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5. Juni 1942–3. Juli 1942

5. Juni ’42. Freitagabend, Mitternacht, im Badezimmer.

«Früher lebten wir zwischen den Zitronenbäumen und den Mimosen», sagte Veterman mit ausladender Geste, «und jetzt leben wir zwischen Häusern.»

«Und wir sammeln evakuierte Häuser, wir haben jetzt schon eines in Menton und eines in Blaricum.»

Er hat etwas von einem Grandseigneur und etwas von einem Bohemien, aber mehr von Ersterem. Und manchmal erinnert er mich auch an ein edles, philosophisches Pferd, sofern man sich darunter überhaupt etwas vorstellen kann. Und Max Ehrlich[1] war im Vergleich zu ihm ein Sandsack von nicht allzu guter Qualität.

Und ich bin wieder einmal traurig und nicht in meiner Mitte. Geh doch einfach schlafen. Du musst da jedes Mal wieder durch. Es kommt eigentlich fast nie mehr vor, aber jetzt ist es wieder da, dieses Gefühl, dass ich nicht mehr ganz zu mir stehe und mich nicht vollkommen zu allem Schweren und Ernsten bekenne, das nun einmal dazugehört und bei dem ich mir dann plötzlich so alt und verstaubt und ohne Selbstvertrauen vorkomme. Und in solchen Momenten kann ich mich auch überhaupt nicht mehr leiden. Dann kommen die Worte so kraftlos und farblos aus mir heraus wie aus einem schüchternen Schulkind. Und das Leben in mir ist zu einem zerknüllten Spüllappen geworden. Es ist nicht einmal Traurigkeit, denn meine Traurigkeit gehört zu mir und ist mir vertraut und ist vielleicht der fruchtbarste und echteste Teil von mir. Aber das jetzt ist etwas anderes. Mir ist alles abhandengekommen. Geh doch wirklich einfach schlafen, vielleicht liegt alles nur daran, dass du in den letzten Tagen zu spät ins Bett gegangen bist.

Samstagmorgen [6. Juni 1942], 8 Uhr, im Badezimmer.

(«Sie werden sich wohl nicht sehr gut waschen, wenn Sie sich alle solche Sachen ausdenken müssen.»)

Bezüglich Frau Veterman,[2] aber man könnte es in Bezug auf die meisten Menschen sagen:

Ihre Gefühle können nicht frei bei ihnen ein- und ausgehen, sondern sind sozusagen in ihnen eingekerkert, und ihre Augen sind die schmalen Gitterfenster, durch die ihre Gefühle sehnsüchtig und manchmal verzweifelt nach draußen schauen.

Und was die Starrevelds betrifft (und dann putze ich mir wirklich die Zähne und ziehe meine Strümpfe an):

Pieters ganze Zärtlichkeit und Sanftheit fließt in seine Rehkitze und die vielen anderen Tiere, die er zeichnet, und Hanneke geht durchs Haus, sie wird kein einziges Mal liebkost und wird immer härter und schroffer. – Ich bin noch lange nicht fertig, aber das ganze Haus schreit schon vor Hunger, also zuerst Strümpfe und dann Frühstück.

11 Uhr morgens.

Das war nur ein kurzer Ausflug, gestern spätabends. Ich bin bereits zu mir selbst zurückgekehrt und alle meine Gewissheiten sind auch schon wieder zu mir zurückgekehrt. Ich glaube, es war plötzlich diese große Ungewissheit: «Ich bin doch bitte schön nicht zu ich-haft?» Han sagte gestern, als ich an meinem Schreibtisch saß und schrieb, mit etwas beleidigtem Gesicht: «Von all diesen vielen Seiten, die du schreibst, habe ich noch nie eine einzige gelesen.» Und ich sagte: «Papi, das ist stinklangweilig für jemand anderen, aber ich werde dir einmal eine Seite vorlesen, damit du sehen kannst, wie wenig jemand anders davon hat.» Und dann las ich ihm vor, was ich gerade über die japanischen Drucke und das Verhältnis zwischen Worten und Wortlosigkeit geschrieben hatte und darüber, wie ich später schreiben möchte. Und danach noch die Seite, auf der ich es so bedauere, dass mir die guten Vorsätze zwischen den Fingern zerrinnen und dass man manchmal in einer einzigen Minute einen ganzen Lebensabschnitt durchleben kann, aber dass es auch eine ganze Menge Lebenszeit kosten würde, die Erfahrungen einer einzigen Minute wiederzugeben, was mir manchmal das Gefühl gibt, dass ich niemals genug Zeit haben werde. Für meine Begriffe waren das bereits sehr objektive Seiten.[3] Aber Han sagte so ein bisschen «verständnislos»: «Ja, du schreibst immer nur über dich selbst, nicht wahr? Du bist immer nur mit dir selbst beschäftigt.» Und das bescherte mir plötzlich so ein Gefühl der Verwirrung. Und ich versuchte ihm klarzumachen, dass es dabei nicht nur um mich selbst geht, sondern auch um alle anderen, die ich nur verstehen kann, wenn ich mich selbst verstehe. Und es geht nicht nur um dieses Stückchen «Ich» in mir selbst, sondern um alles, dem das Leben Unterkunft in mir gewährt hat.

Auch dieser Gedanke blitzte für einen Moment in mir auf: Wenn Puschkin über sich selbst schreibt, ist es doch genauso, als würde er über andere sprechen; wenn dahingegen Lermontow über andere spricht, scheint es immer so, als ob er nur von sich selbst spräche.

Und es geht bei mir doch wirklich nicht um das «Ich». Aber man muss doch zuerst mit diesem «Ich» zurechtkommen, man muss damit immer wieder aufs Neue zurechtkommen, bevor man die nächsten Schritte macht. Ich habe auch versucht, Han zu erklären, dass jemand wie ich dazu verpflichtet ist, sich Rechenschaft über all seine Stimmungen abzulegen, um sie auf diese Weise unter Kontrolle zu bringen und zu disziplinieren, weil sie mich sonst überwuchern würden.

Und ein Tagebuch, nun ja, ein Tagebuch ist doch eigentlich nur dazu da, Klarheit über alle möglichen Stimmungen zu erlangen, zumindest bei mir ist das so. Und ich habe ihm auch gesagt, dass es bei den meisten Menschen Bequemlichkeit und «seelische» Faulheit ist, aufgrund derer sie es vorziehen, sich nicht um sich selbst zu kümmern; dass dazu auch eine Art Mut nötig ist. Und schließlich: Quelle und Ausgangspunkt von schöpferischen Handlungen wird bei mir doch immer die eigene Gemütsverfassung sein. Und so weiter und so fort. – Das habe ich ihm alles gesagt, aber mehr noch habe ich es mir selbst gesagt, als müsste ich ein Plädoyer vor mir selbst halten, um mich davon zu überzeugen, dass es gut ist, so zu leben, wie ich es für richtig halte, und mir Rechenschaft abzulegen über jeden Schritt und mich auf mich selbst zu besinnen, mich immer wieder aufs Neue auf mich selbst zu besinnen. Und vielleicht rührten die Unsicherheit und der Drang gestern Abend, vor mir selbst wegzulaufen, doch daher. Aber das ist doch nicht möglich? Denn jetzt bin ich schon wieder zu mir zurückgekehrt und alle Gewissheiten sind wieder da und ich habe bereits viele Kartoffeln in der Sonne geschält und inzwischen gemerkt, dass es einen eigenen Ton in mir gibt und dass sich eine Melodie entwickelt, der ich eine Chance und genügend Raum bieten und der ich treu sein muss.

Montagmorgen [8. Juni 1942].

Wie ein Niagarafall goss er am Samstagabend das Wasser seiner Beredsamkeit über uns aus. Es wäre fast eine Naturkatastrophe geworden. Der Prozess dieses Abends – um dies zu einem guten Abschluss zu bringen – war wirklich eine titanische Arbeit, ein Kampf mit dem Material, das diesmal wirklich sehr widerspenstig war. Dass in einem kleinen Raum in wenigen Stunden so viel passieren kann! Ich muss doch noch eines Tages, wenn ich Zeit habe, versuchen, etwas davon aufzuschreiben.

Folgendes in Bezug auf Pieter? Und auf den Weg, den er noch zu gehen hat?

«Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung Bis-am-Ende-gegangen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann. Je weiter man geht, desto eigener, desto persönlicher, desto einziger wird ja ein Erlebnis, und das Kunstding endlich ist die notwendige, ununterdrückbare, möglichst endgültige Aussprache dieser Einzigkeit … Darin liegt die ungeheure Hilfe des Kunstdings für das Leben dessen, der es machen muß: daß es seine Zusammenfassung ist.»[4]

Später am Tag, aus Stanley Jones:[5]

«Zunächst müssen wir feststellen, dass es eine Form der Wut gibt, die biologische Bedeutung hat. Wut ist häufig ein Schutz vor dem Bösen. Die Seele rebelliert und widersteht dem Bösen mit tiefer Empörung. Nietzsche hatte wahrscheinlich Recht, als er sagte: ‹Ihre Tugend hat wenig zu bedeuten, wenn sie sich nicht zu Wut hochpeitschen lässt.› Wenn wir nicht mehr in der Lage wären, wütend zu sein, würden wir zu ‹moralischen Kühen in unserer plumpen Behaglichkeit›. Jesus konnte voller Wut sein. ‹Er blickte wütend um sich herum und war betrübt über die Verhärtung ihrer Herzen.› Aber wohlgemerkt: Es war Wut, die mit Kummer vermischt war. Er war ‹betrübt›. Das ist der Unterschied zwischen legitimer und illegitimer Wut. Wenn die Grundlage unserer Wut moralische Verletztheit oder moralischer Kummer und nicht persönliches Ressentiment ist, dann ist diese Wut gut und wertvoll und gesund.» Usw.[6]

Soeben zu S. in einem Gespräch: «Wäre ich nicht so präzise und intellektuell nicht so gewissenhaft, dann wäre ich mit meiner Überempfindlichkeit zu einer ‹weinerlichen Theosophin› geworden. Denken Sie nicht?» Brüllend vor Lachen: «Das hätten Sie doch nie werden können, es ist doch eben die Mischung bei Ihnen.»

abends.

Und so leihe ich mir weiterhin immer wieder Worte anderer aus, um meine eigenen Gedanken, für die ich noch keine eigenen Worte habe, auszudrücken. Aus einem Brief von Rilke:

«Aber das Schönste ist ein Beet La France (nämlich Rosen), dessen Boden manchmal mit abgefallenen Blättern bedeckt ist; so ein Beet möcht ich mal haben, wenn ich alt bin, und davor sitzen und es machen, aus Worten, in denen alles ist, was ich dann weiß.»[7]

(Wegen der hervorgehobenen Worte habe ich es aufgeschrieben.)

Folgendes wollte ich vor Tagen anlässlich dieser kurzen, nicht nennenswerten Depression schreiben, wozu ich nicht kam, wie ich überhaupt zu nichts von alledem komme, was ich gerne schreiben würde:

Ich glaube, dass dies ein Anfang ist und dass ich mich allmählich diesem Anfang nähere: mich selbst ernst zu nehmen. An sich selbst glauben und daran glauben, dass es sinnvoll ist, die eigene Form zu finden. Man läuft so oft vor sich selbst weg – man sieht und hört dies andauernd um sich herum –, unter dem Motto: «Das ist ja nicht wichtig» oder «Es ereignen sich so viele wichtige Dinge auf dieser Welt, dann kann ich doch nicht so viel Aufhebens von mir machen». Und so bleibt bei den Menschen so schrecklich vieles als unverarbeiteter Rohstoff liegen, weil sie glauben, dass ihr Rohstoff es nicht wert ist, bearbeitet zu werden. Und sie lassen sich dann durch die Mannigfaltigkeit und Vielfalt und durch die in ihren Augen größere Kostbarkeit und Bedeutsamkeit der Talente und Möglichkeiten anderer verwirren.

Ach, weißt du was? Lies einfach Rilke weiter, du bist doch zu faul, es selbst zu formulieren, vorläufig noch. Aber dennoch: Ich bin noch in den Lehrjahren und es gibt wieder Tage, an denen das Bedürfnis, etwas in mir aufzunehmen und zu sammeln, viel stärker ist als das Verlangen, etwas von mir zu geben. Und für jeden Tag gilt noch immer, was ich ihm seinerzeit geschrieben habe: «Formend trittst Du an mich heran.»

O ja, aber das wollte ich sagen: Das hier ist der Anfang, der allererste Anfang:

Sich selbst ernst nehmen und davon überzeugt sein, dass es sinnvoll ist, die eigene Form zu finden. Und Folgendes ist auch etwas, was man für andere tun kann: sie ständig zu sich selbst zurücktreiben, sie auffangen und von der Flucht vor sich selbst abhalten und sie dann an die Hand nehmen und sie zu den eigenen Quellen zurückbegleiten.

Zuerst saßen wir gestern Abend einfach ganz normal im Wohnzimmer. Und dann kam Glassner und erbaute mit ein paar Klängen von Bach eine Kathedrale um uns herum, er errichtete ein Gewölbe um uns herum, und später umgab uns mit dem «Carnaval» von Schumann wieder ein anderer Raum. Und noch vieles mehr, und so weiter, und jetzt gute Nacht.

