrad weg, dieses knallrote Segelschiff hinten auf meiner Persianermütze.
Es war schön. Wir hatten eine Tasse Kaffee im Café de Paris getrunken und ein wenig geredet. Ihre Worte und Fragen und Schwierigkeiten flatterten auf mich zu, ein wenig unsicher und Halt suchend, und ich fing sie auf und versuchte zu verstehen und ihnen eine Form zu verleihen. Es war schön. Warum sollte es auch nicht so sein können im Leben, immer und zu jeder Stunde, dass man beisammen ist und dass man beim Abschied nehmen sagt: Es war schön. Und ich entwickle mich schon in diese Richtung. Jedes Beisammensein mit einer anderen Person erhält einen Inhalt und eine Bedeutung, ein wenig über das alltägliche Niveau hinausgehend. Zielloses und zufälliges Zusammensitzen und sinnloses Reden kommt kaum mehr vor. Je reifer man selbst wird, desto klarer werden auch die eigenen Dinge, desto klarer sieht man sie auch bei anderen und man landet bei anderen auch direkt im Zentrum. Was noch nicht heißen will, dass man immerwährend bedeutungsvoll ist. Es gedeihen immer mehr Antworten in mir. Abends im Bett denke ich manchmal: Da habe ich eine Frage falsch beantwortet, da hätte ich dies sagen müssen; oder: Darauf habe ich keine Antwort gegeben, ich weiß jetzt, was ich hätte sagen sollen.
Es muss so werden, dass man immer bereit ist, den Mitmenschen formend entgegenzutreten, und je geformter man selbst wird, desto eher wird dies gelingen.
Ich bin so dankbar für dieses Leben, ich fühle mein Wachstum, ich weiß um meine Fehler und um meine Schwächen, jeden Tag aufs Neue, aber ich weiß auch um meine Möglichkeiten. Und ich habe so viel Liebe, ich liebe ein paar gute Freunde, aber diese Liebe stellt keinen Zaun gegenüber den anderen Mitmenschen dar, ich liebe vielmehr extrem weit und umfassend und breit, sehr viele Menschen, auch solche, die ich eigentlich persönlich überhaupt nicht gerne mag, und dort muss die Liebe auch hin. Es ist nun 10 Uhr. Han schläft wieder oben bei seinem etwas pathetischen Lungenentzündungssohn und ich krabbele dankbar in mein schmales und einsames Bett. Das ist so typisch, wenn ich so auf meinem Rücken ausgestreckt daliege, dann ist mir, als ob ich an die gute alte Erde selbst angeschmiegt läge, obwohl ich doch wirklich nur auf einer weichen Matratze liege. Aber wenn ich da so liege, so intensiv und ausgestreckt und voller Dankbarkeit für alles, dann ist es gerade so, als wäre ich verbunden mit – ja, mit was eigentlich? Mit der Erde, mit dem Himmel, mit Gott, mit allem. Und wirklich, dann ist es gerade so, als ob ich an die Erde angeschmiegt daläge, obwohl es doch eine echt bürgerlich dekadente und weiche Matratze ist. Und nun gute Nacht.
Morgen früh beginne ich mit dieser russischen Übersetzung für Donnerstag, dann kommt Loekie, die unverwüstliche Streunerin mit ihren hohen Tanzbeinen, dann Leonie, die psychologisiert und ständig «ringen» will, und dann Hetty E., noch so jung, 10 Jahre jünger als ich und so suchend und fragend und leidenschaftlich, ich bin froh, dass ich da ein wenig anleiten kann – und abends S. bei Geiger abholen und kurz eine «moralische» Vorübung für Mittwoch; ich bete für ihn, ich bin manchmal selbst ein einziges großes Gebet für ihn. – Und nun wirklich gute Nacht.
Mittwoch, 25. Februar 1942.
Es ist nun morgens um halb 8. Ich habe meine Zehennägel geschnitten und einen Becher echten Van-Houten-Kakao[31] getrunken und ein Butterbrot mit Honig vor dem Ofen gegessen, das alles – wie man so sagt – mit Hingabe. Ich habe die Bibel an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen, aber sie gab mir an diesem Vormittag keine Antwort.
Das ist auch nicht schlimm eigentlich, denn es gab keine Fragen, da ist nur so ein großes Vertrauen und Dankbarkeit dafür, dass das Leben so schön ist. Und deshalb ist dies ein historischer Moment: nicht weil ich jetzt gleich mit S. zur Gestapo[32] muss, sondern weil ich trotz dieser Tatsache das Leben so schön und voller Zukunftsaussichten empfinde, was auch immer geschehen wird. Wenn ich bloß mit hineingehen darf.
Und ferner glaube ich noch dies: Ich glaube, dass S. ein «Einzelschicksal» hat, ein Schicksal, das einen sehr eigenen Weg geht. Eigentlich erschafft sich der Mensch doch sein Schicksal von innen heraus – ich habe viel Vertrauen in sein Leben.
27. Februar [1942], Freitagmorgen, 10 Uhr.
Dieser Vormittag gehört wieder mir. Es kostet mich jedes Mal wieder so viel Kraft und Selbstüberwindung, mich wieder hinter diese blauen Linien zu setzen und zu versuchen, vorsichtig ein paar Gedanken aus mir herauszuführen, sie kommen doch noch nicht gut an. Vielmehr springen sie manchmal in mir herum und drängeln sich wie hinter einem Gitter, um nach draußen zu kommen. Es geschieht – zumindest für mein Gefühl, ein Außenstehender könnte es nicht bemerken – so furchtbar viel in meinem Leben, dass ich manchmal fast nicht mithalten kann; es entgleitet mir viel, das ich gerne festhalten würde, aber das Wesentliche wird wohl immer wieder zurückkehren.
War das noch zu Beginn dieser Woche, dass ich ihm schrieb: «Habe Dich gestern einen Moment liebgehabt mit einer so großen Liebe, daß es mir fast weh tat. Es war eine Liebe, die so weit über alle Grenzen des Sinnlichen und des Besitzenwollens hinausging, daß ich nicht wußte, wie ich das jemals ausdrücken müßte.»
Jawohl – über alle Grenzen des Sinnlichen hinaus. Ist dies eine neue Phase in unserer Beziehung oder sind das eher zufällige Momente meinerseits, dass gerade ein körperliches Verlangen nach ihm wächst, dass es in den letzten Tagen und Nächten fast zu einer Obsession wurde? Sehr langsam bewege ich mich in Richtung einer gänzlichen Hingabe.
Sein Mund ist mir in unseren Gesprächen immer nah, angenehm und gütig und vertraut, eine Welt für sich, aber die Dämonen sind zur Ruhe gekommen und ich will sie wieder heraufbeschwören. Ich wurde gestern Nachmittag beinahe wahnsinnig. Es war schon wieder interessant und später zu Hause war es auch wieder anregend, worüber wir sprachen (das Buch Hiob und Faust), aber ich hatte Lust, alles Mögliche durch das Zimmer zu schleudern und mich nur seinen Armen und seinem Mund hinzugeben. Aber was willst du machen? Um 8 Uhr abends drinnen; vergeudete Stunden zwischen den Patienten, Spaziergänge im Schnee und Telefongespräche.
Als ich nach Hause kam, um 4 Uhr, fühlte ich mich elend. Eine Traurigkeit, die so groß war wie schon lange nicht mehr. Mich fast gekränkt fühlen als eine Frau, die voller Bedenken ist, ob sie noch begehrt wird. Und doch: Seine Stimme ist eine einzige große Liebkosung. Aber die Dämonen: für einen Moment lang vertrieben. Die Ironie wollte es, dass er an diesem Mittag, während ich gerade sehr poetisch bei ihm auf dem Schoß saß, noch sagte: «Doch schön und merkwürdig, wie Sie jetzt leben, wie Sie so dahinleben und alles umsetzen in Geist.» – Jawohl: in Geist. Und dann auch noch einen Brief von Hertha lesen. Gestern Abend am Telefon las er mir einen Teil aus ihrem Brief vor – sie kommen und strömen, die «sehnsuchtsschweren» Briefe. Und ich habe mein Herz sperrangelweit geöffnet und war völlig ehrlich und dachte: Ich bin so dankbar dafür, dass er mich sein ganzes Leben miterleben lässt und auch dieses andere Leben, das aus der Ferne mit dem seinen verbunden ist, denn so erweitern sich ständig meine inneren Horizonte. Es ist jedes Mal schwierig für mich, aber jedes Mal schlage ich mich durch und bleibe innerlich anständig. Aber dann gestern Nachmittag wieder so ein Brief und ich so voller Verlangen – tja, aber was sollte ich machen, in einer halben Stunde kam ein Patient. Und eigentlich war ich so müde. Ja, das muss ich mal mit ihm besprechen, das ist etwas Typisches für mich: Ich habe beobachtet, dass bei mir fast immer eine große Müdigkeit – der Beginn einer Grippe oder was auch immer – mit großer Sinnlichkeit und Verliebtheit einhergeht, die dann wegen der großen Müdigkeit doch nicht realisiert werden kann und dann aufs Innere zielt und Unheil anrichtet.
Und als ich gestern Nachmittag vor dem Ofen saß, wieder zurück und sehr traurig, zuerst für mich selbst unverständlich, und Leonies Brief noch einmal durchsah, griff ich nach der Bibel und schlug Korinther 1.13 auf, zum zigsten Mal.
Ja –
«Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.
…
Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf; sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.»[33]
Und als ich diese Worte las, da war mir, ja, wie war mir da zumute? Ich kann es noch nicht gut ausdrücken. Sie wirkten auf mich wie eine Wünschelrute, die den harten Grund meines Herzens berührte und plötzlich verborgene Quellen aufsprudeln ließ. Auf einmal lag ich auf den Knien neben dem kleinen weißen Tisch und es strömte wieder die befreite Liebe durch mich hindurch, einen Augenblick lang befreit von Begierde, Neid, Gehässigkeiten usw. Aber ich glaube, dass ich ganz schön hysterisch war gestern Nachmittag. Kurze Zeit danach saß ich vor dem Ofen, mit Tränen und so traurig wie schon sehr lange nicht mehr. Und mit so einem großen Verlangen und mit einer Art Wut einer verschmähten Frau. Und ich hielt mir selbst noch vor: «Weißt du eigentlich, dass es sehr kindisch ist, dich beleidigt zu fühlen auf eine Art und Weise, wie du das jetzt tust?»
Und als Han kurze Zeit später ins Zimmer hereinkam, sagte ich: «Papi, es wird höchste Zeit, dass du wieder unten schläfst, ich fühle mich wieder ganz melancholisch und nymphoman und bin wieder geneigt, alle Dinge des Geistes als wertlosen Plunder in eine Ecke zu schmeißen.» Und Han, sehr klug: «Nein, das muss nicht sein, dann wäre dein Gleichgewicht aufs Neue gestört, lass den Geist das sein, was er ist, und lass ihn seinen vollen Wert behalten, aber stelle zuerst das Gleichgewicht wieder her.»
«Ja, Han.» Ich bin ehrlich zu ihm, innerlich. Die Leidenschaft vieler Jahre ist allmählich zu einer übergroßen Zuneigung geworden und die Körper sind aus einer schönen Tradition heraus noch vertraut miteinander. Und ich habe mir gestern vorgehalten: Es ist gemein und kindisch und ungerecht, wenn man das Verlangen nach dem einen Mann mit einem anderen Mann zu stillen versucht. Aber ich versuche, das nicht zu tun und Han nicht als ein Mittel für meine erotischen Wünsche zu gebrauchen.
Und als ich abends in seinem Bett lag und er noch an seinem Schreibtisch saß, sehnte ich mich auf einmal wieder so nach S., dass ich froh war, dass Han erst viel später ins Bett kam und ich durch sein Spätsein bereits eine Ausrede hatte, schon zu schlafen. Aber als die so vertrauten Glieder wieder an mich angeschmiegt dalagen, begannen die Körper ihr Spiel nach ihren eigenen Gesetzen und ich gab mich dem auch voller Genuss hin, aber als dann später Han glücklich und zufrieden neben mir lag, habe ich heimlich im Dunkeln in seiner Achselhöhle geweint vor lauter Verlangen nach dem anderen Mann. Und heute Morgen hatte zu meinem Entsetzen das Verlangen noch nicht nachgelassen. Es wächst weiter, und wohin wird das führen?
Gestern Abend, als ich ihn um 7 Uhr bei Geiger abholte, sagte ich plötzlich: «Ich bin wieder soo traurig.» Und er, sehr erstaunt: «Seit wann denn?» Ich: «Seit heute morgen 11 Uhr.» Und er: «Das ist doch selbstverständlich, nach diesem frühen Aufstehen und diesen Emotionen von gestern.» Und ich: «Aber darüber habe ich mir keine Sekunde lang Sorgen gemacht.» Er: «Aber Sie haben vielleicht doch mehr Libido[34] hineingesteckt als Sie selber wissen.» Und ich: «Vielleicht habe ich ausgerechnet zu viel Libido übrig.» Und dann wusste er es schon wieder.
Und ich habe ihn voller Widerwillen um 7 Uhr abgeholt. Ich wollte nicht mehr reden, ich wollte einzig nur die Dämonen um seinen Mund wieder heraufbeschworen sehen. Aber die Unterhaltung auf diesem kurzen Spaziergang zu seinem Haus enthielt wieder unerwartet gehaltvolle Momente. Und als ich zu Hause war, hörte ich kurz danach seine Stimme wieder am Telefon, eine einzige große Liebkosung. Über moderne Dichtung, über Tatjanas Traum[35] in Puschkin, über weiß Gott was gesprochen; ich habe ihm dann von der Begegnung mit diesem Mann im Zug und später in der Straßenbahn erzählt, mit diesem Gesicht wie eine exotische Landschaft, von dem ich hoffte, er würde mich ansprechen. Vielleicht will ich ihn auch unbewusst reizen? Ich weiß es nicht. Und er, sehr versöhnlich: «Das kommt alles auch mal wieder.»
Am 3. Februar, dem ersten Jahrestag unserer Freundschaft, habe ich gedacht, dass keine «Steigerung» mehr möglich sei, so intensiv erschien mir unsere Beziehung. Seither – noch kein Monat ist vergangen – scheint sie mir immer intensiver zu werden. Und ich weiß, dass da noch viele Möglichkeiten warten. Die Angst vor dem vollständigen Körperkontakt, aus Furcht, dass dieser nicht das gleiche Niveau erreichen könnte wie unsere geistige Verbindung und dass er etwas verderben könnte. Man sollte niemals etwas forcieren und alles seinem natürlichen Wachstum überlassen und warten, bis die reifen Früchte zu Boden fallen. Mein Verlangen wächst sehr langsam und reift zu einer vollkommenen Hingabe, wie ich das noch niemals zuvor gekannt habe.
Es geschah vor ein paar Tagen in einer kalten Straßenbahn auf dem Weg zur Universität. Da hatte ich es auf einmal mit großer Deutlichkeit vor Augen: Ich werde durch viele Länder reisen und ich werde ebenso viele Gesichter von Menschen wie Landschaften bereisen. Von allen Gegenden der Welt aus, wo ich sein werde, werde ich etwas zu den Menschen zu sagen haben, und zwar auf meine eigene bescheidene Art und Weise, aber ich habe jedenfalls etwas zu sagen – auf eine eigene Art und Weise.
Ich habe mich mit ihm dann verbundener denn je gefühlt, aber zugleich auch befreiter von ihm als je zuvor gefühlt. Ich trage ihn in mir wie einen Teil meines Körpers und meiner Seele. Aber ich werde frei und ungebunden bleiben und niemals mein Leben an dasjenige eines anderen binden. Das wusste ich dann ganz sicher. Ich wusste damals auch um den Hunger und die Kälte und die Niedergeschlagenheit, an denen ich immer wieder aufs Neue leiden werde, aber auch um das große Vertrauen und um ein andauerndes Wachstum. Und in kurzen Momenten werde ich mit ihm für das ganze Leben verbunden sein wollen, aber ich weiß, ich muss immer wieder bedenken, dass ich trotzdem eigentlich allein durch das Leben gehen will.
Der Mensch erschafft sich sein eigenes Schicksal von innen heraus. Ich schrieb dies am Mittwochmorgen in aller Frühe auf und fühlte mich danach ein wenig beunruhigt durch diese unbedachte Äußerung und suchte für mich selbst nach Beweisen dafür. Und plötzlich wurde es mir so kristallklar. Natürlich erschafft sich jeder Mensch sein eigenes «Schicksal» von innen heraus. Es gibt nicht so viele Lagen, in denen man sich auf dieser Erde befinden kann: Man ist Ehemann, man ist Vater, man ist Ehefrau, man ist Mutter, man ist Insasse eines Gefängnisses oder Wärter eines Gefängnisses, es macht nicht so einen großen Unterschied, alle sind von denselben Mauern umgeben. Und so weiter und so fort, später weiter ausarbeiten. Aber wie man sich innerlich zu den Ereignissen des Lebens stellt, das bestimmt dein Schicksal. Das ist dein Leben. Man kennt das Leben eines Menschen nicht, wenn man die äußeren Umstände kennt. Die äußeren Umstände, ach, sie unterscheiden sich nicht so stark im Leben eines jeden. Um das Leben eines anderen zu kennen, muss man seine Träume kennen, seine Stimmungen, und wissen, welche Art von Beziehung zwischen ihm und seiner Frau und seinem Tod und seinen Enttäuschungen und seinen Krankheiten besteht.
Wir standen dort mit einer großen Gruppe in diesem Lokal bei der Gestapo am Mittwochmorgen in aller Frühe, und die Lebensumstände waren für alle dieselben in diesem Augenblick: Wir befanden uns alle im selben Raum, die Männer hinter dem Pult genauso wie die Befragten. Was das Leben eines jeden bestimmte, war, wie man sich innerlich dazu stellte.
Es fiel mir unmittelbar ein hin und her laufender junger Mann mit unzufriedenem Gesicht auf und er verbarg diese Unzufriedenheit auf keine Art und Weise und wirkte nervös und gequält. Hochinteressant zu sehen. Er suchte nach Vorwänden, um die unglücklichen Juden anschreien zu können: «Hände aus den Taschen bitte» usw. Ich fand ihn bedauernswerter als die Angeschrienen und die Angeschrienen nur bedauernswert, sofern sie Angst hatten.
Als ich mit S. vor seinem Pult erschien, brüllte er mich plötzlich an: «Was finden Sie lächerlich hier.» Ich hätte gerne gesagt: «Außer Ihnen, finde ich nichts lächerlich hier», aber aus diplomatischen Überlegungen heraus erschien es mir besser, dies zu unterlassen. «Sie lachen ja fortwährend», brüllte er weiter. Und ich völlig unschuldig: «Davon bin ich mir gar nicht bewusst, das ist mein gewöhnliches Gesicht.» Und er: «Machen Sie keinen Blödsinn bitte, gehen Sie bitte rrrraus», mit einem Gesicht, das aussagte: «Wir werden uns gleich noch sprechen.» Und dies war wahrscheinlich der psychologische Moment, in dem ich eine Heidenangst hätte haben müssen, aber diesen Trick durchschaute ich zu schnell.
Ich habe eigentlich keine Angst. Nicht, weil ich mich mutig fühle, sondern aus dem Gefühl heraus, dass ich es doch immer mit Menschen zu tun habe und dass ich versuchen werde, jede Äußerung von wem auch immer zu begreifen, sofern mir dies möglich sein wird. Und dies war das Historische an diesem Morgen: nicht, dass ich von einem unglücklichen Gestapo-Kerl angeschrien wurde. Vielmehr hätte ich vielleicht empört oder ängstlich sein müssen, aber das Wichtige dieses Morgens scheint mir darin zu liegen, dass ich aufrichtiges Mitleid mit diesem Kerl hatte, sodass ich ihn am liebsten gefragt hätte: «Hast du so eine unglückliche Jugend gehabt oder hat dich dein Mädchen betrogen?» Er sah so gequält und nervös – übrigens auch sehr unangenehm und schlapp – aus. Ich hätte am liebsten direkt mit einer psychologischen Behandlung angefangen. Dabei war mir sehr stark bewusst, dass diese Kerle bedauernswert sind, solange sie nichts Böses anrichten können, aber lebensgefährlich werden und deshalb ausgerottet werden müssen, wenn sie auf die Menschheit losgelassen werden. Aber verbrecherisch ist nur das System, das sich dieser Männer bedient.
Noch etwas von diesem Vormittag. Die sehr starke Empfindung, dass ich trotz all des Leids und Unrechts, das geschieht, die Menschen nicht hassen kann. Und dass all das Furchtbare und Abscheuliche, das geschieht, nicht etwas geheimnisvoll Bedrohliches und Fernes von außen ist, sondern dass es sehr nahe bei uns ist, in uns, aus uns Menschen entspringt. Und dass es mir dadurch bereits wieder vertrauter ist und nicht so beängstigend. Das Beängstigende ist, dass Systeme über Menschen hinauswachsen und diese Menschen in ihrem satanischen Griff haben, und zwar sowohl die Entwickler als auch die Opfer dieses Systems, so wie große Gebäude und Türme – von Menschenhand erbaut – irgendwann über uns hinausragen, uns beherrschen und über uns zusammenstürzen und uns begraben können.
