HEFT 11

15. September 1942–13. Oktober 1942

15. September 1942, Dienstagmorgen, halb 11.

Vielleicht war das alles zusammen doch ein bisschen viel, mein Gott. Jetzt werde ich daran erinnert, dass der Mensch auch einen Körper hat. Ich hatte gedacht, mein Geist und mein Herz könnten alles allein tragen, aber jetzt meldet sich mein Körper und sagt: Halt. Und erst jetzt spüre ich, wie viel du mir zu tragen gegeben hast. So viel Schönes und so viel Schweres. Und das Schwere hat sich, sobald ich mich bereit dazu gezeigt habe, es zu tragen, immer wieder in etwas Schönes verwandelt. Und das Schöne und Große war manchmal noch schwerer zu ertragen als das Leiden, weil es so überwältigend war. Dass ein kleines Menschenherz so viel erleben kann, mein Gott, dass es so sehr leiden und so sehr lieben kann, ich bin dir so dankbar dafür, mein Gott, dass du gerade mein Herz in dieser Zeit auserwählt hast, all das durchmachen zu lassen, was es durchgemacht hat. Vielleicht ist es gut, dass ich krank geworden bin, aber ich habe mich noch nicht mit diesem Umstand versöhnt; ich bin ein bisschen benommen, verloren und hilflos, aber gleichzeitig versuche ich jetzt schon wieder, aus allen Winkeln meines Wesens ein wenig Geduld zusammenzukratzen, es muss eine ganz neue Art von Geduld für eine ganz neue Situation sein, das spüre ich schon. Ich werde wieder auf das altbewährte Verfahren[1] zurückgreifen und ab und zu ein wenig auf diesen blauen Linien mit mir selbst sprechen. Mit dir sprechen, mein Gott. Ist das denn richtig? Ich habe nur noch das Bedürfnis, mit dir zu sprechen, nicht mehr mit den Menschen. Ich liebe die Menschen so sehr, weil ich in jedem Menschen einen Teil von dir liebe, mein Gott. Und ich suche dich überall in den Menschen und finde oft einen Teil von dir. Und ich versuche, dich in den Herzen der anderen zutage zu fördern, mein Gott. Aber jetzt brauche ich viel Geduld, viel Geduld und Besinnung, es wird sehr schwer werden. Und ich muss nunmehr alles ganz allein machen. Der beste und edelste Teil meines Freundes, des Mannes, der dich in mir erweckt hat, ist jetzt schon bei dir. Nur ein seniler, entkräfteter Greis ist in diesen zwei kleinen Zimmern zurückgeblieben, in denen ich die größten und tiefsten Freuden meines Lebens erlebt habe. Ich habe an seinem Bett gestanden und stand da vor deinen letzten Rätseln, mein Gott. Schenke mir noch ein ganzes Leben, um alles zu verstehen.

Während ich hier sitze und schreibe, fühle ich: Es ist gut, dass ich hierbleiben muss. Ich habe in den letzten Monaten so intensiv gelebt, scheint mir plötzlich im Nachhinein: Ich habe den Vorrat eines ganzen Lebens in wenigen Monaten verbraucht. Vielleicht war ich zu leichtsinnig in meinem inneren Erleben, das über alle Ufer trat? Ich bin nicht zu leichtsinnig gewesen, wenn ich jetzt auf deine Warnung höre.

nachmittags 3 Uhr.

Da steht wieder dieser Baum, der Baum, der meine Biografie schreiben könnte. Und doch ist es nicht mehr derselbe Baum, oder kommt es mir nur so vor, weil ich nicht mehr dieselbe bin? Und da steht sein Bücherregal, einen Meter von meinem Bett entfernt. Ich brauche nur meinen linken Arm auszustrecken, dann habe ich schon Dostojewski oder Shakespeare oder Kierkegaard in der Hand. Aber ich strecke die Hand nicht aus. Mir ist so schwindelig. Du stellst mich vor deine letzten Rätsel, mein Gott, ich bin dankbar dafür, dass du mich vor sie stellst, ich habe auch die Kraft, vor ihnen zu stehen und zu wissen, dass es keine Antwort gibt. Man muss deine Rätsel ertragen können.

