HEFT 10

3. Juli 1942–29. Juli 1942

[Freitag, 3. Juli 1942.]

Und ich dachte: Es wäre in der Tat für unsere persönliche Verbitterung und unsere Rachegefühle das Befriedigendste, aber weshalb den billigsten und einfachsten Weg wählen? Warum nur an die Befriedigung des eigenen Egos denken? Denn das ist es doch im Grunde eigentlich? Dann sind diejenigen, die nach uns kommen, noch genauso weit entfernt davon und müssen wieder von vorne anfangen; warum können wir nicht versuchen, einen kleinen Schritt vorwärts zu machen? Und dabei geht es nicht um Theorien, sondern um tägliche Übungen. Zum Beispiel meine plötzliche Gereiztheit und Aggressivität gegenüber Käthe, weil ich plötzlich spüre, wie sie innerlich ihr Land verteidigt, das Gute, das es ja auch in ihrem Land gibt, weil dort Menschen wie wir leben. Das ist doch so? Man kann theoretisieren, was man will, es sind Menschen wie wir, daran müssen wir uns trotz allem festhalten und wir müssen es verkünden, um dem Hass entgegenzuwirken.

Ach, wir haben ja alles in uns: Gott und den Himmel, Hölle und Erde, Leben und Tod und Jahrhunderte, viele Jahrhunderte. Die Kulissen und die Handlung der äußeren Umstände wandeln sich. Aber wir tragen alles in uns, und die Umstände sind ja nicht das Entscheidende, niemals, weil es immer Umstände geben wird, gute und schlechte, und die Tatsache, dass es gute und schlechte Umstände gibt, muss man akzeptieren, was einen nicht daran hindert, sein Leben der Verbesserung des Schlechten zu widmen. Aber man muss wissen, aus welchen Gründen man diesen Kampf führt, und man muss bei sich selbst anfangen, jeden Tag aufs Neue bei sich selbst.

Früher dachte ich, ich müsse jeden Tag eine Menge genialer Gedanken entwickeln, und jetzt bin ich manchmal wie ein brachliegendes Feld, auf dem nichts wächst, über dem aber ein hoher, stiller Himmel hängt. Und so ist es besser. Einer Vielzahl von sprudelnden Gedanken gegenüber bin ich gegenwärtig misstrauisch, ich liege lieber brach und warte manchmal ab. In den letzten Tagen ist in mir so schrecklich viel passiert, und jetzt hat sich endlich etwas herauskristallisiert. Unserem Untergang, unserem wahrscheinlich elenden Untergang, der jetzt schon beginnt, sich in vielen kleinen Dingen des täglichen Lebens bemerkbar zu machen, habe ich direkt ins Auge geblickt und dessen Eventualität einen Platz in meinem Lebensgefühl eingeräumt, ohne dass mein Lebensgefühl dadurch an Kraft verloren hätte. Ich bin weder verbittert noch rebellisch, ich bin auch nicht mehr mutlos und schon gar nicht resigniert. Mein Wachstum geht genauso ungehindert weiter, Tag für Tag, obwohl ich die Möglichkeit der Vernichtung ständig vor Augen habe. Ich werde nicht mehr mit Worten kokettieren, die doch nur Missverständnisse hervorrufen: Ich habe mit dem Leben abgerechnet, mir kann nichts mehr passieren, und es geht ja nicht um mich persönlich, es spielt doch keine Rolle, ob ich zugrunde gehe oder ein anderer, dass überhaupt jemand zugrunde geht, darum geht es. Ich sage das zwar manchmal zu anderen, aber es hat wenig Sinn und verdeutlicht doch nicht, was ich meine, und auch das ist nicht wichtig. Wenn ich sage «mit dem Leben abgerechnet», meine ich damit: Habe den Tod so völlig in mein Leben aufgenommen, mein Leben gleichsam um den Tod erweitert, blicke dem Tod ins Auge und akzeptiere ihn; für mich gehört der Untergang, jegliche Art von Untergang, zum Leben dazu. Man sollte also nicht jetzt schon einen Teil des Lebens gleichsam dem Tod opfern aufgrund der Angst vor dem Tod und weil man den Tod nicht akzeptiert, denn dadurch, dass die meisten den Tod nicht akzeptieren, und aufgrund all dieser Ängste haben sie nur noch ein armselig verkümmertes Restchen Leben behalten, das man kaum noch Leben nennen kann. Es klingt fast paradox: Wenn man den Tod aus seinem Leben ausschließt, führt man kein vollständiges Leben, und indem man den Tod in sein Leben einbezieht, erweitert und bereichert man das Leben.

Dies ist meine erste Konfrontation mit dem Tod. Ich konnte mit dem Tod nie so recht etwas anfangen. Ich stehe dem Tod noch so jungfräulich gegenüber. Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Man stelle sich das mal vor: In dieser Welt, die mit Millionen von Leichen übersät ist, habe ich mit meinen 28 Jahren noch nie einen Toten gesehen. Ich habe mich zwar manchmal gefragt: Wie stehe ich eigentlich zum Tod? Aber auf mich selbst bezogen bin ich nie so tief darauf eingegangen, dafür war die Zeit noch nicht reif. Und jetzt ist der Tod da in voller Lebensgröße und zum ersten Mal, und doch wie ein alter Bekannter, der zum Leben dazugehört und akzeptiert werden muss. Es ist alles ganz einfach. Es besteht keine Notwendigkeit für tiefsinnige Betrachtungen. Plötzlich ist der Tod in mein Leben getreten, groß, einfach, ganz selbstverständlich und fast lautlos. Er nimmt jetzt seinen Raum darin ein und ich weiß jetzt, er gehört zum Leben dazu. So, jetzt kann ich ruhig schlafen gehen, es ist 10 Uhr abends. Heute habe ich nicht viel getan, ich war gedanklich bei all den Füßen mit Blasen in der heißen Stadt und bei noch mehr solcher Kleinigkeiten und dies musste erlitten und verarbeitet werden. Danach überkam mich große Mutlosigkeit und Unsicherheit. Dann bin ich kurz zu ihm gegangen. Er hatte Kopfschmerzen und war deswegen beunruhigt, denn sonst funktioniert immer alles vortrefflich in seinem kräftigen Körper. Ich lag für einen Moment in seinen Armen und er war so weich und so lieb, fast wehmütig.

Es scheint mir eine neue Ära in unserem Leben anzubrechen. Noch ernsthafter, noch intensiver und noch mehr Konzentration auf das Allernotwendigste. Es fällt eine Menge Kleinlichkeit von einem ab, von Tag zu Tag mehr. «Es geht auf unsere Vernichtung das ist ja klar, darüber brauchen wir uns nicht zu täuschen.» Morgen Abend werde ich in Dickys Bett schlafen, ein Stockwerk tiefer wird er schlafen und mich morgens aufwecken. All dies ist noch möglich. Und wie wir einander in diesen Zeiten beistehen können, das wird sich schon noch zeigen. Und ob wir heiraten oder nicht, wie das gehen soll, das wird sich schon zeigen. Alles gedeiht noch immer, auch wenn alles sinnlos erscheint. Und nun gehe ich schlafen.

Ein wenig später.

Selbst wenn mir dieser Tag nichts gebracht hätte, selbst wenn es nicht noch im letzten Moment diese gute und umfassende Konfrontation mit dem Tod und dem Untergang gegeben hätte, hätte ich diesen koscheren deutschen Soldaten mit seiner Tüte Karotten und dem Blumenkohl am Kiosk nicht vergessen dürfen. Zuerst drückte er dem Mädchen in der Straßenbahn[1] einen Zettel in die Hand, und später kam dieser Brief, den ich irgendwann einmal lesen muss: Sie erinnerte ihn so sehr an die verstorbene Tochter eines Rabbiners, die er auf ihrem Sterbebett in England tage- und nächtelang noch pflegen durfte. Und heute Abend ist er bei ihr zu Besuch.

Und als Liesl mir das alles erzählte, wusste ich auf einmal: Für diesen deutschen Soldaten werde ich heute Abend auch beten müssen. Eine der vielen Uniformen hat jetzt ein Gesicht bekommen. Es wird noch mehr solche Gesichter geben, aus denen wir etwas werden ablesen können, das wir verstehen. Und er leidet auch. Es gibt keine Grenzen zwischen leidenden Menschen, man leidet auf beiden Seiten aller Grenzen und man muss für alle beten.

Gute Nacht.

Seit gestern bin ich wieder älter geworden, auf einen Schlag um viele Jahre älter und ernsthafter. Die Mutlosigkeit ist von mir gewichen und an ihre Stelle ist eine größere Kraft als einst getreten.

Und auch dies: Indem man seine eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten kennenlernt und akzeptiert, steigert man seine Kraft.

Es ist alles so einfach, mir selbst wird das immer klarer und ich möchte lange leben, um es anderen auch klarzumachen. Und nun wirklich gute Nacht.

Samstagmorgen [4. Juli 1942], 9 Uhr.

Es ist, als ob in mir große Veränderungen stattfinden würden, und ich glaube, dass es mehr als nur Stimmungen sind.

Gestern Abend kam es zu einem großen Durchbruch einer neuen Erkenntnis, zumindest wenn man so etwas als Erkenntnis bezeichnen will, und heute Morgen war ich wieder gelassen und auch heiter und ich hatte eine Gewissheit wie schon seit Langem nicht mehr. Kam das etwa alles durch diese eine kleine Blase an der linken Fußsohle?

Mein Körper ist ein Aufbewahrungsort für viele Schmerzen, sie werden in allen Winkeln gelagert, wobei einmal der eine Schmerz zum Vorschein kommt und dann wieder ein anderer. Auch daran habe ich mich gewöhnt. Und ich bin selbst erstaunt, wie gut ich bei alledem arbeiten und mich konzentrieren kann. Aber ich muss mir auch vor Augen halten, dass man mit geistiger Stärke allein auch nicht weit kommt, wenn es ernst für uns wird. Der kleine Spaziergang zur Steuerbehörde und zurück hat es mich gelehrt.

Zunächst liefen wir wie fröhliche Touristen durch eine sonnige, schöne Stadt. Seine Hand erhaschte beim Gehen immer wieder meine und sie hatten es so gut zusammen, unsere Hände. Als ich zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr müde wurde, war es doch ein sonderbares Gefühl, dass man in dieser großen Stadt mit ihren endlosen Straßen in keiner dieser Straßenbahnen und auch nicht kurz in einem Straßencafé sitzen durfte (von vielen Straßencafés konnte ich ihm etwas erzählen: Schau, dort habe ich vor 2 Jahren mit vielen Freunden gesessen, um meinen Hochschulabschluss zu feiern usw.[2]). Da dachte ich, nein, eigentlich dachte ich es gar nicht, es war eher eine Empfindung: In allen Jahrhunderten hat es müde Menschen gegeben, die sich in Kälte und Hitze die Füße auf Gottes Erde wund gelaufen haben, auch das gehört zum Leben. In letzter Zeit spüre ich immer stärker, dass sich ein Hauch von Ewigkeit bis in die kleinsten alltäglichen Handlungen und Empfindungen einschleicht. Ich bin nicht die Einzige, die müde, krank, traurig oder ängstlich ist, sondern ich teile das Los von Millionen anderen Menschen aus vielen Jahrhunderten. Das ist alles Teil des Lebens und das Leben ist trotz allem schön und auch sinnreich. Es ist selbst in seiner Sinnlosigkeit sinnreich, wenn man nur allen Dingen einen Platz im Leben einräumt und das ganze Leben als eine Einheit in sich trägt, sodass es auf gewisse Weise ein abgeschlossenes Ganzes bildet. Und sobald man Teile davon beseitigen und nicht akzeptieren will, sobald man eigenmächtig und willkürlich die einen Dinge im Leben akzeptieren will, die anderen jedoch nicht, ja, dann wird es tatsächlich sinnlos, weil es keine Einheit mehr bildet und alles willkürlich wird.

Und am Ende unserer langen Tour erwartete uns ein sicheres Zimmer mit einem Diwan, auf den man sich werfen konnte, nachdem man die Schuhe ausgezogen hatte, und ein herzlicher Empfang, denn Freunde hatten einen Korb Kirschen aus der Betuwe[3] geschickt. Früher war ein gutes Mittagessen eine Selbstverständlichkeit für uns, jetzt wird es zum unerwarteten Geschenk, und obwohl das Leben einerseits härter und gefährdeter geworden ist, ist es andererseits auch reicher, weil man keine Ansprüche mehr hat und alles Gute zu einem unerwarteten Geschenk wird, das man dankbar annimmt. Zumindest mir ergeht es so und ihm ergeht es genauso, wir sagen manchmal zueinander, wie seltsam es ist, dass wir überhaupt keinen Hass, keine Empörung und Verbitterung empfinden. Man kann das nicht mehr so offen in Gesellschaft aussprechen und wir stehen mit dieser Einstellung vermutlich schrecklich allein da.

Während des Spaziergangs wusste ich, dass uns am Ende unseres Weges ein sicheres Haus erwartete, aber zugleich war mir bewusst, dass eine Zeit kommen wird, in der kein Haus mehr auf uns wartet und in der man nicht mehr einfach durch die Straßen wird gehen können, und dass es eine Baracke geben wird, in der man mit vielen anderen zusammen umkommt. Mir war das alles bewusst, während ich ging, ich wusste, dass es nicht nur mir, sondern auch allen anderen so ergehen würde, und ich habe es akzeptiert.

Und noch etwas hat mich dieser Spaziergang gelehrt, was ich mir vor Augen halten muss: Nur von diesen zwei Stunden Spaziergang bekam ich Kopfschmerzen, so schlimm, dass mein Schädel in allen Fugen krachte und an seinen Nähten zu platzen drohte. Und meine Füße waren so wund, dass ich dachte: Wie soll ich jemals wieder laufen können? Und die vielen Aspirintabletten, die ich genommen hatte (ich glaubte, dass das sein müsste, weil ich sonst sofort ins Bett hätte gehen müssen, aber sollte man nicht allmählich lernen, seine Schmerzen auch ohne künstliche Gegenmittel zu ertragen?), hielten mich den ganzen nächsten Tag in einem gedämpften und vergifteten Zustand gefangen. Für mich war das nicht schlimm, in keinem Augenblick, mein Leben war deshalb weder weniger intensiv noch weniger schön, aber ich musste doch objektiv betrachtet feststellen: Du taugst zu nichts, Mädchen. Dein Körper ist vollkommen untrainiert und widerstandslos, in einem Arbeitslager wirst du nach drei Tagen das Zeitliche segnen, alle geistige Stärke der Welt wird dich dort nicht retten können, wenn du jetzt schon nach einem gemütlichen Spaziergang von nicht einmal zwei Stunden mit solchen Kopfschmerzen und solcher Müdigkeit reagierst, obwohl du noch allen Komfort im Hintergrund hast. Für mich ist das alles nicht schlimm. Ich strecke mich auf dem Boden aus und gebe mich hin, und dann ist es vorbei und dennoch werde ich das Leben und Gott noch preisen, zumindest glaube ich das jetzt.

Aber da war wiederum die Angst und Traurigkeit, anderen zur Last zu fallen und wie eine Last an den anderen zu hängen, sodass ihr Weg noch mehr erschwert wird. Früher habe ich es anderen immer verheimlicht, wenn ich mich körperlich weit über meine Kräfte hinaus angestrengt hatte, ich wollte nicht zur Last fallen, ich spazierte mit, ich feierte mit, ich ging auch spät ins Bett, ich habe an allem teilgenommen. Aber steckte da nicht auch ein bisschen Ehrgeiz dahinter? Die Angst, dass die anderen einen nicht mehr so mögen würden, verärgert wären und einen fallen lassen würden, wenn man ihre Vergnügungen mit dem Gewicht seines müden Körpers belastete? Das war der Ursprung eines meiner Minderwertigkeitskomplexe. Und nach diesem Spaziergang kam auch noch dies hinzu: Er hatte mit mir vereinbart, morgen früh ins Judenviertel zu gehen, um einige Adressen aufzusuchen, wo wir vielleicht Hilfe anbieten können, aber das ist noch viel weiter zu gehen als zur Steuerbehörde am Donnerstagmorgen. Bis gestern Abend fand ich nicht den Mut zu sagen, dass ich diese Strecke nicht laufen könne. Denn ich weiß, dass ein solcher Spaziergang für ihn eine Erholung ist. Und ich muss so in etwa gedacht haben: Mit Tide kann er stundenlang laufen, dann muss ich das doch auch können?

Es ist doch immer diese kindische Angst, sich in gewisser Hinsicht ein bisschen Liebe zu verspielen, wenn man sich nicht ganz und gar nach dem anderen richtet. Aber ich beginne, mich mehr und mehr von diesen Dingen zu befreien. Man muss in der Lage sein, seine Unzulänglichkeiten, auch körperlicher Art, einzugestehen, und man muss es akzeptieren können, dass man nicht ganz das für einen anderen sein kann, was man gerne sein möchte. Schwächen einzugestehen bedeutet nicht, sich darüber zu beklagen, denn damit würde das Elend erst beginnen, auch für den anderen. Ich glaube, das bewog mich am meisten dazu, gestern Abend kurz vor 8 Uhr noch zu ihm zu rennen und gegen meine Gewohnheit sogar einem Schüler telefonisch abzusagen, nur um noch für eine Weile bei ihm zu sein. Und als ich neben ihm auf dem Diwan lag, sagte ich ihm unversehens, dass ich so betrübt darüber sei, dass dieser Spaziergang mich so ermüdet habe. Mich selbst hat es nicht gestört, aber ich konnte daran ermessen, wie wenig Illusionen ich mir über meine körperliche Verfassung machen darf. Und er sagte sofort, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt: «Dann ist es wahrscheinlich auch besser, wenn wir am Sonntagmorgen diese Strecke nicht zu Fuß gehen.» Und da schlug ich vor, ich könnte mein Fahrrad mitnehmen und mich auf dem Rückweg draufsetzen. Es scheint eine solche Kleinigkeit zu sein, aber für mich ist es eine Leistung. Sonst hätte ich mir vielleicht die Füße wund gelaufen, nur um ihm diesen Gefallen zu tun und um nicht Gefahr zu laufen, dass er fürchterlich verärgert wäre, weil ich ihm diesen Spaziergang verdorben hätte. Alles Dinge, die natürlich nur in meiner Fantasie existieren. Und jetzt sage ich ganz einfach und selbstverständlich: «Schau, so weit reichen meine Kräfte und nicht weiter, ich kann es nicht ändern, du musst mich so nehmen, wie ich bin.» Für mich ist dies ein weiterer Schritt in Richtung Reife und Selbstständigkeit, denen ich jetzt jeden Tag näher zu kommen scheine.

Viele, die derzeit über Ungerechtigkeiten empört sind, sind eigentlich nur empört, weil diese Ungerechtigkeiten ihnen widerfahren. Es handelt sich also nicht um eine echte, tief verwurzelte Empörung.

Ich weiß, daß ich in einem Arbeitslager in drei Tagen sterben werde, ich werde mich hinlegen und sterben und das Leben trotzdem nicht ungerecht finden.

Am späten Vormittag.

Es ist jedes Mal, wenn ich mir ein sauberes Hemd anziehe, wie eine Art Feier. Auch wenn ich mich im Badezimmer, das mir eine halbe Stunde lang ganz allein gehört, noch mit duftender Seife wasche. Es ist, als würde ich bereits andauernd Abschied nehmen von all diesen Errungenschaften der Zivilisation. Und wenn ich sie später einmal entbehren muss, werde ich doch immer noch wissen, dass es sie gibt und dass sie das Leben verschönern können, und ich werde sie als Vorzüge des Lebens preisen, selbst wenn sie mir nicht mehr zuteilwerden. Denn dass sie mir jetzt zufälligerweise noch zuteilwerden, darum geht es ja nicht?

Man muss alles verarbeiten, was auf einen zukommt. Auch wenn jemand in Gestalt eines vermeintlichen Mitmenschen auf einen zukommt, wenn man gerade eine Apotheke[4] verlässt, in der man Zahnpasta gekauft hat, einen mit dem Zeigefinger anstupst und mit dem Gesicht eines Inquisitors fragt: «Dürfen Sie dort einkaufen?» Und ich erwiderte schüchtern, aber bestimmt und mit meiner üblichen Freundlichkeit: «Ja, mein Herr, das ist nämlich eine Apotheke.» «Soso», antwortete er dann sehr kurz und misstrauisch und ging weiter. Ich bin nicht sehr schlagfertig. Schlagfertig bin ich nur in einem geistreichen Dialog mit meinesgleichen. Dem Pöbel auf der Straße, um es mal ganz krass auszudrücken, bin ich vollkommen wehrlos ausgeliefert. Ich werde dann verlegen und bin traurig und erstaunt, dass Menschen so miteinander umgehen können, aber eine schnippische Antwort innerhalb der Grenzen des Erlaubten, um mir so etwas nicht bieten zu lassen, kommt mir nicht in den Sinn. Dieser Mann hatte sicherlich nicht das Recht, mich dies zu fragen. Das war bestimmt so ein Idealist, der eines Tages mithelfen wird, die Gesellschaft von jüdischen Elementen zu säubern. Jedem sein Pläsierchen im Leben. Aber so ein kleiner Kontakt mit der Außenwelt muss doch verarbeitet werden.

Ich habe innerlich nicht das geringste Interesse daran, in den Augen irgendwelcher Verfolger in der Außenwelt eine gute Figur zu machen, und deshalb werde ich mich nie dazu zwingen. Und meinen Kummer dürfen sie sehen und ebenfalls, dass ich ihnen völlig hilflos ausgeliefert bin. Ich habe kein Bedürfnis, nach außen hin eine gute Figur abzugeben, ich habe meine innere Stärke und das reicht, der Rest ist unwichtig.

Und heute Abend die Starrevelds, der Kirschkuchen, sein kleines Zimmer und Dickys Bett. Dass noch so viel möglich ist!

Viertel vor 1 Uhr nachts, in Dickys Zimmer.