Wir kamen in einen schön beheizten Raum und wurden von sehr korrekten Herren mit allerlei Abzeichen sehr korrekt empfangen und wir selbst waren auch sehr korrekt. Wir unterschrieben mit höflicher Geste die Schriftstücke, die uns höflich hingeschoben wurden und die möglicherweise unser eigenes Todesurteil sein könnten.
Wir sagen: Diese Männer da, die machen doch da nur mit, auch wenn sie nicht damit einverstanden sind, Todesurteile zu unterschreiben. Aber wir, wir machen doch auch mit und unterschreiben unsere eigenen Todesurteile mit einem freundlichen Gesicht. Und dieses Gefühl hatte ich an diesem Morgen sehr stark: Man kann den Hass nicht an einzelnen Menschen abreagieren, niemand trägt Schuld, ein System funktioniert über unsere Köpfe hinweg, ein bedrohlich errichtetes Gebäude, das über uns einstürzen kann, sowohl über den Befragenden als auch über den Befragten.
Eine Sache war noch witzig und erwähnenswert: Dieses Gespräch über Rilke um 8 Uhr vormittags mit diesem jungen Beamten des Judenrats. Und ich sagte später an dem Tag zu jemandem: Ich finde es eigentlich immer und überall ganz gut, solange ich selbst dabei sein darf.
Und nun muss ich mich um die Kaffeetafel kümmern. Ich muss noch über ein paar Dinge schreiben. Über Tide, die am Sonntag so bezaubernd war, dass ich das Bild von ihr an diesem Tag gerne festhalten würde. So frisch und jung und strahlend. Und dann etwas sehr Prosaisches: das hohe Niveau, das dieses Diner hatte. Zwei wirklich tüchtige Frauen, Adri und Tide. Na ja, über solche Dinge kann ich doch nicht gut schreiben.
Über Alice Levie könnte man noch Bände schreiben. Und über Leonie, deren Brief[36] ich hier als Erinnerung an den Weg beilege, auf den sie sich nun begeben wird und auf dem ich sie auch ein wenig unterstützen kann. Alice Levie betrachtet mich als eine Zwischenstation zwischen ihr und S. und Leonie sagte einmal: «Bei dir komme ich in den Vorhof des Tempels und bei S. gelange ich dann in das Heilige des Heiligen selbst.»[37] So entsteht eine kleine Praktik, um ein großes Wort zu gebrauchen. Dieses kleine Stückchen Beichte lege ich auch bei, auch als Erinnerung.
Und Aimé – damit dieser Kreis nun auch geschlossen ist – verschafft mir eine stets wiederkehrende Befriedigung. Es ist jetzt nur ein wortloser und stiller Kontakt in den Vorlesungen, aber ich weiß, dass er bei mir wieder anklopfen wird, und dann stehe ich bereit. Meine Herde wird immer größer und ich stehe für immer mehr bereit und finde immer mehr Antworten für mich selbst und für diejenigen, die fragen. Und nun zur Kaffeetafel.
1. März ’42, Sonntagabend, halb 9.
Ich darf nicht mit so viel unverarbeitetem Stoff in meiner Seele die neue Woche beginnen, nicht so viele verwirrte Stimmungen mit mir in die neue Woche mitschleppen. Es wäre schade, denn es stehen so viele gute Dinge auf dem Programm: morgen die Rilke-Briefe bei Ilse Blumenthal und Hetty, am Dienstagnachmittag merkwürdigerweise Jan Bool, um mit mir zusammen ein wenig zu arbeiten, am Mittwoch Leonie, am Freitagabend und Freitagnacht die Levies, am Donnerstag mit S. bei Geiger essen.
Was ist das doch für eine Frühlingshysterie und Schwermut, auch wenn noch eine Schneesteppe vor dem Haus liegt. Als S. heute Nachmittag mit seinem bleichen Gesicht über dem dunkelblauen Anzug vor mir stand (dieser dunkle Anzug mit dieser dunkelroten Krawatte steht ihm viel zu gut) und sagte: «Na, was sitzen Sie da melancholisch verschollen in der Ecke», da hatte ich auf einmal die seltsame Anwandlung, laut weinen zu wollen. Und als wir später kurz allein in Tides Zimmer waren und er vor mir stand, musste ich mich beherrschen, nicht zu heulen, und ich verhielt mich ihm gegenüber wahnsinnig zurückhaltend und verkrampft und er lachte mich ein bisschen aus und sagte: «Na, es wird schon wieder gut.» Das Schlimme war, dass er mir wie ein vollkommen Fremder vorkam, ein Mann, mit dem ich nichts zu tun hatte und auch niemals etwas zu tun gehabt habe. Und auf der Straße auf dem Fahrrad konnte ich dann wieder laut heulen wie ein Kind, das todunglücklich ist und nicht weiß, worüber. Und ich habe noch immer einen Kloß im Hals. Es ist echte Frühlingshysterie. Ich bin selbst verblüfft darüber. Ich verstehe es aber auch ein bisschen. Ich habe mich in den letzten 2 Monaten innerlich vor lauter Liebe für ihn verausgabt und sein Herz war immer offen und bereit für mich, er streckte mir seinen Geist fortwährend entgegen, aber er vergaß, seine Hände und seinen Mund auch nach mir auszustrecken. Und es muss doch ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist geben. Und wenn man sich so schrecklich danach sehnt, dass jemand einen in seine Arme nimmt, und er tut dies aber niemals, dann überkommt einen als extreme Reaktion darauf manchmal auf einmal ein Gefühl der starken Entfremdung und Verlassenheit, gefolgt von Wut und Hass auf den anderen. Ich war heute Nachmittag auf einmal so wütend und unglücklich und es brach auf einmal wieder so eine starke Schwermut über mich hinein. – Damit verbunden eine große körperliche Müdigkeit und Erschöpfung und Schmerzen im Rücken.
Ich habe mich vor ein paar Tagen gefragt: Besteht dieses Verlangen nach ihm nur in zufälligen Momenten oder wird es ein organischer Prozess, in dem das Verlangen wächst und reift bis zur unvermeidlichen Hingabe? Ich beginne allmählich zu glauben, dass Letzteres der Fall ist. Aber dann muss ich auch die Geduld haben, dieses Verlangen bis zu seinem Ende auszutragen. Immer wieder habe ich mir gesagt: Geduld. Ich muss dann zunächst abwarten, ob dieses Verlangen lebensfähig ist und ob es nicht nur in den Fantasien der Nacht blüht oder ob es auch der Nüchternheit des Tages gewachsen ist.
Es ist wirklich sehr schwierig für mich in den letzten Tagen mit diesen Frühlingsgefühlen. Und was mich dann auf einmal so widerspenstig und wahnsinnig machen kann, ist, dass er dann immer derselbe bleibt und dann noch, überhaupt nichts Böses ahnend, behauptet: «Doch schön so ein Mädchen, das so dahinlebt und alles umsetzt in Geist.»
Ich sage ab und zu zu mir selbst: Ich halte das nicht mehr lange aus, ich verzweifle, ich kann nicht mehr. Und dann wieder: Geduld. Ein Verlangen in dir tragen und zur vollen Größe heranwachsen lassen. Und diese Kindereien musst du dir abgewöhnen: wütend sein und dich ärgern über denjenigen und dich beleidigt fühlen von demjenigen, der dein Verlangen nicht stillt. Er ist letzten Endes auch in denselben Prozess verwickelt. Die Umstände machen es derzeit sehr schwierig, ungestört beieinander zu sein, und Mann und Frau haben nun einmal ihre unterschiedlichen Momente, es ist alles so verdammt schwierig.
Aber dies steht jetzt doch für mich fest: Im Augenblick ist, zumindest für mich, das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele in unserer Beziehung gestört. Der Körper macht mir zu schaffen und macht mich müde.
Noch diese zärtliche, melancholische Novelle von Tschechow[38] zu Ende lesen und dann sehr früh ins Bett. Ich habe solche Angst, dass diese Müdigkeit bleibt. Ich bin so böse auf ihn. Ich würde so gerne in seinen Armen sein. Ich finde es so gemein von ihm, dass er mich so verschrumpeln lässt, ich werde davon sehr stark rebellisch und gleichzeitig so lustlos. Und ich kann jetzt auch nicht sagen: Ich liebe ihn so sehr. Das ist nun alles getrübt. Das Verlangen «macht sich breit» in mir, es dehnt sich aus und nimmt mich von innen gänzlich in Anspruch und macht mich so bleischwer.
Es ist halb 9. Han liegt im Bett, ein alter, hustender, keuchender Mann mit freundlichen blauen Augen. Es ist alles ein bisschen betrüblich. Mein Körper fühlt sich so jung und so einsam und verraten an. In mir gibt es keinen einzigen liebenswürdigen Gedanken, ich bin traurig und hasse alle. Heute Morgen war das noch nicht so und gestern überhaupt nicht. Das war gestern so ein ausgelassener Frühlingsnachmittag mit Alice Levie. Aber heute Nachmittag überkam es mich auf einmal, als ich S. wiedersah.
Es ist sehr gut, seinen Kummer wieder einmal zu erfahren und zu einem guten Abschluss bringen zu müssen. Der Kummer wiegt schrecklich schwer in mir und tut weh. Man darf sich niemals an anderen abreagieren, das ist kindisch, andere müssen nicht unter uns leiden, wenn wir an unserem Kummer zu leiden haben. Und auch immer die kindische Neigung, dich beleidigt zu fühlen. Zu denken, dass niemand es so schwer hat im Leben wie du selbst.
Und lass mich nur mich selbst zitieren:
«Und meine Traurigkeiten, sie gehören mit zu den kostbaren Bestandteilen des eigenen Wesens und bergen schon wieder in sich den neuen schöpferischen Moment.»[39] – Es klingt für mich jetzt nicht einmal überzeugend in den Ohren. Da ist ein gestörtes Gleichgewicht, das so wehtut und das zuerst wiederhergestellt werden muss.
Montagmorgen [2. März 1942], 8 Uhr.
Ich bin nicht mehr böse auf ihn, ich liebe ihn sehr. Alle Kindereien sind gerade wieder von mir abgefallen. Gerade als ob immer wieder aufs Neue kleine Geschwüre auf der Oberhaut auftreten, aber sie platzen schnell auf und verschwinden. Man muss auch immer wieder aufs Neue mit den eigenen Schwächen und der eigenen Oberflächlichkeit konfrontiert werden. Gestern Abend im Bett sagte ich plötzlich: «Eigentlich müsste ich dir doch dankbar sein, Gott, dass du mich dazu befähigt hast, große und leidenschaftliche Gefühle zu haben, und dass du einen Mann auf meinen Weg geführt hast, der all diese Gefühle richtig zu erwidern weiß, auch wenn er es dann einige Wochen lang versäumt hat, seine Arme nach mir auszustrecken.»
Ich werde mein Verlangen erziehen und es vorsichtig und so würdevoll wie möglich an seinen Bestimmungsort lotsen.
Aber was muss ich zu den Frauen mit einem großen Verlangen sagen, die dafür keine Bleibe finden können? Die nicht den einen richtigen Gegenspieler finden können und die deshalb ihr Verlangen in viele schmutzige Stücke zerbröckeln müssen und es herabwürdigen müssen? Die – und plötzlich fallen mir die Worte dieser strengen, halb männlichen Phia Veling[40] ein, das ist schon Jahre her – aus ihrem Kapital Kleingeld machen müssen? Was muss ich solchen Frauen sagen? Arme Frauen nach diesem Krieg mit ihren niedergemetzelten Männern.
Es wird viel und schwer gelitten in deiner Welt, Gott, ich erfahre das annähernd jedes Mal wieder am eigenen Leib. Und auch dafür bin ich letztendlich dankbar, dass ein fernes Echo dieses Leidens auch in mir erklingt und dass ich dadurch immer wieder die Menschheit etwas besser verstehen und ihr nachempfinden kann.
Ja, ich werde mein Verlangen erziehen und es manchmal bändigen und es sicher an seinen Bestimmungsort lotsen.
Gestern Abend dachte ich: Seine Arbeit, nichts interessiert mich im Augenblick, bevor das Gleichgewicht nicht wiederhergestellt ist. Man sollte sich im Voraus niemals auf bestimmte Vorstellungen so festlegen. Wenn er mir heute oder morgen etwas über einen Patienten oder über was auch immer erzählt, dann wird mein Interesse wieder genauso groß und begierig sein wie immer.
Was ich gestern auch wieder gelernt habe, ist: Man darf ein Unlustgefühl niemals so einen langen Schatten auf die Tage vorauswerfen lassen, man verdirbt dann aus seinem eigenen Inneren heraus die kommenden Tage. Ich habe mir selbst eingeredet, dass ich ihn hassen würde, bis das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele in unserer Beziehung wiederhergestellt wäre. All meine Gefühle für ihn waren gestern so getrübt und ich dachte, dass dies so bleiben würde. Aber nun ist er mir wieder so nahe und ich liebe ihn, ohne getrübtes Gefühl. Und dass er mir gestern so fremd war mit seinem bleichen, leidenschaftlichen Gesicht über diesem dunkelblauen Anzug, das finde ich im Nachhinein betrachtet etwas sehr Merkwürdiges und Interessantes. Früher war das in jedem Augenblick der Fall, es war gestern auf einmal wieder eine kleine Reminiszenz an die Möglichkeiten von früher. Und auch das ist gut. So rostet man niemals in Gewissheiten ein und muss sich jedes Mal aufs Neue eine Sicherheit und vertraute Nähe zurückerobern. Und das ist letzten Endes auch einer der Reize an der Beziehung mit ihm: trotz der großen Vertrautheit und Intimität doch immer wieder eine große Distanz, erwachsen aus der Unvermeidlichkeit, dass jeder doch eine eigene Welt mit eigenen Grenzen ist. Aber es gibt Momente – und das war gestern so und in den letzten Tagen –, in denen man die eigene Welt und die eigenen Grenzen mit Freude würde aufgeben wollen, um mit dem anderen zu verschmelzen.
O ja, und dieser Gedanke kam mir heute Nacht auch noch: In solchen Frühlingsstimmungen ist man geneigt, das erotische und sexuelle Verlangen wieder als den alles beherrschenden Mittelpunkt des Daseins zu betrachten, aber auf einmal wusste ich wieder: Es ist ein Teil davon, es kann vielleicht gerade alles beherrschend sein, aber es ist doch nur ein Teil davon. Und es stand mir auch klar vor Augen: Das Schreiben eines kleinen Stücks Prosa oder ein Gespräch über wesentliche Dinge des Lebens mit einem Mitmenschen wird mir doch immer wieder größere Befriedigung verschaffen als ein Ehebett. Und dadurch, dass mir dies so klar vor Augen stand, trotz dieses quälenden Verlangens, wurde die Harmonie in mir schon fast wiederhergestellt. Man muss stets die Vielzahl der Teile zugleich im Auge behalten und man kann gelegentlich von einem Teil mitgerissen werden, auch das hat seinen Reiz, aber die meisten lassen sich manchmal derart von einem einzigen Teil beherrschen und mitreißen, dass das ganze Leben dadurch beschädigt und aus dem Gleichgewicht gebracht wird.
Ich habe heute Nacht viel geträumt, aber ich weiß kaum mehr, was. Aber dies weiß ich doch noch: Als ich wach wurde und noch auf der Schwelle zwischen Traum und Wachheit zögerte, da konnte ich gerade noch in den Raum des Traumes schauen und ich wusste: Es war ein guter Traum. Dann schlug die Tür zu und ich war nur noch wach. Aber die Erinnerung war: Es war ein guter Traum. Vielleicht weht die Türe ab und zu wieder einmal auf heute, das passiert öfters und dann fallen dir wieder Traumfragmente ein.
Unter anderem war da dieses: Ich saß inmitten sehr vieler Menschen, mein Vater saß da auch, klein und krumm, und er aß sehr unappetitlich. Und ich schämte mich nicht für ihn vor den anderen, ich hatte ihn sehr lieb, in mir war kein einziges Minderwertigkeitsgefühl seinetwegen, wie das sonst der Fall ist. Und als ich wach wurde, gab mir das ein sehr herrliches und dankbares Gefühl.
Und direkt nach dem Erwachen dachte ich auch: Ja, nun ist mir wieder einmal zum soundsovielten Mal bewusst geworden, dass die Innen- und die Außenwelt ständig ineinander überfließen müssen, es ist gerade so, also ob heute Nacht wieder ein Loch in die Wand gemacht wurde, die sie doch immer wieder getrennt halten will. Und auch dies gab mir so ein Gefühl der Erweiterung.
Zu Beginn der Nacht träumte ich etwas Schlechtes, aber der Traum hinterließ überhaupt keinen schlechten Nachgeschmack.
Ich war mit S. kurz allein in seinem Zimmer und plötzlich wirft er sich auf mich und beginnt mich zu küssen, ich erwidere den Kuss mit gierigem Mund und habe dabei das Gefühl: Er tut dies, wie er einen Patienten behandeln würde, von dem er denkt, dass dieser es benötigt. Es war nur sehr kurz, viel zu kurz, und dann kam Dicky herein, oder war es Adri? Ich erinnere mich noch, dass ich voller Wut eine Tür hinter Dicky zuschmetterte und Adri aus dem Zimmer hinausjagte. Mehr weiß ich nicht mehr. Ich weiß noch ganz schmerzhaft, wie ungestüm ich war und wie viel zu kurz es dauerte.
Und jetzt will ich noch eine Passage aus Rilke abschreiben, nur so, weil ich so gute Laune habe und mir selbst etwas Nettes gönnen will. Ich bin schon gespannt, ob diese gute Laune den heutigen Tag überleben wird, ich muss doch darauf vorbereitet sein, dass ich in jeder Hinsicht wieder aus meinem Gleichgewicht gebracht werden kann.
Ach nein, sei nun erwachsen.
Ach, wie früh ist Käthe denn?
Sie ist so eine verdammt starke und tüchtige Frau, diese Käthe. Direkt heute Morgen zum Carlton-Hotel, um zu versuchen, Carl[41] hierzubehalten, sonst geht er nach Deutschland und sie mit, das wäre eine Katastrophe für diesen Haushalt, ganz abgesehen von dem großen menschlichen Verlust. Käthe gehört zu den wenigen Menschen – das ist mir vor einiger Zeit bewusst geworden –, die ich ihr ganzes Leben lang nicht aus den Augen verlieren wollte und mit der ich immer in Kontakt bleiben wollte.
Die Arbeit in Carls Hotel wird wohl von deutschen Mädchen übernommen, hierher importiert aus den besetzten Gebieten, alle Männer vom Krieg verschlungen. Ich ertappte mich im Flur auf einmal dabei, dass ich für Käthe und für uns betete, damit es klappen würde, sie hierzubehalten.
Dieser Brief von Tide,[42] ich kann nichts dafür, vom 27. Febr., beigelegt auf S. 29 dieses Hefts, den sie mir gestern gab, irritierte mich in hohem Maße: … «dann ärgere ich mich schon wieder über meinen fürchterlichen Stil, aber ich weiß, dass unser lieber Gott nicht darauf achten wird.»
Ich dachte diesbezüglich: Kindlichkeit ist sehr rührend, aber dies geht mir doch zu weit für eine Frau im Alter von 35 Jahren.
Und dann … «Das Wunderbare ist, dass Gott mich erhört hat, mehr, als ich sagen kann, ist es nicht wunderbar gelaufen? Aber S. ist natürlich auch ein begnadetes Wesen.» Da wird man ja verrückt. Ja, es ist wunderbar gelaufen, wir durften eine Stunde lang hinter allerhand Tresen stehen, dann wurden wir von einem Querulanten angeschrien. Was hatte sie eigentlich erwartet, diese naive Tide? Dass sie ihn gleich ins Militärgefängnis stecken würden? Wunderbar gelaufen, nennt man so etwas. Das ist mir irgendwie alles zu kindisch, nicht mit dem nötigen Weitblick betrachtet. Ich werde vielleicht doch einmal mit ihr darüber sprechen.
Auf eine andere Art und Weise hat dieser Brief vielleicht doch eine Auswirkung auf mich gehabt. Ich ertappte mich dabei, dass ich gerade sehr intensiv für Käthe betete heute Morgen und dass ich in aller Frühe dachte: Bevor ich am Freitag zu den Levies gehe, werde ich ganz gewaltig und unheimlich beten, bevor ich dahin gehe, damit Segen über unserem Zusammensein ruht, weil davon so viel abhängen kann.
Und nun muss ich mich mal um mein Krankenhaus kümmern gehen, Rilke kommt dann später wieder einmal dran.
abends halb 10.
Es tut so schrecklich weh, ich kann nicht darüber schreiben. Ich stöhnte in der Apollolaan und in allen benachbarten Straßen, als ich unter dem Mond durchradelte. Es fielen Worte wie:
Mitleid, Belästigung, Verantwortung, Konflikte und Unfreiheit.