9. Juni [1942], Dienstagabend, halb 11.

Heute Morgen beim Frühstück mehr oder weniger ausführliche Nachrichten über die Lage im Judenviertel.[8] 8 Menschen in einem kleinen Raum mit allen entsprechenden «Annehmlichkeiten». Und so weiter. Es ist alles noch kaum zu überblicken und unbegreiflich und es ist kaum vorstellbar, dass sich das alles nur ein paar Straßen weiter ereignet und dass dies alles unser eigenes zukünftiges Schicksal ist. Und heute Abend auf dem kurzen Spaziergang von seinen vegetarischen Schweizern zu seinen immer wilder wachsenden Geranien fragte ich ihn plötzlich: «Sag mir doch mal, wie soll ich mit den Schuldgefühlen umgehen, die mich plötzlich plagen, wenn ich höre, dass Menschen zu acht auf engstem Raum leben müssen, während ich dieses eine große sonnige Zimmer für mich allein habe?» Er blickte mich von der Seite an, sicherlich ein wenig mephistophelisch, und sagte: «Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder du musst dieses Zimmer verlassen (und er sah mich so ironisch-prüfend und zugleich gutmütig von der Seite an mit einem Ausdruck, der besagte: Ich sehe dich schon gehen), oder du musst herausfinden, was im Grunde hinter diesen Schuldgefühlen steckt. Vielleicht ist es das Gefühl, dass du der Meinung bist, du arbeitest nicht hart genug?» Und da wurde mir plötzlich alles klar und ich sagte: «Ja, siehst du, in meiner Arbeit verweile ich immer in den höchsten Sphären des Geistes, und wenn ich von solchen Missständen höre, frage ich mich wahrscheinlich unbewusst und jetzt übrigens sehr bewusst: Könnte ich diese Art des Arbeitens mit derselben Überzeugung und Hingabe fortsetzen, wenn ich mit acht hungrigen Menschen zusammen in einem schmutzigen Zimmer leben würde?» Denn diese geistige Arbeit, dieses intensive Innenleben hat meiner Meinung nach nur dann einen Wert, wenn es unter allen äußeren Umständen fortgeführt werden kann; und auch wenn man es schon nicht praktisch und nicht in Taten umsetzen kann, dann doch zumindest innerlich in der Vorstellung. Sonst ist alles, was ich jetzt tue, nur «Schöngeisterei». Und vielleicht wirkt die Angst, ob ich unter solchen Umständen immer noch dieselbe wäre, dann genauso lähmend (in der Vergangenheit konnte mich so etwas wochenlang in meiner Arbeit lähmen, aber damals glaubte ich wahrscheinlich noch nicht an die Notwendigkeit dieser Arbeit). Die Unsicherheit, ob ich diese Prüfung bestehe. Die Tragfähigkeit meiner Existenz werde ich noch beweisen müssen, ich werde doch immer so leben müssen, wie ich es jetzt tue, ich bin nicht dafür geschaffen, Sozialarbeiterin oder politische Revolutionärin zu sein, das kann ich mir ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen, auch wenn meine Schuldgefühle mich vielleicht dazu bringen könnten, diesen Weg trotzdem einzuschlagen. – Nun ja, und so weiter.

Natürlich habe ich ihm das nicht alles während dieses kurzen Spaziergangs gesagt. Ich sagte nur: «Vielleicht ist es die Angst davor, dass ich die Prüfung nicht bestehen werde.»

Und er, sehr ernst und ganz «gefaßt»: «Diese Prüfung wird für uns alle noch kommen.» Und daraufhin kaufte er 5 kleine rote Rosenknospen, drückte sie mir in die Hand und sagte: «Sie erwarten nie etwas von der Außenwelt, gelt, und darum empfangen Sie immer etwas.»

Die Relativierung des eigenen Leidens reduziert noch nicht die Intensität dieses Leidens oder sollte es zumindest nicht tun. Etwas zu relativieren, weil man es dadurch kleiner machen möchte, ist nicht fair, es tut dem Leben Unrecht, es unterschlägt etwas von dem, was das Leben uns auferlegt. Relativieren ist etwas anderes.

Und Hanneke, die sich heute Nachmittag in seinen Armen ausgeweint hat, weil sie sich so leer gefühlt hat.

Und Liesl, die hier am Sonntagabend Beethoven gehört hat. Der temperamentvolle Kunstkenner Houthakker[9] ließ sie nicht aus den Augen und sagte später zu mir: «Wie interessant diese Frau aussieht, sie hat ein mittelalterliches Gesicht.»

Und Liesl, die beim Beethoven-Hören von einer Depression überwältigt wurde, dachte mit «Grauen» daran, wie ihr Mann und das gemeinsame Bett zu Hause auf sie warteten und dass sie ihrem Mann Rede und Antwort stehen müsste usw.

Die Menschen sind hinter den Kulissen ganz anders als davor.

Mittwochmorgen [10. Juni 1942], halb 8.

Er ist so berauschend und schwungvoll, mein Augustinus-auf-nüchternen-Magen.

Eine Erkältung bringt mich nicht mehr vollkommen aus dem Gleichgewicht, aber schön ist es trotzdem nicht.

Guten Morgen, mein unordentlicher Schreibtisch. Der Staublappen schlängelt sich in lässigen Kurven um meine 5 blutjungen Rosenknospen und Rilkes «Über Gott»[10] liegt halb zerquetscht unter dem «Russisch für Kaufleute».[11] Der Anarchist Kropotkin[12] liegt zerfleddert in einer Ecke, er hat hier nicht mehr viel zu suchen. Ich habe ihn aus dem staubigen Bücherregal in meinem Zimmer geholt, um nochmals seine erste Reaktion auf die Gefängniszelle zu lesen, in der ihm etliche Jahre bevorstanden. Die Beschreibung der ersten Begegnung mit seiner Zelle kann man – übersetzt und übertragen auf eine innere Ebene – als Gleichnis dafür verwenden, wie wir auf die Verordnungen reagieren sollten, die unsere Bewegungsfreiheit zunehmend einschränken. Man sollte von dem Raum ausgehen, der einem überlassen wird, auch wenn er noch so klein ist, und direkt seine Möglichkeiten überblicken und diese in eine bescheidene Realität umsetzen.

Ich sagte zu mir: «Am meisten muss ich darauf achten, bei guter Gesundheit zu bleiben, ich will hier nicht krank werden.» Ich muss mir nur vorstellen, ich wäre auf einer Arktisexpedition gezwungen, einige Jahre im hohen Norden zu verbringen. Ich würde mich so viel wie möglich körperlich betätigen, Gymnastikübungen machen und mich nicht von meiner Umgebung unterkriegen lassen. Zehn Schritte von einem Ende meiner Zelle zum anderen ist schon etwas; wenn ich das 150 Mal wiederhole, ist das bereits eine russische Werst. Ich nahm mir vor, täglich sieben Werst zu gehen, ungefähr 5 Meilen: 2 Werst am Morgen, 2 vor dem Mittagessen, 2 danach und eine vor dem Schlafengehen.[13] – Usw.

Diese eine Stunde vor dem Frühstück ist wie ein Vorderperron,[14] wie eine Plattform meines Tages. Es ist so still um mich herum, obwohl die Nachbarn das Radio anhaben und Han hinter mir liegt und schnarcht, wenngleich pianissimo. Um mich herum ist noch so gar kein Gehetze.

Anlässlich der Briefe von Mlle de Lespinasse[15] muss ich auf einmal an diesen Satz von Rilke denken und ihn nachschlagen:

«Es ist ganz 18. Jahrhundert mit all dem Vergnügen am Unglücklichsein, ohne die rechte Lust dazu.»[16]

Ich habe dies S. anlässlich seiner Charakterisierung von Hesje angeführt, bezüglich ihres Bedürfnisses nach Sensationen und bezüglich der Tatsache, dass ein Moment des Leidens wieder eine neue aufsehenerregende Abwechslung war. Er sagte: In meiner Terminologie würde ich es anstelle von «die rechte Lust dazu» «die rechte Bereitschaft dazu» nennen.

Ja, und so kann man am frühen Morgen auf alle möglichen Dinge kommen.

Später am Tag; aus einem R.-Brief:

«… vor ein paar Tagen kamen mir Übersetzungen wunderschöner chinesischer Gedichte in die Hand, Li tai pes[17] und anderer. Was für Dichter das doch waren. Sie winken, und es kommt und geht; man fühlt es nach einem Jahrtausend durch die späte, fremde Sprache hindurch: wie es leicht war, kam und ging, was sie heraufriefen; und wie alle Schwere ins Gewichtlose kam, um dort zu dauern …»[18]

Das ist mir auf gewisse Weise vertraut, es berührt mich sehr stark und könnte zu einem Motto werden für das, was ich später, viel später verwirklichen möchte – «und wie alle Schwere ins Gewichtslose kam, um dort zu dauern».

Manchmal, wenn ich mit dem Fahrrad so durch die Straßen fahre, ganz langsam und wahnsinnig in etwas vertieft, was in mir vor sich geht, spüre ich das Potenzial einer Ausdruckskraft in mir, so zwingend und so gewiss, dass ich eigentlich überrascht bin, dass jeder Satz, den ich schreibe, so unbeholfen und schwach auf den Beinen steht. In mir bewegen sich die Worte und Sätze manchmal in einem so sicheren und überzeugenden Gang, dass es den Anschein hat, als könnten sie so aus mir herausspazieren und ihren Gang genauso sicher auf einem beliebigen Stück Papier fortsetzen.

Aber das scheint noch lange nicht der Fall zu sein. Ich frage mich manchmal einfach, ob ich meiner Fantasie nicht zu viel Spielraum in mir lasse und ihr zu wenig von außen entgegentrete und sie in Formen presse. Aber es ist keineswegs eine verwilderte, ausschweifende Fantasie. Es gibt in der Tat Dinge, die in mir Gestalt annehmen, eine immer klarer umrissene, konzentriertere und fassbarere Gestalt – und doch begreife ich noch nicht, wie das geschieht. Manchmal kommt es mir vor, als wäre in mir eine große Werkstatt, in der hart gearbeitet wird, gehämmert und weiß Gott was. Und manchmal kommt es mir vor, als wäre ich innerlich aus Granit, ein Felsblock, und starke Wasserströme donnern unaufhörlich gegen diesen Felsen und höhlen ihn aus. Eine Granithöhle, die immer stärker ausgehöhlt wird und in die Konturen gemeißelt und geformt werden. Und vielleicht werden die Formen eines schönen Tages mit klar umrissenen Konturen in mir bereitliegen und ich muss einfach nur nachzeichnen, was ich in mir vorfinde? Stelle ich mir das nicht allzu einfach vor? Vertraue ich nicht zu sehr auf eine Arbeit, die für mich erledigt wird? Und ich möchte all meine Ernsthaftigkeit und Aufmerksamkeit darauf richten, und diese sind bei der «Arbeit» in meinem Namen anwesend, sie sind dort als Gesandte in meiner Werkstatt, aber sie sind einfach nur anwesend, es geht von ihnen keinerlei aktive Hilfe aus.

Ich empfand es eigentlich als etwas unter meiner Würde, diesen Brief an Stella, der ja wahrlich kein beeindruckendes Literaturdenkmal ist, abzutippen und aufzubewahren. Aber für mich war dieser Brief eine Großtat. Früher umging ich die Beantwortung von Briefen stets auf hinterlistige Weise, ich wartete immer, bis sich eine Gelegenheit für eine mündliche Antwort bot. Und dahinter steckt so viel Nachlässigkeit und Feigheit, vielleicht auch die Angst, der Brief würde nicht «schön» werden. Dahinter steckt, dass man irgendwie nichts von sich preisgeben möchte. Doch es gehört zur Kultur, zur Bildung oder wie immer man es nennen will, dass man Worte, die an einen gerichtet sind, nicht im Wind verwehen lässt. Wo es Sinn macht und notwendig erscheint, muss man auf die geringste Aufforderung antworten. Fragen, die einem gestellt werden, sollte man so gut wie möglich beantworten, und zwar mit derjenigen Antwort, die zufällig reif in einem ist. Ich denke, dass viele unbeantwortete und hilflose Fragen durch die Lüfte – zwischen den Menschen hin und her – schweben, und wenn jeder auf seine Weise und mit seinen Fähigkeiten versuchen würde, diejenigen Fragen von ihrer Suche und Hilflosigkeit zu erlösen, auf die er eine Antwort, für die er ein Obdach hat, dann gäbe es nicht so fürchterlich viele obdachlose Fragen. Und dieser Obdachlosigkeit ist keine Sozialgesetzgebung gewachsen.

Und dieser Brief war wirklich eine Großtat für mich. Er belastete tagelang schwer mein Gewissen, und als ich ihn endlich mit Geduld und nicht allzu geschwollen, wie ich das früher tat, beantwortet hatte, erfüllte mich das mit Zufriedenheit. Der Anfang des Briefes ist charakteristisch, er beginnt mit einem Hinweis auf meinen Gesundheitszustand, was natürlich Unsinn ist. Früher habe ich alles mit meiner Gesundheit entschuldigt, so wie es meine Mutter auch heute noch macht; aber man muss sich in allem selbst erziehen.

Wenn diese Erkenntnisse, die ich mir an meinem Schreibtisch im Umgang mit den vortrefflichsten Geistern aneigne, nicht die kleinsten Dinge des Alltags durchdringen, wenn nicht zumindest etwas von dem großartigen Bewusstsein für menschliche Werte noch den entferntesten Atemzug durchdringt, dann hat dieses «geistige Leben», das Leben im Geiste, oder wie auch immer ich das in einem aufgeklärteren Moment einmal nennen werde, keinen Sinn. Zumindest empfinde ich das so. Und man muss dafür kein schwadronierender oder weltfremder Idealist sein.

Und auch darüber möchte ich später einmal schreiben, in unaufdringlichen, leichtfüßigen Worten. Aber wie? Das weiß ich noch gar nicht.

abends, beim Lesen eines

wirklich guten Romans – und doch ist alles ganz anders als in den Büchern, viel mühsamer. Ich muss später einmal alles, was ich über das Leben und die Menschen weiß, auf meine eigene Weise verarbeiten. Und bei jeder Bewegung drängt sich mir in letzter Zeit ein Satz von Rilke auf, der dazu passt. Und jetzt habe ich dies in einem Brief gefunden:

«Immer mehr (und zu meinem Glück) lebe ich das Dasein des Kernes in der Frucht, der alles, was er hat, um sich herum anordnet und aus sich heraus in der Dunkelheit seines Arbeitens. Und immer mehr sehe ich, es ist mein einziger Ausweg so zu leben; anders kann ich das Sauere um mich herum nicht in die Süßigkeit verwandeln, die ich dem lieben Gott von ewig her schuldig bin[19]

Es ist alles viel mühsamer, sagte ich, und ich möchte alles wieder leicht machen, ohne dass es zu einer Lüge wird.