Man sollte nicht in den müdesten und schwächsten Momenten die Bilanz seines Lebens ziehen wollen, man macht sich dann unglücklicher als nötig. Er hat gerade ganz rührend und fürsorglich mein Bett gemacht und dann genauso sanft seinen Mund auf meinen gelegt, dann ging er weg und ich blieb mitten in diesem fremden Zimmer wie ein hilfloses, schüchternes Schulmädchen zurück und konnte gerade noch meine Tränen zurückhalten. Dann warf ich mich in voller Länge auf Dickys Bett und glaubte, noch nie so traurig gewesen zu sein wie jetzt gerade, so eine schmerzliche, laue Traurigkeit, die körperliche Schmerzen im Herzen hervorruft. Er beginnt in den letzten Tagen Anzeichen von Müdigkeit und Erschöpfung zu zeigen, ich mache mir Sorgen und habe solche Angst, dass ich nicht genügend Kraft habe, um ihn zu unterstützen. So müde und völlig erschöpft wie jetzt habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, als ob ich mich nie wieder davon erholen könnte. Welche Erwartungen habe ich an diesen Abend gestellt? Doch noch begehrende und geschmacklose? Dennoch ist alles besser so. Ich bin sogar zu müde, um ihn zu lieben. Muss auch nicht die ganze Zeit sein. Dieses Zimmer fühlt sich um mich herum schon vertraut und sicher an, ich glaube, ich könnte darin sogar beten. Der Untergang ist auch Teil des Lebens. Vielleicht hat mich diese starke und eindrückliche Konfrontation mit dem Untergang gestern Abend und heute Morgen derart meiner Kräfte beraubt. Und nach einem sehr starken Eindruck wirkt alles andere viel matter und farbloser. Ich sehne mich wieder nach vielen ruhigen Stunden des Arbeitens an meinem Schreibtisch. Aber unser tägliches Leben erfordert jetzt so viel Kraftanstrengung. Was mich auch müde macht, ist zum Beispiel, dass er mir erzählte, dass jemand denunziert hat, dass ihm das Essen von Geiger gebracht wird. Und jetzt bringen es Dicky und Adri unter Lebensgefahr. Und er hat sich zweimal pro Woche zu Liesl eingeladen und Liesl ist verzweifelt, weil sie nicht weiß, was sie ihm vorsetzen soll. Und dennoch? Wir haben heute Abend über den Künstler, das Leben und über die Seele und den Geist gesprochen, über die paar Themen, um die es immer wieder geht. Und wir werden dies auch weiterhin tun. Und der Untergang ist Teil des Lebens.

Werde ich morgen wohl immer noch so müde sein? Dann ist es ein verlorener Tag. Auch seine Müdigkeit muss man «wahrhaben» wollen. Ich verkrieche mich dann still und traurig mit einem Buch in eine Ecke. Heute Morgen musste ich plötzlich so tief auf der rauen Kokosnussmatte im Badezimmer niederknien, dass mein Kopf fast auf meinem Schoß ruhte. Ich könnte tagelang so liegen bleiben, mein Körper ist dann wie die sicheren Wände einer kleinen Zelle um mich herum und beschützt mich, während ich mich darin befinde. Ich werde schon wieder ruhiger. Vielleicht wird man uns eines Tages so weit bringen, dass es eine Erleichterung sein wird, in einer Zelle eingesperrt zu sein und sich nicht mehr um die täglichen Dinge kümmern und keine Verantwortung mehr tragen zu müssen. Dann liegt die Verantwortung bei ihnen. Diese Tiefs muss man auch durchleben, man darf sich keine Illusionen über die Außenwelt machen. Werner wird den Hin- und Rückweg zu Fuß zum Theater[5] nicht mehr lange durchhalten können. Ich werde nie gerne mit anderen zusammenleben wollen, mit Freunden schon gar nicht.

Hier allein an diesem kleinen Tischchen mit der Schirmlampe, allein in der Nacht, komme ich schon wieder allmählich ein wenig über den größten Tiefpunkt hinweg. Ich muss so viel allein sein und der Raum nimmt stetig ab, wir Juden werden auf immer kleinerem Raum zusammengepfercht. Diese Müdigkeit von heute Abend wird nicht ewig anhalten. Ich werde ein bisschen Zeit haben, mich davon zu erholen. Aber jeden Tag können alle Arten von Unannehmlichkeiten über mich hereinbrechen. Man sollte nicht zu weit vorausdenken. Dort steht ein Bett mit sauberen Laken. Und morgen früh werde ich ein Frühstück und fließend warmes und kaltes Wasser haben und er ruft mich wieder. Für den morgigen Tag ist gesorgt. Weiter muss ich nicht denken. Früher hätte mich so eine bleierne Müdigkeit zur Verzweiflung gebracht. Ich dachte, sie ginge nie wieder vorüber, und projizierte sie gewissermaßen auf die folgenden Tage, und natürlich blieb ich dann auch müde. Ich werde schlafen gehen und vielleicht ist morgen wieder alles anders. Früher bin ich wahrscheinlich so lange müde geblieben, weil ich tagelang unverarbeitetes Material und unverstandene Trauer mit mir herumgeschleppt habe, aber jetzt verstehe ich bereits etwas von meiner Traurigkeit. Sie setzt sich aus so vielen Elementen zusammen und ich habe sie jetzt schon wieder teilweise verarbeitet. Heute Abend wurden viele gute Dinge gesagt. Es verleiht mir manchmal ein Gefühl von Unzulänglichkeit, dass ich nichts davon wiedergeben kann. Es muss in mir zuerst alles noch «verwandelt» werden. Heute Abend dachte ich auch plötzlich: Ich bringe alle Widersprüchlichkeiten in mir immer mehr in Einklang, ich durchlebe meine Schwierigkeiten und bewege mich auf eine Lösung zu, und viele Dinge werden für mich immer einfacher und klarer, ich vollbringe sozusagen Gestaltungsarbeit, künstlerische Arbeit an meinem Seelenleben. Aber wird dies nicht zur Folge haben, dass ich irgendwann so von Harmonie und Ausgeglichenheit erfüllt bin – manchmal ist das schon der Fall –, dass ich nicht mehr zu weiterer schöpferischer Arbeit komme, weil ich kein Bedürfnis mehr danach verspüre? Es ist jetzt schon Viertel nach 1, ich muss schlafen gehen.

Vom morgigen Tag verlange ich gar nichts, ich erwarte auch nichts von ihm. Das Essen bei Adri verleiht mir jetzt schon ein Gefühl der Unsicherheit. Das ist das Schlimmste an solcher Müdigkeit: Mein Humor ist verschwunden. Und mein Humor ist meine Widerstandskraft, besonders in Zeiten wie diesen. Der Untergang ist auch Teil dieses Lebens, das ist eine große und niederschmetternde Wahrheit, ich habe ihm ins Auge geblickt und akzeptiere ihn; bin ich vielleicht deshalb so müde? Wenn ich das gestern nicht durchgemacht hätte, hätte ich jetzt wahrscheinlich seitenweise über ihn und mich geschrieben und darüber, dass er jetzt ein Stockwerk unter mir schläft, dass ich nicht bei ihm schlafe und noch mehr solches dumme Zeug. Aber das hatte ich nach 2 Minuten hinter mir gelassen. Es wäre eine große Geschmacklosigkeit in diesem sauberen Haus der Nethes gewesen. Bei mir zeichnet sich eine Akzentverschiebung ab, die von großer Traurigkeit und der immer wiederkehrenden eigenen Erfahrung begleitet wird, dass ich eigentlich allein sein sollte. Und das Gefühl, vor dem Mann und vor jeglicher Gemeinschaft fliehen zu wollen. Und doch nicht zu fliehen, weil man weiß, dass man auch da durchmuss. Er darf nicht krank oder schwächer werden. Wir sind diesem «irdischen» Leben ganz schutzlos ausgeliefert. Aber wir werden es schon schaffen. Und wir müssen unserem Geist auch erlauben, von Zeit zu Zeit zu ermüden und sich auszuruhen und uns zu verlassen, wir müssen darauf vertrauen, dass er immer wieder zurückkommt. Wir sollten ihm gegenüber bei vorübergehenden Tiefs nicht so misstrauisch sein. Dennoch möchte ich später Geschichten schreiben, kurze pointierte, prägnante Geschichten. Ein Stockwerk tiefer liegt er und wird sicherlich schon schlafen? Ich muss auch zusehen, dass ich mit meiner extremen Übermüdung klarkomme. Ist das nicht meine größte Stärke? Dass ich mit allem und mit allem allein klarkomme? Mit den Mühen des Körpers und der Seele? Die ganze Welt ist in mir, und selbst wenn ich müde, traurig oder ängstlich bin, ist die ganze Welt trotzdem in mir, sie ist immer da und wächst in mir weiter. «Welt» ist natürlich falsch ausgedrückt, es ist viel mehr als das. Und im letzten Jahr ist etwas in mir entstanden, das mich nie wieder verlässt. Aber er muss gesund bleiben. Und unversehrt. Sie dürfen ihn nicht mitnehmen, nein, das dürfen sie nicht. Ich werde dann trotzdem weiterleben müssen, und aus allen Winkeln meines Körpers und meiner Seele werde ich die Kräfte zu einem einzigen großen und unaufhörlichen Gebet für ihn zusammensammeln. Aber es darf ihm nichts passieren, ich wüsste wirklich nicht, wie dann alles weitergehen sollte. Und all die vielen Menschen, die jetzt schon nicht mehr wissen, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll, und diejenigen, die noch leben und dennoch schon großenteils gestorben sind. Aber man darf nicht sterben, obwohl man noch lebt, man muss das Leben bis zum Schluss durchstehen. Selbst wenn ihm etwas zustößt? Ja, dann muss man in seinem Geist weiterleben und für ihn beten, Tag und Nacht. Es ist mir so seltsam zumute. Alles, was bislang so unwirklich war, wird allmählich immer mehr zur Wirklichkeit, bis jetzt zu einer inneren Wirklichkeit. Als ob sich ganze Geburtsprozesse in mir abspielten. Verschiebungen. Und von außen scheint alles gleich zu bleiben. Und man kann nicht über diese Verschiebungen sprechen, die sich in seinem Innern abspielen, weil man die eigene Stimme noch nicht unter Kontrolle hat und weil sie zu groß und fast unerträglich klingen würde. Eines ist jedoch sicher: Wir müssen dazu beitragen, den Liebesvorrat auf dieser Erde zu vergrößern. Jedes kleine bisschen Hass, das man dem bereits existierenden vielen Hass hinzufügt, macht diese Welt noch unwirtlicher und unbewohnbarer. Und ich habe viel Liebe, sehr viel, so viel, dass sie wirklich schon eine Rolle spielt und nicht mehr unzureichend ist. Und jetzt muss ich wirklich schlafen gehen. Die Traurigkeit wird jetzt von dem Mann-Frau-Bett-Problem abgelenkt, auch in dieser Hinsicht entwickle ich mich wirklich weiter und bin nicht mehr so kindisch. Unsere Zeit wird kommen, wenn sie kommen muss. Und nun gute Nacht.

[Sonntag, 5. Juli 1942] halb 9 morgens.

Er trug einen hellblauen Pyjama und machte ein verlegenes Gesicht, als er hereinkam. Er sah ganz goldig aus. Und dann saß er auf der Bettkante und wir redeten. Jetzt ist er weg und es wird eine Stunde dauern, bis er fertig ist: waschen, turnen, «lesen». «Lesen» darf ich mit ihm zusammen. Als er sagte: «Jetzt brauche ich noch eine Stunde», wurde ich so traurig, als müsste ich mich für immer von ihm verabschieden: In solchen Momenten werde ich plötzlich von Traurigkeit überschwemmt. Oh, jemanden, den man liebt, ganz loszulassen, ihm ganz sein eigenes Leben zu lassen, ist das Schwierigste, was es gibt. Ich lerne es, ich lerne es von ihm.

Draußen eine wahre Orgie von Vogelstimmen, ein Flachdach mit Kieselsteinen und eine Taube vor meinem weit geöffneten Fenster. Und schon in der Frühe die Sonne. Er hustete heute Morgen, er hat auch immer noch diese schmerzende Stelle am Kopf und er sagte: «Erschöpfungszustand». Wir werden nicht bei Adri essen gehen, er hatte so einen merkwürdigen Traum, den er einen «Warnungstraum» nannte. Um halb 6 war ich wach. Um halb 8 habe ich mich ganz nackt gewaschen, ein bisschen Gymnastik gemacht und dann bin ich wieder unter die Decke geschlüpft. Dann kam er zögernd in seinem hellblauen Pyjama herein, war verlegen, hustete und sagte «Erschöpfungszustand». Wir gehen heute Morgen zum Arzt, anstatt diesen weiten Spaziergang zu machen. Ich werde mich heute zurückziehen und mich in meiner inneren Stille ausruhen. In dem inneren Raum der Stille, in dem ich jetzt um Gastfreundschaft für einen ganzen Tag bitte. Vielleicht werde ich mich dann ausruhen. Körper und Kopf sind sehr müde und in schlechter Verfassung. Aber ich muss heute nicht arbeiten und es wird schon gehen. Die Sonne scheint auf das Flachdach, es gibt eine Orgie von Vogelgezwitscher und dieses Zimmer umgibt mich schon so sehr, dass ich darin beten könnte.

Wir haben beide ein ziemlich wildes Leben hinter uns, er mit Frauen, ich mit Männern. Er saß in einem hellblauen Pyjama auf meiner Bettkante und ließ seinen Kopf eine Weile auf meinem nackten Arm ruhen, wir unterhielten uns ein wenig und dann ging er wieder weg. Das ist eigentlich ganz rührend. Keiner von uns hat die Geschmacklosigkeit, eine günstige Gelegenheit auszunutzen. Wir haben ein wildes und ungebundenes Leben in vielen fremden Betten hinter uns und wir können doch jedes Mal wieder aufs Neue schüchtern sein. Ich finde das sehr schön und freue mich darüber. Jetzt ziehe ich meinen bunten Morgenmantel an und gehe nach unten, um mit ihm zusammen in der Bibel zu lesen. Danach werde ich den ganzen Tag über in einer Ecke dieses Raumes der Stille sitzen, den ich in mir trage. Ich führe immer noch ein sehr privilegiertes Leben. Ich muss heute nicht arbeiten, weder im Haushalt noch Unterricht geben. Mein Frühstück liegt hier in Papier verpackt und Adri bringt uns unser warmes Essen. Ich bleibe einfach nur in dieser stillen Ecke sitzen, hocke wie ein Buddha da mit dem gleichen Lächeln, innerlich wohlgemerkt; wie schön für die hart arbeitenden Menschen, so eine grinsende Visage anzuschauen. Weshalb diese plötzliche schroffe Ausdrucksweise jetzt wieder nötig ist, ist mir unklar. Ich muss heute sehr viel schreiben, wirklich sehr viel.

Ich habe Dickys Blumen frisches Wasser gegeben und das Waschbecken gereinigt, und zwar alles mit der Vorsicht, die man in einem fremden Haus walten lässt. Ich fühle mich hier sehr wohl, oder besser gesagt: Ich fühle mich bei mir sehr wohl und daher also überall.

Viertel vor 10.

Das war eine gute Speise auf nüchternen Magen, diese paar Psalmen, denen man jetzt im täglichen Leben einen Platz einzuräumen weiß. Wir haben jetzt zusammen den Tagesbeginn erlebt, das war sehr schön. Und es war äußerst stärkende Nahrung. Nur wieder dieser dumme Stich in meinem Herzen, als er sagte: «Jetzt werde ich turnen und mich anziehen.» Und ich hatte das Gefühl: Jetzt muss ich wieder nach oben in mein Zimmer gehen, als ob ich plötzlich wieder ganz verlassen und allein auf der Welt wäre. Ich habe einmal geschrieben: Ich möchte meine Zahnbürste mit ihm teilen. Das Verlangen, mit jemandem zusammen zu sein, selbst in den unbedeutendsten Alltagsaktivitäten. Trotzdem ist diese Distanz gut und bereichernd. Man findet immer wieder von Neuem zueinander; gleich holt er mich fürs Frühstück an seinen kleinen runden Tisch neben der Geranie, die noch immer von Tag zu Tag weiter verblüht. O, diese Vögel und die Sonne auf dem Dach mit den Kieselsteinen. Und in mir ist so eine große Sanftmütigkeit und Gelassenheit. Und eine Zufriedenheit, die in Gott ruht. Vom Alten Testament geht so etwas wie eine Urkraft aus und es enthält auch etwas «Volkstümliches». Prachtkerle kommen darin vor. Poetisch und streng. Die Bibel ist im Grunde ein wahnsinnig spannendes Buch, derb und zärtlich, naiv und weise zugleich. Nicht nur fesselnd wegen dem, was gesagt wird, sondern auch, weil man diejenigen kennenlernt, die es sagen. Ganze Stämme unentdeckter Gestalten kommen darin vor. Weil ich 10 Minuten mit ihm zusammen gelesen habe, schlug mir plötzlich so schrecklich viel aus diesem Buch entgegen. Und alle Strömungen, die jetzt durch den Geist und das Herz der Menschen fließen, die sich zu -ismen, unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Spaltungen auskristallisiert haben, gibt es auch schon in der Bibel. Ich muss nun zu meinen eigenen farblosen und noch kraftlosen Worten zurückkehren, nachdem ich mich mit dieser farbenfrohen und zärtlichen Kraft gestärkt habe. Die kostbaren, aber einfachen Gefäße aus Worten, in die ich mein Gefühl schütten kann, werde ich im Laufe meines langen Lebens noch zusammenschmieden müssen. Im Moment muss ich mich noch mit den ungeschliffenen, unbearbeiteten und den armseligen Worten zufriedengeben, die zufälligerweise vorhanden sind.

Jetzt höre ich seine Schritte auf der Treppe. Die Wände dieses Raumes umhüllen mich bereits wie ein vertrautes und gut passendes Kleidungsstück. Ich könnte hier leben und arbeiten. Kunscht. Eine Sanftmut, die heute am liebsten für sich bleiben würde. – Es waren doch nicht seine Schritte. Vielleicht wird uns später, viel später doch noch irgendwann ein ruhiger Raum vergönnt sein? Wenn wir alles überlebt und überstanden haben, aufrichtig, ohne Dingen aus dem Weg gehen zu wollen und ohne es besser haben zu wollen als andere in diesen Zeiten. Wenn wir alles, was jetzt kommen muss, überstanden haben, bekommen wir vielleicht doch noch irgendwann in späteren Jahren einen ruhigen Raum mit ein wenig Komfort und das Gefühl, dass wir uns das verdient haben? Und wenn es nicht so kommen wird? Dann ist das ja nicht das Allerwichtigste. Dieser ruhige Raum ist immer irgendwo in einem Winkel unseres Seins gegenwärtig und wir werden ihn von Zeit zu Zeit betreten können. Diesen Raum wird man uns ja schließlich nicht wegnehmen können, nicht wahr? Seit einem Jahr baue ich jetzt schon diese Stille in mir auf und sie ist zu seinem Saal geworden, greifbar gegenwärtig.

nachmittags, Viertel nach 3.

Am Ende eines Tages wie dem heutigen hätte Tide fast sachlich gesagt:

«Lieber Gott, ich danke dir für diese leckeren Kirschen, für die Sonne und dafür, dass ich den ganzen Tag mit ihm verbringen durfte.» Und man muss es ja auch nicht immer in solchen –

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10 Uhr abends.

Nur noch dies: Jede Minute dieses Tages ist sozusagen im Handumdrehen verjährt, der ganze Tag ruht weiter in mir als vollständiges und trostreiches Ganzes, als eine Erinnerung, die man noch irgendwann brauchen wird und die man wie eine ständig gegenwärtige Realität mit sich trägt. Aber auf jede Phase dieses Tages folgte eine neue, die alles, was davor war, in einem einzigen Augenblick verblassen und verjähren ließ. Man sollte sich weder auf ein Wunder noch auf den Untergang einstellen. Beide sind als extreme Möglichkeiten vorhanden, aber auf keine von beiden sollte man sich einstellen. Entscheidend sind die tausend Dinge des Alltags. Wir sprachen gestern Abend über Arbeitslager. Ich sagte: «Ich brauche mir keinerlei Illusionen zu machen, ich weiß, dass ich in drei Tagen tot sein werde, weil mein Körper nichts wert ist.» Werner war in Bezug auf sich derselben Meinung. Liesl jedoch sagte: «Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, dass ich doch durchkommen werde.» Ich kann ihr Gefühl gut verstehen, ich hatte es früher auch. Ein Gefühl unzerstörbarer Urkraft. Und dieses Gefühl ist bei mir im Kern immer noch vorhanden. Aber auch das sollte man nicht zu materialistisch auffassen. Entscheidend ist nicht, ob dieser untrainierte Körper durchhalten wird, das ist eine ziemliche Nebensächlichkeit; die Urkraft besteht vielmehr darin, dass man, selbst wenn man jämmerlich umkommt, bis zum letzten Augenblick für sich selbst weiß, dass das Leben sinnreich und schön ist, dass man alles in sich verwirklicht hat und dass das Leben gut war so, wie es war. Ich kann das nicht so gut ausdrücken, ich benutze immer wieder dieselben Worte.

Montagmorgen [6. Juli 1942], 11 Uhr.

Vielleicht kann ich jetzt einmal eine Stunde lang ununterbrochen über die notwendigsten Dinge schreiben. Rilke schreibt irgendwo über seinen gelähmten Freund Ewald: «Aber es gibt auch Tage, da er altert, die Minuten gehen wie Jahre über ihn.»[6] So gingen gestern auch die vielen Stunden des Tages über uns hinweg.