Ich muss mein Verlangen erziehen, es muss sich würdevoll benehmen. Weshalb kann ich mich nicht wie eine Schwerverletzte verhalten, die doch ihre Schmerzen anderen gegenüber zu beherrschen versucht und mit einem freundlichen Lächeln in ihr Bett geht? Ich stöhnte nur auf meinem Fahrrad: «Mein Gott, wie kann ich hier jemals auf anständige Weise herausfinden? Wie kann ich das ertragen?»
Dieses große Verlangen ist nicht so schlimm, aber die Reaktionen sind noch so kindisch. Wenn ich so weitermachen würde, könnte ich es mir mit ihm verscherzen. Aber im Moment bin ich einfach nur kaputt. Nicht unglücklich, das wäre einfach sündhaft. Aber ich leide, ich leide sehr stark, ich weiß nicht, wohin ich mit dem Leiden soll.
Ja, Fräulein, du mit deinen großen Worten über das Leiden. Es tritt nun wieder einmal in einer anderen Form an dich «heran», auch dies musst du akzeptieren. Es tut so entsetzlich weh. Aber du musst doch sehr gut zu unterscheiden lernen, wann du dich als verschmähte Frau fühlst und wann das Verlangen echt und groß ist. Wann es eine normale Frühlingshysterie ist, die an jedem abreagiert werden könnte, und wann es speziell diesem Mann und niemand anderem gilt. Ich bin doch noch einfach sehr klein und jung und kindisch, finde ich auf einmal.
Ich bin wieder einmal in einen neuen Schmelztiegel geworfen worden. Das Leiden, eigentlich mit einem großen L,[43] muss daraus zum Vorschein kommen, befreit von allen unedlen Nebenbestandteilen. «Ausklingen», auch das muss ausklingen.
Er entwickelt sich gerade zu einem halben Heiligen und mein Verlangen wächst stetig, das verleiht mir so ein katastrophales und verzweifeltes Gefühl. Es wird schon wieder gut. Ich bin noch lange keine «große» Frau. Ich habe heute Nachmittag diesem jungen Kind so voller Leidenschaft eine Rede darüber gehalten, dass das Leben ein langsamer Wachstumsprozess ist, und eine Rede über die Geduld. Und das, was ich heute Nachmittag sagte, das lebe ich auch. Aber jetzt kommt wieder eine neue Phase, durch die ich hindurchmuss und durch die ich unversehrt und so «groß» wie möglich hindurchmuss und die ich in ihrem tiefsten Elend erleben muss, um anderen später hindurchhelfen zu können. Man muss alles zuerst selbst erleben. Und bitte eine etwas «große» und würdevolle Frau sein. Ich fühle vage, dass dies der Beginn einer neuen Phase ist, aber wie das gehen soll, weiß ich noch nicht. Es ist alles noch so klein und getrübt. Eigentlich Wut auf ihn, weil ich denke, dass er mich verschmäht, ach nein, dies doch auch nicht, ferner scheint mir, als ob ich noch nie von einem körperlichen Verlangen so stark besessen war wie jetzt gerade, oder war es die anderen Male auch so schlimm?
Und dann bilde ich mir ein, dass ich das Recht habe, mich diesem Verlangen jetzt hinzugeben. Es gab Zeiten, in denen ich die erotischen Regungen ihm gegenüber mit Gewalt beherrscht habe, und aus dieser Beherrschung habe ich Kraft getankt. Jetzt denke ich, dass ich das Verlangen wachsen lassen darf, dass ich eine Art Recht darauf habe, er hat mich so dicht an sich «herangelassen» und jetzt suche ich wieder das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele und überschätze nun den Körper wieder. Und bin geneigt, all das andere, das zwischen uns war und ist, zu vergessen. Nein, Letzteres ist nicht wahr, ich bin mir unserer Freundschaft fortwährend bewusst, aber es ist jetzt der Augenblick gekommen, in dem ich sage, wenn er zu mir spricht: «Ich kann nicht mehr, ich will einfach nur noch in deine Arme.» O Gott, hilf mir hier heraus. Lehre mich, das Gefühl der verschmähten Frau und des wirklich großen Verlangens zu unterscheiden. Und Leiden ist nicht schlimm für einen Menschen, aber die Dinge, die noch beigemengt werden, machen es so gemein und so albern. Und lass andere nicht leiden, weil du selbst leidest, sei doch nicht so klein und kindisch. Ja, was hattest du eigentlich heute Abend erwartet? Leidenschaft auf Bestellung, erledigt in einer halben Stunde? Ich, die ich sage: «Ich habe eine so große Sehnsucht, ich bin so unglücklich», und er, der mich halb amüsiert und halb väterlich anschaut und sagt: «Höre auf das, was ein Greis sagt, es ist alles nicht so schlimm.» Ja, was wollte ich? Dass er an meiner Leidenschaft sofort Feuer fangen würde? Vielleicht doch verletzte Eitelkeit, weil er sich nicht direkt auf mich «losstürzte» und versuchte, mich mit Berichten über Patienten abzulenken? Und ich verbarg meinen Kopf zwischen seinen Knien und später zog ich ihn auf den Boden über mich, das ist doch eigentlich «geschmacklos». Leidenschaft auf Bestellung. Nein, mein Kind, du schreibst ausgezeichnete Passagen über die «Geduld» bei Rilke ab, aber du musst es leben, hörst du, leben, sonst hilft alles nichts. Das war das Schreckliche bei dieser Ilse Blumenthal mit ihren Briefen von Rilke, nach denen sie selbst niemals lebte, und nun ist sie eine verbitterte, illusionslose Frau, obwohl sie einst solche Briefe erhielt. Nein, liebes Mädchen, so einfach ist das Leben nicht, und sei froh, dass es dir nicht so einfach gemacht wird. Du bist noch zu trivial. Ich sehne mich so. Und dann hätte er unmittelbar Feuer und Flamme sein müssen. Alles schön programmatisch und innerhalb einer Stunde abgearbeitet. – Und dann einfach schmollen, wenn man seinen Willen nicht bekommt. Tolle Frau.
Pah, Kind, ich schäme mich für dich. Nur ruhig, du kommst da schon durch, ich spüre es, du bist auf dem richtigen Weg. Geduld, und jede Stunde birgt eigene Möglichkeiten in sich. Du hast jetzt schon Angst, dass er wirklich noch mal ein Heiliger wird und dass es dann keine leidenschaftliche Geste, kein einziges Streicheln deines Egos mehr geben wird, nicht wahr? Und vielleicht fändest du es in einem halben Jahr furchtbar, wenn er Ansprüche auf dich geltend machen würde.
halb 11.
Jawohl, das «Leiden», es geht mir nun wieder viel zu gut, um mit so viel Dreistigkeit dieses Wort niederzuschreiben. Ich sprang vorhin auf einmal auf und rannte zum Telefon und fragte: «Hören Sie mal, finden Sie mich eigentlich nicht einen geschmacklosen Menschen?» Es stellte sich heraus, dass er mich 1 Minute davor angerufen hatte, aber da haben wir uns hier unterhalten. Und dann ein Gespräch von einer halben Stunde, in dem ich innerlich immer freier und freier wurde und immer besser etwas von mir preisgeben konnte. Schade eigentlich, dass ich zu wenig Geduld habe, um dieses Gespräch Wort für Wort wiederzugeben. Aber ich habe ihn wiedergefunden. Und der Rest kommt von selbst. Ich habe gesagt, dass es so «verzweifelnd und erschütternd» war und dass eine Kluft entstand, als ich merkte, dass er sich immer mehr zu einem Heiligen entwickelt, während ich immer unheiliger wurde. Und er fortwährend mit diesem gesunden, kerngesunden und schallenden Lachen. Ich erzählte, wie ich durch alle Straßen geradelt bin und gestöhnt und geschrien hatte. «Und was tatest du, als du nach Hause kamst?» Da sagte ich zu mir selbst: Andere dürfen nicht leiden, weil du selbst leidest, geh nach oben zu Pa Han und sei lieb zu ihm. Aber meine Kehle war so fürchterlich zugeschnürt. Und dann befand ich mich kurz in einem Zwiespalt, ob ich abwaschen gehen oder Rilke lesen sollte. Aber ich war so todmüde und unglücklich, da bin ich auf meine Knie gefallen im Badezimmer, meinen Kopf verborgen in meinem Morgenmantel, der dort auf dem Stuhl lag, und ich habe innerlich gewimmert, und als ich später in den Spiegel blickte, war mein Gesicht so fremd, so verzerrt und bewegt und, ja, ich kann es selbst nicht sagen – sehr fremd war es zumindest. Und dann habe ich mich doch einfach vor diesem Heft fallen lassen und allmählich kam wieder etwas in Ordnung.
«Bist ein ganz vernünftiges Mädchen.» – «Ja, aber, ich mißtraue meiner eigenen Vernunft.» Und dann wieder so ein herrlich schallendes Lachen am anderen Ende der Leitung. Ich sagte: Ich habe das diese Woche dauernd, dann bin ich die Vernunft und Ausgeglichenheit in Person, und wenn ich dann in deiner Gesellschaft bin und dich sehe, dann werde ich wieder verwirrt und kann in das fürchterlichste Geheul ausbrechen.
Und wir haben darüber gesprochen, wie man immer wieder «die Erde» überwinden muss. Und ich: «Ja, aber ich will doch auch ein Stück Erde leben, das soll man doch auch.» Und er: «Ja, selbstverständlich. Aber wir haben uns doch so wenig gesehen in letzter Zeit, wir können uns doch nicht bei Geiger oder an einer Straßenecke um den Hals fallen.» Und ich: «Oh, was mich betrifft, sehr wohl.»
Und ich sagte ihm auch, dass es so schwierig sei, das Verlangen groß und rein und ungetrübt in sich aufzubewahren, und dass man andere so ungerecht behandle, wenn man selbst leide. Und er sagte: «Ich habe der Hertha geschrieben, daß, wenn man so große Sehnsucht hat, diese versuchen soll umzusetzen in Liebe für andere Menschen.» Und ich: «Ja, aber es gibt Momente, dann ist einem alles zu viel, dann kann man nicht mehr.» Und er: «Na, selbstverständlich.»
Und ich wieder, dass es so schwierig sei, eine «große» Frau zu sein. Und er: «Man soll gar nicht diesen Anspruch haben, man soll immer wieder die eigenen Unvollkommenheiten durchleben.» Und dann sagte ich noch, wie sehr ich von Worten wie Mitleid, Unfreiheit usw. beeindruckt war. Und er: «Ja, aber die musst du im Licht einer bestimmten Situation betrachten.» Und dann habe ich ihm erzählt, wie ich kürzlich an einem kalten Morgen in der Linie 16 plötzlich ganz sicher wusste: Ich werde viele Länder bereisen und viele Menschen sehen und Bücher schreiben und von ihm wegreisen, und wie ich mich zugleich freier von ihm fühlte denn je, aber auch verbundener mit ihm denn je. Und dies sagte ich noch: «Was auch immer zwischen uns sein wird, dieses Gefühl der Freiheit, eine eigene Welt zu sein, keine Ansprüche an dich zu haben, das wird mich immer begleiten, und deshalb habe ich auch den Mut, dir immer alles zu sagen, auch den Mut, mein Verlangen auszusprechen, weil dieses keine Bindung will. Das ist einfach nur Verlangen, mehr nicht, und es sehnt sich nach einem Teil von dir, und doch bin ich frei von dir.»
Vor zwei Stunden dachte ich, dass ich kaputtgehen würde, ich wusste nicht, wie ich das überstehen könnte, und jetzt atme ich wieder so frei. Es befinden sich schon noch Tränen hinter meinen Augen, und mein Kopf ist so, als wenn ich schlimm krank gewesen wäre, und es ist alles noch ein bisschen sonderbar, so «durchlitten», um ein großes Wort zu gebrauchen, und es liegt auch noch so viel Gewicht auf dem Herzen, aber man kann wieder leben. Aber man kann wieder leben von dem Moment an, in dem man zum Telefon rannte und fragte: «Hör mal, findest Du mich eigentlich keinen geschmacklosen Menschen?»
Dienstagmorgen [3. März 1942], halb 11.
Ich bin so unheimlich glücklich. Und gestern Abend dachte ich, dass ich nicht weiterleben könnte. Heute Morgen um 8 Uhr rief er an: «Na, wie geht es denn der Patientin?» Er erzählt von drei Träumen, die er in der vergangenen Nacht geträumt hatte. Sehr speziell. Ich sagte: «Ich werde sie mit Ihnen behandeln.» Was war da eigentlich außerdem noch? Ich weiß es nicht. Es ist gut, ich habe Geduld, das Verlangen wird sich auskristallisieren, es wird befreit von den beigemengten Dingen: gekränkte Eitelkeit usw. Die Hauptsache ist doch, dass wir es gemeinsam besprochen haben. Es ist immer wieder ein schwankendes Selbstvertrauen, du hast Angst, dass er dich genauso wie einen seiner vielen Fälle betrachten wird, wie all die anderen, die mit ihren unbefriedigten Wünschen und Sehnsüchten zu ihm gelangen. Du scheinst noch immer nicht wirklich daran zu glauben, dass da eine sehr wirkliche und wahrhafte Beziehung zwischen euch besteht. Und wenn er dann gerade nicht so handelt, wie du es willst, wenn ein Rhythmusunterschied entsteht, dann wirst du unsicher und gekränkt und ziehst dich lieber ganz zurück und machst dich mit all deinen schlimmen Gefühlen einfach in einer Ecke interessant. Warum nicht gemeinsam die Probleme teilen? Er sagte gestern: «Ach, Sie haben Sehnsucht nach mir, während Sie 5 Minuten von mir entfernt sind, sagen Sie mir das doch gleich, wenn so ein Prozeß anfängt. Das ist doch eine natürliche Sache und warum soll man so mystisch tun mit diesen natürlichen Sachen, es gibt wirklich andere Dinge, worüber man mystisch sein kann.»
Und gestern war ich auf irgendeine Art durch diese Worte verletzt. Es schien, als ob dieses große Verlangen bagatellisiert und versachlicht würde. Und doch, im Nachhinein: Es war alles gut, was er sagte.
Wo habe ich um Himmels willen diese «Briefe an einen jungen Dichter» gelassen? Eine Passage daraus erfuhr ich gestern Abend spät im Badezimmer – meine entscheidendsten Momente erlebe ich noch immer im Badezimmer – auf einmal so heftig und intensiv am eigenen Leibe.
Rilke sagt dort, dass eine Zeit kommen wird, in der Mann und Frau einander nicht mehr gegenüberstehen werden, sondern nebeneinanderstehen werden, um gemeinsam die schwere Bürde des Geschlechts zu tragen.[44]
Und diesen Weg beschreite ich nun mit ihm, das wurde mir gestern sehr deutlich. Ich habe mein Verlangen zu unserer gemeinsamen Angelegenheit gemacht und wir werden da zusammen schon hindurchkommen. In die Vorlesung.
abends 9 Uhr.
Alle Emotionen, alle Leidenschaft, Verlangen, Aufbegehren usw., abgeebbt in eine ausgleichende Müdigkeit, abgeglitten in ein Frösteln und grippales Kränklichsein. Aber ich habe immer noch das Gefühl, dass ich ein organisch wachsendes Ganzes bin. Ich kann nie mehr so tief fallen wie früher, die Option zur Harmonie bleibt doch immerfort im Hintergrund bestehen.
So viel gewachsen heute, so viel geliebt, so viele gute und liebe Gedanken, jetzt alles abgeebbt, müde, ein paar Rilke-Briefe am Ofen, Han hustend im Bett, alternd, dieses unartige Benehmen gegenüber Adri gestern Abend wiedergutgemacht, oder eigentlich nicht gemacht, das passiert alles von selbst, alles einfach wachsen lassen, ein Prozess.
O Du, mein Du, meine Augen, sie durchwandern immer wieder aufs Neue die bloße und verbrannte Landschaft Deines Gesichtes.
Und hab mich manchmal ein bischen irdisch lieb, aus naher Nähe, der Himmel wölbt sich doch immer darüber, das wissen wir beide doch.
Heute Mittag wollte ich viel schreiben. Ich wollte leise und lautlos auf dieses Papier leerströmen. War doch schon zu müde. Und jetzt sehr früh ins Bett. Zuerst noch S. anrufen. Es ist immer lustig, dass jedes Telefongespräch mit ihm auch ein Abenteuer mit vielen Optionen ist, es ist immer wieder überraschend, was für verworrenes Zeug oder was für Tiefsinnigkeiten bei uns herauskommen. Und dieser nüchtern schwarze Apparat mit diesen elektrischen Drähten, oder wie das Ding funktioniert, ist kein Hindernis mehr, dass die Stimmen einander doch streicheln.
Я так люблю тебя.[45]
10 Uhr.
Und es ist zum Teufel noch mal nicht einfach. Es wird immer wieder gelegentlich eine kleine Folterbank. Ein kurzes und sachliches Gespräch. Siehst du, du fängst wieder damit an, dich mit fixen Ideen den Dingen zu nähern. Und doch und doch – das Leben ist so schön. Eine fortwährende Ahnung der Fülle und des Reichtums und der Möglichkeiten dieses Lebens bleibt doch immer wie eine Wolke um mich herum hängen. Ich bin schon sehr «schwankend» und reizbar in den letzten Tagen, wenn ich mir das so betrachte. Nach diesen Momenten der wirklich großen innerlichen «Sammlung» werde ich von einem einzelnen Wort, das mir zu sachlich klingt, wieder aus dem Gleichgewicht gebracht. Schon sehr müde. Nicht krank werden, Mädchen, das solltest du wirklich nicht.
Bei Betz über den Einfluss von Rilke auf die junge Generation in Frankreich gelesen, die in den Krieg zog. Stundenbuch usw.[46] Bei Klatt[47] begegne ich nun derselben Liebe für und die fruchtbare Beeinflussung durch denselben Dichter, auf dieselbe Generation in Deutschland, die in den Krieg ziehen wird. Und Klänge für das Stundenbuch holte er unter anderem auch aus der Weisheit Russlands. Das ist so schön und so vielversprechend, diese Strömungen und die Verbundenheit über alle Grenzen hinweg. Die Seele ist doch vaterlandslos, oder besser gesagt: Die Seele hat ein einziges großes Vaterland und darin gibt es keine Grenzen. Er gibt die Möglichkeiten des wechselseitigen Verstehens und der Annäherung und daran muss ich mitarbeiten, weil ich in mir meine Seele und mein Verstehen wie Repräsentanten aller Zeiten und aller Länder empfinde. Ja, das will ich. Und deshalb darfst du nicht so hysterisch sein und dich unglücklich fühlen, wenn die Stimme des Mannes, die du streichelnd erwartest, plötzlich etwas sachlicher klingt. Du weißt doch nicht, wie sein Tag war? Er hat sicherlich heute härter gearbeitet als du und vielleicht war er müde. Keine Ansprüche an den anderen, nichts erwarten, den anderen und dich selbst machst du dann unfrei und es entsteht ein unfreundliches und raues Klima, in dem menschliche Beziehungen nicht zu voller Blüte gelangen können. Du bist noch sehr klein, oder vielleicht habe ich einfach nur die Grippe.
Geduld ist alles.
Gott, gib mir viel Geduld, immer mehr Geduld. Und befreie mich von dieser Reizbarkeit.
Samstag 6. [= 7.] März [1942], abends 7 Uhr.
Am Donnerstagabend sagte ich zu ihm: «Ich habe es meinem Tagebuch versprochen diese Träume von Dir in ihm aufzuschreiben.» Es scheint mir, dass sie in irgendeinem geheimnisvollen Zusammenhang mit diesem Abend stehen, an dem man von mir sagen konnte: «Da habe ich ihm gestanden, mein Sehnen und Verlangen.»[48]
Hier sind sie, die drei Träume von der Nacht vom 2. auf den 3. März: Erster Traum. Ich war in einem großen Betrieb und da war eine Versammlung von allen voranstehenden Persönlichkeiten zu einer Beratung, wie man wohl am besten den ganzen Betrieb verbessern könnte. Es wurden sehr viele Vorschläge gemacht und ich war sozusagen die oberste Instanz und schließlich sagte ich: Ja, aber das Wesentlichste und das was am raschesten zum Ziel führt ist doch, wenn man seine eigenen Fehler bekennt.
Gerade als wir hier waren, kam ein Anruf aus dem hohen Norden, aus Beetsterzwaag, und die Reise konnte wieder einmal nicht stattfinden, sie waren dort eingeschneit oder so etwas in der Art. S. zuerst wütend und missmutig und später beschönigend: «Man bleibt doch immer ein Kind.» Am nächsten Morgen ein Jubel am Telefon: «Wir faahren.» Arme Tide, armer Glassner. Und während alle in der Straßenbahn beinahe weinten vor Kälte, strahlte er und sagte: «Herrliche Luft.» Und im kalten Abteil, in dem Tide und Glassner fröstelten, begann er einfach unbeirrbar, Mozart zu üben. Unverwüstlich, jung, strahlend, herrlich.