[Donnerstag] 11. Juni [1942], 9 Uhr morgens.

Nicht nur wegen der eigenen Unruhe muss man ab und zu die Zügel straff anziehen, damit sie sich nicht wie ein durchgegangenes Pferd aufbäumt und zerstörend durch das ganze Wesen galoppiert, sondern auch die eigene Traurigkeit muss man zügeln, sonst kann sie jeden Moment wie eine steigende Flut anwachsen und schließlich die mühsam bewirtschafteten Felder überschwemmen. Man muss danach streben, nicht mehr so «ich-haft» zu sein, dass man jede Stimmung vollständig in sich auslebt. Man braucht seine Unruhe und Traurigkeit nicht zu verstecken, man muss sie tragen und ertragen, aber man darf sich ihr nicht so vollständig hingeben, als gäbe es nichts anderes mehr in der Welt. Man darf seine besten Kräfte nicht mehr der Traurigkeit überlassen, man muss sie vielmehr für die Gemeinschaft, um einmal ein so großes Wort zu verwenden, aufheben – zumindest auf Dauer muss man das schaffen. Und unter «Gemeinschaft» verstehe ich einen Schüler, der Russisch bei mir lernen will, einen Mitmenschen, der mit Schwierigkeiten zu mir kommt, ein Gedicht, dessen Verständnis meine ganze Aufmerksamkeit erfordert.

Früher dachte ich, es sei mein gutes Recht, mich jeder Traurigkeit vollkommen hinzugeben, alles musste ihr weichen und nichts war mehr wichtig im Vergleich zu dieser immensen Schwermut, die dann mein ganzes Wesen ergriff. Jetzt ist das nicht mehr so, auch wenn es manchmal hart an der Grenze ist. An so einem Tag wie heute, an dem ich mich körperlich wirklich hundsmiserabel fühle, zudem eine Beklommenheit mich mehr und mehr bedrückt und eine Traurigkeit immer stärker in mir hochsteigt, neige ich schon dazu, mir viel zu verzeihen und meine Arbeit etwas nachlässig zu erledigen. Im Augenblick erschließt sich mir nicht mehr, woher ich die Energie nehmen soll, um 2 Stunden zu unterrichten, und dann heute Abend noch zur Premiere von Vetermans Stück.[20] Und vielleicht bemitleide ich mich ja sogar, weil ich so ein «überladenes» Programm habe. Man stelle sich vor, jawohl: 2 Schüler und ein Theaterabend. Und dazwischen alle Zeit der Welt für mich.

Es darf nicht sein, dass die Traurigkeit so viel Macht über einen hat. Zumindest jetzt nicht mehr, wenn man älter wird, nicht mehr. Man hat das alles gekannt und erlebt, aber es darf nicht immer so weitergehen, weil es auf Dauer doch «ich-haft» ist und die besten Kräfte verloren gehen.

«Man läßt doch das eine wie das andere immer wieder fallen: diese Frohheit, jenes Traurigsein. Man hat beides noch nicht. Und was ist man, solang man aufsteht, und ein Wind draußen, ein Glanz, ein Stück aus Vogelstimmen in der Luft, kann einen nehmen und mit einem tun, was es will? Es ist gut, das alles zu hören und zu sehen und zu nehmen, nicht abzustumpfen dagegen, im Gegenteil: es immer tausendfältiger in all seiner Abwandlung zu fühlen, ohne doch daran sich zu verlieren.»[21]

Wenn man sich jeder Traurigkeit so vollkommen hingibt, will man sich noch zu sehr selbst spüren, sich noch zu stark selbst erleben, und darum geht es auf Dauer ja nicht.

Ich werde jetzt mal meinen Text mit dem Titel «Nachtseite» abtippen. Ein so sanftmütiges Wesen, wie ich es bin, geht nachts umher und sticht Männern mit wilden Bärten mit einem einzigen Dolchstoß mitten ins Gesicht. Ich erzählte ihm schon am frühen Morgen in einem Telefongespräch von diesem blutigen nächtlichen Mord, und er sagte: «Hör bitte auf, gleich hetzt dir noch jemand die Polizei auf den Hals.»

Gestern habe ich mit einer Frau gesprochen, die Rilke mehrmals im Sanatorium Valmont getroffen hat. Und die folgenden Worte aus ihrer Charakterisierung sind mir am stärksten in Erinnerung geblieben: «Ein trübsinniger Mann, aber sehr freundlich.»

Und so sollte es doch auch sein? Dass man sich wegen des eigenen Trübsinns, der Traurigkeit oder was auch immer nicht durch Unfreundlichkeit an anderen rächt? Wenn wir leiden, müssen wir doch andere nicht mit uns mitleiden lassen? Wenn doch nur in diesem Punkt einmal die Erziehung der Menschheit in Angriff genommen würde! Es ist ein Bewusstwerdungsprozess, den jeder Mensch allein durchlaufen muss. Aber diejenigen, die mit diesem Prozess bereits begonnen haben, müssen den anderen, den noch «Ungeborenen», den ersten Anstoß geben. Und das wird auf Dauer meine Art der «Sozialarbeit» sein, denn für alle anderen Arten bin ich ungeeignet.

Und ich bin in den Lehrjahren, in den unbeschreiblich reichen Lehrjahren bei dem Mann, den ich – doch eigentlich nicht – heiraten möchte.

Und doch lerne ich es und werde allmählich wirklich sehr erwachsen. Gestern Abend nach 21 Uhr fuhr ich noch kurz zu ihm, obwohl ich nicht wirklich Lust dazu hatte. Mein Kopf war dumpf und leer und auf seine typische Bemerkung: «Ja, was wollen Sie hier denn eigentlich, Fräulein Hillesum?» (wie lustig, das bin ich!), erwiderte ich: «Ich bin blöd und langweilig heute abend und gehe wieder nach Hause.» Und er erzählte mir verschiedene Dinge von diesem Tag, ließ mich einige Patientennotizen lesen und ich schlief fast an seiner Jackentasche ein. Irgendwann sagte er ironisch: «Sie sind wohl richtig hysterisch heute, ja?» Und ich tat mein Bestes, mich mit der erforderlichen Empörung zu erkundigen: «Was verstehen Sie eigentlich unter hysterisch?» Er machte eine vage Geste und sagte: «So launisch und so unbestimmt. Sie können vielleicht am besten wieder nach Hause gehen.» Und ich saß ihm dort sehr ruhig und gefasst gegenüber, ganz nah bei ihm und ich wusste: In der Vergangenheit wäre eine solche Stunde für mich das Unerträglichste, Unüberwindbarste gewesen, was es nur gab. Ich war dann wirklich hysterisch und verzweifelt. Und hätte mich von ihm verraten und versetzt gefühlt, weil er mich in meiner Leere und Traurigkeit nicht trösten konnte. Und jetzt saß ich ganz ruhig und gelassen da und dachte: «Du solltest nicht so ehrgeizig sein und denken, du müsstest einen Mann jede Minute seines Lebens inspirieren. Du musst selbst akzeptieren, dass du dich leer fühlst und müde bist und am liebsten einfach wieder gehen möchtest. Das kommt in den besten Beziehungen vor.» Früher wollte ich so eine Leere bei mir nicht «wahr haben» und unternahm dann an allen Fronten, vom Geistigen bis hin zum Erotischen und Sexuellen, forcierte Versuche, mit Gewalt einen Kontakt herzustellen. Und wenn das nicht klappte, feierte ich später ganz allein Orgien der Vereinsamung. Und jetzt saß ich so ruhig und gelassen und natürlich auch mehr oder weniger traurig da und dachte: «Ja, daran kann doch der gute Mensch auch nichts ändern.» In der Vergangenheit verlangte ich von ihm und auch von anderen Freunden Wunder des Trostes. Und jetzt ertrug ich meine eigene Leere, Müdigkeit und Unruhe und wusste: Das gehört auch dazu, verzweifle jetzt nicht. Und ich verbarg meinen Kopf zwischen all dem Hellgrau seines Anzuges, und als ich später zufällig aufblickte, sah ich Bewegtheit und Rührung über sein Gesicht huschen, als ob ein viel zu starkes Gefühl kurz aus ihm herausgebrochen wäre und dort einen kurzen Abendspaziergang entlang seiner gefühlsgeladenen Gesichtszüge gemacht hätte. Was es war, weiß ich nicht, und ob er sich dessen bewusst war, dass sein Gesicht auf einmal so eine starke Ergriffenheit widerspiegelte, weiß ich auch nicht, aber ich las diese Rührung in seinem Gesicht und nahm sie in Besitz, als ob sie für mich bestimmt gewesen wäre. Und das war gut so. Manchmal genügt einem ein Gesichtsausdruck, das kann manchmal ausreichend Nahrung für mehrere Tage sein, man braucht nicht immer ungestüme und leidenschaftliche Gesten, die einen davon überzeugen müssen, dass man wirklich begehrt wird. Und wo es wieder nur um die Wahrnehmung des eigenen Ich geht. Während ich jetzt schreibe, geht es mir schon wieder besser. Nach diesen äußerst heißen Tagen ist plötzlich die Kälte zurückgekehrt und der Körper hat Mühe, sich wieder anzupassen. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb ich mich mehr als unwohl und fast krank fühle. Aber man darf doch nicht so abhängig von atmosphärischen Einflüssen sein.

Und gerade an solchen Tagen, an denen man vor lauter Müdigkeit und Unlust in alle Richtungen auseinanderfällt, muss man disziplinierter und pflichtbewusster leben als je zuvor.

So, ich habe gerade mit einer entschlossenen Geste meinen terrakottafarbenen Winterpullover aus dem Schrank geholt und darüber meine dunkelblaue Wolljacke angezogen, dabei haben wir schon seit einer Weile Juni. Ich werde heute bis 6 Uhr fasten, um diesen Magen wieder ein wenig in den Griff zu bekommen, und dann kann ich in der Mittagszeit ein wenig schlafen, das spart wiederum Zeit, und ich möchte mich auch wieder auf meine zwei Schüler, auf diese alberne Premiere mit Liesl – wenn ich nur diesen Pullover anbehalten darf – freuen. Und den Roman von Grete von Urbanitzky,[22] «Eine Frau erlebt die Welt», mit dem ich den Vormittag überstehen wollte, werde ich mir für einen wohlverdienteren Moment aufsparen und stattdessen einmal mit dem «Russisch für Kaufleute» anfangen, nachdem ich meinen Traum von heute Nacht abgetippt habe.

Noch eine Kleinigkeit von gestern Abend. Als ich so ein bisschen vage quengelte, ich sei «gestorben» und ginge jetzt wieder nach Hause, fragte er inquisitorisch: «Ja, wie fühlen Sie sich denn, beschreiben Sie mir das doch mal genau.»

Und ich antwortete sphinxhaft, mit vielen undefinierbaren Gesten und undurchdringlichem Gesichtsausdruck: «Ich weiß es eigentlich nicht.» Und dann sagte er: «Ja, sehen Sie, das ist es, was Sie für andere so interessant macht, daß Sie nie etwas sagen, aber ich – ich finde es totlangweilig.» Und da brach ich plötzlich in ein befreiendes Gelächter aus, so unbefangen, aufrichtig und furchtbar richtig klang seine Bemerkung. Und er fragte belustigt: «Habe ich Recht oder nicht?» Und auch wenn ich es gestern Abend noch nicht gedacht habe, so denke ich doch jetzt, dass ich mich in der Vergangenheit aufgrund einer solchen direkten, fast groben Äußerung von ihm vielleicht verletzt und unsicher gefühlt hätte und dass mein Selbstvertrauen dann wohl offensichtlich zugenommen hat, wenn ich eine solche Äußerung nur noch als etwas sehr Erfrischendes und Aufschlussreiches empfinde.

Je stärker man versucht, nur das eigene kleine «Ich» in den eigenen Stimmungen zu erleben und nicht das Kosmische, desto mehr verschließt man sich allen Eindrücken, die auf einen Menschen einwirken, und desto mehr verarmt man auf Dauer.

Am späten Abend.

Eine Komödie und ein Publikum mit dürftigem Wortschatz: reizend, entzückend, zauberhaft und noch einmal reizend. Die Tränen liefen mir in Strömen über die Wangen und ich werde wieder einmal am lautesten gelacht haben im ganzen Saal, aber ich weiß auch nichts anderes zu sagen als: reizend. Und die Tatsache, dass ich nur ein paar Worte zur Verfügung habe, sogar überhaupt immer nur ein paar Worte, macht mich traurig. Früher blieb ich immer so bleischwer sitzen, wenn nach einer Komödie der Vorhang zum letzten Mal fiel. Jetzt schon etwas weniger schwer. Aber ich verspürte doch das Bedürfnis, vor diesen verwechselten und lautstarken Ehepaaren schnell zum strengen heiligen Augustinus wegzulaufen. Gerade so, als ob ich bei ihm Zuflucht vor allen Komödien der Welt suchen müsste. Der Mensch ist schon etwas Seltsames. Alles in allem bin ich mit diesem Tag sehr zufrieden. Am frühen Morgen ließ ich ihn fast aus Unachtsamkeit und Unlust aus den Händen gleiten, ich dachte, ich hätte viel zu wenig Kraft, um ihn bis an sein Ende zu schleppen. Aber als ich dann erst einmal an meinem Schreibtisch saß und anfing, mir alle möglichen Fragen zu stellen, stellte sich doch rasch heraus, dass das körperliche Unbehagen nicht der entscheidende Faktor war. Vielmehr befindet sich überall allerhand psychologischer Staub, Staubkörner, die das Getriebe ungeschmeidig machen. Dagegen kann man ziemlich viel tun. Und die Kraft wächst, wenn man sie nutzt und darauf vertraut, dass sie vorhanden ist. Es ist so kalt und mein Kopf ist so schwer und hoffentlich ist er jetzt nicht nur mit Watte gefüllt? Entwickelt sich zwischen Liesl und mir etwas? In den letzten Tagen glaube ich manchmal, ich werde einmal mit einer unkontrollierten, leidenschaftlichen Geste, die ich von mir selbst gegenüber einer Frau noch nicht kenne, die aber doch in mir steckt, ihren schmalen Körper an mich ziehen. Und was ich dann damit machen werde, weiß ich nicht. In letzter Zeit scheint es, als würde diese Geste in mir wachsen.