Beim Abschied schmiegte ich mich für einen Moment an ihn und sagte: «Ich möchte doch noch so lange wie möglich mit Dir zusammensein.» Und sein Mund lag so sanft und wehrlos und wehmütig in seinem Gesicht und er sagte beinahe verträumt: «Ja, so wird wohl jeder noch seine Privatwünsche haben??» Und jetzt frage ich mich: Sollten wir uns nicht auch jetzt schon von diesen Wünschen verabschieden? Wenn man anfängt zu akzeptieren, sollte man dann nicht alles akzeptieren? Er lehnte sich an die Wand von Dickys Zimmer und ich schmiegte mich sanft und sacht an ihn. Äußerlich gab es keinen einzigen Unterschied zu unzähligen solchen Momenten in unserem Leben, aber es kam mir plötzlich so vor, als spannte sich über uns ein Himmel wie in einer griechischen Tragödie. Einen Moment lang verschwamm alles vor meinen Sinnen und ich stand mit ihm zusammen inmitten eines unendlichen Raumes, der von Bedrohungen, aber auch von Ewigkeit durchdrungen war. Vielleicht war dies gestern der Moment, in dem sich in uns eine große Veränderung für immer vollzogen hat. Er blieb noch eine Weile an die Wand gelehnt stehen und sagte mit fast klagender Stimme: «Ich muß heute abend an meine Freundin schreiben, die schon bald Geburtstag hat, aber was muß ich ihr schreiben, mir fehlt die Lust und die Inspiration.» Und ich sagte zu ihm: «Du musst jetzt schon anfangen zu versuchen, sie mit dem Gedanken zu versöhnen, dass sie dich nie wieder sehen wird. Du musst ihr für ihr weiteres Leben Halt geben. Du musst sie darauf hinweisen, dass ihr all die Jahre – trotz der physischen Trennung – miteinander weitergelebt habt und dass sie die Pflicht hat, in deinem Geist weiterzuleben und auf diese Weise etwas von deinem Geist für die Welt zu bewahren, darauf kommt es doch letztlich an.» Ja, so spricht man gegenwärtig miteinander und es klingt nicht einmal mehr unwirklich, wir sind in eine neue Wirklichkeit eingetreten, in der alles andere Farben und andere Akzente bekommen hat.

Und zwischen unseren Augen und Händen und Mündern fließt nun ein ununterbrochener Strom von Sanftheit und Zärtlichkeit hin und her, der jede kleinliche Begierde zu löschen scheint, es geht jetzt nur noch darum, gut zueinander zu sein mit all der Güte, die noch in uns ist. Und jedes Zusammensein ist auch ein Abschiednehmen. Heute Morgen rief er an und sagte beinahe verträumt: «Es war schön gestern», und: «Wir sollten tagsüber noch so viel wie möglich zusammen sein.» Und gestern Mittag, als wir zwei verwöhnte «Junggesellen», die wir beide immer noch sind, an seinem kleinen runden Tisch ein üppiges Mittagessen aßen, ein Mittagessen, das wie aus der Zeit gefallen war, und ich dann sagte, dass ich ihn nicht verlassen wolle, wurde er plötzlich streng und gebieterisch und sagte: «Vergessen Sie ja nicht alles, was Sie immer sagen, Sie dürfen das nicht vergessen.» Und ich hatte nicht einmal mehr das Gefühl, als kleines Mädchen eine Rolle in einem Theaterstück zu spielen, das mein Auffassungsvermögen bei Weitem überstieg (wie dies früher oft der Fall war), sondern es ging hier um mein Leben und mein Schicksal und ich konnte es tragen, und mein Schicksal mit allen Bedrohlichkeiten und Unsicherheiten, Glauben und Liebe umschloss mich und passte mir wie ein Kleidungsstück, das extra für mich maßgeschneidert wurde. Ich liebe ihn mit all der Selbstlosigkeit, zu der ich fähig bin, und ich werde ihm nicht die geringste Last meiner Ängste und Sehnsüchte aufbürden. Sogar den Wunsch, bis zum letzten Moment bei ihm zu bleiben, werde ich aufgeben. Mein Wesen verwandelt sich allmählich in ein einziges großes Gebet für ihn. Und warum nur für ihn? Warum nicht auch für alle anderen?

Es werden auch 16-jährige Mädchen in die Arbeitslager geschickt.[7] Wir Älteren werden sie unter unsere Fittiche nehmen müssen, wenn das demnächst bei unseren holländischen Mädchen auch der Fall sein wird.

Gestern Abend wollte ich plötzlich noch zu Han sagen: «Weißt du, dass auch 16-jährige Mädchen einen Aufruf erhalten?» Und ich hielt die Frage gerade noch zurück und dachte: «Warum sollte ich nicht auch gut zu ihm sein, warum ihn noch stärker belasten, als er es ohnehin schon ist? Ich kann diese Dinge doch allein verarbeiten? Jeder muss wissen, was geschieht, das ist wahr, aber man sollte auch gut zu anderen sein und ihnen nicht immer wieder diejenige Last aufbürden, die man doch sehr gut allein tragen kann.»

Vor wenigen Tagen dachte ich noch: «Das Allerschlimmste wird für mich sein, wenn mir kein Bleistift und Papier mehr erlaubt sind, um mir selbst ab und zu ein bisschen Klarheit zu verschaffen, das ist für mich wirklich das Allerwichtigste, sonst wird auf Dauer etwas in mir zerspringen und mich innerlich zerstören.» Und jetzt weiß ich: Wenn man einmal damit anfängt, seine Forderungen und Wünsche zurückzustellen, kann man auch auf alles verzichten. In diesen wenigen Tagen habe ich das gelernt.

Vielleicht kann ich noch einen Monat hierbleiben, und dann wird dieses Schlupfloch in den Verordnungen[8] auch entdeckt worden sein. Ich werde meine Papiere in Ordnung bringen und jeden Tag Abschied nehmen. Der tatsächliche Abschied wird dann nur noch eine kleine äußerliche Bestätigung dessen sein, was sich innerlich bereits Tag für Tag in mir vollzogen hat.

Mir ist so seltsam zumute. Bin das wirklich ich, die hier mit so einer großen Ruhe und Reife sitzt und schreibt, und könnte das jemand verstehen, wenn ich sagte, dass ich mich so seltsam glücklich fühle, überhaupt nicht forciert oder dergleichen, sondern ganz einfach glücklich darüber, dass in mir von Tag zu Tag eine Sanftmut und ein Vertrauen wachsen? Weil all das Verwirrende, Bedrohliche und schwer zu Ertragende, das auf mich zukommt, bei mir in keinem Augenblick zu einer geistigen Umnachtung führt? Weil ich das Leben weiterhin in all seinen Konturen so klar und deutlich betrachte und erlebe. Weil nichts in meinem Denken und Fühlen getrübt wird. Weil ich alles ertragen und verarbeiten kann und weil das Wissen um all die guten Dinge, die es im Leben und auch in meinem Leben gab, nicht von allem anderen verdrängt, sondern immer stärker in mir verwurzelt wird. Ich traue mich kaum noch weiterzuschreiben, ich weiß nicht, was das ist, gerade so, als ginge ich in meiner Entrückung von allem, was die meisten fast in den Wahnsinn treibt, schon fast zu weit. Wenn ich wüsste, ganz sicher wüsste, dass ich nächste Woche sterben werde, könnte ich noch die ganze Woche an meinem Schreibtisch sitzen und in aller Seelenruhe weiterstudieren, ohne dass dies eine Flucht wäre, denn ich weiß jetzt, dass Leben und Sterben sinnreich miteinander verbunden sind. Es wird ein Hinübergleiten sein, selbst wenn das Ende in seiner äußerlichen Form trist oder grässlich ist.

Wir müssen noch eine Menge erdulden. Wir werden bald bettelarm sein, und wenn diese Entwicklung noch lange andauert, verelenden, von Tag zu Tag verfallen unsere Kräfte, nicht nur wegen der Ängste und Unsicherheiten, sondern auch wegen so ganz einfacher Kleinigkeiten wie, dass wir zunehmend Geschäfte nicht mehr betreten dürfen und dass wir alle Strecken zu Fuß zurücklegen müssen, was viele, die ich kenne, jetzt schon erschöpft. Von allen Seiten schleicht sich unsere Vernichtung immer näher heran und bald wird der Kreis um uns geschlossen sein, sodass auch gutwillige Menschen uns nicht mehr helfen können. Es gibt jetzt noch viele Schlupflöcher, aber sie werden gestopft werden.

Was ist der Mensch doch für ein seltsames Wesen! Jetzt ist es regnerisch und kühl. Als ob man vom Plateau einer schwülen Sommernacht über einen steilen Abhang in ein frostiges und feuchtes Tal hinabgefallen wäre. Das letzte Mal war es auch ein kantiger Übergang von Wärme zu Kälte, als ich die Nacht bei Han verbracht hatte. Als ich gestern Abend vor dem offenen Fenster mit ihm über die letzten und schwersten Dinge sprach, um die es jetzt geht, und in sein schmerzlich verzogenes Gesicht blickte, hatte ich auf einmal das Gefühl: Heute Nacht werden wir uns in den Armen liegen und weinen. Wir lagen uns zwar in den Armen, haben aber nicht geweint. Erst als sein Körper in der letzten Ekstase über meinem lag, da stieg auf einmal eine Flutwelle der Trauer, urmenschlicher Trauer in mir hoch und überflutete mich kurz; ich hatte Mitleid mit mir selbst und allen und bedauerte, dass alles so sein musste, wie es war. Aber ich konnte meinen Kopf im Dunkeln an seiner nackten Schulter verbergen und habe meine Tränen ganz allein ausgekostet. Und dann musste ich plötzlich an diese Torte von Frau Witkowski[9] heute Nachmittag denken, wie diese plötzlich mit einer Schicht Erdbeeren bedeckt war, und ich musste darüber mit einem Gefühl fast strahlenden Humors still vor mich hin grinsen. Und jetzt muss ich mich um das Mittagessen kümmern, und um 2 Uhr gehe ich zu ihm. Ich könnte noch schreiben, dass es meinem Magen nicht gut geht und dass noch mehr in meinem Körper nicht in Ordnung ist, aber ich habe mir vorgenommen, nicht mehr über meine Gesundheit zu schreiben, es kostet zu viel Papier und ich komme damit schon klar. Früher musste ich viel darüber schreiben, weil ich nicht immer gut damit zurechtkam, aber das ist jetzt überwunden. Jedenfalls glaube ich das. Bin ich also doch leichtsinnig und übermütig? Ich weiß es nicht.

7. Juli [1942], Dienstagmorgen, halb 10.

Mien rief soeben an, um mitzuteilen, dass Mischa gestern für Drenthe[10] gemustert wurde. Ergebnis noch unbekannt. Mutter sei fertig, sagte sie, und Vater lese viel, er habe viel innere Stärke.

Die Straßen, durch die man radelt, sind auch nicht mehr wie früher, der Himmel hängt so tief und bedrohlich darüber und wirkt wie ein Gewitterhimmel, selbst bei strahlendem Sonnenschein. Man lebt jetzt Seite an Seite mit dem Verhängnis oder wie man es auch immer nennen will, man findet auch einen Weg des täglichen Umgangs damit, aber alles ist ganz anders, als wir es früher in allen Büchern lesen konnten.

Was mich betrifft, so weiß ich jetzt: Man muss sogar die Sorgen um die anderen, die man liebt, loslassen. Ich meine damit Folgendes: All die Kraft und Liebe und das Gottvertrauen, die man besitzt und die bei mir in letzter Zeit so erstaunlich herangewachsen sind, muss man für alle bereithalten, die uns auf unserem Weg zufällig begegnen und die sie brauchen. «Ich habe mich schlimm an Sie gewöhnt», sagte er gestern. Und Gott weiß, wie schlimm ich mich an ihn «gewöhnt» habe. Und doch muss ich auch ihn loslassen. Ich meine damit: Aus meiner Liebe zu ihm muss ich Kraft und Liebe für alle schöpfen, die sie nötig haben, aber meine Liebe für ihn und meine Sorge um ihn dürfen mich nicht so sehr aufzehren, dass ich all meiner Kräfte beraubt werde. Denn selbst das ist «ich-haft». Und selbst aus dem Leiden kann man Kraft schöpfen. Und mit der Liebe, die ich für ihn empfinde, kann ich mich und andere ein ganzes Leben lang nähren. Man muss bis zum Ende konsequent sein. Man kann zwar sagen: «Bislang kann ich alles ertragen, aber wenn ihm etwas zustößt oder wenn ich ihn verlassen muss, kann ich nicht mehr weitermachen.» Doch auch dann muss man in der Lage sein, weiterzumachen. Heutzutage geht nur das eine oder das andere: Entweder man kann nur noch «rücksichtlos» an sich selbst und an den eigenen Selbsterhaltungstrieb denken, oder man muss auf alle persönlichen Wünsche verzichten und sich hingeben. Und für mich beinhaltet diese Hingabe nicht eine Resignation, kein Absterben, sondern den Versuch, dort, wo Gott mich zufällig platziert, noch zu unterstützen, so gut ich kann, und nicht nur mit meinem eigenen Kummer und Verlust erfüllt zu sein. Mir ist immer noch so seltsam zumute. Ich könnte fast sagen: als ob ich schwebte und nicht ginge, als ob ich mich nicht in der Realität befände und nicht genau wüsste, was vor sich geht.

Vor ein paar Tagen habe ich noch geschrieben: Ich möchte gerne Stunden an meinem Schreibtisch verbringen und nur so vor mich hin studieren. Das gibt es nicht mehr. Das heißt, es wird schon noch vorkommen, aber der Anspruch darauf muss aufgegeben werden. Man muss alles aufgeben und stattdessen Tag für Tag die tausend kleinen Dinge für andere tun, die es zu tun gibt, ohne sich in ihnen oder an sie zu verlieren. Werner sagte gestern: «Wir ziehen doch nicht um, es lohnt sich nicht mehr.» Und er sah mich an und sagte: «Wenn wir nur wenigstens zusammen wegkommen.» Der kleine Weyl blickte traurig auf seine dünnen Beine und sagte: «Ich muß mir diese Woche noch zwei lange Unterhosen beschaffen, wie komme ich daran», und zu den anderen: «Wenn ich nur mit euch in ein Coupé komme.»

Nächste Woche, um halb 2 in der Nacht, ist die Abreise, und die Bahnfahrt ist kostenlos,[11] ja, wirklich kostenlos, und sie dürfen keinen lebendigen Hausrat mitnehmen.

Das stand alles im Aufruf.[12] Auch dass man Arbeitsschuhe mitnehmen müsse und zwei Paar Socken und einen Löffel, aber keinen aus Gold, Silber oder Platin, nein, das nicht, aber den Ehering, das ist rührend, den darf man noch behalten. «Ich nehme keinen Hut mit», sagte Fein, «sondern eine Mütze, die wird uns gut stehen.»

Ja, so sitzen wir also bei unserem Aperitif. Als ich gestern Abend von unserem traditionellen Schnapsstündchen nach Hause kam, dachte ich unterwegs: Wie um Himmels willen soll ich jetzt noch eine Stunde Unterricht geben, und über diese anderthalb Stunden mit van Wermeskerken mit ihrem glatt gekämmten Bubikopf und ihren großen, herausfordernden blauen Augen könnte ich auch ein ganzes Buch schreiben. Ich hoffe, ich kann mir alles aus dieser Zeit merken und später darüber berichten. Es ist alles ganz anders, als es in den Büchern steht, ganz anders. Ich kann nicht auch noch über die tausend Einzelheiten schreiben, die ich täglich erlebe, ich möchte sie mir gerne merken. Ich stelle an mir fest: Meine Beobachtungsgabe erfasst alles so einwandfrei und sogar mit einer seltsamen Freude. Trotz all dieser Dinge, die ich erdulden muss, trotz meiner Müdigkeit, des Leidens, und trotz allem bleibt immer noch dies: meine Freude, die Freude einer Künstlerin, die Dinge wahrzunehmen und daraus im Geist ein eigenes Bild zu gestalten. Ich werde von Sterbenden interessiert den letzten Gesichtsausdruck ablesen und in mir aufbewahren. Ich teile das Leid derjenigen, mit denen ich jetzt jeden Abend spreche und die nächste Woche an irgendeinem gefährlichen Ort auf dieser Erde, in einer Munitionsfabrik oder weiß Gott wo, arbeiten werden – wenn sie denn überhaupt noch arbeiten dürfen –, aber ich erfasse jede kleine Geste, jede kleine Äußerung, jeden Gesichtsausdruck, und ich tue dies mit einer fast kühlen und objektiven Sachlichkeit. Ich habe die Haltung einer Künstlerin und ich glaube, dass ich später – wenn ich spüren werde, dass es notwendig ist, von allem zu berichten – auch genügend Talent dazu haben werde.

mittags.

Ein Freund von Bernard[13] begegnete einem deutschen Soldaten auf der Straße, der ihn um eine Zigarette bat. Es entwickelte sich ein Gespräch, in dem sich herausstellte, dass der Soldat ein Österreicher und früher Professor in Paris war. Ich möchte einen Satz aus dem von Bernard nacherzählten Gespräch festhalten, er sagte: «In Deutschland sterben mehr Soldaten in den Kasernen als durch den Feind.»

Dieser Börsenmakler am Sonntagmorgen auf der Terrasse bei Leo Krijn:[14] «Wir sollten von ganzem Herzen beten, dass etwas Besseres kommt, solange wir noch an etwas Besseres glauben. Denn wenn unser Hass uns zu solchen wilden Bestien entarten lässt, wie sie es sind, dann hilft alles nichts mehr.»

Die größten Sorgen bereiten mir immer noch meine unbrauchbaren Füße. Ich hoffe, dass meine Blase bis dahin völlig restauriert sein wird, sonst werde ich für die eng zusammengepferchte Gemeinschaft der Zukunft sicher eine lästige Person sein. Außerdem werde ich endlich mal zum Zahnarzt gehen müssen, alle notwendigen Dinge, die man ein Leben lang aufgeschoben hat, müssen jetzt endlich dringend erledigt werden, glaube ich. Und das Herumstochern in der russischen Grammatik lasse ich jetzt auch sein, für meine Schüler ist mein Wissen für die nächsten Monate ausreichend, ich lese besser noch «Der Idiot» zu Ende. Exzerpte aus Büchern mache ich auch nicht mehr, weil es zu viel Zeit kostet und ich all das Papier sowieso nicht werde mitschleppen dürfen. Ich werde mir nun in meinem Geist alles Wesentliche einprägen und für magere Zeiten aufsparen. Ich werde mich auch besser an den Gedanken gewöhnen können, von hier wegzugehen, wenn ich mir mittels verschiedener kleiner Handlungen diesen Abschied immer stärker vergegenwärtige, damit es mich «letzten Endes» nicht doch noch wie ein allzu schwerer Schlag trifft: die Briefe, die Papiere und den ganzen Kram auf meinem Schreibtisch beseitigen. Ich glaube doch, dass Mischa als untauglich eingestuft wird.

Ich muss auch früher ins Bett gehen, sonst bin ich tagsüber zu schläfrig und das ist nicht gut. Diesen Brief unseres koscheren deutschen Soldaten muss ich mir noch schnappen, bevor Lizzy[15] nach Drenthe geht, um ihn als «Document humain» aufzubewahren. Nach diesem ersten grandiosen und niederschmetternden Vorspann hat die Geschichte viele kuriose Wendungen genommen. Das Leben ist so witzig und so überraschend und so unendlich vielfältig, und nach jeder Straßenkurve plötzlich wieder eine ganz andere Aussicht. Die meisten Menschen haben Klischeevorstellungen über das Leben im Kopf, aber man muss sich innerlich von allem befreien, von jeder verfestigten Vorstellung, jeder Parole, jeder Gebundenheit, man muss den Mut haben, alles loszulassen, jede Norm und jeden Halt an Konventionen, man muss den großen Sprung in den Kosmos wagen, und dann, erst dann ist das Leben so unendlich reich und überfließend, selbst im tiefsten Leid.

Ich hätte gerne noch alles von Rilke gelesen, bevor die Zeit kommt, in der ich vielleicht lange kein Buch mehr in die Hände bekomme. Ich identifiziere mich sehr stark mit dieser kleinen Gruppe von Menschen, die ich zufällig bei Werner und Liesl kennengelernt habe, die nächste Woche deportiert werden, um unter Polizeiaufsicht in Deutschland zu arbeiten. Heute Nacht habe ich geträumt, dass ich meinen Koffer in Ordnung bringen musste. Es war eine nervöse Nacht, vor allem das Schuhwerk ließ mich verzweifeln, alle möglichen Schuhe taten mir weh. Und wie soll das mit der Unterwäsche und allem und Proviant für 3 Tage und Decken gehen, alles in einem einzigen Koffer oder Rucksack? Und es wird wohl hoffentlich irgendwo noch ein Plätzchen für die Bibel sein? Und wenn möglich für Rilkes «Stundenbuch» und «Briefe an einen jungen Dichter»? Und ich würde so gerne meine beiden kleinen russischen Wörterbücher und «Der Idiot» mitnehmen, um die Sprache nicht zu vergessen. Das könnte in meinem Fall noch zu einer ganz merkwürdigen Situation führen, wenn ich bei unserer Registrierung als Beruf Russischlehrerin angebe. Es wird wohl ein «Einzelfall» sein und die Konsequenzen daraus sind noch schwer abzusehen. Vielleicht komme ich doch noch weiß Gott wie irgendwann über erzwungene Umwege nach Russland, wenn sie mich mit meinen Sprachkenntnissen und allem in ihre Klauen kriegen.

Später am Nachmittag.