Während Tide die Fahrkarten löste, sagte ich zu ihm: «Ich möchte mal so gerne eine Reise mit Dir machen, von der einen kleinen Stadt zu der anderen, wir beide.» – «Na, und ich», sagte er.
In der kalten Halle fantasierten wir über eine Bergtour in einsame Hütten, in denen es nach guten Kräutern roch, und in ein gutes Hotel in der Stadt unterhalb. Und so weiter. Wird das alles einmal noch geschehen?
Ich möchte ganz sanft und lautlos leerströmen auf diese Blätter zu Dir hin.
Zweiter Traum.
Ich sitze irgendwo und finde ein Buch, das mich ungeheuer fesselt und es ist eine Biographie über die bedeutendste russische Frau, ich weiß aber nicht wer und dann frage ich: wem gehört dieses Buch eigentlich und dann sagt man: Ja, das ist die Leihbibliothek und dann sage ich: das möchte ich doch gern haben und auch leihen, obwohl es mir im allgemeinen nicht sympathisch ist Bücher aus Leihbibliotheken zu lesen.
In dem Gespräch, in dem ich ihm als tiefgründige Analytikerin gegenübersaß, kam unter anderem dies heraus:
Die russische Frau kann eine Animafigur sein. Und ich fragte: «Ist eine russische Frau ein besonderer Typus Frau für Sie?» Er: «Ja, ich finde die Russen überhaupt viel phantasiebegabter und weiter und auch dämonischer.» Ich: «Haben Sie auch an mich gedacht?» Er: «Ich empfinde Sie viel mehr als Russin denn als Holländerin.»
Und was die «Leihbibliothek» betrifft: «Daß ich nicht gern leihe, vielleicht hat das damit zu tun, daß ich alles originell machen will, alles aus eigenen Quellen schöpfen will. Daß ich so eingebildet bin, daß alles was ich denke und sage originell sein muß.»
Dritter Traum.
Ich bin zu einer großen Hochzeit eingeladen und soll dort singen. In dem Vestibule des Hauses treffe ich einige geladene Gäste, die mir sagen, daß u. A. auch der Sänger Schwarz[49] (einer der bedeutendsten Baritone von Berlin) dort hinkäme und ich soll mich sehr anstrengen um sehr gut zu singen, da er eine besondere Autorität sei.
Hier auch wieder: das Bedürfnis nach Kritik? Und noch zum ersten Traum: Vielleicht eine Warnung? Es lief beinahe zu gut in den letzten 5 Wochen. Zu der Zeit, als ich verzweifelt war wegen des reinen körperlichen Verlangens nach ihm und ihm dies auch offen und ehrlich erzählte an diesem berüchtigten Abend – es scheint schon wieder Monate her zu sein –, da erzählte er mir, dass er bereits 5 Wochen auch ohne «Halbbefriedigung», ohne Selbstbefriedigung oder was auch immer lebte. Er hatte das bislang für unmöglich gehalten. Und er merkte, wie gut er sich dabei fühlte und wie es seiner Arbeit zugutekam. Ich fühlte mich daraufhin doppelt verzweifelt. Während ich da durch einen kurzen, heftigen Sturm geschüttelt wurde, sodass die Grundfesten erschüttert wurden, offenbarte er sich plötzlich als blutjunger Heiliger. In diesem Moment war das zum Verrücktwerden.
Es ist schon alles wieder überwunden. Wir wachsen wieder weiter, wir leben schon wieder aus allen Quellen und nicht nur aus der Leidenschaft heraus, und das Leben ist gut und schön, wenn auch kalt.
Und jetzt muss ich Liesl anrufen. Ja, es ist nicht mehr «Frau Levie» und «Fräulein Hillesum», sondern Liesl und Etty. In dieser für mich so entscheidenden Zeit ist es fast logisch, dass die Freundschaften, die ich schließe, auch entscheidend für das weitere Leben sind. Sie ist mir sehr nahe und lieb und vertraut, diese Liesl, und zugleich von einer Faszination, die nicht dem Verschleiß ausgesetzt sein wird. Und der Mann gehört da auch dazu. Über die Kälte könnte man noch Bände schreiben. – Na ja, jetzt zuerst mal telefonieren.
Sonntagmorgen [8. März 1942], halb 10.
Siehst du, so etwas ist Untreue, mein Kind, und darf nicht mehr vorkommen. Früher hast du wahrscheinlich immer so gelebt, dich selbst ständig untergraben. Treue, gestützt auf innere Sicherheit, dorthin muss der Weg auch führen. Es war so: Ich las bei Vestdijk[50] einen Essay über Rilke, er stimmte mich unbehaglich, weil er sich Rilke auf eine formalistische Art und Weise näherte, die sehr unbefriedigend war, da er dem Wesen seiner Arbeit und seiner Person doch nicht gerecht wird. Die Tatsache, dass ich mich auf irgendeine Weise von diesem Essay unangenehm berührt und leicht verärgert fühlte, bewies doch noch meine eigene innere Unsicherheit gegenüber einer Figur wie Rilke oder letzten Endes meine innere Unsicherheit gegenüber den tiefsten Werten, die er vertritt. Aber diese Unsicherheit war in wenigen Tagen überwunden. Das Wort «manieriert» blieb kurz hängen. Einige Tage später bei Ilse Blumenthal. Wir sprachen über den Dichter und sie sagte, dass er doch zu – ja was zu? – zu viel vielleicht war auf die Dauer? Und zu meinem eigenen großen Entsetzen entfuhr mir das Wort: Zu manieriert vielleicht? Woraufhin sie sofort replizierte: «O nein, manieriert wird er niemals, dafür ist er immer viel zu echt.» Ich war ihr auch noch dankbar für die Worte und war froh, dass sie das Niveau hielt. Aber hier stieß ich doch noch auf einen wunden Punkt bei mir. Das ist Untreue und Charakterlosigkeit von der schlimmsten Art, davon werde ich mich immer mehr befreien müssen.
Ich führte das Wort «manieriert» nur an, um mich ihr anzupassen, das ist immer das Bequemste, und außerdem war es auch noch das Begehen eines Plagiats, das gedankenlose Verwenden von etwas, das ich vor einigen Tagen bei jemand anderem gelesen habe, ob ich nun damit einverstanden war oder nicht.
Auf einmal holte mich gestern dieses Wort in meiner Erinnerung ein und ich schämte mich zutiefst. Treu, wirklich treu zu sich selbst und zu den Werten, die man hochhält, und den Mut haben, sich um dieser Treue willen bei anderen unbeliebt zu machen.
Nein, Mädchen, du bist noch lange nicht so weit, aber du entwickelst dich schon in diese Richtung. Und jetzt möchte ich hier noch ein Gedicht von ihm abschreiben, dem ich gestern Abend begegnet bin. Es ist aus dem Buch der Bilder:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andere an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.[51]
Und später aus einem Brief:
«…, dies alles, nicht wahr?, war ‹Einfluß›, und der größeste bleibt vielleicht zu nennen: daß ich allein sein durfte in so viel Ländern, Städten und Landschaften, ungestört, mit der ganzen Vielfalt, mit allem Gehör und Gehorsam meines Wesens einem Neuen ausgesetzt, willig ihm zuzugehören und doch wieder genötigt, mich von ihm abzuheben …»[52]
Was wird dies für ein Tag? Ich bin so müde und matt. Gestern Abend ging ich so zufrieden und zuversichtlich ins Bett mit einem Gefühl von: Morgen bin ich den ganzen Tag bei S., ich werde dann über diesen Sturm schreiben, der mich geschüttelt hat, ich werde mich bei ihm auf diese vergangene ereignisreiche Woche besinnen wollen.
Dieser Tag ist ganz für Dich. Und nun liegen so ein Druck und eine Taubheit und auch eine Ohnmacht und Unlust auf mir.
Aber ich gebe diesen Tag noch nicht auf. Vielleicht werde ich ihn noch aus seiner eigenen Schwere herausheben können. Es ist exakt Viertel nach 10. Um halb 12 kommt die kleine schwarze Stella. Ich kann nicht behaupten, dass ich sehr gewillt bin, sie zu unterrichten. Nun ja, niemals einen Tag gänzlich von vornherein aufgeben, wie ich das früher zu tun pflegte. Die Worte liegen alle in mir bereit, ich würde sie ihm so gerne in den hohen Norden zukommen lassen, dann wäre ich innerlich wieder rein und der Sturm ist dann verzeichnet und wir wissen beide davon. Ich weiß nicht, was das jetzt ist, so schrecklich müde und lustlos. Bis später –
abends 10 Uhr.
Dass es einem vergönnt ist, stets mehr zu verstehen und sich jeden Tag weiter zu vertiefen. Ich bin so dankbar. Und muss noch geduldiger werden. Die Gefühle sind stärker und größer als die Ausdrucksmöglichkeiten. Ich weiß noch nicht, in welchem Bereich ich mein Werkzeug finden muss. Warten und horchen und geduldig sein. Und an den alltäglichen Dingen arbeiten. Und immer mehr man selbst werden. Und dennoch ein Glied im Ganzen. Aber keine abgedroschene Imitation und keinen einzigen Augenblick lang bedenkenlos leben. Zu einem Werkzeug werden, nicht nur der Geist, sondern auch der Körper. Das ist natürlich unter dem Einfluss von Rilke geschrieben, von Rainer Maria, der in den letzten Wochen einen riesengroßen Platz in meinem Leben einnimmt und der zu einer immer kräftigeren Stütze für die zarten Triebe wird, die ganz zaghaft in meinem Inneren in die Höhe schießen. Unter dem Einfluss von Rilke, aber doch wirklich aus mir selbst heraus. Die fremden Länder, in die ich noch ziehen werde – ich weiß das immer gewisser –, eine jugendliche Unruhe, die zu einer Gewissheit wird – und die vielen Gesichter der Menschen, die ebenso viele Landschaften sein werden, die ich bereisen werde. Ich müsste meine Sprachen noch viel besser lernen. Und dann horchen, überall horchen, bis auf den Grund der Dinge horchen. Und lieben und Abschied nehmen und deshalb sterben, aber wiedergeboren werden, alles so schmerzlich und auch alles so voller Leben. – Ich bin 28 Jahre alt, manchmal denke ich, dass das alt ist, und doch bin ich erst noch am Anfang.
Erlebnis dieses Abends: die Duineser Elegien[53] und einige Briefe aus Muzot.
Ich habe den Tag in seinem Beginn nicht als verloren aufgegeben und er hat sich aufgerichtet und mir wieder dieses volle und blühende Ende beschert. Und jeden Abend gehe ich wieder aufs Neue mit einem Herzen voller Dankbarkeit ins Bett. Der intensive Umgang mit Rilke in den letzten Tagen lastet auch so schwer auf mir, dass meine eigenen Worte sich darunter nicht losreißen können. Ich hätte S. viel schreiben müssen. Auch dies war eine neue Erkenntnis der letzten Woche: Man soll für seine eine große Sehnsucht nicht hundert kleine Befriedigungen suchen, man soll sie heil und ganz bewahren, sozusagen auf eine höhere Ebene emporheben und Kräfte und Antrieb daraus schöpfen für Liebe zu vielen. – Aber so schwer manchmal.
Aber: Die Sehnsucht bleibt doch immer größer als die Befriedigung. Und so muß es auch wohl sein.
Immer wieder hole ich dieses Heft aus meiner Schublade und muss dann noch ein Gedicht aufschreiben. Werde ich später diese Zeilen noch so intensiv erleben wie jetzt?
Ein paar Zeilen aus: «Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen»:
…
Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.[54]
11 Uhr abends, im Badezimmer,
schon mit Coldcream auf meinem Gesicht.
Es taucht plötzlich wieder wie eine immer größer gewordene Gewissheit in mir auf: Ich werde niemals heiraten. Das große Verlangen nicht in viele kleine Befriedigungen aufteilen. Vielleicht findet es ab und zu, groß und unversehrt, einen sicheren Hafen, eine einzige Liebesnacht, und dann muss man das Verlangen wieder groß und ungeteilt in sich tragen und daraus Kräfte schöpfen für die Liebe zu allen und nicht immer auf die eigene kleine Befriedigung aus sein.
Man soll seine große Sehnsucht nicht aufteilen in hundert kleine Befriedigungen.
Und nun eine gute Nacht.
8. [= 9.] März [1942], Montagmorgen, halb 10.
Mich kurz an den letzten Worten seines Briefes erwärmen:
Hören Sie mal: Ihr Roman geht mir immerzu im Herz herum: er ist so still und lieb und hat alle Ihre Seiten: ich sehe Sie dann mit allen Ihren Ausdrücken vor mir! Und ich finde es schön daß das kleine schüchterne Mädchen heute vor einem Jahr und 1 Monat zu mir kam!
Jawohl!
Und nun zu den kleinen alltäglichen Dingen. Han waschen und das Zimmer aufräumen und Loekie unterrichten und eine Reiseerlaubnis[55] für S. beim Judenrat holen und bitte Zeit und Aufmerksamkeit für einen langen Brief an S. finden. Der Weg zu ihm ist wieder offen seit heute Nacht, gestern war der Zugang noch versperrt.
Du!
9. [= 10.] März [1942], Dienstagmorgen, 9 Uhr.
Solche Tage muss es nun einmal auch geben, es ist nicht mehr so schlimm. Dann ist alles Leben in dir ausgelöscht und ertrunken in einem großen Tümpel der Taubheit. Dass ich am Sonntag so komisch und so blockiert war, rührte also von der Menstruation her, schön, wenn das im Nachhinein aufgeklärt wird.
Und doch – es sind keine verlorenen Tage. In diesem Versinken in eine sehr tiefe Müdigkeit und Taubheit ruht doch auch wieder etwas in dir aus und du bekommst manchmal solche vagen Ahnungen und Harmonien – wenn du nur die Geduld hast, dich ihnen hinzugeben. Früher kam auch noch Folgendes hinzu. An Tagen, an denen ich mich schlecht fühlte, fühlte ich mich so unsicher und unglücklich und dachte: Wie soll das gehen, ich will Reisen machen in ferne Länder, ich will Journalistin werden usw., aber wenn ich mich ab und zu so krank fühle, werde ich mich doch nicht behaupten können. Warum so verkrampft? Warum sollte man sich in fremden Ländern nicht auch ab und zu krank fühlen können? In anderen Ländern leben doch auch Menschen, die sich auch nicht immer gleich gesund fühlen. Es war mehr die Unsicherheit, sich nicht gut zu fühlen, als die Unbehaglichkeit selbst. Es ist nun alles eingeordnet und akzeptiert.
Traum von heute Nacht: Ich rief Geiger an, um zu sagen, dass ich am Mittwoch mit S. zum Essen komme. Da sagte Frau Geiger: Es tut mir sehr leid, aber am Mittwoch ist das unmöglich. Ich habe allerlei berühmte Menschen eingeladen zu Ehren von S.s Rückkehr und es ist einfach kein Platz mehr. Ein paar Tage später ginge schon. Ich war verzweifelt, dass es an diesem Mittwoch sicher nicht ging.
Assoziation heute Morgen zu diesem Traum: Empfinde ich S. noch immer als vollkommen unerreichbar für mich? Auf jeden Fall: Ich war verzweifelt, dass ich am Mittwoch nicht dort hingehen konnte.
O ja, jetzt fällt mir noch ein Traum ein, den ich Freitagnacht bei den Levies hatte.
Ich träumte, dass ich sagte: Frau Levie setzt sich mit den Dingen auseinander, und Herr Levie setzt sich zu den Dingen auseinander. Es erschien mir furchtbar tiefgründig, und als ich kurz wach wurde, «leuchtete» es mir absolut «ein». Ich schlief wieder ein und träumte dann, dass ich den Levies erzählte, was ich geträumt hatte, aber sie verstanden überhaupt nicht, was ich damit meinte, darüber war ich dann sehr enttäuscht. Und morgens beim Frühstück erzählte ich ihnen von diesen zwei kleinen Träumen, aber dann entging mir selbst deren Tiefsinnigkeit. – Und doch hatten sie es in sich.
Kürzlich wurde ich an einem Morgen wach und erinnerte mich vage daran, dass ich mitten in der Nacht sanft zu mir selbst gesagt hatte: «Meine Stimme reift.»
Und jetzt heute den ganzen Tag brav und geduldig Russisch machen und diese beginnende Grippe mit vielen Hilfsmitteln aus der Apotheke und mit innerem Widerstand bezwingen und morgen ist es wieder gut, morgen Nachmittag Liesl und morgen Abend S.
Jetzt, wo ich diesen Brief an ihn von gestern noch einmal gelesen habe, finde ich ihn nicht halb so schlimm, ich habe gestern mit so viel Unlust geschrieben, dass ich glaubte, dass er sehr schlimm sein müsste, aber es geht.
12. März ’42. Donnerstagabend, halb 12.
Es war unbeschreiblich schön. Max, unsere Tasse Kaffee und die schlechte Zigarette und unser Spaziergang durch die verdunkelte Stadt, Arm in Arm, und die Tatsache, dass wir zwei dort zusammen gingen. Wir sagten zueinander: Man muss dafür doch Russe sein, um dies so intensiv erleben zu können. Diejenigen, die unsere Geschichte kennen, fänden unsere Begegnung sicherlich bizarr und höchst erstaunlich, einfach so, mitten im Jahr, eigentlich ohne Anlass – abgesehen davon, dass Max heiraten will und mich um Rat bat, komisch, ausgerechnet von mir wollte er einen Rat hören.
Und das war so schön – dass man den Jugendfreund wiedersieht und sich in seiner eigenen größeren Reife spiegeln kann. Er sagte zu Beginn des Abends: «Ich weiß nicht, was sich an dir verändert hat, aber etwas hat sich verändert. Ich glaube, dass du jetzt eine richtige Frau geworden bist.» Und am Ende: «Nein, du hast dich nicht unangenehm verändert, das wollte ich nicht sagen, deine Gesichtszüge, deine Mimik, alles ist noch genauso lebhaft und ausdrucksstark wie früher, aber dahinter liegt nun so eine große Abgeklärtheit, es ist schön, bei dir zu sein.» Oder so etwas in der Art. Und er leuchtete unter dem Vordach dieser Kneipe in der Ceintuurbaan noch kurz mit der kleinen Taschenlampe[56] direkt in mein Gesicht und er lachte dann und nickte wiedererkennend und sagte dezidiert: «Ja, das bist du.» Und dann streiften sich unsere Wangen, einerseits unbeholfen und andererseits sehr vertraut, und dann liefen wir in entgegengesetzte Richtungen davon. Es war wirklich unbeschreiblich schön. Und so paradox es auch klingen mag: Vielleicht war dies unser erstes Beisammensein, das wirklich gut war. Und während wir gingen, sagte er auf einmal: «Ich glaube, dass wir im Lauf der Jahre vielleicht noch einmal echte Freunde werden können.» Und so geht nichts verloren. Menschen kommen wieder zu einem zurück und innerlich kann man mit ihnen weiterleben, bis sie einige Jahre später wieder zu einem zurückkommen.
Am 8. März schrieb ich an S.: «Meine Leidenschaftlichkeit früher war eigentlich nichts anderes als ein verzweifelt sich festklammern an, ja an was eigentlich? An etwas, woran man sich mit dem Körper gar nicht festklammern konnte.»
Und es war der Körper des Mannes, der heute Abend so brüderlich neben mir herging, an den ich mich damals in der menschlichen Verzweiflung festklammerte. Und das war auch irgendwie das Erfreuliche; dass doch noch dies übriggeblieben war: dieser angenehme und vertraute Austausch unserer Gedanken, das Verweilen in der Atmosphäre des anderen, das Auffrischen von Erinnerungen, die uns nicht mehr quälten, während wir uns früher doch buchstäblich kaputtgemacht hatten. Und auch kurz ganz ruhig feststellen: Ja, wir waren wohl stark überanstrengt am Ende.
Aber dann war es doch auch wieder Max, der plötzlich fragte: «Hast du in dieser Zeit noch ein Verhältnis mit einem anderen gehabt?» Und ich zwei Finger in die Luft. Und später, als ich gerade zur Sprache brachte, dass ich eventuell einen Emigranten heiraten werde,[57] um ihm beistehen zu können, wenn er in ein Lager käme, verschwand er kurz. Und beim Abschiednehmen sagte er: «Du wirst keine Dummheiten machen, ja? Ich habe solche Angst, dass du doch irgendwann kaputtgehst.» Und ich: «Ich gehe niemals und nirgends kaputt», und ich wollte noch Folgendes sagen, aber da liefen wir schon zu weit voneinander entfernt: Wenn man innerlich lebt, dann ist der Unterschied innerhalb und außerhalb der Lagermauern vielleicht gar nicht so groß. Werde ich diese Worte später vor mir selbst verantworten können, werde ich danach leben können? Wir können uns nicht zu viele Illusionen machen. Das Leben wird sehr hart werden. Wir werden wieder getrennt werden, wie alle, die einander lieb sind. Ich glaube, dass diese Zeit nicht einmal mehr so fern ist. Man muss sich innerlich immer mehr vorbereiten.