«Das zwischen euch ist noch eine sehr merkwürdige Sache», sagte S. gestern Abend und schaute von einer zur anderen, aber wir taten beide so, als hätten wir nichts gehört, Liesl und ich. Ich hatte es schon gehört, aber ich blickte starr geradeaus. Drang es eigentlich zu ihr durch, was er gesagt hatte? Vor ein paar Nächten extrem erotisch und auch sexuell von ihr geträumt, wurde von einem Orgasmus aufgeweckt. Will ich das wirklich oder nicht? Ich habe keine Theorien darüber, und was zählt, ist, dass ich sie wirklich sehr liebe. Und das Erotische ist nicht das Wesentliche an unserer Beziehung, aber manchmal ist es plötzlich da, aber es ist für mich nicht problematisch. Diese unverhofften Augenblicke der Verliebtheit sind ein kleines zusätzliches Geschenk des Lebens, sie haben eigentlich eher poetischen Charakter und gehen niemanden etwas an. Der Reiz, den sie auf mich ausübt, ist ein zusätzliches Geschenk, muss aber nicht in die Realität umgesetzt werden, auch wenn meine Hände manchmal gerne nach ihr greifen würden. Gute Nacht!

Freitagmorgen [12. Juni 1942], 8 Uhr.

Traurig, niedergeschlagen, bedrückt, unsicher; ein Haufen Sand, in den der Erstbeste nur seinen Fuß zu setzen braucht, um ihn in alle Richtungen auseinanderstieben zu lassen. S. ist in meinen Gefühlen seit einigen Tagen so weit weg, als wäre in mir etwas abgestorben. Und liegt das alles nur an der Erkältung? Ich muss noch viel lernen. Zum Beispiel, dass es nicht notwendig ist, ständig lichterloh zu brennen. Vielleicht ist sogar das ein «Sensationsbedürfnis». Lass ihn und auch dich und eure Beziehung einfach mal in Ruhe. Lass einfach mal alles ein wenig ruhen und lass alles los, und du darfst dich ruhig für eine Weile leer fühlen, diese Leere wird nur dann aufgebauscht, wenn du anfängst, über alle möglichen katastrophalen Dinge nachzudenken. Es muss in einer Beziehung Platz sein für alles, auch für Leere, so paradox das auch klingen mag. Du solltest es nur nicht dramatisch nehmen oder ungeduldig sein.

Nach dem Frühstück mit wieder einmal
einem neuen Tee-Ersatz.

Eine kleine Leere in einem sollte man nicht zu einer Wüste der Leerheit aufblähen. Ich glaube, dass es nach diesem kurzen Telefonat auch schon wieder vorüber ist. Übrig bleibt nur noch die Erkältung; es ist, als ob mein Kopf nicht atmen kann, nicht meine Lunge, sondern mein Kopf; alles unter meiner Schädeldecke möchte sich dann so gerne weit ausdehnen, aber das geht nicht, die Schädeldecke ist zu eng und lässt keinen Platz für eine solche sich dehnende Bewegung. Der Monat Juni ist so pflichtvergessen wie nur etwas. Es ist, als hätte der Sommer es sich nach einem kurzen überschwänglichen Anfang plötzlich anders überlegt und als wäre er in hohem Tempo zum Herbst zurückgeeilt. Ein Wollpullover und eine Wollweste übereinander, mitten im Juni.

Gerade eben habe ich Adri als ständige Einwohnerin Amsterdams[23] am Telefon begrüßt. Sie sagte u.a.: Ich habe gestern von dieser Freundin von v. Wermeskerken[24] von dir gehört; sie ist so begeistert von dir, nicht nur, «weil du so schlau bist, sondern auch, weil du es so gut erklären kannst». Das ist doch ermutigend.

Aber eigentlich weiß ich das schon. Und dann: «Ich mache mir nichts daraus.» Aber auch: Ich habe auch keine Minderwertigkeitskomplexe. Was dies betrifft, lebe ich genau in der Mitte, die Waage neigt sich weder in die eine noch in die andere Richtung. Ich finde mich überhaupt nicht so besonders schlau oder intelligent, wie die anderen immer behaupten, zumindest verschwende ich nicht unnötig Zeit, um hin und wieder zu denken: «Ach, wie schlau bin ich doch.» Ich denke eigentlich nie bewusst, dass ich etwas leiste, ich brauche das auch nicht für mein Selbstwertgefühl. Aber zugleich passiert es mir auch nie, dass ich das Gefühl habe: Dafür oder dafür bin ich zu dumm, das kann ich nicht. Was das betrifft, lebe ich mit beiden Füßen auf dem Boden. Solche Gefühle rauben unnötig viel Zeit und Kraft und sind ohnehin nicht notwendig, man muss nur einfach seinen Weg gehen und das ist alles. Es ist fast bestürzend, von Menschen auf Schritt und Tritt zu hören: Ich bin zu dumm dafür, na ja, und so weiter, diese ständige Demonstration irgendeines Minderwertigkeitsgefühls. Als wir neulich zu den Starrevelds gingen, benahm Tide sich plötzlich wie ein Backfisch, es war auch ein wenig gespielt, aber das, was dahintersteckte, war echt: «Ich habe einfach Bauchschmerzen, ich fühle mich viel zu dumm für diese Gesellschaft. Es macht mich wirklich ganz nervös.» Und ich wurde aufrichtig fuchsteufelswild und auch verwundert und sagte: «Tide, wie kannst du nur so blöd sein, solche Dinge zu sagen?» Ein ständiges Knabbern der Menschen an ihrem eigenen Selbstwertgefühl. Und auf der anderen Seite: die Überheblichkeit. Beides ist unnötig oder sollte zumindest unnötig sein – auf alle Fälle für diejenige, die ihr Leben ernst nimmt und weiß, dass es kurz ist und dass es viel zu tun gibt.

Ich habe noch kein Wort über das Gemüse verloren, ja, das Gemüse. Wim brachte zwei Gurken aus Heemstede[25] mit, ein Göttergeschenk. Und Menschen in Warteschlangen, stundenlang. Dann doch lieber die Bohnen aus dem Vorrat. Ich bin nicht gut darin, über solche Dinge zu schreiben, zu wenig Geduld. Und jetzt scheint es so weit zu sein, dass die Juden Gemüseläden nicht mehr betreten dürfen; sie müssen die Fahrräder[26] abgeben; und dürfen nicht mehr in die Straßenbahn;[27] und müssen am Abend ab 8 Uhr zu Hause sein.[28]

Wenn mich diese Maßnahmen deprimieren wie heute Morgen, als sie mich kurz wie eine bleierne Bedrohung zu ersticken trachteten, dann geht es im Grunde doch nicht um die Maßnahmen an sich. Dann ist einfach nur eine große Traurigkeit in mir und die sucht dann nach Stoff um sich herum, an dem sie sich festmachen kann. Und eine unliebsame Unterrichtsstunde, die ich abhalten sollte, flößt mir dann genauso viel Angst und Beklemmung ein wie die schlimmste Maßnahme unserer Besatzungsmacht. Es sind nie Dinge der Außenwelt, es ist immer das Gefühl in mir, Niedergeschlagenheit, Unsicherheit oder was auch immer, das den äußeren Dingen ein trauriges oder bedrohliches Antlitz verleiht. Es geht bei mir immer von innen nach außen, nie von außen nach innen. Für gewöhnlich zerschellen die bedrohlichsten Verordnungen – und es gibt ihrer gegenwärtig eine Menge – an meiner inneren Sicherheit und meinem Vertrauen; und, in mir verarbeitet, verlieren sie viel von ihrer Bedrohlichkeit.

In meinem Notizblock noch eine kurze Passage in Stenografie: ein Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen S. und Werner, das S. mir später nacherzählte:

W: «Es ist doch auch eine effektive Bedürfnisfrage, ein Mann kann doch schließlich nicht immer ohne körperliches Ausleben leben, nicht für immer.»

S.: «Es ist aber doch wohl möglich, daß bei Ihnen, – bei denen ein Minderwertigkeitsgefühl in dieser Beziehung besteht und andererseits, daraus folgend, ein fortwährendes sich-beweisen-wollen durch die körperliche Betätigung – das ursprünglich wirkliche und natürliche Bedürfnis gar nicht so groß ist, wie die Vorstellung, daß es da sein muß. Und das spielt, im Unbewußten, hinein.»

Und später: «Es wäre doch grotesk und lächerlich und jammervoll, wenn so eine Ehe scheitern würde an dem sexuellen Fragestück.»

Etwas über Pieter: «Er ist schlecht angepaßt, d.h. er stellt sich der Umwelt nicht und deswegen muß er auch ein möglichst negatives Bild der Umwelt vor sich aufrecht erhalten, um seine schlechte Anpassung und sein Ausweichen für die Umwelt, zu motivieren.»

Etwas später an diesem Vormittag.

Beim Durchstöbern eines alten Stenogrammblocks stoße ich auf eine gekritzelte Notiz von mir. Ich «trage» sie hier kurz «ein». Ich erinnere mich plötzlich daran, dass ich sie in seinem von Adri gepolsterten patriarchalischen Stuhl vor dem Fenster geschrieben habe, als er den Raum für einen Moment verließ und ich wieder so voll war, dass ich einfach etwas für ihn aufschreiben musste: «Er kann es sich erlauben, andauernd offenherzig zu sein, ohne an Interessantheit einzubüßen. Nur wenn man sehr tiefgründig und gehaltvoll ist, wird eine Offenheit wie seine nicht langweilig. Und obwohl man sagen kann, dass er einen mystischen Einschlag hat, ist bei ihm alles so glasklar und auskristallisiert, dass er keinerlei Unklarheit oder Ungenauigkeit ausstrahlt.»

Ich muss auch zusehen, dass ich mit der Kälte und der Unbehaglichkeit fertigwerde, denn sie fressen meine Energie und meinen Arbeitseifer. Ich muss mich noch gänzlich von der Vorstellung lösen, dass ich, weil ich an einer Erkältung, an Schnupfen und einer verstopften Nase leide, das Recht habe, mich einfach ein wenig gehen zu lassen und weniger gut zu arbeiten. Ich würde fast sagen, im Gegenteil, obwohl man auch hier nichts forcieren sollte. Aufgrund der sich verschlechternden Lebensmittelsituation werden wir uns auch immer weniger gegen die Erkältungen wehren können, zumindest bei mir ist das bereits der Fall. Und dabei hat der Winter noch nicht einmal angefangen. Trotzdem muss man immer weitermachen und produktiv bleiben. Ich glaube, dass ich mich jetzt schon darauf einstellen muss, diese körperliche Beeinträchtigung miteinzubeziehen, damit sie nicht jedes Mal wie ein unerwartetes Hindernis von außen auftaucht und mich für kürzere oder längere Zeit lahmlegt. Vielmehr muss ich sie sozusagen an meinen täglichen Zustand, an meine eigene Wenigkeit anpassen, damit ich sie im Griff habe und nicht mehr unter ihr leide; sie darf folglich nicht ein stets wieder in Erscheinung tretender hemmender Faktor sein, bei dem ich jedes Mal aufs Neue zusehen muss, dass ich mit viel Zeit- und Kraftaufwand mit ihm fertigwerde, sondern ein Faktor, der bereits innerlich in mir verarbeitet ist, sodass ich ihm nicht immer wieder aufs Neue Aufmerksamkeit schenken muss und meine Aktivitäten ungestört fortsetzen kann. Das ist sicherlich saumäßig unbeholfen formuliert, aber ich weiß ganz genau, was ich damit meine.

Samstagmorgen [13. Juni 1942].

So müde, niedergeschlagen und erschöpft wie eine alte Jungfer. Und so trostlos wie dieser nasskalte Nieselregen draußen. Und so kraftlos. Dann sollte ich aber auch nicht bis 1 Uhr nachts im Badezimmer lesen, wenn ich die Augen schon fast nicht mehr offen halten kann vor lauter Schläfrigkeit. Aber das ist natürlich nicht der eigentliche Grund. Eine zunehmende Unlust und Müdigkeit. Vielleicht ist es doch rein körperlich? So viele kleine Splitterteilchen des eigenen Ichs, die den Weg zu offeneren Gebieten versperren. Das begrenzte Ich mit seinen Wünschen, die nur auf Befriedigung dieses äußerst beschränkten Ichs aus sind, ausrotten und auslöschen. Je müder und kraftloser ich mich fühle, desto verwirrter bin ich angesichts seiner Kräfte und seiner Liebe, die immer und überall für alle vorhanden ist. Dann bin ich einfach fassungslos darüber, dass er in Tagen wie diesen so viele überschüssige Kräfte hat.