Ich glaube, ich sollte tagelang schlafen gehen und geistig alles loslassen. Der Arzt sagte gestern, ich führe ein zu intensives Innenleben, ich lebe zu wenig auf der Erde und schon fast an der Grenze zum Himmel und meine körperliche Verfassung halte das alles nicht aus. Vielleicht hat er recht. Die letzten 1 ½ Jahre, mein Gott! Und die beiden letzten Monate, die an sich schon ein ganzes Leben waren.

Und habe ich nicht Stunden erlebt, von denen ich sagte: «Diese eine Stunde ist ein ganzes Leben gewesen, und wenn ich gleich ums Leben käme, dann ist diese eine Stunde das ganze Leben wert gewesen»? Und ich habe viele solcher Stunden erlebt. Warum darf ich nicht auch im Himmel leben? Der Himmel ist doch da, warum sollte man nicht auch in ihm leben? Aber eigentlich ist es ja vielmehr so: Der Himmel lebt in mir. Alles lebt in mir. Ich muss an ein Wort aus einem Gedicht von Rilke denken: Weltinnenraum.[2] Und jetzt muss ich alles loslassen und schlafen gehen. Mir ist so schwindelig. Und mit meinem Körper stimmt etwas nicht. Ich möchte gerne bald wieder gesund werden. Aber ich nehme alles aus deinen Händen hin, mein Gott, wie es kommt. Ich weiß, dass es immer gut ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man all das Schwere, wenn man es trägt, zum Guten wenden kann.

Siehst du, ich leide immer noch an demselben Übel, ich kann mich nicht dazu entschließen, mit dem Schreiben aufzuhören: Ich möchte noch im letzten Moment die eine erlösende Formel für alles finden. Für alles, was in mir ist, für dieses übervolle und überreiche Lebensgefühl, möchte ich dann das eine Wort finden, mit dem ich alles ausdrücken könnte. Warum hast du mich nicht zur Dichterin gemacht, mein Gott? Doch, du hast mich schon zu einer Dichterin gemacht, und ich werde geduldig warten, bis die Worte in mir herangewachsen sind, die all das bezeugen können, was ich bezeugen muss, mein Gott: dass es gut und schön ist, in deiner Welt zu leben, trotz allem, was wir Menschen einander antun.

Das denkende Herz der Baracke.

Dienstagnacht, 1 Uhr.

Ich habe einmal geschrieben, dass ich dein Leben bis zur letzten Seite lesen möchte. Jetzt habe ich dein Leben zu Ende gelesen.[3] Es ist so eine seltsame Freude in mir über alles, wie es gekommen ist, und so ist es sicherlich gut, sonst wäre nicht diese Kraft und Freude und Gewissheit in mir.

Da liegst du nun also in deinen beiden kleinen Zimmern, du Lieber, Großer, Guter. Ich habe dir einmal geschrieben: Mein Herz wird immer wie ein freier Vogel dir entgegenfliegen, von jedem Fleck dieser Erde aus, und es wird dich immer finden. Und auch dies, ich habe es in Tides Tagebuch geschrieben:[4] Während meines Lebens bist du schon so sehr zu einem Teil des Himmels geworden, der sich über mir wölbt, dass ich nur meine Augen zum Himmel aufschlagen muss, um bei dir zu sein. Und wenn ich in einer unterirdischen Zelle säße, würde sich dieses Stückchen Himmel in mir ausbreiten, und mein Herz würde wie ein freier Vogel in diesen Himmel auffliegen, und deshalb ist alles so einfach, weißt du, alles so furchtbar einfach und schön und sinnreich.