Ich würde gerne diese Briefe noch einmal lesen, die ich ihm mit 19 Jahren geschrieben habe.
Er sagte unter anderem: «Ich war immer so ehrgeizig in Bezug auf dich, ich habe dicke Bücher von dir erwartet.» Ich sagte: «Max, die kommen noch. Hast du es eilig? Ich kann nämlich schreiben und ich weiß, dass ich auch etwas zu sagen haben werde. Aber warum sollten wir keine Geduld haben?» «Ja, ich weiß, dass du schreiben kannst. Ich lese ab und zu die Briefe noch einmal, die du mir geschrieben hast, du kannst wirklich schreiben.»
Es war ganz unbeschreiblich schön. Dass in dieser zerrissenen und gefährdeten Welt doch noch solche Dinge möglich sind. Das ist sehr trostreich. Es ist vielleicht viel mehr möglich, als wir uns selbst eingestehen wollen. Dass sich da auf einmal eine Jugendliebe wiederfindet und lächelnd in die eigene Vergangenheit zurückblickt. Und sich mit dieser Vergangenheit versöhnt. So erging es mir. Ich gab heute Abend den Ton an und Max ging darauf ein. Das war schon viel. Wie er diesen Abend innerlich verarbeitet, weiß ich nicht. Aber für ihn war es auch ein schönes Abenteuer, da bin ich mir ganz sicher. Und so ist auch nicht mehr alles nur ein Zufall, eine kleine Spielerei dann und wann und ein spannendes Abenteuer. Man bekommt das Gefühl, dass man ein «Schicksal» hat, in dem sich ein Ereignis sinnvoll an das nächste reiht. Und wenn ich daran denke, wie wir da zusammen durch die dunkle Stadt liefen, gereift und milde gestimmt bezüglich unserer Vergangenheit und mit einem Gefühl, dass wir einander noch viel zu erzählen hätten, aber wir ließen es im Unklaren, wann wir uns wiedersehen würden, vielleicht dauert es wieder ein paar Jahre, dann gibt mir das ein Gefühl von ernster und tiefer Dankbarkeit, dass so etwas möglich ist in einem Leben. Es ist nun fast 12 Uhr und ich gehe ins Bett, ich gehe jetzt wirklich ins Bett. Ja, es war sehr schön. Und am Ende eines jeden Tages habe ich das Bedürfnis zu sagen: Das Leben ist sehr schön, es ist trotzdem sehr schön. Jawohl, ich entwickle eine eigene Sicht auf dieses Leben, ich entwickle eine Meinung, die ich sogar anderen gegenüber verteidige, und das sagt viel aus über so ein schüchternes Kind, wie ich es immer war. Es gibt solche Gespräche wie heute Abend mit Jan Polak, in denen dein Sprechen zum Zeugnis wird. Und nun wirklich gute Nacht.
Daan! Daantje![58]
Freitagmorgen [13. März 1942], halb 11.
Das sind wirklich alles große Geschenke. Dieses vertrauliche Gespräch mit Käthe am Ofen, ihre natürliche Intelligenz und ihr angeborenes Verständnis für die Dinge dieses Lebens. Ich kann ihr so ruhig von dieser Begegnung von Max und mir erzählen, ohne ein Gefühl von geschmacklosem Getratsche zu bekommen.
Und gerade Dr. Levie am Telefon. Seelenprobleme der Gegenwart.[59]
Mit sich selber anfangen. «Vor 10 Jahren hätte ich das noch für Unsinn gehalten. Jetzt ist es genauso ein Erlebnis für mich wie damals Dostojewski.» Und ich: «Schön nicht wahr, daß das alles möglich ist in einer Zeit wie der heutigen.» So eine große Offenheit und Vertraulichkeit, die mir da entgegenschlug. Und keine persönliche Eitelkeit mehr wegen Vertraulichkeit mit einem Mann, den ich für sehr lohnenswert hielt, sondern so eine aufrichtige menschliche Freude, die Entfaltung und Entwicklung eines wertvollen Menschen aus nächster Nähe mitzuerleben und vielleicht selbst daran auch ein klein wenig beteiligt zu sein. Dies sind wirklich alles wichtige Dinge und für mich kostbare Geschenke.
Vielleicht wird diese Hand hinter dem Federhalter noch irgendwann geduldig. Es ist noch lange nicht so weit. Es ist eines der Dinge, auf die ich hinleben muss: dass meine Hand die Geduld erlangt, den Federhalter zu führen. – Aber das wird wohl noch ein langer Weg sein, seufzte sie.
«Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum.»[60]
Das scheinen mir die schönsten Worte zu sein, die ich kenne, wahrscheinlich weil sie in ihrer Abgerundetheit und Vollkommenheit genau das wiedergeben, was ich immer stärker erlebe. Ich lese gerade noch ein paar Gedichte von Rilke durch, man müsste ihnen eigentlich kein Wort mehr hinzufügen, jetzt, wo die Worte den Gefühlen ein bisschen, ein kleines bisschen «ebenbürtig» sind.
Ich bin wieder einmal direkt entlang der Grenzen der physischen Bereiche gegangen, und wirklich, dieses Gebiet ist doch nicht so groß. Aber es hinterließ keinen bitteren Nachgeschmack, so wie früher. Allmählich weiß ich, dass die Grenzen des Körpers in der Nähe liegen, und man versöhnt sich damit.
Und: Die Sehnsucht wird immer größer bleiben als die Befriedigung. Aber es gibt dann solche Momente, in denen weder Befriedigung noch Verlangen besteht.
Ja, so hat dann das «Große Verlangen» wieder einmal die kleine Wirklichkeit des Körpers erlebt. Wann war das noch mal? Am Mittwochabend. Aber als er mir gestern Nachmittag mit diesem durch und durch bewegten und ausdrucksstarken Gesicht etwas besonders Spannendes und Interessantes über einen epileptischen Patienten erzählte, da war er mir doch eigentlich noch näher und teurer, wie als er sich am Mittwochabend auf mich stürzte.
«Und bist Du jetzt traurig?», habe ich daraufhin gefragt. «Traurig? Warum?» – «Oder bist Du unzufrieden?» – «Wieso denn?» – «Daß Du jetzt kein Heiliger mehr bist, Du warst ja gerade so ein netter, junger Heiliger von 6 Wochen und jetzt mußt Du wieder aufs Neue anfangen.» – «Nein nicht traurig, aber wohl einsichtig.»
Anlässlich meines Briefes haben wir darüber geredet, weshalb man doch leiden muss, wenn man liebt. Das ist dann die falsche Liebe, die ich-bezogene Liebe, die Liebe, die besitzen will.
Und ich blickte ihn währenddessen an und dachte beinahe entsetzt: Mit jeder Geste, mit jedem Atemzug entzieht sich derjenige, den man besitzen will, dem Besitz. Über den Weg des Körpers geht das auch nicht – es gibt natürlich die gesegneten Momente, in denen Körper und Seele sich in einem einzigen großen Ganzen verbinden, aber dafür muss man vermutlich sehr reif sein.
Und wir wissen, dass auf der anderen Seite des Körpers – notfalls über den Weg des Körpers – reiche und größere Gebiete der Gemeinschaft liegen, aber man muss innerlich den Schritt machen können, den anderen freizugeben.
Und immer wieder lande ich bei dir, Rainer Maria – kürzlich an einem Abend an diesem Schreibtisch traf es mich plötzlich doch so, dass du nicht mehr unter den Lebenden weilst. Ich glaube, dass ich dir ansonsten lange Briefe geschrieben hätte. Aber so ist es auch gut. Du lebst dennoch.
Fritz Klatt sagt zu Beginn dies:
«Rilke weiß in einer größeren Tiefe als die meisten Meister der Vergangenheit und als die Zeitgenossen, was Liebe eigentlich ist.
Das ewig tragische Liebesthema anerkennt er mit neuen Worten: ‹Nie eins sein mit dem Geliebten.› Darum besteht für ihn die höhere Liebe, die wir lernen müssen darin: den Geliebten freizulassen. Im Requiem hat Rilke ausgesagt:
Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: die Freiheit eines Lieben nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen: denn daß wir uns halten, das fällt uns leicht, und ist nicht erst zu lernen.»[61]
Den anderen mit sich herumtragen, immer und überall, abgeschottet in sich selbst, und dort mit ihm leben. Und dies nicht nur mit einem, sondern mit vielen. Den anderen in den Innenraum aufnehmen und ihn dort weiter gedeihen lassen, ihm einen Platz geben, an dem er wachsen und sich entwickeln kann. Wirklich mit dem anderen leben, auch wenn man jemanden manchmal jahrelang nicht sieht, ihn doch in einem weiterleben lassen und mit ihm zusammenleben, das ist das Wesentliche. Und so kann man mit jemandem zusammen weiterleben, geschützt vor den äußerlichen Veränderlichkeiten dieses Lebens. Es schafft eine große Verantwortung.
Ich kann jetzt nicht mehr weiterschreiben.
Ist das nicht typisch, dass da plötzlich meine ganze Vergangenheit auf mich herunterkommt? Ein Telefon und eine Stimme, eine ruhige, bekannte Stimme: «Hier spricht Smelik.» Nach dieser Szene in den Kriegstagen[62] nichts mehr von ihm zu sehen. Auf einmal: «Hier spricht Smelik.» Es ist doch genau so, als hätte ich jeden Augenblick erwartet, dass er wieder einmal da wäre. Innerlich lebe ich doch mit den alten Freunden weiter. Ich war dann auch kaum verwundert oder bestürzt, dass er es war, es war, als ob ich ihn gestern zum letzten Mal gesehen hätte, und ich sagte: «Hallo, Klaas, wie schön, dass du wieder da bist.» Und wieder das alte Drama:[63] Ob Jopie bei mir war.
«So, ist es also wieder so weit», sagte ich, «murkst ihr euch noch immer gegenseitig ab?»
Jopie, ich denke im Moment gerade sehr stark an dich, wie würdest du dich wahnsinnig wundern, wenn ich sagen würde: «Ich bete für dich.» Begehe nicht Selbstmord. Ich habe dir noch viel zu erzählen und zu helfen und ich habe so viele Kräfte übrig, dass ich davon ein wenig abgeben kann. Und doch habe ich schon vor Jahren von dir gedacht: Sie wird mit Selbstmord oder in einer Irrenanstalt enden. Aber warte noch kurz, Jopie. Muss das wirklich sein? Da lagen viele Talente brach, nie zur Geltung gekommen, und da war der Beginn einer «großen Seele». Aber solange so eine «Seele» nicht diszipliniert ist, bezeichnet man diese manchmal mit dem unangenehmen Wort «Hysterie». Vielleicht kann bei euch noch etwas gemacht werden. Oder bin ich übermütig wegen der stetigen Zunahme der eigenen Kräfte?
16. März 1942, Montagmorgen.
War das erst am Freitag? Diese entsetzlich einsame Kirche inmitten dieser Kriegslandschaft? Und diese Brücke, unversehrt in der malträtierten Stadt, die nun wie ein Schmuckstück an einer Bettelfrau wirkte? Und als ich am Donnerstagabend mit Max bei dieser Tasse Kaffee und Jugenderinnerungen im «Paris» saß, konnte ich doch wirklich nicht ahnen, dass ich einen Tag später mit seinem Nachfolger[64] in meiner Jugend durch die Trümmerhaufen von Rotterdam gehen würde. Das ist alles erst ein paar Tage her? Und das ist das Erfreuliche: meine rasche «Einordnung». Ich könnte stundenlang schreiben, ganze Bände füllen über diese letzte halbe Woche. Keine Zeit. Gekritzelte Notizen, dargestellt in groben Zügen.
Nach dieser Unterwelt-Mordszene nach der Kapitulation, schon wieder beinahe 2 Jahre her, ein Treffen am Hauptbahnhof. – Klaas derselbe mit geschmeidigem Gang und schwarzer Pelzmütze und leuchtend blauen, kleinen Seemannsaugen, die jünger bleiben als sein Gesicht. Erst am Mittag noch die blonde Mien[65] am Telefon, die erzählte, dass Jo wohlbehalten in Vlaardingen bei Tante Totebel[66] angekommen war, wohlauf, aber völlig erschöpft. Und die mir noch im Ferngespräch mitteilen musste, dass ihr Hund gestorben war und dass sie jetzt so einsam war. Usw. Als mich Klaas vom Bahnhof aus anrief, konnte ich ihm also sofort erzählen, dass seine flüchtige Tochter wieder einmal, zum soundsovielten Mal, wohlbehalten war. Und dann dieses plötzliche Vorhaben, zu ihr nach Vlaardingen zu gehen. Es ist gut, sich stets wiederzufinden, es ist doch ein Beweis dafür, dass ich innerlich mit ihnen und sie mit mir weitergelebt haben. Schon zwei Jahre sind darüber vergangen. Und dann die Begegnung am Bahnhof, als ob wir uns am Tag zuvor gesehen hätten, ich noch immer mit derselben, unverwüstlichen Kosakenmütze auf dem Kopf, die ich vor Jahren mit ihm und Jopie unter komischen Umständen gekauft hatte.
Und meine ersten Worte – als er seine Dankbarkeit darüber bekundete, dass ich vorbeigekommen war – waren ungefähr: «Aber du musst dich sehr stark bei mir revanchieren.??? Du musst mir dein Taschentuch leihen, ich weiß mir keinen Rat, ich habe meines vergessen.» Und dann war alles wieder so angenehm und vertraut wie eh und je. Und wo auch immer man mit ihm hingeht, umgibt einen eine Atmosphäre des Abenteuers. Und dann kamen wir versehentlich auch noch nach Rotterdam. Diese Landschaft kann ich jetzt noch nicht beschreiben.
Und was lernt man daraus? Dass man früher zu verantwortungslos mit Männern gespielt hat. Dass ich ihm so nahe geblieben bin, war beinahe erschütternd. Und ich? In dieser Beziehung stecken sinnliche Elemente. Nur die jungen blauen Seemannsaugen und ab und zu der tolle Gesichtszug um seinen breiten Mund stehen mir menschlich sehr nahe, aber der Mann? Den Mann will ich nicht. Dieses leere Abteil war kurz bedrückend und dann saß ich auf einmal doch auf seinem Schoß, und er küsste mich wie früher und kapierte selbst nicht, ob es ein Traum war. Und: «Erinnerst du dich noch, dass ich dich immer mein ‹kleines Sonnenkind› und ‹Geschenk Gottes› nannte? Das warst du für mich auch.» Aber dem nächtlichen Hotel konnte ich entkommen. Und ob noch eine Möglichkeit bestünde, dass ich mich ihm noch einmal hingeben könnte. «Nein, Klaas, nein, Klaas, wirklich nicht.» Ich sagte: «Ihr Männer seid eigentlich so primitiv, das ist doch nicht das Wichtigste?» Usw. usw. Endlose Gespräche zwischen einem Mann und einer Frau. Und natürlich doch auf irgendeine Art und Weise von der wachsenden Verliebtheit dieses großen, umherschweifenden Mannes geschmeichelt. Aber wenn ich mich jetzt wieder einmal wie früher in eine Ecke auf den Boden setzen und mich an den Bücherschrank aus Birnbaumholz anlehnen würde, um zu horchen, was in mir hochstiege, dann wäre dies: «Nein, Klaas, als Mann widerst du mich an. Es ist nun mal so. Aber als Mensch stehst du mir nahe, wie jeder Mensch, der wirklich menschliche Elemente in sich trägt, mir nahesteht.» Aber wie kann ich ihm das so feinfühlig wie möglich beibringen? Und dann Han, mit dieser verhaltenen Eifersucht auf meine Vergangenheit. Meine Intuition ließ mich in dieser Nacht nach Hause zurückkehren, auf den letzten Drücker. Han bleich, zurückhaltend, abweisend, hustend. Um halb 2 in der Nacht noch eine kurze Unterhaltung: «Es ist gut, dass du zurückgekehrt bist, sonst hätte ich unsere Beziehung beendet.»
O Männer, Männer! Mit euren kleinlichen Besitzinstinkten. Max, der mich ungefähr nach 10 Jahren noch schwören ließ, ob ich ihm wirklich immer treu gewesen war. Und Klaas, der um eine Nacht bettelte, und Han, der ab und zu meint, sich an meiner «Vergangenheit» stören zu müssen. Und am Samstagnachmittag krabbelte ich kurz zu Han ins Bett, und über sein ausdrucksloses Gesicht huschte auf einmal ein Lächeln und er sagte: «Du bist doch eine unverschämte Frau. Zuerst bist du mit deinem ehemaligen ‹Verführer› unterwegs, und nun verführst du mich wieder.» Und so weiter. Und gestern Abend am Telefon erzählte ich S., wie ich eine halbe Stunde lang unter Hans Decken gekrochen war, und er sagte: «Ach, das ist alles nicht so wichtig.» Aber er fügte sofort auch hinzu: «Aber daß man das nicht so wichtig nimmt, darf auch wieder nicht dazu führen, daß man das nicht-wichtig-nehmen als ‹deckmantel› gebraucht für Ausschweifungen.» Und er fügte noch hinzu: «Ich sage das nicht zu Dir, aber für mich selber.»
Und plötzlich Jopies melodiöse Stimme in dieser kleinen Küche in Vlaardingen: «O, wie schöhön ist das denn? Nein, wie schöhön ist das denn? Wie kommt das denn, Vater, dass du hier auf einmal mit Etty auftauchst?» Und sie erzählte, wie sie beinahe eine Flasche Somnifen[67] oder weiß Gott was für ein Zeugs leergetrunken und dabei gedacht hatte: Dann müssen Vater und Etty zur Beerdigung kommen. Und ich sagte, dass ich es schade fand, dass es jetzt keine Leiche gab, wo wir doch gerade so schön beisammen waren.
Dieser ganze Tag hat mich nur 4 Aspirin gekostet, und das rührte noch von den Zahnschmerzen her. Und das Wertvollste an diesem Tag und der halben Nacht voller Empfindungen (Reise im verdunkelten Zug spätabends, mit diesem illegalen Brot,[68] Hauptbahnhof um Viertel nach 12 in der Nacht, ausgestorbene Stadt, Jopie ohne Gepäck, mithilfe eines Polizisten in ein Hotel eingebrochen, auf dem kalten Bahnsteig in Schiedam die Erzählungen von Klaas – begleitet von großen Gesten – über die betrunkene Schauspielerin,[69] dieser Ausbruch politischer Leidenschaft, kurzum: jeder Moment unerwartet und abenteuerlich und dann sind sie fast allzu menschlich), aber doch das Wertvollste: Jopies Stimme: «Nein, wie schöhön ist das denn?» Und ihre vertrauten Gesten und ein großes Gefühl von: Ich habe sie doch sehr lieb. Die Tochter steht mir näher als der Vater. Ich beginne ein wenig zu verstehen, wie sie gestrickt ist, vielleicht kann ich etwas für sie tun. Aber wie halte ich mir den Papa vom Leib?!
Und was für mich auch so eine wichtige Erfahrung war: Diese unerwartete Begegnung mit einem Teil der Vergangenheit blieb innerhalb der Grenzen dieses einen Tages und dieser einen Nacht und war innerhalb dieses Zeitraums auch sofort vollständig verarbeitet. Früher lief ich wochenlang mit solchem sensationellen unverarbeiteten Material in mir herum und wäre nicht in der Lage gewesen, zu anderen Dingen zu kommen. Aber jetzt wird sozusagen alles an Ort und Stelle verarbeitet und eingeordnet, das ist wahr, so ein Tag ist wirklich randvoll und er spült auch über die Ränder hinaus, aber am nächsten Morgen um halb 11 (um 2 Uhr nachts ins Bett, um halb 8 auf) unterrichtete ich wieder mit dem gewohnten Enthusiasmus meinen Samenhändler, der am Ende der Stunde sagte: «Wenn es für Sie als Jüdin hier zu gefährlich wird, wenn Sie einmal verschwinden müssen oder so, dann kommen Sie ruhig zu uns.»
Und so pflegt man mit jedem Menschen einen eigenen Kontakt und eine eigene unverkennbare Beziehung, die von den Beziehungen zu anderen abgegrenzt wird. Man wird so niemals «wahllos» oder willkürlich im Umgang, sondern pflegt zu allen eine klar definierte, eigene Beziehung.
Und abends S. Gerade so, als hätte ich ihn jahrelang nicht gesehen. Sein Kopf wirkte, als wäre er von vielen innerlichen Erlebnissen durchgeweht worden. Ich erzählte ihm, er erzählte mir, alles in eine intensive halbe Stunde zusammengepresst. Und dann via Beethoven und japanische Torpedos[70] zu einem altmodischen Walzer und einem modernen Tango.