Für einen einzelnen Menschen ist es normalerweise schon genug, wenn zuerst sein Neffe[29] verhaftet wird, weil er sich in einem Boot auf dem Wasser befand, und gestern wurde seine Schwester festgehalten, einfach zur Seite geschafft, weil sie die Grenzen der Höflichkeit gegenüber unserer Besatzungsbehörde in einer Unterhaltung, über die wir noch nichts wissen, überschritten zu haben scheint. Und es gibt auch noch Geschäftliches wie Hypotheken und ein nicht gemeldetes Familienvermögen,[30] die ihn das Leben kosten könnten. Zudem kann man jederzeit in eine Baracke in Drenthe geschickt werden und an den Gemüseläden hängen Schilder mit der Aufschrift «Für Juden verboten». Dem Durchschnittsmenschen reicht so etwas heutzutage völlig. Er aber empfängt auch noch 6 Patienten und verbringt mit jedem intensive Stunden, er dringt in ihr Inneres ein, holt den Eiter heraus und bohrt die Quellen an, wo sich bei vielen Gott verbirgt, ohne dass sie es selbst wissen. Er arbeitet so intensiv mit ihnen, bis schließlich in ihren ausgetrockneten Seelen das Wasser wieder zu fließen beginnt; die Lebensbeichten stapeln sich auf seinem kleinen Tisch und fast jede endet mit: «O, hilf mir doch!» Und er ist für alle da und hilft. Gestern Abend las ich in meinem Roman im Badezimmer Folgendes über einen Priester: «Er war als Mittler zwischen Gott und den Menschen gestanden. Nichts vom Alltag hatte ihn berühren können. Und gerade darum verstand er die Not aller Werdenden so gut.»[31]

Es gibt Tage, an denen ich nicht mithalten kann, aufgrund von Müdigkeit oder was auch immer. Dann wünschte ich, seine Aufmerksamkeit und Liebe gälten nur mir allein. Dann bin ich nur noch dieses beschränkte Ich und die kosmischen Räume in mir sind dann für mich verschlossen. Und natürlich verliere ich dann den Kontakt zu ihm. Dann wünschte ich, dass auch er nur ein beschränktes «Ich» wäre, das nur für mich da ist. Ein sehr verständlicher weiblicher Wunsch. Aber ich bin schon ein ganzes Stück diesen Weg vom eigenen «Ich» weggegangen und ich werde diesen Weg auch weitergehen. Und Rückschritte gehören zu diesem Weg dazu. Früher habe ich manchmal spontan niedergeschrieben: «Ich liebe ihn so sehr, ich liebe ihn so unendlich.» Aber dieses Gefühl ist jetzt verschwunden. Vielleicht fühle ich mich deshalb so schwer, traurig und erschöpft. Beten kann ich in den letzten Tagen auch nicht. Und ich kann mich nicht leiden. Diese drei Dinge werden wohl zusammenhängen. Und dann bin ich plötzlich so störrisch wie ein Esel, der auf einem felsigen Pfad keinen Schritt mehr vorwärts machen will. Wenn mein Gefühl für ihn dann wie tot ist – keinen Raum und keine Kraft, um ihn in mir und um mich in ihm zu erleben –, frage ich mich plötzlich: Hat er mich auch vorübergehend losgelassen? Werden seine Kräfte von den vielen, die ihn täglich brauchen, so sehr verbraucht, dass er sich für eine Weile von mir abwenden musste? Etty, du widerst mich an. So egozentrisch und so kleinlich. Statt ihm mit deiner Liebe und Anteilnahme zur Seite zu stehen, fragst du dich wie ein quengeliges Kind, ob er dir verdammt noch mal genügend Aufmerksamkeit schenkt. Es ist die kleine Frau, die die ganze Aufmerksamkeit und Liebe für sich einfordert.

Gerade eben ein kurzes, sachliches und langweiliges Telefongespräch mit ihm. Und ich glaube, dass es bei mir auch Folgendes ist: ein sich «hineinsteigern» in ein sogenanntes tragisches Gefühl. Sich nicht nur immer unglücklicher fühlen, sondern sich auch immer unglücklicher fühlen wollen. Dramatische Situationen auf die Spitze treiben und dann so herrlich darunter leiden. Ein Rest meines Masochismus? Und es hilft nichts, wenn man in seiner «oberen Schicht» vernünftig und erwachsen argumentiert, solange man nicht in der unteren Schicht giftig wuchernde Pflanzen mit der Wurzel ausrottet. Er würde wahrscheinlich lauthals lachen, wenn er wüsste, dass ich fantasiere, meine Gefühle für ihn seien «tot». Er würde ganz sachlich, gelassen und ernst sagen: «In allen Beziehungen gibt es Tiefpunkte, die muss man gelassen vorüberziehen lassen, es wird alles wieder gut.»

Ich nehme solche Momente wieder viel zu schwer. Und es ist auch so verdammt lächerlich, mich unglücklich zu fühlen in dieser Zeit, die so viel Energie frisst, nur weil die Spannung zwischen mir und einem Mann ein wenig nachgelassen hat. Von großem Selbstvertrauen zeugt das auch nicht gerade. Wenn dein Gefühl ein paar Tage lang nicht so intensiv ist wie sonst, musst du nicht so viel Aufhebens davon machen, als wäre die ganze Liebe gestorben und du kämst Gott weiß wie zu kurz. Du, die nicht stundenlang in der Schlange zu stehen braucht. Das Essen steht jeden Tag auf dem Tisch, Käthe kümmert sich darum. Und der Schreibtisch mit den Büchern wartet jeden Morgen einladend auf dich. Und der wichtigste Mann in deinem Leben wohnt ein paar Straßen weiter und ist noch erreichbar und nicht abgeholt worden. Schlafe doch lieber erst einmal aus. Und schäme dich in Grund und Boden. Mache es mit dir selbst aus und malträtiere die anderen nicht mit deiner Gereiztheit, denn selbst wenn du sie nicht zeigst, ist sie trotzdem in dir, deshalb musst du dort auch erst einmal ordentlich aufräumen. Und gib dich nicht dermaßen einer einzigen Stimmung und einem Moment hin, vor allem nicht, wenn er so verschlafen ist, sondern behalte weiterhin die Hauptlinie und den richtigen Weg im Auge. Sei dann meinetwegen traurig, einfach und ehrlich traurig, aber mach nicht so ein Drama daraus. Auch in seiner Traurigkeit muss der Mensch einfach werden, sonst ist es nichts als Hysterie.

Und dann ziehe ich den armen Han auch noch in meine Stimmungen hinein, einen 60-jährigen Mann. Ich wollte doch eigentlich gar nicht bei ihm schlafen, wenn ich ganz ehrlich wäre zumindest. Aber aus einer Art Müdigkeit und dem Wunsch heraus, nicht allein zu sein und verhätschelt zu werden, wäre ich doch gern bei ihm geblieben. Und er sagte: «Es ist zu spät, geh doch besser in dein eigenes Bett.» Und ich bauschte dann mein Gefühl zu einer entsetzlichen Einsamkeit auf und fühlte mich im Stich gelassen, und mit einer tieftragischen Maske und einem eindrucksvollen Schweigen verließ ich dann sein Zimmer und setzte mich mit einem Roman ins Bad. Und er kam hinterher, war ein bisschen hilflos, streichelte mich und wusste nicht so recht, was er mit mir anfangen sollte, wie ich da so mitten in der Nacht mit gesenktem Kopf und Tränen hinter den Brillengläsern im Bad saß und einen Roman las.

Und er gab schüchtern zu verstehen, dass ich doch zu ihm kommen soll. Aber ich driftete immer weiter in ein Gefühl der Vereinsamung und der Vernachlässigung hinein, hielt den Kopf gesenkt, ließ ihn wieder ein wenig hilflos weggehen und blieb noch eine halbe Stunde auf diesem Korbstuhl sitzen im Wissen, dass ihn das Licht aus dem Badezimmer störte, aber ich blieb vor allem, um die Situation so dramatisch wie möglich zu gestalten. Und schließlich ging ich in mein Bett und war eigentlich froh, allein zu sein, und merkte, dass alles nur Hysterie war. Und ich muss allein bleiben, ganz allein, bis ich alles mit mir selbst ausgemacht habe und bis die Atmosphäre in mir wieder geklärt ist. Dieses ganze Theater, das ich veranstalte, ist vielleicht nichts anderes als der Versuch, die Außenwelt dazu zu zwingen, mir das zu geben, was ich mir im Moment selbst nicht geben kann. Und mit so etwas kann man seine besten Beziehungen verderben.

Du solltest dich in eine kahle Zelle einschließen und so lange mit dir allein sein, bis du wieder vernünftig geworden wärst und all diese Hysterie sich gelegt hätte.

Und bis du dich nicht mehr von jedem Wort von S., das sich zu nüchtern anhört, gekränkt und im Stich gelassen fühlst. Das sind Ansprüche, die du stellst und die aus einem Gefühl der Kraftlosigkeit heraus entstehen. Du versuchst dann, mit der Außenwelt zu ergänzen, was bei dir fehlt. Seine Traurigkeit muss man auch mit einer gewissen Würde tragen und man muss sie selbst und ganz allein aushalten. Und in ihrer reinsten und einfachsten Form. Und nur dann birgt sie auch einen Ewigkeitswert und kann von innen her erneuern. Man darf sie nicht auf verschiedene Arten in allerlei Kostüme stecken. Es gibt viel, wirklich viel zu tun in diesem Leben, und es geht um große und ernste Dinge, aber man darf die Zufahrtswege zu ihnen nicht durch Schutt, der von eigenen baufälligen Fantasiegebilden stammt und immer wieder zerbröckelt, versperren lassen. Ich werde jetzt zuerst einmal eine Stunde schlafen. Und ich werde schon wieder zu mir finden und auch wieder einfacher werden, auch in meiner Traurigkeit, und ich werde aufhören, mich so komisch aufzuführen.

Gestern Abend bei den Levies. «Was auf diesen Mann alles einstürmt», sagte Liesl, als seine inhaftierte Schwester zur Sprache kam. «Und dann habe ich ihn heute auch noch belästigt», sagte Werner. Und dann sagte ich: «Es ist ja sein Leben und seine Freude um von Menschen wie Dir belästigt zu werden.» Dieser formvollendet formulierte Satz zielte ganz bewusst auf ihn ab und er traf ihn auch. Sein Gesicht leuchtete plötzlich auf und Liesl warf mir einen dankbaren Blick zu. Sie war wie ein zitternder kleiner Vogel und schmiegte sich im Flur fast an mich, als ich mich verabschiedete, und flehte mich an: «Komm doch bitte oft, damit wir Fühlung haben in dieser Zeit.»

«Das haben wir ja dòch», sagte ich. «Ja, aber trotzdem, man braucht einander so.» Und Werner streichelte mit der Hand, die sich wie die Krallen eines Greifvogels anfühlt, über meine Wange und sagte nicht viel. Die Zeit, in der wir leben, lastet mit ihrem ganzen Gewicht auf ihnen. Ich hätte gerne noch gesagt: «Kinder, geht nicht so niedergeschlagen und beklommen ins Bett. Nehmt euch noch kurz ein gutes Buch, und wenn es nur die Bibel ist.» Aber mir fehlte die Überzeugungskraft, um es zu sagen. Und ich hätte Werner gerne auch Folgendes gesagt: «Wenn du eine Bilanz des heutigen Tages ziehen würdest, dann umfasste diese doch nicht nur die Durchsuchung durch die Polizeibeamten im Café de Paris und den abtransportierten 19-jährigen Jungen,[32] sondern auch die Stunde bei S. Du warst zum ersten Mal bei ihm und es scheint für dich sehr ertragreich und wichtig für deine weitere Entwicklung gewesen zu sein. Das darf man doch nicht außer Acht lassen. Warum den schweren und bedrückenden Alltag die Oberhand über einen gewinnen lassen und diese gute Stunde vergessen? Unsere Entwicklung sollte doch darauf ausgerichtet sein, dass in unserem Leben die guten Momente, das innere Wachstum über die tägliche Beklommenheit und Bedrohung siegen.»

Und wie sie gestern Abend so dasaßen, völlig niedergeschlagen und deprimiert angesichts der bedrohlichen Zeiten, war diese eine Stunde, die doch die beste des Tages gewesen war, völlig untergegangen und spielte keine Rolle mehr. Und eigentlich darf man sich so eine Nachlässigkeit nicht erlauben. Aber das konnte ich alles nicht sagen, dafür war ich selbst zu kraftlos, zu müde und für mein Gefühl zu wenig überzeugend. Und doch werde ich auf Dauer immer wieder auf diese Dinge zurückkommen müssen, immer wieder und überall – aber dafür muss ich zuerst selbst wieder ein Vorbild sein können.

Was ich zu Beginn des Vormittags geschrieben habe, hat schon wieder seine scharfen Spitzen verloren, denn durch das Aufschreiben von Dingen fallen sie auch von einem ab. Ich schlage mich durch einen Dschungel von Wörtern, viele Worte sind überflüssig und viele sind unpassend und falsch, aber es geht nicht um die Worte, sondern darum, dass man sich durchschlägt, und dann gelange ich plötzlich wieder auf eine Lichtung mit Blick in alle Richtungen und in den Himmel und bin wieder ein Stückchen weitergekommen. Und am Ende eines solchen chaotischen Selbstgesprächs merke ich wieder, dass ich nicht so winzig, unreif und mickrig bin, wie ich anfangs dachte.

Und meine Sehnsüchte, meine Gedanken und Wünsche werde ich ihm für eine Weile ersparen, um ihn und mich nicht damit zu verunreinigen. In meiner Müdigkeit möchte ich dann etwas, was ich, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, überhaupt nicht will. Ich werde meine Wünsche und Sehnsüchte wie quengelige, lästige Kinder, die sich zu weit von zu Hause entfernt haben, wieder hereinrufen. Sie gehören nach Hause, damit ich sie erziehen kann, und wenn sie wieder zur Besinnung gekommen sind, dürfen sie wieder frei herumlaufen. Aber so richten sie Schaden an, undiszipliniert und ungeformt, wie sie sind, und ohne zu wissen, was sie eigentlich wollen.