Vielleicht könnte ich ein paar meiner Tagebuch-Hefte mitnehmen, und sei es nur wegen der Zitate und um von Zeit zu Zeit zu schauen, ob ich mir selbst treu bleibe. Dann möchte ich auch diese Worte aus Maltes Tagebuch festhalten:

«… Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung gibt es nicht.» Und ein wenig später:

«Glaube nur nicht, daß ich hier an Enttäuschungen leide, im Gegenteil. Es wundert mich manchmal, wie bereit ich alles Erwartete aufgebe für das Wirkliche, selbst wenn es arg ist.»[16]

8 Uhr.

Siehst du, jetzt klappt ein Deckel über allem Lärm des Tages zu, und dieser Abend gehört mir, mit all der Ruhe und Konzentration, die in mir steckt. Auf meinem Schreibtisch steht eine gelbe Teerose zwischen zwei kleinen Vasen mit violetten Veilchen. Die Schnapsstunde ist vorbei. S. fragte völlig erschöpft: «Wie halten die Levies das nur jeden Abend aus, ich kann nicht mehr, bin vollkommen erledigt.» Aber jetzt lasse ich alle Gerüchte und Tatsachen hinter mir, jetzt wird den ganzen Abend lang studiert und gelesen. Was ist das eigentlich bei mir: Keine der Sorgen und drohenden Gefahren des Tages ist an mir haften geblieben, ich sitze hier an meinem Schreibtisch, so «unberührt» und neugeboren, so vollkommen auf das Studium fokussiert, als ob in der Welt nichts los wäre. Es ist alles ganz von mir abgefallen, nichts hat eine Spur hinterlassen und ich fühle mich so «aufnahmefähig» wie nie zuvor. Nächste Woche werden wahrscheinlich alle Niederländer auf ihre Tauglichkeit hin gemustert.[17] Von Minute zu Minute fallen immer mehr Wünsche und Sehnsüchte und Bindungen zu anderen von mir ab, ich bin zu allem bereit, ich gehe an jeden Fleck auf dieser Erde, an den Gott mich schicken wird, und ich bin bereit, in jeder Situation und bis zum Tod zu bezeugen, dass das Leben schön und sinnreich ist und dass es nicht Gottes Schuld ist, dass es jetzt so ist, wie es ist, sondern unsere. Wir haben alle Fähigkeiten bekommen, um alle Paradiese zu erreichen, aber wir werden noch lernen müssen, mit unseren Fähigkeiten umzugehen. Es ist, als fielen in jedem Augenblick immer mehr Lasten von mir ab, als wären alle Grenzen, die es derzeit zwischen Menschen und Völkern gibt, für mich aufgehoben. Es ist, als könnte ich das Leben durchschauen und das menschliche Herz ebenso; ich schaue und schaue und verstehe immer mehr, und ich werde innerlich immer friedlicher und ich habe ein Gottvertrauen, das mich anfangs durch sein schnelles Wachstum fast ängstigte, das aber immer mehr zu einem Teil von mir wird. Und nun an die Arbeit. Zuerst aber noch ein Ausschnitt aus Jungs «Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben».

Ein wenig später, nur so zwischendurch.

Das muss ich plötzlich loswerden: Heute Morgen habe ich ihm am Telefon gesagt, dass Mischa gestern gemustert wurde. Ich spürte, wie er für einen Moment vor Schreck den Atem anhielt, und ich hörte, wie er fast zu sich selbst sagte: «Ist ja toll, ist ja toll.» Warum muss ich ihm so etwas sagen? Wenn Mischa für untauglich erklärt wird, war es ein überflüssiger kleiner Hieb zu viel. Jaap hätte ich es auch nicht sagen müssen. Ich habe selbst am Telefon gemerkt, wie ihm der Atem stockte. Man muss die Menschen schonen und sie nicht mit mehr belasten als unbedingt nötig. Die Menschen belasten sich gegenseitig schon so schwer, den ganzen Tag lang, mit ihren Ängsten und Vermutungen und den Gräueltaten, die sie den ganzen Tag lang hören. Man muss wissen, was in der Welt geschieht, das ist eine moralische Pflicht, aber Menschen, die einem nahestehen, die man liebt und die schon genug zu bewältigen haben, muss man schonen, wo man kann.

später.

Ich lernte die Frau dieses Telepathen[18] mit rötlich-roten Locken kennen, aber vor ein paar Wochen scheint sie noch eine rassige Zigeunerin mit rabenschwarzen Haaren gewesen zu sein. Und jetzt hat sie rot-blonde Haare, um unterzutauchen, wenn man sie abtransportieren wollte. Das klingt abenteuerlich und gefährlich, oder nenne es, wie du willst. Liesl erzählte mir später mit einem fast mütterlichen Ausdruck auf ihrem schmalen Gesichtchen: «Sie ist noch so ein junges Ding, weißt du, und ich glaube, sie wollte gerne zur Abwechslung einmal rote Haare haben.»

Warum schreibe ich solchen Unsinn kurz vor dem Schlafengehen auf? Wahrscheinlich, damit ich mir später dank dieser paar Worte dieses Gesichtchen und all die anderen Gesichter um sie herum, die dort jeden Abend in diesem gastfreundlichen Raum zusammenkommen, vergegenwärtigen kann. All diese Gesichter müssen sich irgendwie in mir setzen und später fördere ich sie wieder zutage.

Und jetzt noch ein wenig Malte lesen.

Bernard sagte heute Abend am Tisch: «Jetzt kann man allmählich auch auf den Gesichtern der Menschen auf der Straße etwas sehen, man kann jetzt das Elend von ihnen ablesen.»

Mittwochmorgen [8. Juli 1942].

Seine Stimme am frühen Morgen am Telefon klang noch vibrierender und schmeichelnder als sonst. Er sagte irgendwann: «Ich habe Ihren letzten Brief nochmals durchgelesen, den Tagebuchbrief.[19] Sie sind doch ein fabelhaftes Rindvieh.» Ich sagte: «Was ich dort geschrieben habe, könnte ich jetzt nicht mehr schreiben, es ist bereits zur Legende geworden.» Man wird jeden Tag so viele Jahre älter, dass das, was noch vor wenigen Wochen war, vor hundert Jahren geschah. «Ja, aber es kann mal wieder kommen», sagte er. Und er hat natürlich recht, dieser Menschenkenner.

Mischa wurde für Drenthe für untauglich erklärt und Jaap wird versuchen, als Pfleger im Jüdischen Krankenhaus eingesetzt zu werden.[20] –

Heute Abend standen die Bäume vor meinem Fenster wie Zypressen in einer Tropennacht. Das ist vielleicht aus botanischer Sicht nicht ganz korrekt, aber es war eine märchenhafte Nacht.

Heute muss ich eine Stunde unterrichten, und zwar gleich meinen sentimentalen Westinder. Ich muss noch ein paar Kleinigkeiten tippen, um 12 Uhr mache ich mit ihm einen kleinen Spaziergang an unserem Kai entlang, dann noch zu Jaap und ansonsten gehört der Tag mir. Möge er fruchtbar sein, meine Lust am Lernen ist intensiver denn je.

Ich könnte meine Arme um diesen regnerischen Tag schlingen und ihn erdrücken.

abends.

Tides Augen stehen wie Soldaten auf Posten in ihrem Gesicht und wanken und weichen nicht.

Da ist wieder diese plötzliche, fast chemische Veränderung in meinem Blutkreislauf, die von einer Minute zur anderen zu erfolgen scheint. Ich werde einfach ins Bett gehen, aus dem geplanten Lernen wird nicht viel. Das sind solche Momente, in denen ich mich früher am liebsten leise in eine schlammige Gracht hätte sinken lassen, das schien mir damals das Erlösendste zu sein, was es gab. Meiner Menstruation geht entweder eine große Unruhe voraus, ein Feuerwerk in meinen Gedanken oder diese ganz große Unlust und Energielosigkeit. Einfach über mich ergehen lassen und ins Bett gehen.

Donnerstagmorgen [9. Juli 1942], halb 10.

Worte wie Gott und Tod und Leiden und Ewigkeit muss man wieder vergessen. Und man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das Getreide, das wächst, oder der Regen, der fällt. Man muss einfach nur sein.

Bin ich wirklich selbst schon so weit, dass ich ganz ehrlich sagen kann: «Ich hoffe, dass ich ins Arbeitslager komme, um dort etwas für die 16-jährigen Mädchen tun zu können, die auch mitgehen müssen?» Um im Voraus den zurückbleibenden Eltern sagen zu können: «Macht euch keine Sorgen, ich werde auf eure Kinder aufpassen.»

Wenn ich zu anderen sage: «Fliehen oder Verstecken hat nicht den geringsten Sinn, es gibt kein Entkommen, lasst uns mitgehen und versuchen, für andere noch zu tun, was wir tun können», dann klingt das viel zu sehr nach Resignation. Dann schwingt da etwas mit, das ich überhaupt nicht meine. Für dieses ungebrochene und strahlende Gefühl in mir – das auch alles Leiden und alle Traurigkeit einschließt – finde ich noch nicht den richtigen Ton. Ich spreche immer noch in so einem philosophischen Gelehrtenton, als hätte ich mir eine trostvolle Theorie ausgedacht, um mir das Leben ein wenig zu verschönern. Ich täte besser daran, vorläufig schweigen zu lernen und zu sein.

Freitagmorgen [10. Juli 1942].

Das eine Mal ist es ein Hitler, ein anderes Mal meinetwegen Iwan der Schreckliche, in dem einen Jahrhundert ist es die Inquisition, in dem anderen sind es Kriege oder Pest, Erdbeben und Hungersnot. Letztendlich kommt es darauf an, wie man das Leiden, das doch im Leben eine wesentliche Rolle spielt, trägt und erträgt und bewältigt, und dass man trotz allem einen Teil seiner Seele unversehrt erhalten kann.

später.

Ich denke und denke und grüble und versuche, die drückenden alltäglichen Sorgen in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen, und innen hakt etwas, das bei jedem Atemzug schmerzt. Man rechnet und sucht und gibt das Studium während eines Teils des Vormittags auf, man tigert rastlos im Zimmer auf und ab, hat auch Bauchschmerzen usw. Und plötzlich kommt wieder die Gewissheit in einem auf: Später, wenn ich alles überlebt habe, werde ich Geschichten über diese Zeit schreiben, die sich wie dünne Pinselstriche vor einem großen wortlosen Hintergrund von Gott, Leben, Tod, Leiden und Ewigkeit abheben. Manchmal befallen einen die vielen Sorgen wie Ungeziefer. Nun ja, dann muss man sich einfach ein bisschen kratzen, das macht zwar den Körper hässlicher, aber man muss es auch wieder von sich abschütteln.

Die kurze Zeit, die ich hier noch werde sein können, betrachte ich als ein besonderes Geschenk, als eine Art Urlaub. In den letzten Tagen gehe ich durchs Leben, als ob ich eine Fotoplatte in mir trüge, die alles um mich herum einwandfrei, bis ins kleinste Detail aufzeichnet. Ich bin mir dessen bewusst, alles dringt in mich mit scharfen Konturen «hinein». Später, viel später vielleicht, werde ich alles einmal entwickeln und drucken.

Um den neuen Ton zu finden, der zum neuen Lebensgefühl passt. Man sollte schweigen, bis man diesen Ton gefunden hat. Doch man muss vielmehr versuchen, ihn während des Sprechens zu finden, Schweigen geht doch nicht, das wäre auch eine Flucht. Dem Übergang vom alten zum neuen Ton muss man auch in all seinen Abstufungen folgen.

Ein schwerer Tag, ein sehr schwerer Tag. Man muss lernen, ein «Massenschicksal» mitzutragen und alle persönlichen Kindereien zu beseitigen. Und jeder, der sich noch retten will und der zugleich wissen muss, dass, wenn er nicht geht, jemand anderes an seiner Stelle gehen muss. Und spielt es eine große Rolle, ob ich es bin oder ein anderer, ob dieser oder jener? Es ist jetzt ein «Massenschicksal» geworden und das muss man wissen. Ein sehr schwerer Tag. Aber ich fange mich immer wieder im Gebet. Und das werde ich ja auch weiterhin immer tun können, auch auf kleinstem Raum: beten. Und den Teil des «Massenschicksals», den ich tragen kann, schnalle ich wie ein Bündel immer kräftiger und fester auf meinen Rücken, verwachse damit und gehe jetzt schon damit durch die Straßen.

Und diesen schlanken Füllfederhalter sollte ich jetzt wie einen Hammer schwingen und die Worte sollten wie ebenso viele Hammerschläge von einem Schicksal und von einem Stück Geschichte zeugen, wie es noch nie eines gegeben hat. Nicht in dieser totalitären, massenorganisierten Form, die sich über ganz Europa erstreckt. Es müssen doch ein paar Menschen überleben, um später die Chronisten dieser Zeit zu sein. Ich möchte später gerne so eine kleine Chronistin sein.

Sein bebender Mund, als er sagte: «Dann werden Adri oder Dicky mir auch kein Essen mehr bringen dürfen.»

11. Juli 1942, Samstagmorgen, 11 Uhr.

Über die letzten und schwersten Dinge des Lebens darf man eigentlich erst sprechen, wenn die Worte so einfach und natürlich wie Wasser aus einer Quelle aus einem emporsprudeln.

Und wenn Gott mir nicht weiterhilft, dann muss ich eben Gott helfen.

Die gesamte Erdoberfläche wird allmählich zu einem einzigen großen Lager und kaum jemand wird draußen bleiben können. Es ist eine Phase, durch die wir hindurchmüssen. Die Juden hier erzählen sich schöne Dinge: dass sie in D[eutsch]land eingemauert oder mit Giftgas ausgerottet werden. Es ist nicht so klug, sich solche Geschichten zu erzählen, und abgesehen davon: Wenn dies tatsächlich alles in der einen oder anderen Form geschieht, nun, dann liegt das doch nicht in unserer Verantwortung?

Seit gestern Abend fast sintflutartige Regenschauer. Ich habe bereits eine Schublade meines Schreibtisches ausgeräumt. Ich habe das Foto von ihm wiedergefunden, das ich vor fast einem Jahr verlegt hatte, von dem ich aber immer ganz sicher wusste: Ich finde es wieder. Und da lag es plötzlich auf dem Boden einer unordentlichen Schublade. Und das ist typisch für mich: Von bestimmten Dingen, ob groß oder klein, weiß ich, es wird schon wieder. Vor allem bei materiellen Dingen ist das sehr stark. Ich mache mir nie Sorgen um den nächsten Tag. Ich weiß zum Beispiel, dass ich bald von hier wegmuss, und ich habe keinen blassen Schimmer, wo ich landen werde, und mit dem Geldverdienen läuft es miserabel, aber ich mache mir nie Sorgen um mich selbst, ich weiß, dass es irgendwie weitergehen wird. Wenn man allerlei zukünftige Dinge von vornherein mit seinen Sorgen belastet, können sie sich nicht organisch entwickeln. In mir ist so ein großes Vertrauen. Nicht ein Vertrauen, dass es mir im äußeren Leben immer gut gehen wird, sondern ein Vertrauen, dass ich, auch wenn es mir schlecht geht, das Leben noch akzeptiere und gut finde.

Ich ertappe mich dabei, wie sehr ich mich in Kleinigkeiten schon auf ein Arbeitslager einstelle. Gestern Abend ging ich mit ihm am Kai spazieren, ich trug ein Paar bequeme Sandalen und dachte plötzlich: «Die Sandalen werde ich auch mitnehmen, dann kann ich sie ab und zu gegen die schwereren Schuhe austauschen.»

Was geht denn im Moment in mir vor? Woher rührt diese leichte, fast ausgelassene Heiterkeit? Gestern war ein schwerer, ein sehr schwerer Tag, an dem ich innerlich viel durchleiden und verarbeiten musste. Und ich habe alles, was auf mich eingestürmt ist, verarbeitet, und ich kann schon wieder etwas mehr ertragen als gestern. Und das verleiht mir wahrscheinlich diese innere Heiterkeit und Ruhe: Ich merke immer wieder, dass ich mit allem fertigwerde, ganz allein fertigwerde, und dass mein Herz dabei nicht vor Verbitterung verdorrt und dass selbst Momente tiefster Traurigkeit und auch der Verzweiflung fruchtbare Spuren in mir hinterlassen und mich stärker machen. Ich mache mir nichts vor, wie unsere Situation tatsächlich aussieht, und selbst den Anspruch, anderen zu helfen, gebe ich auf. Ich werde immer versuchen, Gott so viel wie möglich zu helfen, und wenn mir das gelingt, nun, dann werde ich auch für andere da sein. Aber man sollte sich darüber keine heroischen Illusionen machen.

Und was würde ich nun wirklich machen, frage ich mich, wenn ich den Aufruf nach D[eutsch]land bereits in der Tasche hätte und in einer Woche aufbrechen müsste? Angenommen, die Karte käme morgen, was würdest du dann tun? Ich würde damit beginnen, niemandem etwas davon zu sagen, ich würde mich in die ruhigste Ecke des Hauses zurückziehen, mich in mich selbst zurückziehen und aus jedem Winkel meines Körpers und meiner Seele Kräfte sammeln. Ich würde mir einen Bubikopf schneiden lassen und meinen Lippenstift wegwerfen. Ich würde versuchen, in dieser Woche noch die Rilke-Briefe zu Ende zu lesen. Aus dem schweren Wintermantelstoff, den ich hier noch habe, würde ich mir eine lange Hose und eine kurze Jacke machen lassen. Natürlich würde ich meine Eltern noch besuchen wollen und ihnen viel von mir erzählen, viel Tröstliches. Und in jeder Minute, die mir verbliebe, würde ich ihm schreiben, dem Mann, von dem ich jetzt schon weiß, dass ich vor Sehnsucht nach ihm sterben werde. Wie ich bereits jetzt in manchen Augenblicken glaube sterben zu müssen, wenn ich daran denke, dass ich ihn verlassen muss und nicht mehr wissen werde, was aus ihm wird. In ein paar Tagen werde ich zum Zahnarzt gehen, um meine vielen hohlen Backenzähne füllen zu lassen, denn es wäre wirklich grotesk, wenn ich unter Zahnschmerzen leiden würde. Ich werde zusehen, einen «Rucksack» zu ergattern und nur das Allernötigste mitzunehmen, aber es muss alles von guter Qualität sein. Ich werde eine Bibel mitnehmen, und die zwei dünnen Bändchen «Briefe an einen jungen Dichter» und das «Stundenbuch» werde ich doch hoffentlich irgendwo in einer Ecke des Rucksacks unterbringen können? Ich nehme keine Porträts von meinen Lieben mit, sondern werde an den ausgedehnten Wänden meines inneren Wesens die vielen Gesichter und Gesten, die ich gesammelt habe, aufhängen, und so werden sie immer bei mir sein. Und diese zwei Hände kommen mit ihren ausdrucksstarken Fingern, die wie kräftige, junge Zweige sind, mit mir mit. Und oft werden die Hände sich im Gebet schützend über mir falten und mich bis zum Ende nicht verlassen. Und die dunklen Augen werden mich mit ihrem guten, sanften und forschenden Blick begleiten. Und wenn meine Gesichtszüge durch zu viel Leid und zu harte Arbeit hässlich und zerstört sind, wird sich mein ganzes Seelenleben immer noch in meine Augen zurückziehen können und alle Überreste werden sich in meinen Augen sammeln.

Und so weiter und so fort.

Das ist natürlich eine Stimmung von vielen, die man unter diesen neuen Umständen von sich kennenlernt. Aber es ist auch ein Teil von mir, eine meiner Möglichkeiten. Ein Teil von mir, der immer mehr den Ton angibt. Aber übrigens: Ein Mensch ist nur ein Mensch. Schon jetzt trainiere ich mein Herz darin, dass ich trotzdem weitermachen werde, wenn ich von denjenigen getrennt bin, ohne die ich nicht leben zu können glaube. Ich löse mich in jedem Augenblick äußerlich immer mehr von ihnen, indem ich mich immer stärker auf ein inneres gemeinsames Weiterleben und Verbundenbleiben konzentriere, auch wenn ich noch so sehr von den anderen getrennt bin. Aber zugleich: Wenn ich so Hand in Hand mit ihm am Kai entlangspaziere, wo es gestern Abend herbstlich und stürmisch war, oder wenn ich mich in seinem kleinen Zimmer an seinen herzlichen und gutmütigen Gesten erwärme, dann beschleicht mich doch wieder die äußerst menschliche Hoffnung und der Wunsch: Warum können wir nicht doch zusammenbleiben? Alles andere spielt keine Rolle, wenn wir nur zusammenbleiben können, ich will ihn nicht verlassen. Aber manchmal denke ich mir auch: Es ist womöglich noch leichter, aus der Ferne für jemanden zu beten, als ihn an seiner Seite leiden zu sehen.

Direkte Verbindungswege von Mensch zu Mensch führen in dieser wild durcheinandergewirbelten Welt nur über das Innere. Äußerlich wird man auseinandergerissen und die Wege zueinander sind so unter Trümmern verschüttet, dass man in vielen Fällen den Weg zueinander nie mehr finden kann. Nur innerlich sind noch ein unzerbrochener Kontakt und ein gemeinsames Weiterleben möglich, und bleibt nicht immer die Hoffnung, dass man sich auf der Erde doch noch irgendwann wiedertrifft?

Ich weiß natürlich nicht, wie es mir gehen wird, wenn ich tatsächlich vor der Tatsache stehe, dass ich ihn verlassen muss. Ich habe noch immer seine Stimme vom Telefonat heute Morgen im Ohr und heute Abend werde ich mit ihm zusammen an einem Tisch essen, und morgen früh gehen wir spazieren und dann essen wir zusammen bei Liesl und Werner und am Nachmittag musizieren wir. Er ist immer noch da. Und in meinem tiefsten Innern glaube ich vielleicht noch nicht einmal daran, dass ich ihn und auch die anderen verlassen muss. Ein Mensch ist schließlich nur ein Mensch. In dieser neuen Situation wird man sich selbst erst einmal ganz neu kennenlernen müssen.