Während Beethoven habe ich Dickys lauschendes Profil mit dem kindlichen Mund und den gesenkten Wimpern still um Verzeihung gebeten. Ich strich mit meinem kleinen Finger kurz ihre kleine Stupsnase entlang und auf einmal strahlte sie mich mit ihren kleinen weißen Zähnen an. Ich habe sie um Verzeihung für die Eifersucht und die Verärgerung gebeten, die ich manchmal ihr gegenüber empfinde. Sie weiß weder etwas von der Verärgerung noch davon, dass ich sie um Verzeihung bat, aber damit hat sie auch nichts zu tun. Und doch wird sich vermutlich etwas an der Atmosphäre zwischen uns verändern. Es ist schön und gut, dass man selbst innerlich an der Verbesserung des menschlichen Umgangs arbeiten kann (wie abscheulich ich das alles doch formuliere), und das ist die einzige Stelle, an der man beginnen kann: bei sich selbst, in sich selbst. Ich sehe keinen anderen Weg und für mich zeichnet sich dieser Weg immer stärker ab.
Und dann war Lobatto[71] da mit seinem dunklen, kantigen Piratenprofil. Die Wege der Verliebtheit (ein zu großes Wort dafür) sind kapriziös und unergründlich und nicht lenkbar. Man darf sie nicht zu wichtig nehmen und doch wissen, wie sie das Leben verschönern und gelegentlich da und dort einen ordentlichen Akzent legen. Früher wären vielleicht erotische Fantasien gefolgt, aber davon scheine ich nun wirklich erlöst zu sein, außer wenn ich S. begehre, aber darauf habe ich ein Recht, finde ich – aber jetzt war es einfach nur schön, kurze Momente der Verführung durch dieses männliche Profil zu erfahren.
Und S. gestern Abend am Telefon: «So wie Sie getanzt haben, das ist mir regelrecht in die Glieder gefahren!» – «O, ich freue mich», sagte ich darauf sehr böse. Nächtelang könnte ich durchtanzen. Und das ist eine Sinnlichkeit, die aus viel tieferen Tiefen als aus denjenigen des Körpers allein kommt. «Wie so ein kleines Mädchen, das sich anschmiegt», sagte S., und Glassner schaute mit solch freundlichen und verliebten Augen zu. «So habe ich Sie noch nie gesehen. Wissen Sie wie Sie tanzen? Wie so ein kleines Mädchen in einem Café, das eine ganze Woche viel gearbeitet hat und jetzt im Tango alles vergißt. Und so graziös und beschwingt tanzen Sie, es ist mir regelrecht in die Glieder gefahren.» Und jetzt ist es Frühling, ja, es ist Frühling. Und durch diese unerwartete Tanzveranstaltung wurden so viele unbekannte Rhythmen in mir ausgelöst. So wie Tides Gesicht beim Singen sich ganz und gar verändert, so scheint sich meines während des Tanzens zu verändern, schade, dass man das selbst nicht sehen kann, obschon ich mich an diesem Samstagabend fast widergespiegelt sah in den Augen von Dicky und Adri und auch von S., die gerührt waren und gleichzeitig verlangend und auch ein bisschen eifersüchtig. Und später sagte er dazu noch, dass es fast an der Grenze des Anstands war, so sinnlich, wie ich tanzte. Aber ich sagte ihm später, dass diese Sinnlichkeit von viel weiter her kam als nur vom Körper. Man kennt die Grenzen, die beschränkten Möglichkeiten der Sinnlichkeit, und man hat sich damit schließlich auch versöhnt, und dadurch, dass man dies weiß und akzeptiert, fühlt man sich so frei und so ungebunden. Und ich spüre gleichzeitig, dass dieses Tanzen bei mir irgendwann in einen rein bacchantischen Rausch umschlagen könnte.
Dass man so viele Seiten an sich hat und dass das Leben so reich ist und dass man ständig etwas Neues in sich entdeckt!
Und ja, dieser Lobatto mit seinem Piratenprofil. Ich musste daran denken, wie Leonie tapfer und unbeirrbar versucht, ihn an ihrem Seelenleben teilhaben zu lassen, wie sie versucht, ihn über ihr Seelenleben zu seinen eigenen Bereichen der Seele zu führen. Und während ich von seinem Mann-Sein angetan war, war da doch auch gleichzeitig das Gefühl: nicht nur mit Männern flirten, nicht nur den Gegenpol in ihm suchen. Aber: Kommt herein in die Bereiche unserer Seele. Wir Frauen müssen einen großen Auftrag an euch erfüllen, ich beginne da langsam etwas zu vermuten, ich beginne auch den Weg zu sehen. Und ihr gelangt über unsere «Seele» zu eurer eigenen. Ich will nicht nur mit dir flirten und von deiner Männlichkeit betört sein, früher war so etwas vielleicht das Wesentliche zwischen den Geschlechtern, aber eigentlich sind dies doch nur Dinge von nebensächlicher Bedeutung, auch wenn sie ihren Reiz haben, und diesen Reiz darf man auch nicht außer Acht lassen, man muss allem nur den richtigen Platz und Raum geben. In diesem anderen, dem Menschlichen, liegt vielmehr unser Auftrag. Ich stelle mir euch offen vor und ihr kommt herein. Ich habe keine Angst mehr, mich lächerlich zu machen oder von euch «sentimental» gefunden zu werden, wenn ihr mich nicht versteht, dann liegt es an mir. Es liegt immer an uns selbst. Ich bin nicht gut oder begreifend oder offen genug oder nicht genug guten Willens, wenn der andere mich nicht versteht. So in etwa brachte Leonie es mühsam zusammen, vor vielen Nachmittagen vor dem Ofen, sie hatte sich das mühsam ausgedacht, ganz allein in ihrem noch sehr jungen Alter: Es liegt immer an einem selbst. Ich bin nicht gut genug, wenn ich den anderen nicht erreichen kann. Und wegen dieser von ihr gefundenen Wahrheit, die sie ein wenig unsicher zusammenstammelte, ist sie mir sehr lieb und teuer. Und so ist es auch, es liegt immer an uns. Und dies schafft eine große Verantwortung, ein verantwortungsbewusstes Leben. Ich finde, dass ich noch immer nicht konstant genug lebe, man darf eigentlich keine Minute verlieren, wenn keine Arbeit vorhanden ist, sind da die Menschen, die Aufmerksamkeit und Verständnis verlangen, und dieses Verständnis kann man erst voll und ganz aufbringen, wenn man unablässig in sich selbst hineinhorcht und an sich selbst arbeitet. Und auch: sich nicht zu viel aufbürden, jeden und alles, was man beginnt, zu Ende bringen und treu sein. In menschlichen Beziehungen darf man nicht kapriziös sein. Und wenn man jemanden in sein Innerstes aufnimmt, muss man ihn dort auch belassen und dort an ihm weiterarbeiten.
Denn auch dies ist eine neu gefundene Wahrheit für mich: Man muss nicht nur an seinem eigenen Innenleben «arbeiten», sondern auch am Leben derjenigen, die man in sein Inneres eingeschlossen hat. Man gibt eigentlich seinen Freunden einen Platz in sich selbst, an dem sie sich entwickeln können, und man versucht, sie in sich selbst zur Klarheit zu führen, und das muss den anderen auf die Dauer doch helfen, selbst wenn man ihnen davon niemals etwas erzählen würde. Die Gesten und Blicke und Worte und die Problematik und das Leben der anderen in sich aufnehmen und das Leben der anderen in sich selbst weiterleben lassen und zur Klarheit führen: Das ist unsere innere Aufgabe.
Über ein paar Dinge werde ich möglicherweise ein Leben lang sprechen, in immer deutlicher werdenden Worten; ob es mir wohl vergönnt sein wird, die Worte dafür zu finden?
Und zu S. gestern Abend am Telefon (oh, dieses ewige Telefon!):
«Hör mal, da habe ich etwas wichtiges in meine linke Hand geschrieben, ich muß Dich etwas fragen: Wirst Du mal eine Reise mit mir machen, eine kleine Reise von der einen unbekannten Stadt zu der anderen? Wir werden spazieren und ein Buch schreiben und tanzen und, ja und alles. Aber ich muß das jetzt schon wissen, dann fange ich schon an zu sparen!» Lautes Gebrüll am anderen Ende.
Aber diese Reise: «O, wenn das doch wahr wäre.» Ich habe ihn getröstet: «Vielleicht reisen wir zusammen nach Polen.»
Die Zukunft? Was bringt die Zukunft? Es spielt keine Rolle. Was bringt die nächste Minute? Mich um die Kaffeetafel kümmern und Leonie. Und dann Hetty E. und heute Abend S. Ob meine unverschämten Tanzrhythmen wohl noch in seinen «Gliedern» stecken? Es ist wirklich Frühling. Ich merke das an meinen Halsschmerzen und auch an einer seltsamen Art leichter und übermütiger, aber doch auch wieder äußerst ernsthafter Fröhlichkeit. Schreibst du eigentlich verworrenes Zeug, Mädchen?
Dienstagmorgen [17. März 1942], halb 10.
Gestern Abend, als ich zu ihm radelte, war in mir eine große und angenehme Frühlingssehnsucht. Und während ich mich nach ihm sehnte und träumend über den Asphalt der Lairessestraat radelte, fühlte ich plötzlich, wie mich ein lauer Frühlingswind streichelte. Und ich dachte plötzlich: So ist es auch gut. Warum sollte man nicht einen großen und zärtlichen Liebesrausch mit dem Frühling und mit allen Menschen erleben dürfen? Und man kann auch mit dem Winter Freundschaft schließen und mit einer Stadt oder mit einem Land. Ich erinnere mich an die weinrote Buche aus meinen Jugendjahren. Ich hatte zu ihr ein besonderes Verhältnis. Abends hatte ich manchmal plötzlich ein Verlangen nach ihr und dann suchte ich sie auch auf, eine halbe Stunde Fahrradfahrt entfernt, und dann ging ich um sie herum, gefesselt und verzaubert von ihrem blutroten Blick. Ja, warum sollte man sich nicht in einen Frühling verlieben können? Und das Streicheln dieses Frühlingswinds war so zart und so allumfassend, dass Männerhände, selbst wenn es seine wären, mir im Vergleich dazu grob vorkämen.
Und so kam ich bei ihm an. Aus dem Arbeitszimmer fiel ein Lichtschein in das kleine Schlafzimmer, und als ich hereinkam, sah ich sein Bett aufgeschlagen und darüber duftete ein schwerer Orchideenzweig, der über sein Bett geneigt war. Und auf dem Tischchen neben seinem Kopfkissen standen Narzissen, so gelb, so schrecklich gelb und jung. Das aufgeschlagene Bett und die Orchideen und die Narzissen – man muss sich nicht einmal zusammen in so ein Bett legen. Als ich nämlich kurz in diesem dämmerigen Zimmer stand, war es, als ob ich eine ganze Liebesnacht erlebt hätte. Und er saß an seinem kleinen Schreibtisch, und es fiel mir wieder auf, wie der Kopf einer grauen, verwitterten, uralten Landschaft ähnelte.
Ja, siehst du? Der Mensch muss Geduld haben. Dein Verlangen muss wie ein langsames und stattliches Schiff sein, das über endlose Ozeane fährt und das nicht auf der Suche nach einem Ankerplatz ist. Und plötzlich, völlig unerwartet, findet es dann doch für einen Augenblick einen Ankerplatz. Gestern Abend hat es seinen Hafen kurz gefunden. – Ist das erst 14 Tage her, dass ich so wild und unbeherrscht war und ihn an mich heranzog, sodass er über mich rüberfiel, und dass ich danach so unglücklich war, dass ich dachte, kaum weiterleben zu können? Und ist das erst eine Woche her, dass ich in seinen Armen lag und mich dennoch irgendwie weiterhin unglücklich fühlte, weil ich es doch noch als etwas Forciertes empfand?
Und doch werden diese Stationen schon notwendig gewesen sein, damit wir jetzt aufeinander zugleiten können, damit sich diese Vertraulichkeit einstellt und damit wir einander lieb und teuer sein können. Und so ein Abend bleibt auch riesengroß in der Erinnerung erhalten. Und man hat vielleicht nicht einmal viele solcher Abende nötig, um doch das Gefühl zu erhalten, ein volles und reiches Liebesleben zu führen.
Ich sagte: «Weißt Du, Deine Augen sind so zeitlos. Dein Mund ist ganz aktuell, aber Deine Augen sind zeitlos und das bringt mich manchmal zur Verzweiflung.»
«Wiesooo? Zur Verzweiflung?»
«Ja, wenn ich so eine Sehnsucht nach Dir habe, so eine ganz irdische, zeitgebundene Sehnsucht, und Deine Augen sind so zeitlos, dann habe ich ein Gefühl, daß ich Dich gar nicht erreichen kann. Aber ich finde es doch schön, daß Deine Augen zeitlos sind, darum liebe ich Dich ja auch so, aber bitte, sei manchmal doch ein bischen irdisch.» Und er zog mich auf seinen Schoß und es glitt so ein Schleier über diese Augen – Augen können manchmal vor lauter Zärtlichkeit in Tränen ausbrechen – und er sagte: «Ja, ist das alles nicht merkwürdig, da kommt man aus Berlin in ein paar kleine Zimmer in Holland und findet da so ein kleines Mädchen – eigentlich findet man doch überall die Menschen, man muß nur Geduld haben, man muß nie suchen, es kommt schon alles auf einen zu, wenn man Geduld hat.»
Und wie fühle ich mich jetzt? Ich kann dafür nur monströse Bilder finden, später werde ich schon die richtigen Pinselstriche finden, später, wenn ich wirklich schreiben werde. Wie ich mich fühle? Ein Verlangen, das zur Ruhe gekommen ist und das träumend fortgetrieben wird, umströmt von lauem Frühlingswind. Abscheulich ausgedrückt, aber ich weiß, was ich meine.
Und o ja, als Glassner am Sonntagnachmittag auf dem Flügel seine Geschichten erzählte, da war mir, als sei mein Herz eine einzige große Klaviatur, auf der er mit energischen und zärtlichen Fingern spielte, so nahe, so von innen heraus kam diese Musik.
Und die gute Tide, die in ihr Tagebuch schrieb, dass sie eifersüchtig war, weil ich «so schön tanzte». Aber sie hat diese Gefühle schon wieder besiegt. Gute Tide.
Und Leonie, die gestern wie ein zartes englisches Internatsmädchen aussah in ihrem braunen Röckchen, dem rotbraunen kurzen Jäckchen und dem beigen großen Filzhut auf den kupferroten Haaren. Und die so tapfer damit beschäftigt ist, den Weg zu sich selbst zu finden. Wenn ich ihr heute schreiben würde, so wäre dies: «Kleines, ich bin stolz auf dich!»
Und heute Nachmittag Hetty als Objekt. Auch dieses Mädchen wird zu denjenigen gehören, die ich in mir selbst zur Klarheit führen werde.
Und ja, seine Augen sind in der Tat zeitlos. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie direkt vor mir: Es ist gerade so, als ob die Jahrhunderte darin zu graugrünem Granit zusammengepresst stünden. Und sein Mund ist nicht nur dämonisch, sondern auch so schrecklich gut und liebenswürdig. Einen Mann kann man nicht als «süß» bezeichnen. Aber gestern war ab und zu ein Lächeln in seinem Gesicht, das ich gern «süß» genannt hätte.
So wie ich mich jetzt fühle, kann ich mir fast nicht vorstellen, dass noch eine größere Steigerung in unserer Beziehung möglich sein wird, aber ich weiß, dass die Entwicklung weitergeht. Und es ist so gut, immer wieder zu lernen, sich gegenseitig zu distanzieren, eigentlich ist eine Beziehung nichts anderes – oder sollte nichts anderes sein –, als sich andauernd gegenseitig zu distanzieren, um sich auf einer höhergelegenen Ebene wieder umso intensiver zu begegnen. Und die Distanz, die zwischen uns immer wieder geschaffen wird, ist gut, man kann einander immer wieder in der Gesamtheit überblicken, man behindert einander nicht im Wachstum. Obwohl – ich sagte ihm gestern, dass ich Momente hatte, in denen ich wollte, dass jegliche Distanz verschwinden würde und dass wir eine gemeinsame Zahnbürste hätten. Und er: «Ich bin doch froh, daß wir zwei haben.»
Und ich habe noch einmal für ihn ausformuliert, dass ich glaubte, dass dies die historische Aufgabe der Frau ist für die kommende Zeit: dem Mann über ihre eigene Seele den Weg zu seiner eigenen Seele zu weisen. Und dabei muss nichts von der erotischen Spannung verloren gehen, man muss allem den richtigen Platz geben, der ihm zusteht, man muss es einordnen. Und ich glaube auch, dass diejenigen Männer am wichtigsten und am bahnbrechendsten für die kommende Zeit sein werden, die so ein großes Stück Weiblichkeit in sich haben – und dabei trotzdem wirklich Männer sind –, so wie er auch und wie beispielsweise auch ein Rilke – dass sie, ja dass sie, hier lässt mich mein Formulierungsvermögen im Stich – dass sie Wegweiser in die Regionen der Seele sind. Und nicht die «He-Men», die Führer und die uniformierten Helden. Nicht diejenigen, die man echte Kerle nennt, aber vielleicht existiert das auch nur in der Fantasie von Frauen.
Und endlich habe ich meinen «jungen Dichter» zurück und ich kann hier den Teil aufschreiben, der mir schon seit einer Weile im Kopf herumgeistert:
«Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter, als man meint, und die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin bestehen, daß Mann und Mädchen sich, befreit von allen Irrgefühlen und Unlüsten, nicht als Gegensätze suchen werden, sondern als Geschwister und Nachbarn und sich zusammentun werden als Menschen um einfach, ernst und geduldig das schwere Geschlecht, das ihnen auferlegt ist, gemeinsam zu tragen.»[72]
abends 7 Uhr.
Gleich zum Kurs, und dann drücke ich ihm den folgenden Brief in die Hände, plötzlich anlässlich Hettys Analyse aus mir hochgestiegen:
17. März, Dienstagabend, halb 7.
[durchgestrichen:] Da ich Dich ja schon seit Ewigkeiten.[73]
abends 12 Uhr.
Manchmal denke ich, dass in meinem Leben zu viel passiert.
Gestern ein großes Verlangen, das einen Ankerplatz fand, und heute Abend war er mir nichts, dir nichts – nach zwei Gläsern Wermut – betrunken, das war die allerneueste Empfindung. Und eigentlich, eigentlich – fand ich das nicht schön.
20. März ’42, Freitagmorgen, halb 12.
Und dann musste ich wieder alles um meinen eigenen Kern herum zusammentrommeln, an diesem Abend nach den zwei harmlosen Gläsern Wermut, von denen Werner Levie behauptete, dass es nur Himbeerlimonade war, aber S. verträgt doch eigentlich Wermut so schlecht, sodass sein Gesicht zu einer leeren, schlaffen Hülse wurde, aus der aller Geist herausgeströmt war. Einen Moment lang war das ganz entsetzlich für mich. Ich habe dann wieder einmal, nach Monaten, vor meinem Bett gekniet, und mich wieder ganz auf das eigene Innere konzentriert. Weil es in den letzten Tagen war, als ob das Leben beinahe zu voll und zu intensiv war. Durch das Aufwenden von Kräften sollte man doch immer eine Zunahme der Kraft und Konzentration empfinden, das sollte die einzige Lebensregel sein, wenn man anders lebt, lebt man falsch, und deshalb musste ich mich dann auf einmal wieder um den eigenen Kern herum sammeln.
Und ich hatte auch auf einmal Angst, dass das, was ich ihm einige Stunden zuvor aus voller Überzeugung geschrieben hatte, sonst nur hohle Worte bleiben würden:
«Und dies wurde mir wieder zum sovielten Mal klar heute mittag: daß man sich nie bewußt genug sein kann der Verantwortung, die man seinen fragenden, hilfesuchenden Mitmenschen gegenüber hat, daß man immer andächtiger und gewissenhafter in sich selbst hineinhören muß, daß man innerlich immer disziplinierter werden muß und daß man eigentlich keine Minute seines Lebens vergeuden darf, weil so viel, so überwältigend viel zu tun ist für die anderen.»
Und spätabends hatte ich auf einmal Angst, dass ich diesen Worten nicht treu war. Aber als ich da so hingekniet war, abends, nach all diesen ereignisreichen Tagen wieder ganz allein mit mir selbst, da fühlte ich in mir doch ein großes Stück konzentrierte Kraft. Und dies lernt man jeden Tag hinzu: das sofortige «Einordnen» der Dinge in seinem Leben.
Am Dienstagabend bei diesem blassen Mondschein und unter dem Laternenpfahl (die klassischen Requisiten bei größerer oder kleinerer Betrunkenheit) war sein Gesicht eine leere, schlaffe Hülse, weil der Geist daraus herausgeströmt schien. Und wenige Stunden zuvor hatte ich ihm über den vorangegangenen Abend geschrieben: «Die große Sehnsucht hatte doch einen Moment ihren Hafen gefunden, sie ist bei Dir eine Weile vor Anker gegangen.»