Am Ende des Vormittags.

Ich habe an diesem regnerischen, trüben Morgen viele Umwege und ein Wortdickicht benötigt, um zu einem einfachen und klaren Verständnis der Dinge zu gelangen. Unter den viel zu vielen, aber doch unverzichtbaren Worten heute Morgen habe ich auch so ungefähr geschrieben: Einen vorübergehenden Mangel an inneren Kräften versucht man zu kompensieren, indem man Forderungen an die Außenwelt stellt und indem man von ihr ungerechtfertigterweise verlangt, die eigene Kraft aufzufrischen.

Aber ich hätte dem Folgendes hinzufügen müssen: In Zeiten, in denen keine Liebe in mir ist, zumindest wenn ich sie nicht lebendig in mir spüre, versuche ich das zu kompensieren, indem ich von meinen Nächsten zusätzliche Liebesreserven verlange. Und ich könnte es gerade so gut lassen, denn selbst wenn sie mich mit noch so viel Liebe überhäufen würden, ich wüsste damit doch nichts anzufangen und würde es nicht einmal als Liebe empfinden, weil sie keine Resonanz in mir findet. Und dann fängt ein Prozess an, in dem man immer fordernder wird. Man kann es fast auf eine kurze algebraische Formel bringen: Ein Mangel oder Fehlen an Liebe in mir veranlasst mich dazu, eine doppelte Menge an Liebe von der Außenwelt zu fordern. Und selbst wenn man mir diese geben würde, wüsste ich trotzdem nichts damit anzufangen.

Aber – und das ist eine neue Frage – wie kommt es dann, dass man vorübergehend ohne Liebe ist? Aber das ist ein Kapitel für sich, und vielleicht ist es auch viel einfacher, als ich denke, aber jetzt muss ich zuerst für meinen Bohnenmann ein paar Sätze für die Übersetzungsübung vorbereiten.

Montagmorgen [15. Juni 1942], 8 Uhr.

Ich muss aus diesem letzten Tief sehr viel lernen, damit ich es nie wieder in dieser Form erlebe, denn nur dann haben solche Tage einen Sinn.

«Wenn er nicht das Leben eines Mönchs führen würde und all seine Kräfte bei sich behielte, könnte er nicht mit so atemberaubender Intensität und Effizienz mit anderen arbeiten», sagte ich am Samstagabend in belehrendem Tonfall zu Jan Polak.

Und warum muss sich meine junge Leidenschaft immer auf den Weg zu seinen Tagen und Nächten der Enthaltsamkeit machen? Und wie viele falsche Vorstellungen machen das Leben auch in dieser Hinsicht wieder zu einem Labyrinth? Ich will ihn doch lieber als Lehrer haben denn als Liebhaber, nicht wahr? Und ich weiß doch auch, dass Letzteres für jemanden wie ihn nicht wesentlich ist, oder? Und rührt es nicht von einer Art Überlieferung der Menschheit her, von der traditionellen Vorstellung, die höchste Vereinigung von Mann und Frau bestehe darin, miteinander zu schlafen, dass ich unsere Beziehung als etwas Unvollständiges und Verstümmeltes empfinde? Zumindest in meinen labilsten Momenten ist dieses Gefühl immer da. Gestern Abend dachte ich für einen Augenblick, wieder über alle Tiefpunkte hinweg zu sein. Das Rijksmuseum in der Ferne sah aus wie ein Kalifenpalast, und wenn ich diesen Mitternachtshimmel, der nicht nachtschwarz wurde, sondern zwischen vielen Blautönen oszillierte, zu beschreiben versuche, merke ich erst, wie wortarm meine Palette ist. Und mein aufrechter, rauer Baumstamm erinnerte mich plötzlich an eine Palme; wenn ich ihn mitten in der Nacht vor meinem Fenster vor einem exotischen Himmel aufragen sehe, dann hat er oftmals etwas von einer Palme. Dann liege ich in meinem Bett und schaue aus dem offenen Fenster in die Nacht hinein, immer wieder in eine andere Nacht hinein, und weiß, dass ich nie werde reisen müssen, weil mich alle Landschaften der Erde nachts in diesem sich ständig verändernden Himmel vor meinem Fenster besuchen. Und als ich dachte – das war gegen 4 Uhr morgens –, dass ich zur Ruhe gekommen sei und Klarheit und Raum zurückgewonnen hätte, stieg plötzlich eine verlassene, kleine Flutwelle in mir auf und überschwemmte und zerstörte das bisschen Einsicht, das ich in den letzten Tagen glaubte errungen zu haben. Und man hätte mein ganzes Bett auswringen können, so viele Tränen vergoss ich, und ich sagte ein wenig bitter zu mir selbst: «Was für ein außerordentlich reizender Mensch bist du doch, Junge, Junge.» Da war sie wieder, die Verzweiflung, in einen Raum eingesperrt zu sein, mich an einer von ihm errichteten stählernen Wand flügellahm zu machen. Und ich weiß, ich weiß ganz sicher, dass dies nur eine imaginäre Wand ist, die nur in meiner von traditionellen Vorstellungen geleiteten Fantasie existiert. Schließlich hat man diese Flügel, um über alle Wände hinaus zu fliegen und in einen Luftraum einzudringen, der keine künstlichen Grenzen kennt. Aber ist es nicht so, als ob ich vorsätzlich, aus einer Art Selbstquälerei heraus, immer wieder gegen eine kleine Wand fliegen und daran zerschellen möchte? Ich finde es so beschämend, dass ich immer noch mit solchen Problemen zu kämpfen habe, in einer Zeit wie unserer, in der man einander mit allen Kräften, die man hat, beistehen muss, um sie durchzustehen. Er rief gerade an und teilte mit, dass Hulle[33] nach Amersfoort[34] transportiert worden sei. Und es geht das Gerücht um, dass man die Schreie der Misshandelten bis weit über die Heide hört. Und es ist mehr als nur ein Gerücht. Und wo seine Schwester, Hulles Mutter, ist, weiß man nicht. Und es geht nicht nur um Hulle und seine Mutter, es geht auch um die Tausenden und Abertausenden von anderen, für die man den ganzen Tag lang um Kraft beten sollte und die man keine einzige Sekunde am Tag vergessen darf. Ich finde es sehr beschämend für dich, Etty, dass du dich wieder so in Wünsche und Sehnsüchte verwickelt hast, die du nicht einmal wirklich hast. Ich muss damit erst einmal fertigwerden, bevor ich wieder Teil der großen Gemeinschaft werden kann, zu der ja auf Dauer jeder von uns durch die Befreiung von der eigenen «ich-haftigkeit» gelangen sollte. Viele bedienen sich in dieser Zeit einer Vogel-Strauß-Politik: Unter Berufung auf die Belastung und den Ernst «dieser Zeit» lassen sie ihre eigenen kleinen Probleme ungelöst und liederlich in allen Winkeln ihres Wesens herumliegen. Es bedarf einer besonderen Art von Mut, eigene kleine und angeblich unwichtige Probleme angesichts wichtiger Ereignisse wirklich ernst zu nehmen. Aber haben die Ereignisse, die sich groß und bedrohlich außer und über uns abspielen, mit denen wir aber einen inneren Kontakt spüren sollten, nicht letztendlich ihren Ursprung in uns selbst? Und so weiter. Siehe Jung, Seite soundso.

Und warum stellt sich dann bei mir manchmal dieses Gefühl der Verstümmelung und der Verzweiflung in Bezug auf unsere Beziehung ein? Dass ich mich nicht ganz entfalten kann, indem ich mich ihm öffne, weil er mir irgendwo Einhalt gebietet? Da stoße ich auf seine Treue, die bis über den Kanal über viele Jahre hinwegreicht. Aber ist es nicht letztendlich – gib es doch ehrlich zu – eine Art gekränkte weibliche Eitelkeit, dass du dieses Band der Treue nicht zerreißen kannst? Tide betet jeden Abend für Hertha und für ihre Wiedervereinigung, und ich liebe und bewundere sie dafür, dass sie so ist. Und ist dieses «Zerreißen des Bands der Treue» nicht eine der vielen kleinbürgerlichen fixen Ideen aus schlechten Romanen?

Diese mit kürzeren oder längeren Abständen stets wiederkehrenden Krisen, die ein verzweifeltes Gefühl in mir auslösen, an unserer Freundschaft stimme strukturell etwas nicht, spielen die sich nicht auf einer Ebene ab, die weit unter meiner Würde ist und die zugleich auch nicht diejenige Ebene erreichen kann, auf der sich seine Vorstellungswelt abspielt? Manchmal fühle ich mich wie ein beleidigtes, drängelndes Kind, das eine Tür öffnen will, die – nicht einmal verschlossen ist. Und spiele ich nicht manchmal ein kindisches Spiel mit mir, indem ich gerade so tue, als ob die Tür verschlossen wäre, nur um das Gefühl des Unglücklichseins zu verstärken? Ich weiß es alles nicht so genau. Irgendetwas stimmt nicht. Nicht in unserer Beziehung, sondern in meinen Gefühlen und wahrscheinlich eher noch in der Art und Weise, wie ich mir die Dinge vorstelle. Eine gewisse Klischeevorstellung davon, wie es zwischen einem Mann und einer Frau aussehen sollte, wobei ich aber jegliche Wirklichkeit außer Acht lasse. Dabei würde ich gerne mit einem kühnen Schlenker aus der Misere herauskommen. Mit einem einzigen Sprung würde ich dieser ganzen kräfteraubenden Problematik, in die ich verstrickt bin, entkommen, um dann zusammen mit ihm in seinem kosmischen Raum produktiv und kreativ zu sein. So wie ich in den letzten Tagen bin, so blass, gleichgültig und müde (was ja wohl nicht nur von meiner schlechten körperlichen Verfassung herrührt?), bin ich für ihn doch eher eine Belastung als eine Stütze und Inspiration. Man sollte nicht den Ehrgeiz haben, jemandes Inspiratorin zu sein, man sollte überhaupt nichts sein wollen, man sollte einfach nur so sein, wie es die eigenen besten Möglichkeiten hergeben, und wenn ich das bin, nun, dann bin ich inspirierend genug, nicht nur für ihn, sondern auch für viele andere. Vielleicht sollte ich mich dazu erziehen, auf jeden Körperkontakt mit ihm zu verzichten? Ohne dabei irgendeinen Groll gegen ihn in mir zu hegen? Ich glaube nicht, dass ich das schaffe heute Morgen. Im Moment fühle ich mich viel verwirrter und tränenreicher als zu Beginn dieser Seiten.

Gestern Nachmittag dachte ich plötzlich: Man kann doch von Menschen nichts verlangen, was sie nicht geben können, nicht wahr? Man kann sich doch nicht in seine eigenen Fantasien darüber hineinsteigern, was andere für einen bedeuten müssten? Ich denke, dass ich etwas Unmögliches von ihm verlange, dass ich zuweilen, oft unbewusst, Forderungen an ihn stelle, die er nicht erfüllen kann. Forderungen, die mir meine Kräfte rauben und unsere Beziehung trüben. Ich erinnere mich an eines unserer Gespräche über Sinnlichkeit und Leidenschaft, das wir vor langer Zeit geführt hatten. «Du bist beides», sagte er, «sinnlich und leidenschaftlich. Ich bin nur sinnlich, und leidenschaftlich bin ich im Geistigen.» Und so ist es bei ihm, glaube ich, auch wirklich. Sein Geist lodert in unablässiger Leidenschaft und Begeisterung, die zur Besessenheit werden kann. Von seinen Händen und Berührungen geht eine Zärtlichkeit aus, die von der Seele und nicht vom Körper herkommt. Und das, was noch für ihn und für den Partner, rein körperlich, an reiner Sinnenlust übrig bleibt, ach, das ist nicht so viel, nachdem er sich immer schon so vollkommen verschenkt hat, immer und immer wieder. Und hier, in diesem Moment, setzen meine Forderungen und Fantasien ein. In dem Moment, in dem er alles gegeben hat, was er an Leidenschaft und Zärtlichkeit besitzt, stelle ich auch noch eine rein körperliche Forderung und möchte, dass sich die Leidenschaft seines Geistes auch auf seinen Körper überträgt und dass dieser Körper dann mir gehört. Und hier beginnt meine Fiktion und damit meine Leidensgeschichte. Der Körper ist für ihn nicht mehr wichtig, er überwindet ihn immer mehr, während ich möchte, dass er ihm weiterhin wichtig ist. Weshalb eigentlich? Aus einer Art Angst heraus, das Leben könnte mich doch irgendwie benachteiligen? Haben wir nicht oft genug über den Zusammenhang zwischen Sexualität und Selbstbewusstsein gesprochen? Oder fehlt mir nur der Mut, die alte, traditionelle Bewertung der Rolle, die der Körper in der Liebe spielt, aufzugeben? Ist das, worin ich ihm in Gesprächen und auch in meinen besten Momenten schon lange zustimme, schon tief in meiner Lebenseinstellung verankert? Stehe ich erst jetzt wirklich an der Schwelle zu einem neuen Prozess?

Und das Groteske dabei ist: Wenn sein Körper gelegentlich seinen eigenen sinnlichen Gesetzen gehorcht, mag ich ihn nicht einmal so sehr. Ich will seine Sinnlichkeit gar nicht, ich will seine Zärtlichkeit und seine Leidenschaft. Und die – die habe ich doch eigentlich immer? Und dann gibt es noch die Momente, die kleinlichsten und beschämendsten, in denen ich leide, weil ich diese Zärtlichkeit und Leidenschaft mit niemandem teilen möchte. Und ich muss sie mit der ganzen Schöpfung teilen. Aber mein eigenes Lebensgefühl geht doch auch in diese Richtung, nicht wahr? Aber der Mensch kann nicht immer so überlegen sein wie in seinen großartigsten Augenblicken. Aber es muss eine Zeit kommen, in der die schlimmsten Kleinlichkeiten in meinem Leben keinen Platz mehr finden können.