Viele werfen mir Gleichgültigkeit und Passivität vor und sagen, dass ich einfach nur kapituliere. Und sie sagen, jeder, der ihren Fängen entgehen könne, müsse es versuchen, das sei Pflicht. Und ich müsse etwas für mich selbst tun. Aber das ist eine Rechnung, die nicht aufgeht. Im Moment kümmern sich alle vor allem um sich selbst und schauen, wie sie darum herumkommen, und doch müssen viele, sehr viele sogar gehen. Und das Verrückte ist: Ich fühle mich nicht in ihren Fängen, weder wenn ich bleibe noch wenn ich abtransportiert werde. Ich finde das alles so klischeehaft und primitiv, ich kann dieser Argumentation überhaupt nicht mehr folgen, ich fühle mich in niemandes Fängen, ich fühle mich nur in Gottes Armen, um es einmal bildhaft überhöht auszudrücken, und ob das jetzt hier an diesem furchtbar lieb gewonnenen und vertrauten Schreibtisch ist oder nächsten Monat in einem kargen Raum im Judenviertel oder vielleicht in einem Arbeitslager unter SS-Bewachung, ich glaube, ich werde mich immer in Gottes Armen fühlen. Man wird mich vielleicht körperlich zugrunde richten können, aber mir weiter nichts anhaben können. Und ich werde vielleicht der Verzweiflung und Entbehrungen zum Opfer fallen, die ich mir in meinen abstrusesten Fantasien nicht hätte vorstellen können. Und doch ist all dies äußerst belanglos, gemessen an der unermesslichen Weite des Vertrauens in Gott und der inneren Erlebnisfähigkeit. Möglicherweise unterschätze ich das alles. Jeden Tag lebe ich mit all den harten Eventualitäten, die für meine Wenigkeit jederzeit Wirklichkeit werden können und die für viele, für viel zu viele schon zur Wirklichkeit geworden sind. Ich lege mir bis ins kleinste Detail über alles Rechenschaft ab, und ich glaube, dass ich bei meinen inneren «Auseinandersetzungen» doch mit beiden Füßen auf dem härtesten Boden der härtesten Realität bleibe. Und meine Akzeptanz ist weder Resignation noch Willenlosigkeit. Es bleibt immer noch Raum für die elementare moralische Entrüstung über ein Regime, das so mit Menschen umspringt. Aber die Ereignisse, die uns überrollen, sind zu groß und zu dämonisch geworden, als dass man darauf noch mit persönlichem Zorn und Verbitterung reagieren könnte. Das erscheint mir so kindisch und wäre diesem «schicksalhaften» Ereignis nicht angemessen.

Die Leute regen sich oft darüber auf, wenn ich sage: «Es ist doch nicht entscheidend, ob ich gehe oder ein anderer, die Hauptsache ist doch, dass so viele Tausende gehen müssen?» Und es ist keineswegs so, dass ich mit einem gelassenen Lächeln dem Untergang geradeheraus in die Arme laufen möchte, so ist es auch wieder nicht. Es ist ein Gefühl des Unabwendbaren und eine Akzeptanz des Unabwendbaren in dem Wissen, dass uns letztendlich nichts genommen werden kann. Ich will nicht aus einer Art Masochismus heraus unbedingt mitgehen und von meiner Existenzgrundlage der letzten Jahre weggerissen werden, aber ich weiß nicht einmal, ob ich mich gut fühlen würde, wenn ich von demjenigen verschont bliebe, was so viele erleiden müssen. Man sagt mir: «Jemand wie du ist dazu verpflichtet, sich in Sicherheit zu bringen, du hast im Leben später noch so viel zu tun, du hast noch so viel zu geben.» Alles, was ich zu geben oder nicht zu geben habe, ich werde es geben können, ganz egal, wo ich bin, ob hier im Freundeskreis oder irgendwo anders in einem Konzentrationslager. Es ist eine seltsame Selbstüberschätzung, sich selbst zu wertvoll zu finden, um ein «Massenschicksal» mit anderen gemeinsam zu erleiden. Und wenn Gott meint, dass mir noch viel zu tun bleibt, nun, dann werde ich das auch noch tun, nachdem ich alles durchgestanden habe, was andere auch durchstehen können. Und ob ich ein wertvoller Mensch bin, wird sich erst zeigen, je nachdem, wie ich mich unter den veränderten Umständen verhalte. Selbst wenn ich es nicht überlebe, das Wie meines Sterbens wird entscheidend sein für die Frage, wer ich bin. Es geht nicht mehr darum, sich um jeden Preis aus einer bestimmten Situation herauszuhalten, sondern darum, wie man sich in welcher Situation auch immer verhält und weiterlebt. Die Dinge, die sinnvollerweise zu tun sind, werde ich auch tun. Meine Nieren schweben immer noch und meine Blase ist nicht koscher und darum werde ich mir ein Attest ausstellen lassen, wenn ich eines bekommen kann. Man rät mir auch dazu, mich um einen Scheinposten beim Judenrat[21] zu bemühen. Sie haben letzte Woche mit einer Genehmigung 180 Menschen eingestellt und seither drängeln sich dort die Verzweifelten in Scharen. Wie ein Stück Treibholz auf dem unendlichen Ozean nach einem Schiffbruch, an dem sich noch so viele wie möglich festklammern wollen. Aber diesbezüglich etwas zu unternehmen finde ich sinnlos und unlogisch. Und es ist auch nicht meine Art, gute Beziehungen auszunutzen. Übrigens scheint dort ziemlich intrigiert zu werden und die Verbitterung gegen dieses merkwürdige Vermittlungsorgan wächst von Stunde zu Stunde. Und außerdem werden sie früher oder später sowieso auch an die Reihe kommen. Aber bis dahin könnten die Engländer schon gelandet sein.[22] Das sagen zumindest diejenigen, die noch eine politische Hoffnung haben. Ich glaube, man sollte jegliche Erwartung an die Außenwelt aufgeben und nicht damit anfangen, Berechnungen über die Dauer und so weiter anzustellen.

Und jetzt werde ich den Tisch decken. Gott sei Dank hat schon wieder ein Schüler telefonisch abgesagt, sodass der ganze Nachmittag mir gehört, und nach 8 gehört der Abend auch wieder mir. Ich hoffe, dass ich in Schubarts Buch[23] und mit Jung vorankomme. Und dann muss ich zusehen, dass ich für die aufgeregte Leonie in ihrem Brief den richtigen Ton finde, den ich an bestimmten Stellen ganz rührend finde, aber an anderen unerträglich übertrieben und – sagen wir mal – unkünstlerisch und lärmig. Auch wenn sie in ihren Aufzeichnungen für S. schreibt, dass sie die wahre Ruhe in sich entdeckt habe, die sie ganz großschreibe, klingt das in meinen Ohren so lärmig. Wir müssen alle unsere großen Worte wieder vergessen, beginnend bei Gott und endend mit dem Tod, und wir müssen wieder so einfach wie reines Quellwasser werden. Und vor allem etwas wortloser. Aber ja, wenn sich in ihr nun mal der Prophet ein wenig regt?

Sonntagmorgengebet [12. Juli 1942].

Es sind beängstigende Zeiten, mein Gott. Heute Nacht lag ich zum ersten Mal mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln und viele Bilder menschlichen Leidens zogen an mir vorbei. Ich werde dir eines versprechen, Gott, aber nur eine Kleinigkeit: Ich werde meine Sorgen um die Zukunft nicht wie beschwerende Gewichte an die Gegenwart hängen, aber das erfordert ein gewisses Maß an Übung. Jetzt ist jeder Tag an sich schon schwer genug.[24] Ich werde dir helfen, Gott, dass du nicht in mir zugrunde gehst, aber ich kann im Voraus für nichts garantieren. Aber eines wird mir immer klarer: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst. Und das ist das Einzige, was wir in dieser Zeit bewahren können, und auch das Einzige, auf das es ankommt: ein kleines Stück von dir in uns selbst, Gott. Und vielleicht können wir auch mithelfen, dich in den geplagten Herzen anderer zutage zu fördern. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst du nicht viel ändern zu können, sie sind nun einmal auch Teil dieses Lebens. Ich ziehe dich auch nicht zur Rechenschaft, du kannst uns später dafür zur Rechenschaft ziehen. Und fast mit jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und dass wir die Bleibe in uns, in der du wohnst, bis zum Ende verteidigen müssen. Es gibt Menschen, das ist wirklich wahr, die noch im letzten Moment Staubsauger in Sicherheit bringen und Silbergabeln und Silberlöffel statt dich, mein Gott. Und es gibt Menschen, die ihren Körper in Sicherheit bringen wollen, der aber nur noch ein Gehäuse für tausend Ängste und Verbitterungen ist. Und sie sagen: Mich werden sie nicht in ihre Fänge bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Fängen ist, wenn man in deinen Armen liegt. Ich werde allmählich schon wieder ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir. Ich werde in naher Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise daran hindern, vor mir zu fliehen. Du wirst wohl auch noch karge Zeiten in mir erleben, mein Gott, in denen du nicht so stark durch mein Vertrauen genährt wirst, aber glaube mir, ich werde mich weiterhin für dich einsetzen und dir treu bleiben und dich nicht aus meinem Revier verjagen.

Für das große, heroische Leiden habe ich genug Kraft, mein Gott, aber es sind mehr die tausend kleinen Alltagssorgen, die einen manchmal plötzlich wie stechendes Ungeziefer befallen. Na ja, vorläufig kratze ich mich einfach ein bisschen und sage mir jeden Tag aufs Neue: Für den heutigen Tag ist noch gesorgt, die schützenden Wände eines gastfreundlichen Zuhauses umhüllen meine Schultern noch wie ein oft getragenes, vertrautes Kleidungsstück, für heute ist noch genügend Essen da und das Bett mit den weißen Laken und den warmen Decken wartet heute Nacht auf mich, also darf ich heute kein bisschen Energie an die eigenen belanglosen materiellen Sorgen verschwenden. Nutze und schätze jede einzelne Minute dieses Tages, koste sie aus und mache den Tag zu einem fruchtbaren Tag, zu einem weiteren starken Stein im Fundament, auf das unsere zukünftigen kargen und beängstigenden Tage sich noch ein wenig stützen können.

Der Jasmin hinter dem Haus ist nun durch den Regen und die Stürme der letzten Tage völlig verwüstet, die weißen Blüten treiben verstreut in den schmutzigen, schwarzen Pfützen auf dem niedrigen Garagendach. Aber irgendwo in mir blüht dieser Jasmin ungestört weiter, genauso üppig und zart, wie er immer geblüht hat. Und er verbreitet seine Düfte in der Bleibe, in der du wohnst, mein Gott. Du siehst, ich sorge gut für dich. Ich bringe dir nicht nur meine Tränen und ängstlichen Vorahnungen dar, ich bringe dir an diesem stürmischen, grauen Sonntagmorgen sogar duftenden Jasmin. Und ich werde dir alle Blumen bringen, denen ich auf meinem Weg begegne, mein Gott, und das sind wahrlich viele. Du sollst es wirklich so gut wie möglich bei mir haben. Um nur einmal ein beliebiges Beispiel zu nennen: Wenn ich in einer engen Zelle eingesperrt wäre und eine Wolke zöge am kleinen Gitterfenster vorbei, brächte ich dir diese Wolke dar, mein Gott, zumindest wenn ich die Kraft dazu hätte. Ich kann im Voraus für nichts garantieren, aber die Absichten sind die besten, wie du siehst.

Und jetzt werde ich mich diesem Tag widmen. Ich werde heute vielen Menschen begegnen und die schlimmen Gerüchte und Bedrohungen werden mich wieder bestürmen wie viele feindliche Soldaten eine uneinnehmbare Festung.

14. Juli [1942], Dienstagabend.

Bevor seine Briefe verblassen, schreibe ich sie ab, und dabei nehme ich gewissermaßen jeden Brief einzeln in die Hand:

«Es ist 9.55, ich habe wirklich gerade das Telephon[25] in die Hand genommen, aber statt des wohlvertrauten, wohllautenden Getüte ist eine düstere Stille darin! Das ist traurig und ich bin auch tottraurig: es ist in mir als würde ich all das Leid, all das Weh, all die Angst der Tausenden mitfühlen und tragen! Ich hätte gerne Deine liebe, zarte, sonore Stimme noch einmal gehört, sie ist mir so unendlich vertraut und ich hab noch Deine mich sehr rührende Tagebuchaufzeichnung im Sinn! Du, es ist mir schwer ums Herz und doch ist alles so weich und weit voll Liebesfülle und» (ich werde ihn morgen fragen, das kann ich nicht lesen).

Gute Nacht.

Der arische Stafetten-Dienst[26] hat bisher trotz aller Razzien hervorragend funktioniert.

Ich habe ihm heute Morgen unter anderem geschrieben: «Meine Ohrmuschel ist wüst und leer ohne Deine vibrierende und zärtliche Stimme am Morgen.» Und dann schrieb ich noch:

«Ich trage Dich in mir herum wie mein ungeborenes Baby, nur nicht im Bauch trage ich Dich sondern in meinem Herzen, das ist auch ein anständigerer Platz.»

Jeder Tag besteht aus hundert Tagen und an jedem dieser Tage wird man 10 Jahre älter, berechne einfach selbst.

Dantes «Inferno» ist im Vergleich dazu eine vergnügliche Operette.

Es gelang ihm, mich heute Nachmittag von einem Telefon aus der Nachbarschaft zu erreichen, und er sagte unter anderem: «Wir müssen heute abend schwer beten.» Und am Nachmittag gab ich Gera in aller Eile einen Notizzettel mit, auf den ich gekritzelt hatte: «Jede Minute müssen wir jetzt beten, nicht nur heute abend. Es ist ob etwas in mir sich verdichtet hat zu einem ständigen Gebet, es betet immer weiter in mir, auch wenn ich lache oder Witze mache. Und auch: es ist so eine große Zuversicht in mir.»

Und nach Hause schrieb ich heute: «Schnell ein Gruß von Jaap und mir und die Nachricht, dass wir den heutigen Tag überlebt haben, was man durchaus als Glücksfall bezeichnen könnte. Und ich sage es euch zum x-ten Mal: Um mich müsst ihr euch niemals Sorgen machen, egal in welche Situation ich gerate. Ich habe nun einmal die natürliche Neigung zu einem grenzenlosen Gottvertrauen, durch das ich mich jeder Situation gewachsen fühle.»

Die Autobrille des kleinen Weyl.

Und trotzdem bin ich heute Abend noch schnell zu ihm gerannt. Als ob wir uns seit 10 Jahren nicht mehr gesehen hätten. Wie 2 junge, verrückt gewordene Hunde sprangen wir umeinander herum. Das Gesicht war so durchlitten, wieder fast asketisch und gleichzeitig so jungenhaft. Ich würde gerne bei ihm bleiben, ja, das würde ich gerne.

Man darf nichts mehr wollen. Irgendwie hege ich immer noch eine große Zuversicht in mir. Nicht für mich persönlich, nicht das Gefühl, dass für mich alles gut ausgeht, sondern nur so ein Gefühl der Ergebung. Heute Nacht hatte ich im Traum plötzlich das Gefühl, ich sei eine Garnrolle, die immer mehr abgespult wird. Und das symbolisierte sozusagen die immer weiter reichende Geste, mit der ich mich allem, was noch kommen wird, hingebe.

Warum können die Menschen einfach nicht verstehen, dass Akzeptanz eine elementare moralische Entrüstung und einen prinzipiellen Kampfgeist nicht ausschließt?

Jeder muss nun mal nach dem Lebensstil leben, der zu ihm passt. Ich kann nicht aktiv handeln, um mich quasi selbst zu retten, es erscheint mir so sinnlos und macht mich unruhig und unglücklich. Dieses Bewerbungsschreiben an den Judenrat auf Jaaps dringenden Rat brachte mich heute kurz aus meinem heiteren und doch auch todernsten Gleichgewicht. Als ob das irgendwie eine unwürdige Handlung wäre. Dieses Drängeln um das eine kleine Stück Treibholz auf dem endlosen Ozean nach einem Schiffbruch. Und dann einfach retten, was zu retten ist, und sich gegenseitig wegstoßen und in den Tod durch Ertrinken treiben, so unwürdig alles, und das Gedränge mag ich auch nicht. Ich werde zu den Menschen gehören, die es vorziehen, sich noch ein wenig auf dem Rücken mit dem Blick zum Himmel gerichtet auf dem Ozean treiben zu lassen, und die dann gelassen und ergeben versinken. Ich kann einfach nicht anders. Meine Kämpfe werden im Inneren mit meinen eigenen Dämonen ausgefochten, aber inmitten Tausender angsterfüllter Menschen gegen wild gewordene und zugleich eiskalte Fanatiker zu kämpfen, die unseren Untergang wollen, nein, das liegt mir nun einmal nicht. Ich habe auch keine Angst, ich weiß nicht, warum, ich bin so gelassen, manchmal kommt es mir vor, als stünde ich auf den Zinnen des Palastes der Geschichte und blickte über entfernte Gebiete. Das Stück Geschichte, das wir jetzt erleben, kann ich auch sehr gut tragen, ohne darunter zusammenzubrechen. Ich weiß, was alles vor sich geht, und trotzdem behalte ich einen klaren Kopf. Aber manchmal ist es, als würde eine Ascheschicht über mein Herz gestreut. Und manchmal scheint es mir auch, als ob vor meinen Augen sein Gesicht verwelkt und vergeht, seine Gesichtszüge sind so grau, dass es ist, als würden Jahrhunderte an ihnen abgleiten und in den Abgrund stürzen, alles zerfällt vor meinen Augen und mein Herz lässt schon alles los. Es sind nur flüchtige Momente, danach finde ich alles wieder und mein Kopf ist wieder so klar und ich kann dieses Stück Geschichte ganz und gar tragen, ohne darunter zusammenzubrechen.

Und wenn man einmal begonnen hat, mit Gott zu wandern, ja, dann wandert man einfach immer weiter, das ganze Leben ist dann eine einzige Wanderschaft, so ein eigenartiges Gefühl.

Ich verstehe ein wenig von der Geschichte und den Menschen.

Ich schreibe jetzt nicht gerne, es ist, als verblasste jedes Wort sofort und alterte unter den Händen und bäte um ein weiteres Wort, das noch lange nicht geboren wurde.

Wenn ich vieles von dem, was ich denke und fühle und was mir manchmal blitzartig über das Leben, die Menschen und Gott klar wird, aufschreiben könnte, dann könnte daraus etwas sehr Schönes werden, dessen bin ich mir sicher. Ich werde weiterhin immer wieder Geduld haben und alles in mir reifen lassen.

Man geht viel zu weit in seinen Ängsten um diesen unglücklichen Körper. Und der Geist, der vergessene Geist verschrumpelt irgendwo in einer Ecke. Man lebt falsch, man verhält sich nicht würdig. Man hat zu wenig historisches Bewusstsein. Man kann auch mit historischem Bewusstsein zugrunde gehen. Ich hasse niemanden. Ich bin nicht verbittert. Sobald sich diese allgemeine Menschenliebe in einem entfaltet, wächst sie ins Unermessliche.

Viele würden mich für eine wirklichkeitsfremde Närrin halten, wenn sie wüssten, wie ich fühle und denke. Und dennoch lebe ich mit all den Tatsachen, die jeder Tag mit sich bringt. Der westliche Mensch akzeptiert das «Leiden» nicht als Teil des Lebens. Und deshalb kann er niemals positive Kräfte aus dem Leiden schöpfen. Ich werde wieder einmal die paar Sätze aus dem Brief von Rathenau suchen, die ich früher schon einmal abgeschrieben habe. Da sind sie ja schon. Das werde ich später vermissen: Ich brauche nur eine Hand auszustrecken und schon finde ich die Worte, die Fragmente, mit denen sich mein Geist in diesem Moment gerne nähren möchte. Aber ich muss alles in mir tragen. Man muss auch ohne Bücher und ohne alles leben können. Es wird immer und überall ein kleines Stückchen Himmel zu sehen sein, und es wird immer so viel Platz um mich herum sein, dass sich meine beiden Hände zum Gebet falten können.

Hier ist es:

«Jede Gewalt in der Welt wirkt fort, wie jede Tat. Wir sind dazu da, um vom Leiden der Welt etwas auf uns zu nehmen, indem wir unsere Brust darbieten, nicht es zu vermehren, indem wir Gewalt tun. Ich weiß, daß Sie leiden und fühle Ihr Leiden mit Ihnen. Seien Sie gütig gegen dies Leiden, es wird gegen Sie gütig sein. Durch Wünsche mehrt es sich und durch Unwillen; durch Milde schläft es ein wie ein Kind.»[27]

Es ist jetzt halb 12 Uhr nachts. Weyl schnallt nun seinen Rucksack um, der viel zu schwer für seinen schmächtigen Rücken ist, und wird zum Hauptbahnhof laufen.[28] Ich gehe mit ihm mit. Man sollte eigentlich heute Nacht kein Auge zumachen und nur noch beten.

Mittwochmorgen [15. Juli 1942].

Anscheinend habe ich gestern Nacht doch noch nicht gut genug gebetet. Erst als ich heute Morgen seinen kurzen Brief gelesen hatte, brach es aus mir heraus und überwältigte mich. Ich war mit dem Frühstückstisch beschäftigt, und plötzlich musste ich innehalten und mitten im Zimmer meine Hände falten und meinen Kopf tief neigen, und Tränen, die sich schon lange in mir aufgestaut hatten, überströmten mein Herz; es steckte so viel Liebe und so viel Mitleid und so viel Sanftheit und auch so viel Kraft in mir, dass es ein bisschen helfen können muss. Als ich seinen kurzen Brief gelesen hatte, war ich kurz von tiefstem, äußerstem Ernst erfüllt.

Es mag seltsam klingen, aber diese wenigen blassen, unordentlichen Bleistiftkritzeleien sind für mich der erste echte Liebesbrief. Ich habe Koffer voll sogenannter Liebesbriefe und Männer haben mir schon so viele Worte geschrieben, leidenschaftliche und zärtliche, beschwörende und begehrende, viele Worte, mit denen sie versuchten, sich und mich zu wärmen, und zuweilen war es nur ein Strohfeuer.

Aber diese Worte von ihm, gestern: «Du, es ist mir schwer ums Herz», und heute Morgen: «Liebes, ich will weiter beten!» Das sind die kostbarsten Geschenke, die meinem verwöhnten Herz je dargebracht wurden.

Malte Laurids schreibt irgendwo:

«Und ich will es jetzt noch einmal schreiben; denn so habe ich es länger, als wenn ich es lese, und jedes Wort dauert an und hat Zeit zu verhallen.»[29]

Ich nehme nun jedes seiner Worte in die Hand und lege sie an mein Herz, wo sie dann bleiben werden:

Dienstagabend.