Und an nächsten Abend war sein Gesicht entleert und schlaff, sinnlich ohne die innere Spannkraft, durch die die Sinnlichkeit sonst immer ihren dämonischen Akzent erhält, da dachte ich auf einmal, ein bisschen müde und ein bisschen befreit: Ach nein, sich an einen Menschen binden für ein ganzes Leben, bei einem Mann ein ganzes Leben lang bleiben wollen, ach nein, bei dir wollte ich auch nicht ein ganzes Leben lang bleiben. – Und genau in diesem Moment sagte er:
«Sie dürfen nicht ver-ver-liebt in mich sein, wohl dann und wann, das ist schön, aber nicht auf immer, das ist gegen, das ist gegen die, die Aufgabe.» Er sagte es fast ein bisschen prahlerisch, diesen letzten Teil. Aber zum Zeitpunkt des Abschieds hatte er sich schon wieder erholt. Und eigentlich hatte ich doch keine Abneigung gegen ihn, aber ja, das war es eigentlich, bedenke ich plötzlich: Die innere Spannkraft war bei ihm weg und daher auch die Spannung zwischen uns. Aber sein schlaffes, sinnliches, gutmütiges Säuglingsgesicht offenbarte mir doch viel in diesen kurzen Momenten – ein Leben wird oft am Scheideweg stehen und es wird sich entscheiden, ob es sich nun nach oben oder nach unten entwickeln wird. Und in diesem Augenblick sah ich so entsetzlich deutlich, was aus ihm hätte werden können, wenn er sich nicht «nach oben» entwickelt hätte. Diese sinnliche, schlaffe Hülle zeigte auf einmal die Gefahren an, die ihn aufgrund seiner eigenen Art stets bedroht haben. Es war eigentlich sehr eindrücklich, so klar und deutlich vor sich zu sehen, was aus ihm geworden wäre, wenn Geist, Glaube und Liebe nicht über die Sinnlichkeit gesiegt hätten. Und das ewig Fesselnde und Ergreifende in der Landschaft seines Gesichts entsteht ausgerechnet durch diesen Kampf zwischen Sinnen und Geist, der an seinem Gesicht abgelesen werden kann. Das Sinnliche, verlagert auf die Ebene des Geistes, wird zur Dämonie. Und am nächsten Nachmittag nach dem Referat sagte ich zu ihm: «Weißt Du, ich habe Dich noch mehr lieb wenn Du Stunde gibst, denn wenn Du trinkst.»
Am nächsten Morgen sagte ich ihm am Telefon ungefähr Folgendes: «Weißt du, ich habe gedacht, dass du eigentlich das Recht hast, dich jeden Abend zu betrinken. So stark, wie du deine Kräfte den ganzen Tag deinen Mitmenschen schenkst, muss das aus einer solchen inneren Spannung und Konzentration herauskommen, dass ich mir vorstellen könnte, dass du abends als Reaktion darauf gerne trinken würdest.»
Und seine Antwort wäre es wert, stenografiert zu werden. Ich weiß sie nicht mehr. Sie war sehr ernst und sachlich zugleich. Es ging um ein asketisches Leben, was unverzichtbar ist, wenn man immer so viel Kraft von sich selbst gibt. Und so weiter. Am Morgen las ich «Was ist Wahrheit?»[74] aus dem «Evangelium der heiligen Zwölf»: Das war letzten Endes nur wieder ein paar Stunden nach dieser kleinen Ausschweifung. Und mittags der Einführungskurs für den hölzernen und doch liebenswürdigen Freudianer mit seiner «wandervogelartigen» Frau[75] und Liesl und ich höre in stiller Andacht im Hintergrund zu. Und da habe ich ihn wieder aus tiefstem Herzen bewundert und geliebt. Sein großes Universitätspublikum, das ihm gebührt, wird er schon noch irgendwann in einem unerwarteten Moment erhalten. Diese konzentrierte Kraft und gleichzeitig diese große Beweglichkeit, diese Verwurzelung in der Materie, über die er spricht, und zugleich die unerwarteten, komischen Einfälle. Die reife, tiefe Erfahrung, die hinter jedem Wort steckt, und die Jugendlichkeit und Frische der Gestik, mit der alles wieder vorgetragen wird. Wir kamen uns sehr privilegiert vor, Liesl und ich. Und die kleine Liesl später in Dickys Zimmer, so lustig pathetisch, ein bisschen stotternd, vielleicht ein bisschen übertrieben, aber doch sehr authentisch: «Woran habe ich das verdient, daß ich bei so etwas dabei sitzen darf, ich empfinde das als eine Gnade.» S. lachte später wieder sein gutes gesundes Lachen, als ich ihm das erzählte, und sagte: «Na, das ist doch wohl ein bissel übertrieben.» Das war am Dienstagnachmittag.
Samstagmorgen [21. März 1942].
Noch eine Viertelstunde, bevor mein Enkhuizener kommt. Was fällt mir im Moment ein? Das zum Beispiel: Ich bin «hemmungslos» im Menschlichen, nicht im Sexuellen oder Erotischen, in diesen Bereichen werde ich allmählich ein sehr beherrschter Mensch. Aber im Bereich des Menschlichen kenne ich kein Bremsen und keine Grenzen und keine Konventionen. Bei S. ist das genauso. Und ich glaube, dass das gut ist.
Ich beginne jetzt allmählich zu sehen, wo und wie ich meine Haltung gegenüber Han innerlich revidieren muss. Lieben, aber nicht aus Schuldgefühlen heraus. Lieben aufgrund ehrlicher Zuneigung und auf Basis all des Guten, das in ihm steckt. Und doch mein eigenes Leben auf meine eigene Art und Weise leben, das geht nun mal nicht anders, aber mit einem Gefühl, nur mir selbst und niemand anderem Rechenschaft zu schulden. Eine solch unkonventionelle Ausdrucksweise darf man nur verwenden, wenn man wirklich ein Verantwortungsbewusstsein hat. Und ihn um seiner selbst willen lieben und nicht mehr um meinetwillen. Mir auch nichts mehr davon für mich selbst erhoffen. Und vor allem: keine Ansprüche an ihn stellen. Ihm dabei helfen, den Alterungsprozess, den er jetzt durchmacht, zu lindern. Ich möchte ihn nachts doch auch wärmen und verhätscheln mit meinem Körper, ohne eine Befriedigung für mich selbst zu verlangen. Und was nicht mehr passieren darf, nie mehr: Ich darf ihn nicht als Mittel zum Zweck verwenden, um mich abzureagieren, wenn ich mich nach einem anderen sehne oder im Allgemeinen Verlangen nach einem Mann habe.
Lieben, aber nicht aus einem Schuldgefühl heraus. Mit einem Schuldgefühl könnte ich ihn auch anstecken, während ihm nicht einmal bewusst wäre, was eigentlich los ist. Das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Verhalten schließt übrigens Schuldgefühle aus. Ich erzählte S. an diesem Abend, als er mir ein Hafen war, auch, wie ich einmal in einer Nacht im Dunkeln in Hans Achsel[76] vor lauter Verlangen nach ihm, nach S., geweint hatte. Ich beichtete ihm dann noch so einiges, erzählte auch vom ungeborenen Kind.
Aus einem Gespräch mit S. über Han: Ich sagte: «Er ist noch immer eifersüchtig auf meine sogenannte Vergangenheit.» S.: «Ja, das entspringt dem Bedürfnis, den anderen ‹besitzen› zu wollen.» Ich: «Aber er ist zu anständig, dieses Besitzen-Wollen zur vollen Größe heranwachsen zu lassen.» S.: «Aber er ist auch nicht weit genug, um sich dies bewusst zu machen und von dieser ganzen Idee des Besitzens wegzukommen.»
Ich frage mich manchmal: Liegt es auch an mir oder ist er zu alt, um einen Bewusstwerdungsprozess, was ich dann darunter verstehe, durchzumachen? Und ich glaube Folgendes: Ich muss ihn, auch ihn, in mir selbst zur Klarheit führen. Dann brauche ich mich mit ihm nicht so viel «auseinanderzusetzen». Wenn ich innerlich eine klar definierte und saubere Einstellung zu ihm entwickeln werde, wird das auch in ihm eine Resonanz auslösen, wenn auch unbewusst. Solange meine innere Einstellung einerseits noch von Schuldgefühlen getrübt ist und andererseits von Ansprüchen, die auf der Intensität und Totalität unserer früheren Beziehung beruhen, solange trübe ich sein Inneres auch. Und ich sage mir plötzlich: Es ist doch auch verrückt, selbst nicht mehr genau dasselbe wie früher geben zu können und vom anderen zu verlangen, dass er immer noch ganz der Gleiche ist. Es liegt vor mir also ein Bereich, in dem Klarheit geschaffen werden muss. Ich bin froh, dass ich den Weg dorthin endlich gefunden habe.
Und jetzt auf den Milchmann warten und dann mein netter Samenhändler.
Sonntagmorgen [22. März 1942], halb 9.
Was mir gerade einfiel:
Ja, ich sollte jetzt wirklich bis 1 Uhr fasten. Die Selbstbeherrschung deines Magens erlernen. Auch was deinen Körper betrifft, musst du lernen, auf deinen inneren Rhythmus zu hören. Zum Beispiel im jetzigen Augenblick: Ich habe sicher keinen Hunger, eher ein bisschen leichte Magenschmerzen. Aber am Sonntagmorgen sind die Dinge immer besonders lecker, eine Tasse Kakao und eine Scheibe Brot, die dick mit Butter bestrichen wurde. Und meistens kann ich dann der Versuchung nicht widerstehen. Und hinterher fühle ich mich elend und denke: Hätte ich bloß nichts gegessen. Wenn ich «Triebe» habe, um dieses große Wort zu gebrauchen, kommen sie in diesem Bereich zum Ausdruck. Manchmal, in einem unbeherrschten und chaotischen Moment, kann ich auf einmal alles, was nicht niet- und nagelfest ist, essen, in einer Art mutwilligem Spaß, um meinen Magen zu verderben und dann einfach zu sehen, wie es endet.
Und wenn ich mir meinen Magen verdorben habe, sage ich sehr demütig: Das geschieht dir ganz recht, du hättest dich einfach nicht so wahnsinnig unbeherrscht verhalten sollen. Und dann habe ich riesigen Kummer. Nicht wegen des verdorbenen Magens, sondern wegen der Unbeherrschtheit. In diesem Bereich muss ich noch sehr viel Disziplin entwickeln. Und ganz langsam gelingt mir das auch. Also, heute fasten bis 1 Uhr. Das ist für mich schon eine ziemliche «Aufgabe», mal sehen, ob ich es durchhalte. Es geht nicht um das Ritual des Fastens, sondern darum, dass ich spüre, dass ich eigentlich kein Bedürfnis nach Essen habe. Und in diesem Fall sollte man eigentlich auch nicht essen. Vor allem in dieser Zeit: Andere, die Hunger haben, können es dann besser nutzen.
Gestern überkam es mich auf einmal wieder, dasjenige, wodurch mein Leben niemals zum Trott werden kann. Um halb 7 sollte ich S. bei Geiger abholen, d.h., ich sollte die Notizen von Leonie abholen und direkt wieder zurück, ich würde ihn also nur 5 Minuten sehen. Ich fühlte mich eigentlich den ganzen Nachmittag über nicht gut, Kopfschmerzen, Magenschmerzen, so ein bisschen grippeartig. Aber um halb 7 zu S. Zuerst im Badezimmer die bleiche Fassade ein wenig bemalt, mit der Kosakenmütze so lange vor dem Spiegel hin und her manövriert, bis mich ein ganz passables Ganzes daraus anblickte, und dann ging ich hinaus und schlug die Haustür hinter mir zu. Und dann auf einmal wieder so ein intensiver Moment: Ja, jetzt gehe ich zu S., aber nur 5 Minuten. Aber dennoch ist er dann ganz da. Ich streife dann durch die bewegte Landschaft seines Gesichts. Ich gehe zu S. Er ist mein Freund. Er ist mein bester Freund. Ja, wirklich wahr. Ich werde mich jetzt an seinen Strahlen erwärmen und er ist mein Freund. Er ist ganz und gar da. Er ist nicht in einem Gefängnis und nicht in einem fernen Land. Er ist hier, in der Nicolaas-Maesstraat,[77] ich gehe jetzt direkt zu ihm und dort ist er dann leibhaftig, ich schaue ihn an und genieße den verlebten Kopf. Und das Beste von allem: Er ist mein Freund.
Plötzlich erlebe ich dann die Wirklichkeit unserer Freundschaft wieder in vollem Umfang, und dies mit einer Dankbarkeit, mit einer Dankbarkeit, die das Leben auf einmal wieder erneuert und verjüngt.
Ich erkundigte mich voller Interesse nach seiner Orchidee, was sage ich da, eine Orchidee? 20 Orchideen an einem einzigen Ast. Ab und zu, wenn ich zu ihm ging, hatte ich das Gefühl, die Orchidee zu besuchen, er kam erst an zweiter Stelle. «O», sagte er, «ich musste heute Tulpen kaufen, ich hielt es nicht mehr nur mit dieser Orchidee aus, sie langweilt mich so, ich finde sie so degeneriert in ihrer aristokratischen Art.»
Mir kommt plötzlich in den Sinn, dass ich diesen einen Traum von Leonie vom 20. März abschreiben sollte, es ist eine ganze Menge, na, dann mal los! – Nein, ich tippe es doch lieber: ––––.[78]
Noch ein paar Kleinigkeiten. Max vor ein paar Tagen am Telefon: «Und, wie ist es um das ‹Chiroskop› bestellt?» Und ich: «Du müsstest doch einfach einmal kommen, Max, und wenn es nur wäre, um mir einen Gefallen zu tun.» Und er: «Also gut!»
Am Donnerstagmorgen endlich wieder einmal Aimé in der Vorlesung, mit diesem verträumten und doch auf etwas Bestimmtes im Inneren ausgerichteten Blick, der sich mir gegenüber manchmal plötzlich öffnet und worüber ich dann so glücklich bin. Und Menschen im Griff zu haben ist etwas, das mir so eine große Befriedigung gibt. Ich sagte: Aimé, du musst Becker mehr oder weniger um Entschuldigung bitten für dein zigeunerhaftes Verhalten, zuerst schickst du ihm Telegramme und Wunder was alles und dann bleibst du auf einmal wieder fern. Und er, gereizt: «Ach, all dieses gegenseitige Gerupfe der Menschen!» Und ich grinsend: «Du großer Idiot, du hast doch sicher mit ‹rupfen› angefangen. Und man kann von diesem gutherzigen 55-jährigen Männlein doch nicht verlangen, dass er nun sofort ganz kapiert, wie man in all seiner Asozialität beschaffen ist?» Nun ja, und so weiter und so fort, aber er spazierte auf alle Fälle zu Beckers Lehrerpult hinunter, als dieser hereinkam, und so konnte doch noch etwas gerettet werden. Sein kantig geschnitztes, blasses Profil mit den pechschwarzen Haaren hat doch irgendwie einen ganz bestimmten Platz in meinem Leben. Ich bin froh, dass sein Blick sich ab und zu in meine Richtung öffnet, und ich hoffe, Zeugin seines Wachstums und auch des Wachstums unserer Freundschaft zu sein.
Die Beziehung zu Han. Dieser Bereich ist jetzt ins Blickfeld gerückt. Das bedeutet noch nicht, dass er jetzt schon kultiviert ist. Aber dennoch: Wie entsetzlich unbewusst lebt der Mensch noch in vielen Bereichen seines Lebens. Immer wieder rückt ein neuer Bereich ins Blickfeld. Aber zumindest liegt der Bereich nun vor mir.
Und jetzt ist es tatsächlich schon halb 10, um halb 12 dieses rabenschwarze, sinnliche, resolute jüdische Mädchen[79] zum Russischlernen. Um 3 Uhr unser Hugo-Wolf-Nachmittag.[80] Vielleicht heute Morgen noch Hetty ausarbeiten?
abends 9 Uhr.
Meine ernste schwarze Marokkanerin blickt wieder in einen Blumengarten, oder besser gesagt, sie schaut wie immer wieder darüber hinweg mit ihrem düsteren Blick, der erhaben und animalisch zugleich ist. Die kleinen Krokusse, gelb und violett und weiß, hängen ermattet und erschöpft über den Rand der Schokoladenstreusel-Dose, sie haben sich vollkommen kaputtgelebt seit gestern. Und dann die gelben Glockenblumen in dem durchsichtigen, grünen Kristallglas. Wie heißt ihr eigentlich? S. kaufte sie aus einer Frühlingslaune heraus. Und gestern Abend kam er schon mit diesem Strauß Tulpen an.
Diese kleine rote Knospe und diese ganz kleine weiße Knospe, so verschlossen, so unnahbar und doch so unbeschreiblich liebenswürdig, ich musste sie andauernd anschauen heute Nachmittag während Hugo Wolf. Das Rijksmuseum war dort ebenfalls hinter den Fensterscheiben zu sehen, so herausfordernd frisch und neu in seinen Konturen und zugleich so altvertraut. Wir dürfen nicht mehr auf dem Wandelweg[81] spazieren gehen und jede unselige kleine Formation aus 2 oder 3 Bäumen wurde zum Wald erklärt und dort ist dann jeweils ein kleines Schild angebracht: Für Juden verboten. Es gibt immer mehr solcher kleinen Schilder, überall. Und trotzdem gibt es noch genügend Raum, in dem man sich aufhalten kann, in dem man leben und fröhlich sein und musizieren und einander lieb haben kann. Glassner brachte einen kleinen Sack Kohle mit, Tide ein wenig Holz, S. Zucker und Kekse, ich hatte Tee, und unsere kleine vegetarische Schweizer Künstlerin[82] kam plötzlich mit einem großen Rührkuchen an. Und S. las zuerst ein paar Dinge über Hugo Wolf vor. Und bei manchen Passagen über dieses tragische Leben erzitterte sein Mund ein wenig. Auch deshalb mag ich ihn so gern. Er ist so echt. Und jedes Wort, das er sagt oder singt oder vorliest, das lebt er auch. Wenn er also traurige Dinge vorliest, dann ist er auch wirklich in diesem einen Moment traurig. Und ich finde es rührend, wenn er dann so emotional ist, dass es aussieht, als ob er gleich weinen würde. Dann würde ich mit Freude mit ihm zusammen leise vor mich hin mitweinen.
Und Glassner, der am Flügel immer besser wird. Ich rief ihm heute Nachmittag im Stillen zu: «Wir begleiten dein Wachstum, stiller Glassner.»
Es gibt Momente, in denen ich plötzlich gleichsam am eigenen Leibe begreife, wie schöpferische Künstler sich dem Trunk ergeben, sich mit Ausschweifungen übernehmen, verkommen usw. Als Künstler benötigt man eigentlich einen sehr starken Charakter, um moralisch nicht aus den Fugen zu geraten. Um nicht ins Uferlose zu treiben. Ich kann dies überhaupt noch nicht beschreiben. Ich habe es ab und zu sehr stark. All meine Zärtlichkeit, all meine starken Emotionen, dieses ganze wogende Seelenmeer, diesen Seelensee, Seelenozean, oder wie auch immer man es nennen will, würde ich dann gerne ausgießen, in ein einziges kleines Gedicht münden lassen, aber ich spüre auch, dass ich – wenn ich das gekonnt hätte – mich dann sofort Hals über Kopf in einen Abgrund stürzen und mich betrinken wollte. Nach einem schöpferischen Akt müsste man von einem eigenen, sehr starken Charakter aufgefangen werden, von einer Halt gebenden Moral oder von was weiß ich, um nicht weiß Gott wie tief zu stürzen. Und aus welchem dunklen Drang heraus? Ich spüre das in mir, in meinen fruchtbarsten und kreativsten inneren Momenten, wie dann gleichzeitig Dämonen in mir hochkommen, wie sich zerstörende und selbstvernichtende Kräfte auf die Lauer legen. Es ist auch nicht das normale Verlangen nach dem anderen, nach dem Mann, es ist etwas, das kosmischer, allumfassender und unaufhaltsam ist. Aber ich spüre auch, dass ich mich selbst werde beherrschen können, auch in solchen Momenten. Ich habe dann auf einmal das Bedürfnis, irgendwo in einer ruhigen Ecke niederzuknien und mich selbst im Zaum zu halten und mich zusammenzunehmen und darüber zu wachen, dass meine Kräfte sich nicht im Uferlosen verlieren.