Ich glaube nicht, dass zwischen ihm und mir alles so kompliziert ist, ich glaube nur, dass ich es von Zeit zu Zeit verderbe, indem ich ganze Komplexe von eingerosteten Vorstellungen in unsere schöne, fruchtbare Verbindung schiebe. Und vielleicht ist der hartnäckigste Teil davon der Rest einer Groschenroman-Romantik: Alles oder nichts.

Und so gilt es in dir immer wieder neue Gebiete zu kultivieren. Er soll mich einfach noch ein paar Tage in Ruhe lassen, ich werde das schon schaffen. Ich werde wieder einmal streng mit mir sein müssen und meine mit mir durchgehenden Fantasien und Wünsche auf ihren Wert und ihre Echtheit hin kontrollieren. Es ist nun 10 nach elf. Ich gehe in mein kleines Zimmer und knie mich in der Ecke vor seinem Bücherregal nieder – es ist sehr lange her, dass ich das getan habe. Ich werde wieder streng sein müssen mit mir und mich unter Kontrolle halten. Streng sein allein reicht nicht aus. Man muss zuerst geduldig untersuchen, wo all die Ruhelosigkeit, die Unlust und der sinnlose Energieverbrauch ihren Ursprung haben. Aber mit dem Finden des Ursprungs darf man sich nicht zufriedengeben; eine neue Erkenntnis muss dann auch ihren Weg in den Alltag finden, sie muss von der Höhe dieses einen erleuchteten Augenblicks herabsteigen, um ihre Alltagstauglichkeit zu beweisen. Und jetzt darfst du dich nicht mehr so verzetteln wie in den letzten Tagen, du musst dich, dein Leben und deine guten Vorsätze jetzt wirklich wieder ernst nehmen.

Nach der Meditation vor dem Bücherregal aus Birnbaumholz:

Man darf niemals einen Menschen, selbst wenn es ein noch so geliebter Mensch ist, zum Ziel seines Lebens machen. Es geht wieder um Zweck und Kausalität. Das Ziel ist das Leben selbst in all seinen Ausprägungen. Und jeder Mensch vermittelt nur zwischen dir und dem Leben. Das Leben verleiht seine Gebärden, seinen Inhalt und seine Formen an die Menschen und in jedem Menschen lernen wir das Leben wieder in einer anderen Form kennen. Und wir wiederum bringen den Menschen in unserem Leben etwas bei, damit sie das Leben besser kennenlernen, aber dann müssen wir sie wieder loslassen und dem Leben zurückgeben, so schwer uns das auch fällt. Und durch diejenigen, die wir am stärksten lieben, können wir das Leben womöglich am besten kennenlernen. Oder eben gerade nicht? Versperrt uns die Liebe nicht den Blick auf das Leben? Ja, aber nur, wenn diese Liebe den geliebten Mitmenschen zum eigentlichen Ziel macht.

Jetzt ist es schon nach halb 12 und der Rest des Tages wird dem Studium der Muttersprache meiner Mutter gewidmet sein. Ich weiß, dass ich in diesem Bereich zukünftig eine Aufgabe haben werde, eine Vermittlungsaufgabe zwischen Russland und dem Westen. In meinem kleinen Schülerkreis versuche ich bereits, diese Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen, indem ich ihnen nicht nur Grammatik beibringe, sondern auch versuche, ihnen eine Vorstellung von diesem rätselhaften Land im Osten zu vermitteln. Aber muss ich dafür nicht noch viel mehr wissen? Ich werde Becker demnächst nach ein paar kulturhistorischen Werken fragen. Ich muss noch so viel lernen, und ich möchte das auch, sodass ich kaum verstehen kann, weshalb ich mich immer wieder von mir selbst – im engsten Sinne des Wortes – von meinem Weg abbringen lasse. Aber ich werde mir immer wieder den Weg freiräumen und ihn dann auch wirklich gehen.

16. Juni [1942], Dienstagabend, halb 10.

Natürlich hat er es sehr bewusst gesagt, weil er die Wirkung von Worten kennt. Die Tür war schon fast geschlossen, wir standen je auf einer Seite des Türspaltes, wir hatten uns auch schon verabschiedet, da sagte er plötzlich: «Wenn Sie noch lange krank sind, können Sie nicht mehr meine Sekretärin und meine Freundin bleiben.» Als er mich als «Freundin» bezeichnete, schien es, als verleihe er mir eine sehr wertvolle Auszeichnung. Ich war fast versucht, ganz demütig zu fragen: «Bin ich denn wirklich Ihre Freundin?» Aber stattdessen sprang ich ihm mit zehn Nägeln in sein provozierendes Gesicht und sagte sehr hochmütig: «Das will ich auch gar nicht.» Daraufhin rannte ich die vielen Treppenstufen hinunter. Als ich auf der Straße war, lehnte er sich bereits aus dem Fenster, ich streckte ihm – so weit ich konnte – die Zunge heraus und bekam eine Kusshand zurück und am Ende der Straße sah ich noch seinen Arm aus dem Fenster winken. Und jetzt lerne doch daraus, lerne jetzt ein für alle Mal daraus. Und dramatisiere so ein kleines Tief nicht. Da war er wieder, ganz und gar, und ich liebe ihn so sehr. Wir müssen diese Zeit gemeinsam ertragen und durchstehen, und wir müssen einander in allem unterstützen und lieben und so weiter und so fort.

Der Tag begann heute Morgen so gut, mit starken Kopfschmerzen, Schwindel und mit dem Gefühl, so krank zu sein wie noch nie zuvor. Aber plötzlich war meine Geduld wieder da. Vor ein paar Tagen hatte ich mich bei mir selbst beschwert, dass es so eine Kluft zwischen der Beweglichkeit meines Geistes und der Trägheit, der Müdigkeit meines Körpers gibt. Aber es ist keine wirkliche, produktive Beweglichkeit des Geistes. Es handelt sich nur um Unruhe und Ungeduld. Man muss auch krank sein können und sich selbst dabei in Geduld üben. Kaum hatte ich diese Geduld aufgebracht, ging es mir wirklich besser und ich konnte sogar meinen Unterricht ziemlich gut geben. Und um halb 1 betrat ich mit einem großen Strauß blauer Kornblumen sein Zimmer. Alles war wieder gut.

Ich möchte noch schnell etwas von seinen Notizen über Leonie übernehmen:

«Schaffende Kraft muß in eine Form gegossen werden, so, daß doch immer das Schöpferische lebendig bleibt. Im Gegenteil kann man sagen, daß die richtige Formung erst das Schöpferische im Menschen zum Ausdruck bringen kann, der auch andere in seiner Umgebung erreicht. Ohne Formung ist es eine Art narzistisches Genießertum; man berauscht sich an seinem eigenen Gefühl, Leidenschaft.

Aber erst die Formung dringt alle diese Kräfte zur Weiterwirkung, und dadurch wieder in der Rückwirkung zu neuer Befruchtung.»

Natürlich kann ich jetzt sagen, dass alles, was ich am Montag über unsere Beziehung geschrieben habe, mir jetzt unwirklich erscheint und das Wesentliche überhaupt nicht trifft. Und dennoch ist es gut, dass ich einmal darauf näher eingegangen bin. Denn damit habe ich schon etwas «vorweggenommen», wenn die nächste Depression ansteht.

Und jetzt etwas Selbstdisziplin. Es ist 10 Uhr und ich werde meinen Wunsch (der jetzt nur aus einer Müdigkeit erwächst, die ich nicht eingestehen will), noch etwas zu lesen oder ein wenig herumzubummeln, überwinden und geduldig ins Bett gehen und schlafen, um morgen wieder frisch zu sein und ein paar Stunden intensiv mit ihm zu arbeiten. Disziplin, Charakterformung und Geduld. Und wenn ich jemals ein Lebensmotto hätte, bestünde es aus einem einzigen Wort: Geduld.

Gute Nacht.

Mittwochmorgen [17. Juni 1942], halb 8.

Es scheinen nur winzige Kleinigkeiten zu sein, aber man muss ziemlich viel kämpfen und an der Selbstdisziplin arbeiten, damit sie von der Theorie über die Disziplin und die Gestaltung in das tägliche Leben übergehen. Zum Beispiel sich abends rechtzeitig und ohne allzu viel Widerstand vom Tag verabschieden, statt noch stundenlang in allerlei Büchern zu blättern oder aus purer Unruhe und Unzufriedenheit über die Tagesleistung durch das Haus zu rennen. Früher war das oft der Fall. Da erwartete ich noch ein Wunder im letzten Moment, das den Tag zu etwas Besonderem machen würde. Ein P. S., in dem alles stünde, was am Tag selbst fehlte. Jetzt ist das nicht mehr so schlimm, nur noch ab und zu. Früher waren die Übergänge für mich viel abrupter: vom Tag zur Nacht, von der Arbeit zum Nichtstun, vom Alleinsein zum Zusammensein mit anderen, das verlief alles ruckartig. Jetzt gleitet alles mehr ineinander über, weil ein innerer Rhythmus entstanden ist, der mir und nur mir allein gehört.

Es mag übertrieben erscheinen, aber es ist wirklich so: Um rechtzeitig ins Bett zu gehen, um den Tag freiwillig loszulassen, ist eine Menge Disziplin notwendig. Man muss sich das zuerst einmal ganz bewusst machen, damit dies später alles selbstverständlich und zum eigenen Lebensrhythmus wird.

Noch so eine Kleinigkeit, für die man auch das große Wort Disziplin gebrauchen kann: Am Abend habe ich manchmal schrecklich Lust auf ein Butterbrot, nicht einmal so sonderlich aus Hunger, sondern aus «Lustgefühlen» (sic!)[35] heraus, und ich weiß, dass ich mich am nächsten Morgen, wenn ich aufwache, viel wohler fühle ohne dieses Butterbrot im Magen. Und doch esse ich meistens abends ein Butterbrot. Das ist der «Trieb», jawohl! Und kaum hat das Ding meine Speiseröhre passiert, bereue ich es auch schon. Nennt man das jetzt «Trieb» und «Vernunft», die im Widerspruch zueinander stehen? Wie auch immer: Gestern Abend habe ich dieses Butterbrot nicht gegessen, obschon ich große Lust darauf hatte, und es hat mich sicherlich ein wenig Selbstbeherrschung gekostet. Das gehört alles zur Entwicklung des Menschen, der nach der ihm gemäßen Lebensgestaltung sucht, da bin ich mir sicher; wenn man Kraft für die kleinen Dinge hat, hat man sie auch für die großen. Und später läuft alles von selbst und alle Kräfte werden freigesetzt sein für diejenigen Dinge, um die es eigentlich geht. Ja?

Den krampfhaften Griff um den Tag lockern. Ich glaube, dass viele Menschen noch einen Teil des Tages gierig/begierig umklammern, selbst nachts. Es müsste jeden Abend aufs Neue einen Moment der Hingabe und der Entspannung geben: den Tag loslassen mit allem, was er mit sich gebracht hat. Und sich mit allem abfinden, was man an diesem Tag nicht zu einem guten Abschluss gebracht hat im Wissen, dass wieder ein neuer Tag kommen wird. Mit anderen Worten nachts mit leeren, offenen Händen daliegen, mit Händen, aus denen man den Tag freiwillig weggleiten ließ. Nur so kann man sich wirklich ausruhen. Und in den ausgeruhten und leeren Händen, die nichts festhalten wollen und in denen es überhaupt keine Begierde mehr gibt, empfängt man beim Aufwachen einen neuen Tag.

Ist der neue Tag bei mir nicht gelegentlich mit den Eigenschaften des vorhergehenden erblich schwer vorbelastet? Und kann sich nicht ein neuer Tag manchmal kaum entfalten, schon halb unter dem Schutt des Vortags begraben? Es ist 8 Uhr morgens. Es ist Mitte Juni und ich trage einen dicken Winterpullover. Und es geht mir so gut wie nie zuvor. Dieser Schurke aller Schurken, er wusste genau, was er sagte: «Wenn Sie nicht bald gesund werden können Sie nicht mehr meine Sekretärin und meine Freundin sein.» Früher hätte ich misstrauisch gedacht, er hätte das aus therapeutischen Überlegungen heraus gesagt. Aber jetzt weiß ich, dass dies nicht aus therapeutischen Gründen war. Vielmehr wusste er genau, welche Worte er wie einen zielgerichteten Schuss auf mich richten musste, damit sie mich mitten im Herzen trafen.

«Meine Freundin.» Als ob er mir eine wertvolle Medaille auf die Brust gesteckt hätte. Und das Herz machte einen kleinen Sprung vor lauter Stolz und Freude.

Ich fühle mich noch nicht so richtig «gesund», aber auch die weniger guten Tage und die Krankheitstage muss man mit einer gewissen Würde und Geduld ertragen, und vor allem sollte man sie nicht antreiben, damit sie besonders schnell wieder guten Tagen weichen, das hilft nämlich auch nicht viel. Vor allem jemand wie ich, der es körperlich oft schlecht geht, muss lernen, dieses Gefühl des Krankseins gewissermaßen organisch bei sich «einzuordnen», damit es einen nicht jedes Mal unangenehm überrascht. Und man sollte sich nicht gekränkt fühlen, wenn man sich weniger gut fühlt. Oder benachteiligt. Ich mache das nicht bewusst, aber unbewusst wäre gut möglich. Und dieses Unwohlsein sollte man so organisch in das tägliche Handeln und den Alltag einfügen, dass man keinen einzigen zusätzlichen Gedanken oder Unlustgefühle darauf verschwenden muss.

Sich mäßigen, um dann wieder maßlos sein zu dürfen, ohne dadurch zerstört zu werden.