Es ist halb elf. Ich habe eben lange vor meinem Sessel gekniet und ganz innig und inbrünstig stille gebetet. Schutz und Hilfe erfleht für all die angsterfüllten, innerlich unvorbereiteten armen Menschen, die jetzt die letzten Stunden in ihrer Behausung zubringen. Ach und wie ich das alles mitfühlen kann, mein Herz ist so schwer und so voll Liebe, ich möchte sie alle damit umfassen und sie trösten wie einen seine Mutter tröstet!

Es war so schön, dich heute abend plötzlich zu sehen! Du bist mir doch sehr ans Herz gewachsen und ich hatte gerade heute abend Sehnsucht nach Dir! Hab vergessen Dir die gestern abend beim Chokolademann für Dich gekaufte Pfefferminz zu geben. Liebes, ich will weiter beten!

abends.

Nein, ich glaube nicht, dass ich zugrunde gehen werde. Heute Nachmittag dieser kurze Moment großer Verzweiflung und großen Kummers, nicht wegen allem, was geschieht, sondern einfach wegen mir selbst; der Gedanke, ihn alleinlassen zu müssen, nicht einmal Kummer um die Sehnsucht, die ich nach ihm haben werde, sondern Kummer um die Sehnsucht, die er nach mir haben wird. Noch vor ein paar Tagen dachte ich, es würde mir nichts mehr ausmachen, wenn mein Aufruf kommen sollte, weil ich alles schon im Voraus durchlitten und durchlebt hätte, aber heute Nachmittag schien mir plötzlich, als werde mich alles doch viel mehr erschüttern, als dies schon der Fall war. Das war sehr schwer. Ich bin dir für einen Moment untreu geworden, Gott, aber doch nicht ganz. Es ist gut, solche Momente der Verzweiflung und des vorübergehenden Erlöschens durchzumachen, eine andauernde Gelassenheit wäre fast übermenschlich. Aber jetzt weiß ich wieder, dass ich jede Verzweiflung überwinden kann. Ich hätte mir heute Nachmittag nicht vorstellen können, dass ich heute Abend wieder so ruhig und konzentriert an diesem Schreibtisch sitzen könnte. Alles war für einen Moment in mir vor Verzweiflung erloschen und viele Zusammenhänge waren abhandengekommen und da war so ein ungeheuer großer Kummer. Und dann wieder die tausend kleinen Sorgen, schmerzende Füße nach einer halben Stunde Gehen und Kopfschmerzen, die so stark zunehmen können, dass sie einen von innen heraus erdrücken können, und so weiter. Nun ist wieder alles vorbei. Ich weiß, dass ich noch öfters erschöpft und wie zerschmettert auf Gottes Erde liegen werde. Aber ich glaube auch, dass ich sehr zäh bin und immer wieder werde aufstehen können. Obschon ich heute Nachmittag einen Abhärtungs- und Abstumpfungsprozess durchmachte und erlebte, was extreme Umstände über Jahre hinweg mit einem machen können. Aber jetzt ist mein Kopf wieder klarer denn je. Ich gehe heute früh ins Bett und werde morgen ganz ausgeruht sein. Ich muss morgen ausführlich mit ihm über unser Schicksal und über unsere Einstellung sprechen. Jawohl!

Die Rilke-Briefe[30] von 1907–1914 und von 1914–1921 wurden mir gebracht, ich hoffe, sie noch zu Ende lesen zu können. Und Schubart auch. Jopie[31] hat sie mitgebracht. Und ihren Pullover aus reiner Schafwolle, der gegen Regen und Kälte schützt, riss sie sich wie ein zweiter Sankt Martin vom Leib. Das ist schon mal ein Kleidungsstück für die Reise. Ob ich zwischen meinen Decken wohl doch diese beiden Bände von «Der Idiot» und meine kleinen Langenscheidt-Wörterbücher[32] mitnehmen kann? Ich würde gerne etwas weniger Essen mitnehmen, wenn diese Bücher dafür reinpassen würden. Weniger Decken geht nicht, weil ich sowieso schon fast erfriere. Hans’ Rucksack lag heute Nachmittag im Flur, ich habe ihn heimlich anprobiert, es war nicht allzu viel drin, aber ehrlich gesagt wog mir das Ding schon so zu viel.

Wie auch immer, ich bin ohnehin in Gottes Hand. Mein Körper mit all seinen Gebrechen auch. Wenn ich einmal niedergeschlagen und bestürzt bin, muss ich doch irgendwo im kleinsten Winkel meiner Seele wissen, dass ich wieder aufstehen werde, sonst wäre ich verloren.

Ich gehe einen Weg und werde auf diesem Weg geführt. Ich fange mich immer wieder und weiß dann besser denn je, wie ich handeln muss. Nicht, wie ich handeln muss, sondern dass ich es bei jeder Gelegenheit wissen werde.

«Liebes, ich will weiter beten.»

Ich liebe ihn so sehr.

Und wieder einmal frage ich mich heute: Wäre es nicht noch einfacher, für jemanden aus der Ferne zu beten und innerlich mit ihm weiterzuleben, als ihn an seiner Seite leiden zu sehen?

Es kommt, wie es kommt, meine einzige Gefahr ist, dass mein Herz eines Tages aus Liebe zu ihm zerbrechen wird. Jetzt möchte ich noch ein wenig lesen.

Wenn ich bete, bete ich nie für mich selbst, sondern immer für andere, oder ich führe einen irrsinnigen, kindischen oder todernsten Dialog mit dem Allertiefsten in mir, das ich der Einfachheit halber Gott nenne. Für sich selbst um etwas zu bitten finde ich so kindisch, ich weiß auch nicht. Ich muss ihn morgen doch einmal fragen, ob er gelegentlich für sich selbst betet. Aber gut, wenn ich für ihn bete, bete ich doch eigentlich für mich selbst. Darum zu bitten, dass es jemand anderem gut gehen möge, finde ich genauso kindisch, man kann nur beten, dass der andere die Kraft haben wird, auch Schweres zu ertragen. Und wenn man für jemanden betet, schickt man ihm etwas von seiner eigenen Kraft.

Und das ist für viele das größte Leiden: die völlige innere Unvorbereitetheit, an der sie jetzt hier schon jämmerlich zugrunde gehen, noch bevor sie ein Arbeitslager gesehen haben. Diese Haltung macht unsere Katastrophe vollkommen. Wirklich, wirklich, damit verglichen ist Dantes Inferno eine leichte Operette. «Dies ist die Hölle», sagte er kürzlich ganz einfach und sachlich. Ab und zu ist mir, als wäre ein Heulen und Kreischen und Pfeifen um mich. Und der Himmel hängt so bedrohlich tief. Und doch steigt ab und zu wieder dieser leichte und tänzerische Humor in mir auf, der mich auch nie verlässt und der dennoch kein Galgenhumor ist, zumindest glaube ich das nicht. Ich bin im Laufe der Zeit fast unmerklich in diese Momente hineingewachsen, sodass ich nicht fassungslos darüber bin und mit einem klaren Blick auf die Dinge weiterleben kann. Es waren doch nicht nur «Literatur» und Schöngeisterei, was ich hier in den letzten Jahren an meinem Schreibtisch getrieben habe.

Und diese letzten anderthalb Jahre, sie könnten ein ganzes Leben voller Leid und Verderben aufwiegen. Sie sind mit mir verwachsen, diese anderthalb Jahre sind zu einem Teil von mir geworden und haben in dieser Zeit einen Vorrat in mir gebildet, von dem ich ein Leben lang zehren kann, ohne allzu viel Not zu leiden.

später.

Ein Satz aus einem Brief von Rilke:

«So kommt alles und kommt, und man hat nur mit dem ganzen Herzen dazusein.»[33]

später.

Ich möchte mir etwas für meine schwersten Momente merken und es nie vergessen: Dostojewski verbrachte 4 Jahre im Bagno in Sibirien mit der Bibel als einziger Lektüre. Er durfte nie allein sein und die Hygiene war auch nicht so toll.[34]

Es ist Viertel vor 11. Morgen werde ich den ganzen Tag bei ihm sein, das ist ein kostbares Geschenk in dieser Zeit: Ein ganzer Tag bei einem geliebten Mann, es ist fast unbescheiden viel für einen einzelnen Menschen. Gute Nacht. Ob er jetzt wieder vor seinem Stuhl kniet? Wenn ich mir dieses Bild vergegenwärtige, dieser kniende, gute Mann in seinem kleinen Zimmer, dann quillt mir das Herz über, und mit diesem Bild in mir kann es mir nie mehr schlecht gehen.

«Man muss nicht meinen, dass man in einem solchen Lager viele ‹seelische Vorteile› erwirbt», sagte Werner heute, «man wird eine ‹harte Rinde› um sich herum bekommen, das ist alles.»

Eine «harte Rinde» passt nicht zu mir, ich werde wehrlos und offen für alles bleiben. Mein Gott, wie wird es mir ergehen? Nein, ich werde dich nicht im Voraus fragen, jeden Moment werde ich so, wie er kommt, tragen, selbst den unvorstellbarsten, und wenn du in mir fällst, werde ich dich wieder hochheben. Ich hoffe, es mit dir zusammen durchzustehen. Nochmals, gute Nacht.

[Donnerstag] 16. Juli [1942], halb 10 abends.

Hast du doch andere Pläne mit mir, Gott? Kann ich das annehmen? Ich bin aber weiterhin bereit. Morgen gehe ich in die Hölle, ich muss mich gut ausruhen, um die Arbeit dort bewältigen zu können. Von diesem einen heutigen Tag werde ich später ein ganzes Jahr lang erzählen können. Jaap und Loopuit,[35] der alte Freund, der sagte: «Ich lasse sicher nicht zu, dass Etty H. nach D[eutsch]land verschleppt wird.» Ich sagte zu Jaap, nachdem Leo de Wolff[36] uns wieder einmal einige Stunden des Wartens erspart hatte: «Ich werde später sehr viele gute Taten für andere Menschen vollbringen müssen, um das alles wiedergutzumachen. Es geht nicht mit rechten Dingen zu in unserer Gesellschaft, es ist nicht gerecht.» Liesl sagte sehr geistreich: «Dann bist Du eben das Opfer der Protektion.»

Und ich habe doch noch dort im Korridor in der Beengtheit und im Gedränge ein paar Rilke-Briefe gelesen, ich mache trotzdem auf meine Art und Weise weiter. Die Todesangst auf diesen Gesichtern. All diese Gesichter, mein Gott, diese Gesichter. Ich gehe nun ins Bett. Ich hoffe, dass ich dort in diesem Irrenhaus ein Ruhepol sein kann. Ich werde früh aufstehen, damit ich mich im Voraus darauf konzentrieren kann. Gott, was hast du mit mir vor? Ich konnte diesen Aufruf nicht einmal zu mir durchdringen lassen, nach ein paar Stunden war ich ihn auch schon wieder los. Wie konnte das so schnell geschehen? Er sagte: «Ich habe heute Nachmittag dein Tagebuch gelesen, und als ich es gelesen hatte, wusste ich: Dir wird nichts passieren.»

Ich muss etwas für Liesl und Werner tun, ich muss. Nicht überstürzt. Gefasst und konzentriert, aber schnell Loopuit einen Brief in die Tasche stecken.

Es ist ein Wunder geschehen, und auch das muss ich akzeptieren, muss ich ertragen können.

Sie sind sehr unergründlich, deine Wege, mein Gott.

19. Juli [1942], Sonntagabend, 10 vor 10.

Ich hätte viel mit dir zu besprechen, mein Gott, aber ich muss ins Bett. Ich bin jetzt wie betäubt, und wenn ich um 10 Uhr nicht im Bett liege, werde ich morgen einen solchen Tag nicht überstehen können.

Und übrigens: Ich werde zuerst eine ganz neue Sprache finden müssen, um über all das zu sprechen, was mein Herz in den letzten Tagen bewegt. Ich bin noch lange nicht fertig mit dir, mein Gott, und mit dieser Welt. Ich möchte gerne noch sehr lange leben und ich werde alles durchstehen, was uns auferlegt wird. Diese letzten paar Tage, mein Gott, diese letzten paar Tage!

Und diese Nacht. Er atmet genauso, wenn er läuft. Und ich sagte unter der Decke: «Lass uns gemeinsam beten.» Nein, ich kann nicht darüber sprechen, was alles in den letzten Tagen und gestern Nacht los war.

Und doch bin ich eine Auserwählte von dir, mein Gott, dass du mich so intensiv an allem in diesem Leben teilhaben lässt und dass du mir so viel Kraft verliehen hast, um alles tragen zu können. Und dass mein Herz auch so große und starke Gefühle ertragen kann. Als ich gestern Nacht um 2 Uhr endlich in Dickys Zimmer hinaufging und fast nackt mitten im Zimmer niederkniete, völlig «aufgelöst», sagte ich plötzlich: «Ich habe doch heute wieder Großes erlebt, am Tag und in der Nacht, mein Gott, hab Dank, dass ich das alles tragen kann und dass du so wenig an mir vorübergehen lässt.»

Und jetzt muss ich ins Bett.

20. Juli [1942], Montagabend, halb 10.

Unbarmherzig, unbarmherzig! Aber umso barmherziger müssen wir innerlich sein, das ist doch das Einzige, was zählt.

Darauf lief mein Gebet heute früh hinaus:

Mein Gott, dieses Zeitalter ist zu hart für zerbrechliche Menschen wie mich. Ich weiß auch, dass danach wieder ein anderes Zeitalter kommt, das humaner sein wird. Ich möchte so gerne weiterleben, um die ganze Menschlichkeit, die ich trotz allem, was ich täglich erlebe, in mir bewahre, in dieses neue Zeitalter hinüberzuretten. Die einzige Möglichkeit, uns auf diese neue Zeit vorzubereiten, ist, sie jetzt schon in uns vorzubereiten. Irgendwie bin ich innerlich so leicht, ohne jegliche Verbitterung, und habe so viel Kraft und Liebe in mir. Ich möchte so gerne weiterleben, um dabei zu helfen, die neue Zeit vorzubereiten und um das Unzerstörbare in mir wohlbehalten in diese neue Zeit, die sicher kommen wird, hinüberzuretten, sie wächst schließlich jeden Tag in mir, das spüre ich doch?

So etwa lautete, glaube ich, das Gebet heute Morgen. Ich kniete ganz spontan auf der harten Kokosmatte im Badezimmer nieder und die Tränen strömten über mein Gesicht. Das Gebet hat mir, glaube ich, Kraft für den ganzen Tag verliehen.

Und jetzt werde ich noch eine kleine Novelle lesen. Ich werde meinen eigenen Lebensstil beibehalten, komme, was wolle, selbst wenn ich tausend Briefe am Tag von 10 Uhr morgens bis 7 Uhr abends tippe[37] und mit wund gelaufenen Füßen um 8 Uhr nach Hause komme, um dann noch zu essen. Ich werde immer eine Stunde für mich finden. Ich bleibe mir selbst ganz treu und werde weder resignieren noch mich zermürben lassen.

Ich wäre doch überhaupt nicht in der Lage, diese Arbeit durchzuhalten, wenn ich nicht jeden Tag aus der großen Ruhe und der Gelassenheit in mir Kraft schöpfen könnte?

Ja, mein Gott, ich bin dir sehr treu, durch dick und dünn, und ich werde nicht zugrunde gehen, ich glaube immer noch an den tieferen Sinn dieses Lebens und ich weiß, wie ich weiterleben muss, und es gibt so große Gewissheiten in mir und … und dir wird das unbegreiflich sein, aber ich finde das Leben so schön und ich bin so glücklich. Ist das nicht erstaunlich? Ich würde mich auch nicht trauen, dies jemandem so ausdrücklich zu sagen.

21. Juli [1942], Dienstagabend, 9 Uhr.

Heute Nachmittag auf meinem langen Heimweg, als mich die Sorgen plötzlich wieder überfielen und kein Ende zu nehmen schienen, sagte ich mir plötzlich: Wenn du schon behauptest, an Gott zu glauben, musst du auch konsequent sein, dann musst du dich ihm gänzlich anvertrauen und Vertrauen haben. Dann darfst du dir auch keine Sorgen um den morgigen Tag machen.[38]

Und als ich kurz mit ihm am Kai entlangging – ich danke dir, mein Gott, dass dies immer noch möglich ist; selbst wenn ich nur fünf Minuten am Tag bei ihm sein könnte, würde es sich immer noch lohnen, dass ich den ganzen Tag hart dafür gearbeitet hätte –, da sagte er: «O, die Sorgen, die man alle hat», und dann sagte ich ihm auch: «Wir müssen konsequent sein, wenn wir dieses Vertrauen erst einmal haben, dann müssen wir auch volles Vertrauen haben.»

Ich fühle mich wie der Aufbewahrungsort eines Stücks kostbaren Lebens mit all der damit verbundenen Verantwortung. Ich fühle mich verantwortlich für das schöne und große Lebensgefühl, das ich in mir habe, und ich muss versuchen, es durch diese Zeit hindurch unversehrt in eine bessere Zeit hinüberzuretten. Das ist das Einzige, was zählt. Ich bin mir dessen ständig bewusst. Und es gibt Momente, in denen ich glaube, ich müsse aufgeben oder ich breche sonst zusammen, aber immer wieder siegt das Verantwortungsgefühl, dass ich das Leben, das in mir steckt, auch wirklich am Leben erhalte. Jetzt werde ich noch ein paar Rilke-Briefe lesen und dann sehr früh ins Bett gehen. Was mein persönliches Leben betrifft, so geht es mir bis zum heutigen Tag doch noch so unendlich gut.

Und zwischen den tausend Anträgen, die ich heute in einer Umgebung, die halb Hölle, halb Irrenhaus ist, getippt habe, habe ich doch noch Folgendes von Rilke gelesen, es hat mich wieder genauso angesprochen, als hätte ich es in der Abgeschiedenheit dieses ruhigen Zimmers gelesen:

«… Aber ich habe wenigstens in mir die Gebärde entdeckt, mit der man Großes zu Großem stellt, nicht um das Schwere loszuwerden, das in allem Großen groß und in allem Unbegreiflichen unendlich ist: sondern um es wiederzufinden, immer an derselben erhabenen Stelle, an der es sein Leben weiterlebt, abgesehen von unserer verwirrten Trauer, über die es maßlos hinauswächst.»[39]

Und dann wollte ich noch etwas sagen: Ich glaube, dass ich allmählich die Einfachheit erlangt habe, nach der ich mich immer gesehnt habe.

[Mittwoch] 22. Juli [1942], 8 Uhr morgens.

Gott, gib mir Kraft, nicht nur geistige, sondern auch körperliche Kraft. Ich möchte es dir in einem schwachen Moment ehrlich eingestehen: Wenn ich dieses Haus verlassen muss, weiß ich mir keinen Rat. Aber ich möchte mir nicht einen Tag vorher Sorgen darüber machen. Nimm mir also diese Sorgen ab, denn wenn ich sie zu allem anderen auch noch tragen müsste, könnte ich doch überhaupt nicht mehr leben. Ich bin heute schon sehr müde, am ganzen Körper, und ich habe nicht viel Mut, mich der Arbeit dieses Tages zu stellen. Ich bin nicht so richtig von dieser Arbeit überzeugt, wenn sie noch lange dauerte, würde ich, glaube ich, ganz mürbe und resigniert. Dennoch bin ich dir dankbar dafür, dass du mich nicht an diesem ruhigen Schreibtisch hast sitzen lassen, sondern mich mitten in das Leiden und die Sorgen dieser Zeit gestellt hast. Es wäre keine Kunst, mit dir allein idyllisch in einem abgeschirmten Arbeitszimmer zu sitzen, sondern jetzt geht es darum, dass ich dich unversehrt mit mir trage und dass ich dir, komme, was wolle, treu bleibe, wie ich es dir immer versprochen habe. Wenn ich so durch die Straßen gehe, muss ich viel über deine Welt nachdenken, nachdenken kann man es eigentlich nicht nennen, es ist vielmehr ein Versuch, sie mit einem neuen Sinnesorgan zu ergründen. Es kommt mir häufig so vor, als könnte ich diese Zeit wie eine Epoche der Geschichte überblicken, deren Anfang und Ende ich schon sehen kann und die ich auch schon in das Ganze «einordnen» kann. Und hierfür bin ich so dankbar: dass ich nicht im Geringsten verbittert oder voller Hass bin, sondern dass so eine große Gelassenheit, die keine Resignation ist, in mir herrscht und dass ich auch eine Art Verständnis für diese Zeit habe, so eigenartig das auch klingen mag. Man muss diese Zeit genauso verstehen können, wie man die Menschen versteht, denn sie ist schließlich aus uns selbst entstanden. Und doch ist sie so, wie sie eben ist, und folglich muss sie auch verstanden werden können, so fassungslos man ihr ab und zu auch gegenübersteht.

Ich gehe in gewisser Hinsicht meinen eigenen inneren Weg, der immer einfacher und unkomplizierter wird, der aber mit Sanftmut und Zuversicht gepflastert ist. –

[Mittwochnachmittag 2 Uhr.

Mein Herz ist heute schon wieder mehrmals gestorben, aber es ist auch wieder auferstanden. Ich nehme in jeder einzelnen Minute Abschied und reiße mich von allem Äußerlichen los. Ich kappe die Seile, die mich noch festhalten, ich hole alles an Bord, von dem ich denke, dass ich es für die Reise mitnehmen sollte. Ich sitze jetzt an einer stillen Gracht, meine Beine baumeln über der steinernen Ufermauer, und ich frage mich, ob mein Herz nicht einmal so müde und abgenutzt sein wird, dass es nicht mehr wie ein freier Vogel dort hinfliegen wird, wo es hinmöchte.

Voormalige Stadstimmertuin.[40]

Fasset eure Seelen mit Geduld.[41] Jawohl. Jeder Mensch hat nun einmal seinen eigenen Rhythmus, das wird in Polen (eine Art Sammelbegriff für alles Unbekannte der Zukunft) genauso sein wie hier.][42]

23. Juli [1942], Donnerstagabend, 9 Uhr.

Meine roten und gelben Rosen sind ganz aufgegangen. Während ich dort in der Hölle war, haben sie hier ruhig weitergeblüht. Viele sagen: Wie kann man jetzt noch an Blumen denken?