Gerade wurde ich am Ende des Nachmittags von diesem liebenswürdigen, schweren Mund aufgefangen und stieß gegen die Schranke von S.s durchsichtigem hellgrauen Blick, der mich kurz ganz in sich aufnahm. Ich fühlte mich für einen Augenblick in diesem Blick geborgen und behütet. Aber den ganzen Nachmittag schweifte ich irgendwo in einem endlosen Raum umher, wo keine einzige Grenze mich aufhielt, und dann gelangt man auf einmal doch an eine Grenze – an diejenige Grenze, an der man seine Uferlosigkeit nicht mehr erträgt und aus Verzweiflung sich Exzessen hingeben könnte. Und dieses dunkle Astwerk in der leichten, durchsichtigen Frühlingsluft. Die Wipfel der Bäume fand ich morgens, als ich wach wurde, vor meinem Fenster. Und die Stämme fand ich heute Nachmittag, ein Stockwerk tiefer, vor den breiten Fensterscheiben. Die rote und die weiße Tulpenknospe, einander zugeneigt, der edle Flügel, schwarz und geheimnisvoll und kompliziert, ein Wesen für sich, und hinter den Fensterscheiben die schwarzen Äste gegen den hellen Himmel und in einiger Entfernung das Rijksmuseum. Und S., jetzt einmal fremd, dann wieder vertraut, sehr weit weg und zugleich sehr nah, auf einmal ein hässlicher, uralter Kobold, dann wieder ein gutmütiger, Kekse essender behäbiger Onkel, dann wieder der Charmeur mit der warmen Stimme, immer wieder anders, mein Freund und mir doch immer wieder fern –.
Es tanzt wieder eine kleine Unruhe in mir auf und ab. Und ich würde so gern stark und «gesammelt» in die neue Woche starten. Es stehen wieder so viele gute Dinge auf dem Programm: morgen Hetty gewissenhaft «ausarbeiten» und abends sie dann unterrichten und danach die Analyse mit ihr besprechen. O ja, und da ist noch etwas. Ich denke von mir selbst, dass ich ziemlich offen gegenüber meinen Mitmenschen bin. Aber ich ertappe mich oft bei Folgendem: dass ich doch eigentlich noch sehr scheu und unsicher in meinem Verhalten bin, genauer noch: in meinem Blick anderen gegenüber. Wenn ich mit jemandem rede, wirklich rede, beinahe ein Zeugnis ablege, wenn ich über ernsthafte Dinge des Lebens rede, dann tue ich dies ohne jegliche Hemmung, aber ich ertappe mich dabei, dass ich den anderen dabei nicht anschaue, dass ich irgendwie in die Ferne starre und sozusagen mehr für mich selbst als für den anderen rede. Mir wird das deshalb auf einmal so klar bewusst, weil ich wirklich das Unterfangen wagen möchte, mit Hetty psychologisch zu arbeiten. Und ich denke daran, wie eindringlich S.s Blick immer auf das Gegenüber gerichtet ist, wenn er mit ihm spricht, wie er es mit diesem Blick umfasst. Und ich traue mich noch nicht so, jemand anderes anzuschauen, traue mich noch nicht, den anderen geradeheraus mit meinem Blick zu berühren, ich weiche dem anderen noch immer aus. Was ist denn das? Ich werde doch einmal S. fragen. Doch noch Unsicherheit und Schüchternheit. Ich merkte z.B. in einer der letzten Unterrichtsstunden, wie Hetty meinen Blick suchte, wirklich bewusst suchte, und wie sie auf einmal in einem suchenden Vertrauen ihr Gesicht und ihre Augen mir ausliefern wollte, und ich spürte, was das für eine starke Emotion für mich war und wie ich davor noch zurückschreckte. Was ist das denn eigentlich? Jetzt, wo mir dies bewusst wird, merke ich, dass das oft der Fall ist. Ich spreche mit vielen Menschen, dringe direkt in ihr Inneres ein, beobachte sie mit großer Intensität, und doch gehe ich ihnen irgendwie aus dem Weg. Da ist doch immer noch eine Art Überempfindlichkeit –
Drrring, Telefon.
Und nach 20 Minuten kommt Hans grinsend wie ein Affe herein und sagt: «Ja, wenn ihr euch 2 Stunden nicht gesehen habt, dann müsst ihr zwangsläufig wieder eine halbe Stunde telefonieren.» Das war wieder ein wohltuendes Gespräch. – Und die gelben Blumen heißen Freesien, das wusste er einfach.
Gute Nacht, müde Krokusse und kleine Tannenzapfen – wie lange liegen die dort schon? – und anmutige Freesien. Armer Han, eine halbe Stunde sitze ich da und rede temperamentvoll, humorvoll, ausgelassen und mit Wärme mit S. und währenddessen streichle ich ab und zu mit meiner Hand über seinen Kopf auf dem weißen Kissen. Ob ein solches Gespräch ihn jetzt stört? Ich mache es doch völlig offen und ohne schlechtes Gewissen. Er kann einfach nicht verstehen, dass man sich immer so viel zu erzählen haben kann. Dass diese Quellen einfach niemals versiegen! Dass sie immer wieder aufsprudeln und dass man sich gegenseitig immer wieder so viel erzählen muss. Und nun gehe ich ins Bett. Noch immer so ein Anflug einer Grippe, aber ich bewältige ihn bereits ordentlich.
Gute Nacht, kleine Krokusse, ich gehe wieder in mein eigenes schmales Bett. Wie habe ich meine einsame Nacht doch lieb!
Montagmorgen [23. März 1942], 9 Uhr.
Guten Morgen, kleine Krokusse, es hat bei minus 2 Grad gefroren, schaut ihr deshalb so jämmerlich und trostlos aus in dieser Schokoladenstreusel-Dose? Aber die grünen kleinen Halme, die an euren müden Köpfen vorbei emporklettern, sind so jung und unternehmungslustig. Und es wird heute sicher schönes Wetter.
Etwas über meine Träume. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich träume, aber als ich mitten in der Nacht wach wurde, wusste ich nur noch, dass ich davon geträumt hatte, was ich gestern Abend aufgeschrieben hatte, davon, dass ich mich noch nicht ganz traue, meine Mitmenschen anzublicken. Und ich schlief sehr zufrieden ein und hatte das Gefühl: So, an diesem Thema wurde zumindest wieder weitergearbeitet heute Nacht.
Neulich auch, da wusste ich nur noch, dass ich mich in meinem Traum intensiv mit Leonies Problemen beschäftigt hatte, und auch dies verschaffte mir das Gefühl, dass ich ihre Probleme zu immer größerer Klarheit in mir selbst führe, und aus dieser eigenen Klarheit heraus kann ich ihr dann wieder zu Hilfe kommen, und heute Nacht wurde folglich daran gearbeitet.
Ich habe seit Langem nicht so konzentriert und so leidenschaftlich gebetet wie in diesen 5 Minuten heute Morgen im Badezimmer. Es kommt mir vor, als ob ich in eine neue Phase einer immer größer werdenden inneren Konzentriertheit gelange. Und dies immer wieder als Reaktion, wenn ich wieder einmal durch Mark und Bein die Gefahren des Treibens ins Uferlose gespürt habe. Ich habe in diesem kurzen Gebet auch darum gebeten: «Und lass mich nicht eitel sein.» Ich meine Folgendes: Es kommen immer mehr Menschen auf mich zu, die ihr Inneres vor mir entblößen und mit ihren Schwierigkeiten zu mir kommen, und es sind interessante und kostbare Menschen dabei, und ich muss dafür sorgen, dass meine Eitelkeit nicht geschmeichelt wird, dass diese Menschen auf mich zukommen. Auf irgendeine Art muss man die Dinge im Unpersönlichen belassen. Jedes Mal wieder die Distanz schaffen und deutlich zu verstehen geben, dass es um das menschliche Problem geht, darum, Schwierigkeiten und Konflikte zur Klarheit zu führen, die nun einmal eine zufällige Bleibe in der ein oder anderen Person gefunden haben. Man beugt sich dann gewissermaßen gemeinsam über das Problem, mit Liebe und Sorgfalt – und man schafft nicht eine persönliche Bindung, wodurch auch wieder Kräfte auf falsche Art und Weise ineinander investiert werden. Vor allem bei so einem jungen, leidenschaftlichen Mädchen wie Hetty muss ich aufpassen, dass es nicht eine zu starke persönliche Bindung wird.
Ich sagte kürzlich zu S.: Ich finde sie so schön anzusehen mit diesem jungen, leidenschaftlichen kleinen Gesicht, und so ein schönes junges Mädchen inspiriert mich viel mehr, als wenn es nicht anziehend wäre. Woraufhin S. natürlich sofort sagte: «Ja, aber das darf nicht die Hauptsache sein und auch nicht der Ausgangspunkt.» Er selbst ist schon so weit, dass er auch den unattraktivsten Menschen, auch denjenigen, die er selbst überhaupt nicht gerne mag, mit Hingabe und mit derselben Liebe hilft wie denjenigen, die ihm nahestehen. Und so sollte das auch sein.
Vor allzu großer Eitelkeit muss ich mich nicht fürchten, eine solche habe ich doch nicht in mir, aber ich muss es mir doch immer wieder bewusstmachen.
Und man könnte an diesem frühen Morgen kaltblütig diese These aufstellen: Wenn der Künstler im Menschen nicht jedes Mal, nach jedem schöpferischen Akt, von einem starken und ausgeprägten Charakter aufgefangen wird, geht der menschenwürdige Mensch, der moralische Mensch – nicht der schöpferische Mensch, aber der auf die Dauer vielleicht auch, das sieht man am Wahnsinn und an der Trübung des Geistes, in denen so viele Künstler enden – vor die Hunde.
Das Kunstwerk ist auch Gestaltung, aber von etwas anderem als der Persönlichkeit selbst. – Zu kompliziert, um das jetzt auszuführen. Aber Trunkenheit, Exzesse, Wahnsinn und Melancholie bei Künstlern, ich glaube, dass ich dies fast bis zum Ursprung ihrer Entstehung nachempfinden kann.
Je mehr schöpferische Kräfte bei mir in letzter Zeit frei werden, desto intensiver «nehme» ich mich ab und zu «zusammen», dann ist mir, als ob ich einen Moment lang die Zügel eines wild sich aufbäumenden Pferds sehr stark anziehen würde, und das Pferd bäumt sich weiter auf, aber die Spannung, die durch das Anziehen der Zügel entsteht, ist eine Freude an sich.
Es gäbe noch viel darüber zu schreiben, aber jetzt muss ich mich wirklich einen Vormittag lang Hettys Analyse widmen.
27. März ’42, Freitagmorgen, halb 11.
Es ist mir in den letzten Tagen ein paarmal passiert, dass ich einen Augenblick lang – auf der Straße oder wo auch immer – atemlos stehen blieb und darüber nachdenken musste: Ist das wirklich mein Leben? So voll, so reich, so intensiv und so schön? Ich muss mich wieder einmal ganz still an meinen Schreibtisch setzen und kurz auf diese paar Tage zurückblicken. Und es geht noch nicht einmal um die Umstände und die Menschen, auch wenn diese spannend und farbenfroh und abwechslungsreich genug sind, sondern es geht um das ganze Lebensgefühl, um die stets größer werdende Intensität des Seelenlebens. Und darum, ob die Beziehung mit S., die ich bereits nicht mehr für «steigerungsfähig» hielt, noch stets voller und größer und reicher wird.
Lass mich einfach aufschreiben, was mir zufällig einfiel:
Als Liesl vor Wochen an diesem eiskalten Morgen in der Küche auf einmal «Etty» sagte, klang das, als ob sie eine Festung einnehmen würde.
Und ihr Mann heißt Werner und sagte heute Morgen am Telefon: «Du bist wohl wahnsinnig geworden?» Das war wegen des Korbs weißer Hyazinthen, die da schon bei seinem Frühstück standen.
Es ist doch vermutlich so, glaube ich: Der Mann muss zu seinem eigenen Gefühl über den Umweg des Gefühls von uns Frauen gelangen. Bei Werner war das eigentlich so. Da war etwas sehr Sanftes und Zartes zwischen all diesem Harten, Intellektuellen und manchmal fast Brutalen seines Wesens verborgen. Seine eigene Frau hat dieses Sanfte früher kaum wahrgenommen und glaubte nicht daran. Und sein Gefühl blieb ein verkümmertes Pflänzchen, das nirgendwo geeigneten Boden fand, um darauf wachsen zu können. Und nun beginnt bei Liesl allmählich der Boden besser zu werden, sodass sein Gefühl Wurzeln schlagen und wachsen kann. Und wenn das Gefühl ganz und gar entwickelt ist, wenn es eine starke Pflanze geworden ist, dann wird es vielleicht auf jedem Boden gedeihen können. Aber es geht doch zuerst um uns.
Durch seine große Gehemmtheit früher fühlte ich mich ihm gegenüber gehemmt und ein bisschen verkrampft. Aber allmählich ist es bei mir so geworden, dass bei mir der Boden sich auch dazu eignet, sein Gefühl aufzunehmen. Folglich hat seine sanfte Seite da auch ein neues Gebiet gefunden, auf dem sie sich entwickeln kann. Und dadurch wächst allmählich wirklich diese schöne und menschliche Atmosphäre zwischen uns dreien. Aber dafür ist es notwendig, dass ich selbst nicht verkrampft oder unnatürlich bin, ich muss mich jedes Mal wieder ganz dem Innern zuwenden und dafür sorgen, dass das Gebiet, in dem andere sozusagen einen Unterschlupf für ihr Gefühl finden, für ihre Seele – um dieses große Wort einmal zu verwenden –, dass dieses Gebiet so breit und so «rein» wie möglich ist. Und ich glaube, dass es mit diesen Menschen eine Freundschaft fürs Leben wird. Aber auch an einer Freundschaft muss man «arbeiten», «innerlich arbeiten». Es ist jetzt noch ein Tasten und Suchen nacheinander, und was auch wichtig ist: Achtung voreinander haben.
«Daß wir euch kennengelernt haben, das betrachten wir wirklich als ein Zugeschenk», sagte Liesl gestern Nachmittag ein wenig verträumt.
Die große Glasschale mit Spaghetti bleibt wirklich wie ein Denkmal in meiner Erinnerung bestehen. Nicht wegen des Essens, sondern wegen der ganzen Atmosphäre drum herum. Schade, dass ich nicht über die schriftstellerische Begabung verfüge, in ein paar Zügen diese Atmosphäre zu skizzieren. Das rührt auch daher: S. ist eine Welt für sich, immer wieder aufs Neue, immer wieder überraschend und anders und spannend. – Später an diesem Abend noch kurz bei ihm hereingeschneit wegen der Haferflockenkekse. Ich ließ ihn zuerst noch die Briefe von Adpana[83] durchsehen, ein ganzes Stück Vergangenheit von 1933 kam da wieder zum Vorschein. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich das alles erlebt habe, beziehungsweise kann ich es mir sogar sehr gut vorstellen, und alles, was ich je erlebt habe, ist immer bei mir geblieben und ruht sehr tief in mir, gut verarbeitet, und deshalb fühle ich mich vielleicht manchmal so gesättigt und so reich und so erfüllt und so voller Erfahrung.
Und eine Sättigung, die mich nicht mehr nach neuen Abenteuern sehnen lässt, und dadurch, dass ich nicht mehr aufgeputscht bin, ist das Leben zu einem großen, unerwarteten, kontinuierlichen, inneren Abenteuer geworden, und jede Minute des Tages und der Nacht nährt gewissermaßen dieses Abenteuer. Und ich ruhe mich nun auch aus: manchmal zwischen zwei tiefen Atemzügen und manchmal, indem ich mich 5 Minuten lang hinknie, irgendwo an einer zufälligen Stelle in diesem Haus. Und das, was ich erlebe, auch die erschütterndsten Erlebnisse, verarbeite ich an Ort und Stelle und im selben Moment.
Das heißt nicht, dass ich das Erlebte dann gleich vergesse, sondern es fügt sich direkt und keineswegs widerspenstig in den großen Strom des Lebens ein, es fließt sozusagen direkt mit dem großen Strom mit und bildet nicht mehr wie früher Blockaden und Dämme und Verunreinigungen im Strom des Lebens. Folgendes muss ich Leonie noch sagen: dass sie sich mehr der unendlich vielen kleinen Wellen bewusst ist als des großen Stroms, als der einen großen Welle, die alle kleinen Wellen in sich aufnimmt. Und sie muss ein stärkeres Bewusstsein für diesen einen großen Strom entwickeln.
Und so ist mein Lebensgefühl gegenwärtig: Mein Leben fließt wie ein großer, reicher, mächtiger Strom durch mich hindurch, genährt von unendlich vielen kleinen Zuflüssen – usw.
«Und weißt Du, was angenehm ist», sagte S., als wir am Mittwochabend kurz unten im Büro waren: «Du bist auch nett um anzugucken.» Und etwas später: «Es ist doch ganz schön, daß wir uns gefunden haben.» Und ich: «Es war nicht nur schön, es war auch notwendig, es war schicksalshaft.»
Später dachte ich auf einmal, dass das eigentlich für seine Verhältnisse eine enorme Aussage war: «Du bist nett um anzugucken.» Er sagt dies immer nur mit Blicken und streichelnden Gesten seiner guten Hände, aber in Worte fassen kann er es nicht. Und wir einfältigen Frauen hängen so sehr an Worten.
«Es ist ganz schön, daß wir uns gefunden haben», war eigentlich für seine Verhältnisse eine große Liebeserklärung.
Später an diesem Abend – es war immer noch derselbe Mittwoch zwischen den Spaghetti und den Haferflockenkeksen – war es so eine helle Frühlingsnacht, sein Gesicht wirkte so jung im Mondlicht. Wir sprachen über die falsche Art der Liebe: glücklich und lebendig und fröhlich sein, wenn man bei der geliebten Person ist, aber vollkommen leer und lustlos sein, wenn man wieder allein ist. Und ich: «Es kommt mir manchmal vor, als ob ich dich, wenn ich nicht bei dir bin, noch viel mehr liebe, als wenn ich bei dir bin. Und früher drohte immer die Gefahr, dass es – wenn ich dich wiedergesehen habe – jedes Mal eine kleine Enttäuschung war, weil meine Fantasie dann immer wieder auf die ein oder andere scharfe Kante der Realität stieß. Aber das ist allmählich verschwunden. Ich habe das noch nie so erlebt in meinem Leben, dass ich jemanden so sehr liebte, auch wenn er nicht bei mir war.» Und er: «Das ist doch ein Beweis dafür, dass es eher Liebe als Verliebtheit ist.»
Merkwürdig, dass es so schwierig ist, ein Gespräch wiederzugeben. Selbst wenn ich es mitstenografiert hätte, dann könnte dies noch nicht ausdrücken, worum es eigentlich ging. Einen Mond kann man nicht stenografieren, das Gesicht eines 55-jährigen Mannes, das im Mondlicht so jung und zugleich verlebt wirkt, auch nicht. Und das, worüber wir sprachen, gehört doch eigentlich zu den drängendsten und tiefgründigsten Fragen dieses Lebens: die Beziehung zwischen Mann und Frau und zwischen Mensch und Mensch. Und es dauert ein ganzes Leben, bis man die richtigen Worte für diese Gedanken und Gefühle findet. Aber ich würde immer so gerne ab und zu etwas von dem vielen festhalten, das zwischen uns an Gedanken gewechselt wird, um einen kleinen, sei es noch so ärmlichen Anknüpfungspunkt für später zu haben oder vielleicht einen kleinen Anhaltspunkt und Stimulus für Tage, die vielleicht leerer sein werden als diejenigen, die ich jetzt erlebe. Er sagte, dass dies vielen als Ideal erschien: ein Mann und eine Frau, die nur füreinander bestimmt sind, die vollkommen ineinander und in ihrer Liebe aufgehen. Und wir denken dies: Das ist doch eine Einschränkung. Es kommt kein «Zustrom» mehr von außen. Man nährt sich gegenseitig und dies führt auf die Dauer doch zu einer Verarmung. Wenn die Liebe zu allen Menschen nicht auf irgendeine Art und Weise mit im Spiel ist, führt dies auf Dauer doch zu Verarmung und Einschränkung.
Und das leben wir, wirklich, das leben wir. Hertha stört mich nicht mehr. Sie ist jetzt oft bei uns in Gedanken. Bei einer der letzten kleinen Krisen sagte er: «Ich werde Sie die Briefe der Freundin nicht mehr lesen lassen, es ist doch eigentlich auch geschmacklos.»
Später wollte ich ihn bitten: «Lass sie mich doch einfach lesen, ich muss das vertragen können.» Und außerdem: Das Leben dieses Mädchens in London erlebe ich schon auf eine bestimmte Art und Weise mit, dass ich auch weiterhin mit ihr leben möchte, ungeachtet der Tatsache, ob sie seine zukünftige Frau ist oder nicht.
Aber am Dienstag kam er von selbst schon wieder mit ein paar Briefen von ihr an. Ich las sie in der Straßenbahn auf dem Weg zu Lippmann und Rosenthal,[84] später unterhielten wir uns über allerlei Dinge daraus. Und dieses Mal reagierte ich während keines einzigen Herzschlags falsch darauf. Sie wurde wieder einmal gänzlich akzeptiert. Wie das später alles irgendwann einmal funktionieren wird, weiß niemand, aber es ist gut, jetzt schon innerlich zu dritt zu leben, um es der Realität später einmal leichter zu machen. Und jetzt beginne ich wieder einmal in einem neuen Heft.