Die gelbe Teerose, die aufgegangen ist. Schon allein wegen dieses Gelbs, das eigentlich gar kein Gelb ist, muss man an Gott glauben.

Hundert Pfund kleine, glatte weiße Bohnen in einem Jutesack. Sie sind im Büro. Und sie kosten 35 Cent pro Pfund. (Auf dem «Schwarzmarkt» werden dafür ƒ 1,50 verlangt.) Ich sagte am Samstagnachmittag zu Vis[36] mit seinem blassen Gesicht: «Nach dem Krieg wird man oft erbittert von Wucherpreisen und Kriegsgewinnlern reden, aber dann können zumindest wir bezeugen, dass wir jemanden wie Sie kannten, der keinen Gewinn aus den täglichen Lebensmitteln schlagen wollte. Das ist sehr tröstlich, wissen Sie, Herr Vis, ganz abgesehen von der großen, praktischen Wohltat, die Sie uns damit erweisen.»

Die Menschen sind im Grunde so undankbar und maßlos in ihren Forderungen. Samstag und Sonntag waren für mich so schwere Tage, voller Selbstmitleid, Aufbegehren, Traurigkeit und Unzufriedenheit mit mir selbst. Aber waren diese Geste von Vis am Samstagnachmittag mit dem Angebot, mir 200 Pfund Bohnen zu schicken, um Juden zu helfen, die keine Gemüseläden mehr betreten dürfen – und auch am Sonntag dieser Blick, mit dem Tide mich forschend und liebevoll ansah, als ich plötzlich in Tränen ausbrach –, nicht ausreichend, um diese beiden Tage schön zu machen? Und jetzt zu meinem russischen Konversationsunterricht.

nachts halb 1.

Jetzt muss ich wieder meinen Griff um einen Tag lockern, der gut war. Mit der wirklich kontinuierlichen und vertieften Arbeit hat es noch nicht geklappt. Aber das wird schon noch. Denn die Art und Weise, wie ich von Tag zu Tag weiterwachse und robuster werde, garantiert mir die Möglichkeit des kontinuierlichen und konzentrierten Arbeitens in der Zukunft. An einem Tag wie heute fühle ich mich wieder wie der Kutscher vieler ungestümer Pferde. Aber ich habe sie unter Kontrolle. Ein Gefühl der Kraft, der Fülle und der inneren Bewegung bei gleichzeitiger großer Beherrschtheit.

Als er hereinkam, ging er entzückt zu den Erdbeeren, die ein guter Geist auf seinen kleinen Tisch gelegt hatte. Und plötzlich überkam mich das Gefühl: Wenn du später nicht mehr alles bekommen kannst, was du brauchst, klaue ich es für dich, mach dir da keine Sorgen. Pfui, ein ehrwürdiger Psychologe mit Brille, der bei einem kleinen Mädchen solche unsozialen Gefühle weckt. So, und jetzt muss ich ins Bett, um Himmels willen. Ich würde diesem Tag gerne noch ein sinnreiches Abschiedswort mitgeben, aber ich will mich jetzt nicht mehr aufregen. Das passierte mir früher oft: Im letzten Moment des Tages wollte ich viele starke Gefühle in wenigen Worten bündeln. Langsam, ganz langsam jedoch beginne ich, eine Vorstellung von und ein Gefühl für die Trägheit (um zu vermeiden, das Wort «langsam» ein drittes Mal im gleichen Satz zu verwenden) innerer Prozesse zu entwickeln. Der Tag gleitet in die Nacht über und die Nacht verwandelt sich langsam in den Tag und immer so weiter, man kann sich nicht plötzlich am Abend an den Schreibtisch setzen und sagen: «So, jetzt werde ich all diese schweren und fantastischen Dinge aufschreiben, bevor ich ins Bett gehe.» Gerade so, als ob dies vor einer bestimmten Frist abgeliefert werden müsste. Ich glaube, ich fange allmählich an, mich an mich selbst anzupassen, so verworren das auch klingen mag. Es gibt keine Teile mehr von mir, die wie durchgehende Pferde vorwärtspreschen, es gibt keine Teile und Gedanken mehr, die plötzlich aus dem großen Zusammenhang ausbrechen. Es ist, als versammelten sich alle Teile immer enger um das Zentrum herum und als bewegte sich alles zusammen im selben Rhythmus vorwärts. Die inspirierende Kraft, die von meinem Zentrum ausgeht, erreicht auch allmählich die äußersten Peripherien, hier schließt sich allmählich der Kreis, besonders nach ein paar Tagen der Niedergeschlagenheit spüre ich das doppelt so stark. Ein starkes Lebensgefühl und eine Liebe zum Leben verbreiten sich immer gleichmäßiger in meinem ganzen Wesen und durchdringen auch die kleinsten täglichen Handlungen.

Und jetzt muss ich meine Hände entspannen und den Tag loslassen, das erfordert mühsame Anstrengung – jawohl, Entspannung erfordert zuerst Anstrengung –, aber zuerst möchte ich doch noch kurz diese paar Worte von Chambers[37] aufschreiben:

«Es gibt Zeiten ohne Glanz und Sensation – nur alltägliche Routine, die übliche Arbeit.

Die Routine ist Gottes Weg, uns zwischen Zeiten geistiger Hochspannung zur Entspannung zu verhelfen. Erwarte nicht, dass Gott dich ständig an Seinen hohen Feiertagen teilnehmen lässt, sondern lerne, den Alltag mit Gottes Kraft zu meistern.»[38]

18. Juni [1942], Donnerstagmorgen, 8 Uhr.

Dies ist mein Schmierheft. Eine Art Mülleimer für alle Arten von Abfallprodukten meines geplagten Gemüts. Nicht mehr so schrecklich geplagt.

Früher schon. Und wenn alle Abfallprodukte entsorgt sind, wer weiß, bringe ich es vielleicht irgendwann mal zu etwas Positivem auf diesen blauen Linien?

«Sie sind sau-sau-seelisch geizig», sagte er mir mit vielen «s» und in ganz entrüstetem Tonfall, «daß Sie mir nie zeigen, was Sie schreiben.» Doch mir scheint, das wäre für ihn nur Zeitverschwendung. Für mich hingegen ist es später einmal vielleicht interessant, weil es mir Anknüpfungspunkte zu mir selbst bietet, um verschiedene Prozesse rekonstruieren zu können.

Erst vor ein paar Tagen habe ich in einer Panikstimmung aufgeschrieben, dass sich unsere Beziehung für mich so verstümmelt und unvollständig anfühlte. Jetzt kann ich mir dieses Gefühl nicht einmal mehr annähernd vorstellen. Solche Krisen wird es ab und zu wieder geben und vielleicht werde ich dann wieder ein wenig Abfälle los. Ich glaube, es geht hier vielmehr um einen Überrest von falschen Vorstellungen, die ich in meinen widerstandslosesten Augenblicken in mir selbst zu weiß Gott was für Orgien dramatischer Gefühle aufpeitsche. Jetzt bin ich sozusagen wieder ganz in unsere Beziehung eingebettet, ich werde von ihr rundum umströmt und spüre noch tagtäglich das große Entwicklungspotenzial. Aber sobald eine Fantasie, die mit traditionellen Vorstellungen darüber vorbelastet ist, wie es zwischen einem Mann und einer Frau sein sollte, ihre eigenen unkontrollierten Wege geht, kann sie eine ganze Wirklichkeit mit all ihren vielfältigen Möglichkeiten überfluten und zerstören.

«Bin ich noch sehr ‹ich-haft›?», habe ich ihn gestern mitten auf der Straße im Regen gefragt. Er blieb stehen, sah mich nachdenklich an und sagte: «Ich glaube eigentlich nicht, dass du immer noch sehr ich-haft bist. Du bist doch für die anderen da.» Usw. «Vielleicht bist du doch noch etwas ich-haft», sagte er, «insofern du Menschen, die dich nicht besonders interessieren oder die dich nicht anregen, links liegen lässt.» Aber in diesem Punkt habe ich ihm widersprochen: «Beispielsweise unterrichte ich alle meine Schüler mit der gleichen Intensität, mit ebenso viel Freude und Hingabe (um einmal ein großes Wort zu verwenden), unabhängig davon, wie langweilig oder interessant ich sie finde. Ich stelle übrigens fest, dass ich immer wieder aufs Neue für die lernende Person und den Lehrstoff Feuer und Flamme bin (schon wieder so große Worte, aber ich gebe wirklich mein Bestes beim Unterrichten, ich bringe ihnen nicht einfach nur Vokabeln und Sätze bei, sondern stelle einen intensiven menschlichen Kontakt her, der sich wahrscheinlich auf die ganze Unterrichtsstunde positiv auswirkt).» Usw.

Der einzige Bereich, in dem ich wahrscheinlich ab und zu noch «ich-haft» bin, ist die Beziehung zu ihm. Vielleicht sollten wir doch einmal darüber sprechen. Vielleicht habe ich diesbezüglich doch noch allerlei vage Vorstellungen in meinem manchmal grübelnden kleinen Kopf, die er mit einem einzigen klaren Wort und einem einzigen Lachen wegweht.

Zwischen meiner Schreibmaschine, einem Taschentuch und einer Spule schwarzem Garn verwelkt meine Teerose. Sie ist schon fast unerträglich schön und zart. In einem sanften, schicksalsergebenen Verwelken scheidet sie allmählich aus diesem kurzen, kalten Leben. Sie ist so zart, so anmutig und von einer solchen Grazie in ihrem langsamen Erlöschen, es bricht mir fast das Herz. Man sollte auch so eine Teerose in Ruhe sterben lassen, statt sie leidenschaftlich und verzweifelt zurückhalten zu wollen. Früher konnte ich angesichts einer verwelkenden Blume untröstlich und unvorstellbar unglücklich sein. Aber man muss auch lernen, das Verwelken in der Natur ohne Widerstand zu akzeptieren. Und wissen, dass es immer wieder ein neues Blühen geben wird.

abends halb 12.

«Wann darf ich Sie nun endlich einmal heiraten, eigentlich?», fragte ich plötzlich mitten in unserem Gespräch.

Jawohl, dieses Bett mit der Cretonnedecke ist für dieses Fräulein auf dem Schrank mit ihrem starrenden Blick und leblosen Lächeln. Für mich ist der harte Boden. So könnte ich schmollen. Ich muss ins Bett.

Wenn ich den Mut hätte, den Mut, einen solchen Abend wie den heutigen mit unerbittlicher Ehrlichkeit und Klarheit bis ins letzte Detail zu beschreiben, dann wäre das, und was davon an Werten noch übrig bliebe, das einzig Wahre.

Die Unzulänglichkeit des Körpers, Gefühle auszudrücken – man sollte sich das gegenseitig ehrlich eingestehen und dann sehen, was noch übrig bliebe.

Wir leben in einer ernsten und schwierigen Zeit. Wir können nicht mehr so ausgelassen und ausschweifend leben. Jede Ausschweifung, die auf Kosten der Nachtruhe geht, raubt Kräfte, die man am nächsten Tag gerade für die unerwarteten Schwierigkeiten braucht, vor die das Leben einen stellt. Es kam lange nicht mehr vor, dass wir ein einziger Mund waren und uns so sehr umarmten.

Ich habe Liebe für tausend andere, für die ganze Schöpfung und für ein ganzes mit Studium und Produktivität gefülltes Leben – wie, das weiß ich noch nicht. Und er ist ein alter Mann. Und ich will ihn nicht heiraten, um mein Leben an seines zu binden, sondern um diese Zeit mit ihm durchzustehen. Wir müssen sie durchstehen. Und zwar sinnreich.

Durch ihn erlebe ich alle Probleme, die es zwischen einem Mann und einer Frau geben kann, durch ihn, aber nicht mit ihm, weil es für ihn in diesem Bereich keine Probleme mehr gibt. Deshalb kann ich auch nicht mit ihm darüber reden.

«Wir sind also sicher darauf angewiesen, uns am Äußersten zu prüfen und zu erproben, aber auch wahrscheinlich gebunden, dieses Äußerste nicht vor dem Eingang in das Kunstwerk auszusprechen, zu teilen, mitzuteilen: denn als Einziges, was kein anderer verstehen würde und dürfte, als persönlicher Wahnsinn sozusagen hat es einzutreten in das Werk, um drin gültig zu werden und das Gesetz zu zeigen, wie eine angeborene Zeichnung, die erst in der Transparenz des Künstlerischen sichtbar wird. – Zwei Freiheiten der Mitteilung gibt es trotzdem, und es scheinen mir die äußerst möglichen zu sein: die angesichts des vollbrachten Dinges und jene innerhalb des eigentlichen täglichen Lebens, in dem man sich zeigt, was man durch die Arbeit geworden ist und sich dadurch gegenseitig hält und hilft und (im demütigsten Sinn verstanden) bewundert. Aber im einen wie im andern Fall muß man sich Ergebnisse zeigen, und es ist kein Mangel an Vertrauen, keine Entbehrung aneinander und kein Ausschluß, wenn man sich nicht die Werkzeuge des Werdens vorlegt, die so viel Verwirrendes, Quälendes und nur für die persönliche Verwendung Gültiges an sich haben.»[39]

Jawohl, meine Dame, du hast also den Anspruch, Kunstwerke zu schaffen. Und du glaubst, unter diesem Motto eine Art seelischen Geiz hegen zu dürfen. Du denkst: Später übergebe ich all meine Schätze der Gemeinschaft. Und natürlich auf der anderen Seite die Unsicherheit, ob du tatsächlich «Kunstwerke» zu geben haben wirst. 28 Jahre und noch keine Form gefunden. Und doch – und doch. Mein Leben fängt gerade erst an. Ich habe alles gelebt, was es zu leben gab, und jetzt erst fängt es richtig an. Und jetzt ist es schon nach Mitternacht und ich gehe ins Bett.

19. Juni [1942], Freitagmorgen, halb 10.