Als ich gestern Abend mit der Blase am Fuß den langen Weg durch den Regen gegangen war, bin ich am Ende doch noch einmal ums Karree gegangen, um nach einem Blumenwagen zu suchen, und kam mit einem großen Rosenstrauß nach Hause. Und da stehen sie. Sie sind genauso real wie all das Elend, das ich an einem Tag erlebe. In einem einzigen Leben ist für viele Dinge Platz. Und ich habe so viel Platz, mein Gott.

Als ich heute durch diese überfüllten Korridore ging, verspürte ich plötzlich den Drang, mitten auf dem Steinfußboden inmitten all dieser Menschen niederzuknien. Die einzige menschenwürdige Gebärde, die uns Menschen in dieser Zeit noch geblieben ist: das Knien vor Gott.

Jeden Tag lerne ich etwas Neues über die Menschen und sehe auch immer deutlicher, dass Menschen einander nicht helfen können und dass man immer stärker auf die eigenen inneren Kräfte angewiesen ist.

«Der Sinn des Lebens ist nicht nur das Leben an sich», sagte er, als wir am Kai darüber sprachen, wie wichtig es sei, den Sinn des Lebens nicht zu verlieren.

«Es ist ein einziger großer Mist hier», entfährt es mir oft. Aber heute dachte ich plötzlich: Warum sollte ich das Wort «Mist» so oft verwenden? Es verbreitet sich auch in der Atmosphäre und macht es auch nicht schöner.

Das Deprimierendste ist zu merken, dass sich bei fast niemandem von denjenigen, mit denen ich arbeite, durch das Leiden dieser Zeit der innere Horizont erweitert. Sie leiden auch nicht wirklich. Sie hassen und sie sind in Bezug auf ihre eigene Wenigkeit optimistisch verblendet; sie intrigieren, sie sind immer noch ehrgeizig in ihrem armseligen Job, es ist ein großes, scheußliches Durcheinander und es gibt Momente, in denen ich meinen Kopf mutlos auf meine Schreibmaschine fallen lassen und sagen möchte: Ich kann so nicht mehr weitermachen. Aber es geht doch immer wieder weiter und ich lerne immer mehr über die Menschen.

Es ist nun 10 Uhr. Eigentlich müsste ich ins Bett. Aber ich würde noch so gerne ein wenig lesen. Mir geht es noch so fantastisch gut. Liesl, die tapfere, kleine Liesl, bleibt bis 3 Uhr morgens auf und näht Taschen für eine Fabrik[43] und Werner hat seit 60 Stunden seine Kleider nicht ausgezogen. Es sind in unserem Leben sehr seltsame Dinge passiert, Gott, gib uns allen Kraft. Und vor allem lass ihn zuerst wieder gesund werden und nimm ihn mir nicht weg. Heute plötzlich die Angst, dass ich ihn verlieren könnte. Mein Gott, ich habe dir versprochen, dir zu vertrauen, und ich habe meine Ängste um ihn wieder vertrieben. Am Samstagabend werde ich bei ihm sein. Ich kann nicht dankbar genug sein, dass so etwas noch möglich ist.

Dieser Tag war wieder sehr schwer, aber ich konnte ihn trotzdem ertragen, ich möchte jetzt noch etwas sehr Schönes sagen, ich weiß nicht, warum, etwas über diese Rosen oder über meine Liebe zu ihm. Ich werde noch ein paar Rilke-Briefe lesen und dann ins Bett gehen.

Samstag nehme ich mir frei.

Das Erstaunlichste ist, dass körperlich bei mir alles so gut funktioniert: keine Kopfschmerzen, keine Magenschmerzen mehr usw. Manchmal zwar ein Anflug davon, aber dann ziehe ich mich so sehr in meine eigene innere Ruhe zurück, bis das Blut wieder gleichmäßig durch meine Adern fließt. Meine Beschwerden waren vermutlich doch «psychologisch bedingt». Es ist auch keine erzwungene Ruhe, wie viele von mir denken, oder ein Zeichen von Überanstrengung. Wenn mir vor einem Jahr widerfahren wäre, was jetzt alles passiert, wäre ich sicherlich nach 3 Tagen zusammengebrochen oder hätte Selbstmord begangen oder hätte eine unechte Vergnügtheit vorgetäuscht. Jetzt habe ich so eine große Ausgeglichenheit, so eine Belastbarkeit und eine Ruhe sowie einen Überblick über die Dinge, und ich erahne Zusammenhänge, ich weiß nicht, was das ist, aber trotz allem: Es geht mir sehr gut, mein Gott. Ich kann jetzt doch nicht mehr lesen, ich bin zu müde, ich stehe morgen früh auf und setze mich noch ein wenig an den Schreibtisch.

Als wir heute darüber sprachen, dass wir zusammenbleiben wollen, habe ich wieder gedacht: Du siehst schon so schlecht und zerfallen aus, ich liebe dich so sehr, aber das Schlimmste wäre, wenn ich dich an meiner Seite leiden und entbehren sehen müsste, ich würde lieber aus der Ferne für dich beten. Ich werde alles so akzeptieren, wie es kommt, mein Gott. Ich glaube nicht wirklich an Hilfe von außen, ich rechne auch nicht damit, weder mit den Engländern oder Amerikanern noch mit Revolutionen oder mit weiß Gott was. Daran darf man sein Herz nicht hängen.

Was kommt, ist gut. – Gute Nacht.

24. Juli [1942], Freitagmorgen, halb 8.

Ich möchte gerne noch eine Stunde intensiv studieren, bevor ich diesen Tag beginne, ich habe ein großes Bedürfnis danach und auch die Konzentration dafür.

Als mich in aller Frühe die Sorgen wieder überfielen, bin ich einfach aufgestanden. Gott, nimm sie mir ab. Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn er einen Aufruf erhält, auf welchen Wegen ich ihm dann helfen kann. Eines ist sicher: Man muss alles im Voraus akzeptieren und auf alles vorbereitet sein und wissen, dass einem das Letzte im Inneren nicht genommen werden kann, und aus dieser Ruhe heraus, die man dadurch innerlich erlangt, kann man die notwendigen praktischen Schritte unternehmen, die getan werden müssen. Nicht ängstlich grübeln, sondern ruhig und klar denken. Im entscheidenden Augenblick werde ich schon wissen, was ich zu tun habe. Und jetzt: «Europa und die Seele des Ostens».

Ein kleines Fragment daraus, bevor ich aufbreche:

«Die Verkümmerung des Rechtsgefühls seit der Tartarenzeit hat unerwartet auch eine günstige Wirkung gehabt, freilich nur in den erlauchtesten Geistern der russischen Kultur. Sie machte den Weg für die Erkenntnis frei, daß der Rechtsgedanke nicht das oberste Prinzip der Ethik ist, daß sich über ihr der Liebesgedanke erhebt, der jenseits von Recht und Unrecht, von Schuld und Rache mit einer großen Gebärde alles vergebender, alles bereinigender Güte die Quelle des Menschenzwists für immer schließt und dadurch das Gottesreich auf Erden ermöglicht. Diese Kernidee des Christentums, die zur Zeit seiner Entstehung wie in unseren Tagen auf allerheftigste Widerstände stößt, ist gerade von der sittlichen Elite Rußlands leichter aufgenommen und mit größerem Ernst gepflegt worden als im Europäischen Westen, der an der Überschätzung des Rechtsprinzips krankt, sodaß er nicht darüber hinauszuschreiten vermag. Vielleicht ist es der Wille der Vorsehung, das Rechtsbewußtsein der Russen herabzudrücken, damit die Lehre Christi vom Primat der Liebe wenigstens an einer Stelle der Erde – dann und wann einmal – verwirklicht werden kann.»[44]

Meine Rosen stehen noch da.

Ich werde Jaap das halbe Pfund Butter bringen.

Ich bin sehr müde.

Ich kann diese Zeit tragen, ich verstehe sie sogar ein wenig.

Wenn ich diese Zeit überlebe und dann sagen werde: «Das Leben ist schön und sinnreich», dann wird man mir wohl glauben müssen.

Wenn all dieses Leiden nicht zu einer Horizonterweiterung, zu einer größeren Menschlichkeit führt und dazu, dass alle Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten dieses Lebens von einem abfallen, dann war es umsonst.

Heute Abend esse ich mit ihm im «Café de Paris», es ist fast grotesk, jetzt noch auszugehen. Liesl sagte: «Es ist doch eine Gnade, daß wir das alles tragen dürfen.»

Liesl ist eine großartige Frau, eine wirklich großartige Frau, ich möchte sie eines Tages beschreiben. Wir werden es schon überstehen.

25. Juli [1942], Samstagmorgen, 9 Uhr.

Ich habe den Tag blöd angefangen, indem ich über die «Situation» gesprochen habe, als ob man dafür überhaupt Worte finden könnte. Das kostbare Geschenk dieses einen freien Tags muss ich gut nutzen. Nicht reden oder die Menschen in meinem Umfeld traurig stimmen. Heute Morgen werde ich meinen Verstand ein wenig zusätzlich nähren, ich merke, dass ich immer stärker das Bedürfnis verspüre, meinem Geist widerspenstiges Studienmaterial zu verarbeiten zu geben.

Die letzte Woche war eine sehr große Bestätigung für mich. In diesem Irrenhaus gehe ich meinen eigenen inneren Weg. 100 Menschen beraten sich durcheinander in einem kleinen Raum, Schreibmaschinen klappern, und ich sitze irgendwo in einer Ecke und lese Rilke. Mitten am Vormittag mussten wir gestern plötzlich umziehen, Tische und Stühle wurden unter einem weggezogen, wartende Menschen kamen in Scharen in den Raum, jeder gab Befehle und Gegenbefehle, selbst über den geringfügigsten Stuhl, aber Etty saß in einer Ecke auf dem dreckigen Boden zwischen ihrer Schreibmaschine und einer Tüte Sandwiches und las Rilke. Ich kümmere mich dort um meine eigene Sozialgesetzgebung, und komme und gehe, wann ich es für richtig halte. Inmitten dieses ganzen Chaos und Elends lebe ich so sehr nach meinem eigenen Rhythmus und kann mich jederzeit zwischen dem Tippen von 100 Briefen in Dinge vertiefen, die mir wichtig sind. Es ist keine Abschottung vor all dem Leid um mich herum, auch keine Abstumpfung. Ich trage alles mit und bewahre alles in mir auf, aber ich gehe unbeirrbar meinen eigenen Weg. Gestern war ein dummer Tag. Ein Tag, an dem mein fast satanischer Humor überhandnahm und ich mich auf einmal wieder wie ein übermütiges Kind fühlte. Gott, bewahre mich vor einer Sache: Lass mich nicht in ein Lager kommen mit den Menschen, mit denen ich jetzt tagtäglich arbeite. Darüber werde ich später hundert Satiren schreiben.

Und dann gibt es doch noch viele abenteuerliche Möglichkeiten in diesem Leben: Gestern habe ich mit ihm gebratene Flunder[45] gegessen, unvergesslich, was sowohl den Preis als auch die Qualität betrifft. Und heute Nachmittag um 5 Uhr werde ich zu ihm gehen und bis morgen früh bleiben. Wir werden ein wenig lesen und schreiben und einen Abend, eine Nacht und ein Frühstück zusammen verbringen. Ja, so etwas gibt es noch. Ich fühle mich seit gestern wieder so stark und heiter. Ganz ohne Ängste, auch nicht mehr um ihn. Völlig befreit von allen Sorgen.

Ich bekomme von dem vielen Laufen sehr starke Beinmuskeln. Vielleicht wandere ich doch noch irgendwann durch ganz Russland?

Er sagt: «Dies ist eine Zeit, um das hier in die Tat umzusetzen: ‹Liebt eure Feinde.›»[46] Und wenn wir das sagen, muss man doch glauben, dass so etwas möglich ist?

Ich möchte noch etwas von Rilke abschreiben, das mich gestern berührte, weil es auch mich betrifft, wie so vieles von ihm:

«… in meiner Natur eine große, fast leidenschaftliche Neigung zu jeder Art Geben besteht: ich kenne, seit Kindheit, keine stürmischere Freude, als nichts zurückzubehalten und bei dem Liebsten mit dem Verschenken anzufangen. Ich weiß, daß das mehr eine Art Haltlosigkeit und beinah sentimentaler Genußsucht ist und durchaus keine Güte. Damit daraus eine Tugend würde, muß ich die Kraft erwerben, nur in dem Einen, Schweren, Mühsamen all mein Geben zusammenzufassen: in der Arbeit.»[47]

In mir ist ein übergroßes Schweigen, das weiterwächst. Und drum herum werden so viele Worte angeschwemmt, die einen ermüden, weil man damit nichts ausdrücken kann. Man muss immer mehr nichtssagende Worte sammeln, um die wenigen zu finden, die man braucht. Und aus dem Schweigen muss eine neue Ausdrucksmöglichkeit erwachsen.

Es ist nun halb 10. Bis 12 Uhr will ich hier an diesem Schreibtisch sitzen bleiben; die Rosenblätter liegen zwischen meinen Büchern verstreut. Eine der gelben Rosen ist voll aufgeblüht und schaut mich groß und geöffnet an. Diese 2 ½ Stunden, die ich vor mir habe, kommen mir wie ein Jahr der Abgeschiedenheit vor. Ich bin so dankbar für diese paar Stunden und auch für die Konzentration, die ständig in mir wächst.

später.

Ich werde schon noch meine eigenen Worte finden für die Dinge, die ich zu sagen habe, jetzt leihe ich sie mir noch von Rainer Maria.

«… daß es eigentlich keine Entschlüsse gibt. Das ist wahr. Denn wenn innen immer wieder so natürlich eins aus dem anderen tritt, ungewaltsam, so bleibt kein Raum für einen Entschluß. Die Kette entrollt sich, Glied um Glied, und eines hängt im andern, leicht und doch fest umschlossen, beweglich und doch in unendlichem Zusammenhang.»[48]

später.

«… vielleicht weil ich in Übergängen bin, die mich die Tatsache der Häßlichkeit leugnen lehren (wie, entsprechend, ihr Gegenteil: die Schönheit), um mir alles neuer, gerechter, namenloser wiederzugeben mit der Zeit.»[49]

später.

Bei Jung finde ich eine Definition von «normal»:

«Normal ist nämlich derjenige Mensch, der schlechthin unten allen Umständen, die ihm überhaupt das nötige Minimum an Lebensmöglichkeit gewähren, existieren kann.»[50]

27. Juli 1942, Montagvormittag, 8 Uhr.

Man muss in jedem Augenblick seines Lebens dazu bereit sein, sein ganzes Leben zu ändern und an einem anderen Ort ganz von vorne anzufangen. Ich bin verwöhnt und undiszipliniert. Möglicherweise bin ich trotz allem noch zu sehr darauf aus, das Leben zu genießen. So wie ich jetzt schon seit gestern Abend gelaunt bin, kann ich nicht anders, als mir zu sagen: Du bist doch eigentlich sehr undankbar. Es gab so viel Gutes an diesem Wochenende. So vieles, von dem ich wochenlang zehren könnte, selbst wenn diese Wochen nichts als Unheil brächten. Ich bin in der Tat unkollegial gegenüber den Tippfräuleins dort. Ich finde die Arbeit nun einmal stumpfsinnig und sinnlos und versuche, mich so gut wie möglich davor zu drücken. Ich bin an diesem frühen Morgen so unzufrieden, traurig und unsicher wie schon lange nicht mehr, und es geht hier keineswegs um das große «Leiden», sondern um die eigene kleine Unzufriedenheit und Unzulänglichkeit. Und ich bin so traurig darüber, dass die vielen wertvollen und guten Dinge dieses Wochenendes unter einer Lappalie begraben und erstickt wurden. Als ich nämlich um 5 Uhr heimlich die Beine in die Hand nehmen wollte, sagte ein etwas vulgäres Tippfräulein, das den Chef spielen wollte: «Nein, das ist unmöglich, die Richtlinie muss noch abgetippt werden, das ist sehr unkollegial, dass du schon fortwillst.» Und weil nur 5 Durchschläge in meine Maschine passen und wir 10 Exemplare des Leitfadens benötigten, musste ich also alles zweimal abtippen. Und du möchtest so gerne zu deinem Freund, hast Rückenschmerzen und alle Zellen deines Körpers rebellieren. Du hast eine falsche Einstellung. Du musst bedenken, dass du aufgrund deiner Anstellung noch in Amsterdam bei den Menschen bleiben kannst, die dir lieb und teuer sind. Und du machst es dir wirklich schon leicht genug.

Gestern Nachmittag fiel mir plötzlich auf, wie grau, wie trostlos und unwürdig und ohne Perspektive dieser ganze Betrieb ist. «Ich bitte ergebenst um Freistellung vom Arbeitsdienst in Deutschland, weil ich hier schon so hart für die Wehrmacht arbeite und unentbehrlich für euch bin.» Es ist völlig trostlos. Und zugleich war mir auch bewusst: Wenn wir dem Grau hier nichts entgegensetzen, etwas Strahlendes und Starkes, das irgendwo an einem ganz anderen Ort wieder ganz von Neuem beginnt, dann sind wir verloren, endgültig und für immer verloren. Ich werde den Weg zu diesem Strahlenden und Neuen schon wieder finden, auch wenn er jetzt verschüttet ist. Ich bin müde und niedergeschlagen. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit und möchte gerne tagelang schreiben, bis ich alles, was mich jetzt so plötzlich bedrückt, von mir abgewälzt habe. Ich muss zuerst wieder durch sehr viele enge, dunkle unterirdische Gänge gehen, ehe ich plötzlich wieder ans Licht komme.

Gestern Nachmittag wartete ich in einem engen, mit Menschen überfüllten Korridor 1 ½ Stunden auf Werner. Ich saß auf einem Hocker an die Wand gelehnt und die vielen Menschen gingen um mich herum, über mich hinweg und an mir vorbei. Und ich saß da mit Rilke auf dem Schoß und las. Ich las wirklich, konzentriert und vertieft. Und ich fand etwas, das für viele Tage reichen könnte. Ich schrieb es sofort ab. Und später fand ich einen Mülleimer in der Sonne auf dem Hof hinter unseren neuesten Arbeitsplätzen,[51] ich setzte mich darauf und las Rilke. Und Samstagabend: Der Kreis unserer Beziehung hat sich geschlossen, ganz einfach und natürlich. Als hätte mich nachts noch nie etwas anderes als eine geblümte Decke zugedeckt. Und immer wieder die Grachten, an denen ich entlanggehe, die ich mir immer stärker einpräge, sodass ich nie mehr ohne sie sein werde. Und könnte eine einzige Stunde, die du länger arbeitest, auch wenn es eine stumpfsinnige Arbeit ist, gegen die du dich auflehnst, dich all dessen berauben? Dich in einen solchen Zustand versetzen, dass es scheint, als ob alles andere nie gewesen wäre? Die Ängste sitzen tiefer und ich könnte auch dahinterkommen, aber ich habe jetzt keine Zeit dazu.

Das hier noch schnell abschreiben:

«Mir geht es oft so, daß ich mich frage, ob die Erfüllung eigentlich etwas mit den Wünschen zu tun hat. Ja, solang der Wunsch schwach ist, ist er wie eine Hälfte und braucht das Erfülltwerden wie eine zweite Hälfte, um etwas Selbständiges zu sein. Aber Wünsche können so wunderbar zu etwas Ganzem, Vollem, Heilem auswachsen, das sich gar nicht mehr ergänzen läßt, das nur noch aus sich heraus zunimmt und sich formt und füllt. Manchmal könnte man meinen, dies gerade wäre die Ursache der Größe und Intensität eines Lebens gewesen, daß es sich mit zu großen Wünschen einließ, die von innen wie ein Ressort Aktion auf Aktion, Wirkung nach Wirkung ins Leben hinaus trieben, die kaum mehr wußten, worauf sie ursprünglich gespannt waren, und nur noch elementar, wie ein starkes, fallendes Wasser, sich in Handlung und Herzlichkeit, in unmittelbares Dasein, in frohen Mut umsetzten, je nachdem das Geschehen und die Gelegenheit sie einschaltete.»[52]

Ich werde nun wieder an den vielen Grachten entlanggehen und versuchen, innerlich ganz ruhig zu sein und in mich hineinzuhorchen, was in mir eigentlich passiert ist. Ich werde mich an diesem Tag noch sehr stark «verwandeln» müssen.

Und nun noch eine Sache: Ich glaube doch, dass ich einen inneren Regulator habe. Ich werde jedes Mal gewarnt, wenn ich durch eine «Verstimmung» auf einen falschen Weg geraten bin. Und wenn ich jetzt nur offen und ehrlich bleibe und den guten Willen erhalte, wirklich diejenige zu werden, die ich sein sollte, und das zu tun, was mir mein Gewissen in dieser Zeit vorschreibt, dann wird alles gut werden. Ich glaube, dass das Leben sehr große Anforderungen an mich stellt und große Pläne mit mir hat, aber ich muss offen für meine innere Stimme bleiben und ihr auch folgen, ich muss offen und ehrlich bleiben und das Schwere auch nicht abschütteln wollen.

abends halb 11.

«Zuversichtlich und bereit sein.»

Ich werde mich jetzt um meinen Rucksack kümmern.

An diesem einen Tag heute habe ich Jahre der Abstumpfung durchlebt, einen jahrelangen Abstumpfungsprozess habe ich durchgemacht. Der Gedanke an Selbstmord tauchte plötzlich wieder aus einer verborgenen Tiefe auf, aber er ist schon wieder verschwunden. Heute Morgen fühlte ich mich einen Moment lang so bleiern vor Traurigkeit, dass ich meinte, nie wieder froh werden zu können. Aber dann sprudelte plötzlich aus verborgenen Quellen eine Kraft empor, die mich lehrte, dass ich noch lange nicht am Ende bin.

Ach, wenn man nur sein Herz wie einen freien Vogel durch alle Ereignisse hindurchfliegen lassen könnte.

Am meisten fürchte ich mich vor der Abstumpfung und vor den Menschen, mit denen ich zusammen sein werde.

Jemand muss doch übrig bleiben, um später bezeugen zu können, dass Gott auch in dieser Zeit noch gelebt hat. Und warum sollte nicht ich diese Zeugin sein?

Man darf nicht mit Tagen rechnen, sondern mit Jahren. Heute gab es einen Moment, in dem ich glaubte, am Ende all meiner Kräfte zu sein, es war ein Tag, der Jahre umfasste. Aber jetzt weiß ich, dass ich an so einem schweren Tag nicht aufgeben darf. Ich muss mit einem jahrelangen schweren Leben rechnen. Und versuchen, es auszuhalten, und versuchen, ein kleines Stückchen von Gott zu retten. Aber ich werde oft denken, dass ich am Ende meiner Kräfte angelangt bin, das habe ich heute gemerkt.

Und jetzt spüre ich wieder diese immense Sicherheit und Kraft in mir. Und die Bereitschaft zu allem. Ich rief Hesje an und fragte, ob sie mir einen Rucksack besorgen könne. Und dann dieser Zahnarzt. Und so weiter. Und es wird wahrscheinlich dennoch mein Schicksal sein, allein zu gehen und nicht in völliger Verzweiflung an einen anderen gekoppelt zu sein. Wenn seine halbarischen Kinder[53] nicht helfen und er vor mir gehen müsste, ginge ich freiwillig mit ihm mit, aber ich würde nicht wollen, dass er mit mir mitginge, so dankbar ich ihm auch für seine Worte von heute Nachmittag bin, dass er mit mir mitgehen wollte.

Ich habe das Gefühl, dass ich mit jedem Wort, das ich sage, sparsam umgehen muss. Als ob ich nur noch die allernötigsten Worte sprechen sollte. Und als ob ich alles, was mir hier lieb und teuer ist, in mir verstauen müsste, um eine ganze unveräußerliche Welt in mir mitnehmen zu können. Nur das Allernötigste sagen und sich ansonsten immer mehr auf sich selbst konzentrieren.

Jetzt, da wir fast überrollt werden vom Rad der Zeit, die man vielleicht später einmal als großes Zeitalter bezeichnen wird, kommt es doch darauf an, Gott wie ein Banner hoch über die tausend Ängste und Bedrückungen und die Niedergeschlagenheit des Alltags hinaus zu erheben.

Ich wusste ja heute Morgen, dass ich viele «Wandlungen» durchmachen muss, ich bin wieder «gewandelt». Wieder eine Heiterkeit, Leichtigkeit, Entschlossenheit und völlige Hingabe. Und jetzt muss ich schlafen gehen. Ich hoffe, zwischen den vielen Briefen morgen eine ganze Menge von Jung durcharbeiten zu können. Ich muss mich halt in Gottes Namen damit «abfinden», dass ich dort stumpfsinnige Arbeit erledige und von etwas primitiven und eingebildeten Bürofräuleins mit Organisationswut angeschnauzt werde, aber es bleibt mir zwischendurch viel Zeit, die ich nutzen werde, statt mich in einer Art machtloser Wut traurig machen zu lassen. Mir geht es wieder sehr gut. Mir wäre es doch lieber, er bliebe hier, statt mit mir mitzukommen. Ich würde ihn nicht gerne an meiner Seite leiden sehen. Obwohl: Ein einziger Blick, unter was für quälenden Umständen auch immer gewechselt, könnte mir vielleicht für lange Zeit wieder Kraft geben. Ich werde ihn in mir einschließen, ihn sicher in mir tragen und mit ihm zusammen sein, sooft ich will.

Herr, es wird so schwer sein, aber jetzt, wo ich den Tag nach diesem mühevollen Start wieder überwunden habe und so vertrauensvoll und fast glücklich an diesem Schreibtisch sitze, weiß ich auch, dass ich noch lange nicht am Ende meiner Kräfte bin.

Ich habe begonnen, meine Tagebuch-Hefte noch einmal zu lesen, und ich muss sagen, dass ich mich ab und zu für diesen pubertären Nonsens geniere. Ich wollte sie alle zerreißen. Aber plötzlich dachte ich, ich müsste sie vielleicht trotzdem aufheben, um später wieder bei mir selbst anknüpfen zu können. Es ist natürlich möglich, dass mich eine große Abstumpfung überkommt. Das habe ich heute erlebt und ich weiß, wie schlimm das ist. Aber vielleicht wird wieder einmal eine Zeit kommen, in der uns das Leben wieder etwas gewährt, und dann müsste man auch wieder das Leben in sich wecken, denn vielleicht stirbt ja doch etwas ab, ich weiß es nicht; so wie ich es heute durchlitten habe, ganz sicher. Und dann können mir meine eigenen Notizen vielleicht etwas von mir selbst zurückgeben.

Ich war heute 10 Minuten mit ihm allein und diese 10 Minuten machten einen ganzen Tag wett. Aber ich hatte meine Kraft und meine Zuversicht bereits auf dem Weg zu ihm zurückgewonnen. Sein bewegtes und leidendes Gesicht bei dem Gedanken, dass ich ihn vielleicht bald verlassen müsste, seine heftige und wilde Gestik: «Sie dürfen mir nicht wegkommen, Sie müssen bei mir bleiben.»

Und dann weiß ich, dass ich später seine und auch meine Einsamkeit und Verlassenheit tragen muss. Und Han, der so sehr altert, von Tag zu Tag altert. Und meine Eltern, meine lieben guten Eltern. Ich komme schon damit zurecht, mein Gott. Ich danke dir, dass du mich so leidensfähig gemacht hast. Und nun gute Nacht.

später.

Noch etwas: Ich habe heute eine wichtige Sache gelernt: Dort, wo der Zufall einen hinstellt, muss man auch mit ganzem Herzen präsent sein. Wenn man mit dem Herzen woanders ist, bringt man nicht genug in die Gemeinschaft ein, in der man sich zufälligerweise befindet, und die Gemeinschaft verarmt dann dadurch. Ob das nun streberische Büromädchen oder weiß Gott was sind, man muss doch ganz präsent sein und man wird dann auch bei ihnen etwas finden.

28. Juli [1942], Dienstagmorgen, halb 8.

Ich werde die Kette dieses Tages sich Glied für Glied abwickeln lassen, ich werde nicht eingreifen, sondern einfach vertrauen. Ich werde dir deine Ratschlüsse überlassen, mein Gott. Heute Morgen fand ich eine Drucksache im Briefkasten. Ich sah, dass ein weißes Papier darin war. Ich war ganz ruhig und dachte: Mein weißer Aufruf, schade, jetzt kann ich nicht einmal mehr meinen Rucksack packen. Hinterher merkte ich, dass meine Knie zitterten. Es war ein Formular[54] für die Angestellten des Judenrats. Ich habe noch nicht einmal eine Identifikationsnummer. Ich werde die wenigen Schritte unternehmen, die ich meiner Meinung nach wohl tun muss. Vielleicht muss ich lange warten, Jung und Rilke werden mitkommen, ich hoffe, heute viel arbeiten zu können.

Und wenn mein Geist später viele Bilder nicht mehr festhalten kann, so werden doch immerhin diese letzten zwei Jahre am Horizont meiner Erinnerung aufleuchten wie ein wunderschönes Land, in dem ich einst zu Hause war und das noch immer mir gehört.

Der gestrige Tag hat mir wieder so viel Mut gemacht. Denn er hat mich gelehrt, dass Gott meine Kräfte stets erneuert. Ich spüre, dass ich immer noch durch tausend Fasern mit allem hier verbunden bin. Ich werde sie Stück für Stück losreißen müssen und alles an Bord holen, damit ich beim Weggehen nichts zurücklasse, sondern alles mit mir trage.

Es gibt Momente, in denen ich mich wie ein kleiner Vogel fühle, geborgen in einer großen, schützenden Hand.

Noch ein paar Worte von Rilke:

«Ich fürchte die Härte dieser Lehrjahre nicht: mein Herz sehnt sich, gehämmert und geschliffen zu sein: wenn es nur meine Härte ist, die, die zu mir gehört, und nicht, wie während so vieler Jahre meiner Jugend, eine unnütze Grausamkeit, aus der ich nichts lernen konnte. (Und vielleicht doch gelernt habe, – aber mit wieviel Kraftverlust.)»[55]

Gestern war mein Herz ein in der Falle gefangener Vogel. Jetzt ist es wieder ein freier Vogel, den nichts an seinem Flug hindern kann. Heute scheint die Sonne. Und jetzt mache ich mein Brot fertig und mache mich auf den Weg.

halb 2 nachmittags, an seinem kleinen Tisch.

Gott, mein Gott, du wirst mich ja sicher nicht gehen lassen, solange er noch krank ist. Er liegt jetzt ruhig atmend im Zimmer nebenan unter seiner hellen geblümten Decke. Die Gefahr einer Lungenentzündung ist vorbei, sagt der Arzt.

Eine Viertelstunde später.

Jetzt, da ich sein lächelndes, liebes Gesicht mit den Bartstoppeln gesehen habe und wir ein wenig geredet haben, ist die schlimmste Beklommenheit gewichen.

«Du darfst nicht weg», sagte er. Ich gehe auch noch nicht weg. Gott wird mich keinen Tag früher als nötig gehen lassen.

Meine Identifikationsnummer habe ich zügig bekommen und dann habe ich mir für den Zahnarzt freigenommen, und statt beim Zahnarzt sitze ich jetzt an diesem kleinen Tisch.

Wenn ich durch die Straßen gehe, halte ich meine Augen fast geschlossen, um all die Bilder gleichsam noch konzentrierter in mich aufzunehmen. Ich werde meinen Rucksack packen und in einem kleinen versteckten Winkel wird sicherlich ein Plätzchen für das Alte und das Neue Testament sein. Ich bin so bereit, wie ich nur irgendwie sein kann, mein Gott, aber du nimmst mich ihm doch noch nicht weg? Das geht wirklich noch nicht.

Jedes Mal, wenn ich den Brief von Tide noch einmal lese, spüre ich eine Menge Tränen in mir, die mir über die Wangen fließen wollen.

Jetzt ist mein Herz wieder ganz hier, in diesen beiden kleinen Räumen. Und mein Gebet auch. Heute Morgen war es bei all denen, die ich auf meinem Weg getroffen habe. Es muss immer ganz dort sein, wo man sich gerade zufälligerweise befindet. Ich bin heute Morgen drei Stunden gelaufen und jetzt darf ich doch ein wenig müde sein? Ich bin weder traurig noch ängstlich. Ich werde Geduld haben, unendliche Geduld, sie wird in jeder Minute auf die Probe gestellt und deshalb nimmt sie in jeder Minute zu. (Ich sitze jetzt auf dem Boden gegenüber seinem Bett, eingeklemmt zwischen zwei kleinen Schränken. Wenn ich aufblicke, sehe ich sein liebes und gutmütiges Gesicht. Du bist immer noch sehr gut zu mir, mein Gott.) Ich wollte nächste Woche hier in Dickys Zimmer übernachten, aber die gute und tapfere Frau Nethe sagte, es wäre vielleicht besser, das nicht zu tun, weil es hier in der Nachbarschaft bereits nächtliche Razzien[56] gegeben habe. Gut, dann eben nicht. Wenn er nur gesund bleibt und ich noch nicht wegmuss und selbst wenn ich ihn nur 5 Minuten am Tag sehen würde. Er liegt dort 2 Meter von mir entfernt unter seiner geblümten Decke. Das graue, faltige, gealterte Gesicht mit den durchscheinenden, hellen Augen. Ich könnte ihm jetzt einen Liebesbrief schreiben. Auf meinen langen Fußmärschen durch die Stadt heute habe ich ihm in Gedanken viele Liebesbriefe geschrieben. Wenn ich gehen muss, wäre es mir lieber, er käme nicht mit. Mein Herz wird ihm von jedem Fleck dieser Erde wie ein suchender Vogel entgegenfliegen und es wird ihn auch immer finden. «Ich gucke Dich so gerne an», sagt er gerade, «es wäre schön, wenn wir zusammenblieben und noch eine ruhige Zeit erlebten, aber das ist wohl kaum vorstellbar.» Ich habe ihm rote und gelbe Rosen mitgebracht, sie stehen jetzt neben seinem Bett und er lässt sie nicht mehr aus den Augen.

Schon wieder, viel später.

Er sagte gerade noch einmal sehr bestimmt: «Du bist halb-Arisch und dann kann ich Dich auch heiraten.» Es wäre vielleicht noch einen Versuch wert, es mit den verschwundenen Eltern meiner russischen Mutter zu probieren.[57] «Willst Du mich denn heiraten?», fragte ich. «Ja, aber nur um zusammenzubleiben, nicht um wirklich zu heiraten.» Und er fuhr ernst fort: «Ich habe mir die letzten Tage überlegt, daß ich keine jungen Menschen an mich binden darf. Ich werde die Hertha auch davon abhalten mich zu heiraten.» Und ich sagte: Das spielt doch alles gar keine Rolle, ich kann trotzdem bei dir bleiben.

Mir ist so seltsam zumute: so ruhig und ernst und entschlossen und so erfüllt von einem ernsten, aber auch heiteren Leben. Ich weiß in diesem Augenblick sicherer denn je, dass ich in diesem Leben eine Aufgabe habe, eine kleine «Aufgabe», extra für mich. Und ich werde alles durchstehen müssen. Ich bin dankbar dafür, dass mich das Schicksal nicht in einen seiner vielen kleinen Fänge gekriegt hat, z.B. in ein Gefängnis wegen versteckten Silbers,[58] ja, so etwas gibt es auch, sondern dass ich vom breiten Strom mitgerissen werde. Ich möchte später die Chronistin unseres Schicksals sein. Ich werde in mir eine neue Sprache zurechtschmieden und sie in mir aufbewahren, falls ich nicht mehr die Gelegenheit haben werde, etwas aufzuschreiben. Ich werde abstumpfen und wieder zum Leben erwachen, hinfallen und wieder aufstehen, und vielleicht werde ich eines Tages, viel später, wieder einmal einen ruhigen Raum um mich herum haben, der nur mir gehört, und dann werde ich so lange dort sitzen bleiben, selbst wenn es ein Jahr wäre, bis das Leben wieder in mir sprudelt und bis die Worte zu mir kommen, die Zeugnis ablegen werden von dem, was bezeugt werden muss.

4 Uhr nachmittags.

Der Tag ist ganz anders verlaufen, als ich dachte.

halb 9 abends.

Abgesehen vom historischen Aspekt, um es einmal ganz kühl auszudrücken, war dies ein Tag voller Abenteuer, Pflichtvergessenheit und Sonnenschein. Ich habe die Arbeit geschwänzt und bin an den Grachten spazieren gegangen, und ich habe mich in einer Ecke seines Zimmers gegenüber seinem Bett hingehockt. Es stehen jetzt wieder 5 Teerosen in der kleinen Zinnvase.

Es gibt einen Unterschied zwischen abgehärtet und verhärtet. Das wird heutzutage häufig verwechselt. Ich glaube, dass ich jeden Tag abgehärteter werde, abgesehen von dieser undisziplinierten Blase, aber verhärtet werde ich niemals, ich habe auch keinerlei Bedürfnis, es zu werden.

Allmählich zeichnen sich alle möglichen Dinge klarer in mir ab. Zum Beispiel, dass ich nicht seine Frau werden will. Ich möchte es jetzt ganz nüchtern und sachlich feststellen: Der Altersunterschied ist zu groß. Ich habe bereits einen Mann während einiger Jahre vor meinen Augen altern sehen.[59] Ich sehe ihn jetzt auch altern. Er ist ein alter Mann, den ich liebe, unendlich liebe, und mit dem ich immer innerlich verbunden sein werde. Aber «heiraten», was der brave Bürger Heiraten nennt, muss ich jetzt endlich einmal ganz nüchtern und ehrlich sagen, das würde ich nicht wollen. Und es verleiht mir sogar ein Gefühl der Stärke, dass ich meinen Weg allein gehen muss. Von Stunde zu Stunde genährt von der Liebe, die ich für ihn und für andere in mir trage. Unendlich viele Paare verbinden sich, sie verbinden sich im letzten Moment in Eile und Verzweiflung.[60] Dann möchte ich doch lieber allein und für alle da sein.

Es wird natürlich nie wiedergutzumachen sein, dass ein kleiner Teil der Juden mithilft, die übergroße Mehrheit abzutransportieren. Die Geschichte wird später ihr Urteil darüber fällen müssen.[61]

Und dennoch immer wieder: Das Leben ist so «interessant», trotz allem. Immer wieder gewinnt bei mir ein fast dämonisches Beobachten von allem, was geschieht, die Oberhand. Der Wunsch, zu sehen und zu hören und dabei zu sein, dem Leben alle Geheimnisse zu entlocken, die Gesichtsausdrücke der Menschen in ihren letzten Zuckungen auf kühle Art und Weise zu beobachten. Und auch plötzlich wieder mit sich selbst konfrontiert zu sein und viel aus dem Schauspiel zu lernen, das die eigene Seele in dieser Zeit darbietet. Und später die Worte dafür zu finden.

Ich werde jetzt in meinen alten Tagebüchern weiterlesen. Ich werde sie doch nicht zerreißen. Vielleicht helfen sie mir später, wieder zu mir selbst zurückzufinden.

Zeit, uns auf die gegenwärtigen katastrophalen Ereignisse vorzubereiten, hatten wir genug, volle 2 Jahre. Und ausgerechnet das letzte Jahr war das entscheidende Jahr meines Lebens, mein schönstes Jahr. Und ich bin sicher, dass es eine Kontinuität geben wird zwischen meinem Leben jetzt und dem Leben, das nun kommen wird. Denn es ist ein Leben, das sich in den inneren Bereichen abspielt, und die Kulisse wird dann immer unwichtiger.

Abgehärtet: leicht zu unterscheiden von verhärtet.

29. Juli [1942], Mittwochvormittag, 8 Uhr.

Seit ich die Augen geöffnet habe, habe ich bereits eine ganze Palette von Stimmungen durchlebt. Jetzt bin ich wieder ruhig. Man muss immer einfacher werden.

Als ich Samstagnacht um 2 Uhr in Dickys Zimmer landete, nach diesem allzu vertrauten Beisammensein unter der hell geblümten Decke, las ich noch ein wenig in Rilke und fand Folgendes; die Worte sprangen mir entgegen, als wären sie sehr nahe Verwandte von mir:

«… und auf einmal meint man, wie durch klare Tränen, die ferne Einsicht zu ahnen, daß man selbst als ein Liebender das Alleinsein nötig hat, daß einem Weh, aber nicht Unrecht geschieht, wenn es einen mitten in einem zu einem geliebten Menschen hinstürzenden Gefühl überfällt und einschließt: ja daß man sogar dieses scheinbar Gemeinsamste, das die Liebe ist, nur allein, abgetrennt, ganz ausentwickeln und gewissermaßen vollenden kann; schon deshalb, weil man im Zusammenschluß starker Neigungen eine Strömung von Genuß erzeugt, die einen hinreißt und schließlich irgendwo auswirft; während dem in seinem Gefühl Eingeschlossenen die Liebe zu einer täglichen Arbeit wird an sich selbst und zu einem fortwährenden Aufstellen kühner und großmütiger Anforderungen an den anderen. Wesen, die einander so lieben, rufen unendliche Gefahren um sich auf, aber sie sind sicher vor den kleinen Gefährlichkeiten, die so viele große Gefühlsanfänge ausgefranst und zerbröckelt haben. Da sie einander immerfort daß Äußerste wünschen und zumuten mögen, kann keiner dem anderen durch Beschränkung unrecht tun, im Gegenteil, sie erzeugen sich gegenseitig unaufhörlich Raum und Weite und Freiheit …»[62]

Am Sonntagmorgen saß ich in meinem wild gestreiften Morgenmantel, in einer Ecke seines Zimmers verkrochen, auf dem Boden und stopfte Strümpfe. Es gibt zuweilen Gewässer, die so klar sind, dass man bis auf den Grund alles erkennen kann. Kannst du das noch ekelhafter formulieren, wenn ich fragen darf? Ich wollte damit Folgendes sagen: Es war, als wäre das Leben mit tausenderlei Einzelheiten und Drehungen und Wendungen für mich so klar und transparent geworden. Als stünde ich vor einem Ozean, auf dessen Grund ich durch das kristallklare Wasser blicken konnte. Werde ich jemals wirklich schreiben können, daran verzweifle ich – oder doch nicht? Es könnte möglicherweise sehr lange dauern, bis ich einen solchen Moment meines Lebens, einen wahren Höhepunkt, beschreiben kann. Man sitzt in einer Ecke auf dem Boden im Zimmer des geliebten Mannes und stopft Strümpfe, und zugleich sitzt man am Ufer eines gewaltigen, großen Gewässers, das so kristallklar und durchsichtig ist, dass man bis auf den Grund schauen kann. Und das ist dann irgendwann dein Lebensgefühl und das ist unvergesslich. Und jetzt glaube ich wirklich, dass ich auch noch die Grippe oder so etwas bekomme. Das darf nicht passieren, ich bin prinzipiell dagegen. Und meine noch nicht sehr trainierten Beine sind heute nach den langen Märschen von gestern sehr müde. Und jetzt muss ich Werners Identifikationsnummer ergattern. Ich werde dort oben in dem kleinen Raum mit derselben freundlichen Unerschütterlichkeit auftreten wie gestern für mich selbst. Und für den Zahnarzt wird es auch höchste Zeit. Und ob es heute viel Arbeit geben wird? Ich mache mich jetzt auf den Weg. Man weiß nie, was der Tag bringt, aber das spielt auch keine Rolle, man ist nicht mehr davon abhängig, was der Tag bringt, selbst in dieser Zeit nicht. Übertreibe ich nicht? Und wenn jetzt morgen der weiße Aufruf kommt? Es scheint, dass die Transporte in Amsterdam vorläufig gestoppt wurden. Man beginnt jetzt in Rotterdam.[63] Stehe ihnen bei, mein Gott, stehe den Rotterdamer Juden bei.