Ich hatte noch tausend Dinge, die ich dich fragen und von dir lernen wollte, von nun an muss ich alles allein machen. Ich fühle mich so stark, weißt du, ich weiß, dass ich mein Leben meistern werde. Die Kräfte, die mir zur Verfügung stehen, hast du in mir freigesetzt. Du hast mich gelehrt, den Namen Gottes unbefangen auszusprechen. Du warst der Vermittler zwischen Gott und mir, und jetzt bist du, mein Vermittler, fortgegangen und jetzt führt mein Weg geradewegs zu Gott; das ist gut so, ich spüre es. Und ich werde wiederum selbst die Vermittlerin für all die anderen werden, die ich erreichen kann.

Ich sitze gerade an meinem Schreibtisch im Licht der kleinen Lampe. Ich habe dir von diesem Ort aus so oft geschrieben und hier auch über dich geschrieben. Ich muss dir noch etwas Sonderbares erzählen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen. In dieser Welt, in der jeden Tag Tausende sterben, habe ich noch nie einen Toten gesehen. Tide sagt: «Es ist nur eine ‹Hülle›.» Ich weiß das schon. Aber dass du jetzt der erste Tote bist, den ich sehen werde, empfinde ich als etwas sehr Sinnreiches und Großartiges.

Gegenwärtig wird an den großen und letzten Dingen des Lebens so oft stümperhaft herumgespielt und herumgepfuscht. Viele Menschen machen sich krank oder stellen sich krank aus Angst, verschleppt zu werden. Viele bringen sich auch selbst um, ebenfalls aus Angst. Ich bin dankbar dafür, dass dein Leben ein natürliches Ende gefunden hat. Und dass auch du einen Teil des Leidens zu tragen hattest. Tide sagt: «Dieses Leiden wurde ihm von Gott auferlegt, und nun ist ihm das Leiden erspart geblieben, das ihm die Menschen auferlegt hätten.» Du verwöhnter, lieber Mann, du hättest es ja wahrscheinlich nicht ertragen können? Ich kann es ertragen, und indem ich es ertrage, lebst du in mir fort und ich vermittle dein Leben weiter.

Wenn man erst einmal den Punkt erreicht hat, das Leben als sinnreich und schön zu empfinden, auch in dieser Zeit und gerade in dieser Zeit, dann ist es so, als ob alles, was kommt, genau so hätte kommen müssen und nicht anders. Dass ich jetzt wieder an meinem Schreibtisch sitze! Und morgen kann ich nicht zurück nach Westerbork,[5] jetzt werde ich noch ein einziges Mal mit all meinen Freunden zusammen sein, wenn wir deine irdischen Überbleibsel gemeinsam in der Erde verbuddeln werden.

Ach ja, weißt du, solche Dinge müssen nun einmal geschehen, es ist eine hygienische Gepflogenheit des Menschen. Aber wir werden alle zusammen sein und dein Geist wird mitten unter uns sein, und Tide wird für dich singen. Wenn du nur wüsstest, wie glücklich ich bin, dass ich dabei sein kann. Ich kam gerade noch rechtzeitig zurück, ich habe noch deinen ausgedörrten, sterbenden Mund geküsst, du hast noch einmal meine Hand genommen und an deine Lippen geführt. Du sagtest einmal, als ich dein Zimmer betrat: «Das reisende Mädchen.» Du sagtest auch einmal: «Ich habe so merkwürdige Träume, ich habe geträumt, daß Christus mich getauft hat.» Ich stand mit Tide vor deinem Bett, wir dachten einen Moment lang, dass du sterben würdest und dass deine Augen brachen. Tide hatte ihre Arme um mich gelegt und ich küsste ihren lieben, reinen Mund, und sie sagte ganz leise: «Wir haben uns gefunden.» Wir standen vor deinem Bett, wie glücklich wärst du gewesen, wenn du uns, ausgerechnet uns beide, dort gesehen hättest. Vielleicht hast du uns auch gesehen, auch wenn es in einem Moment war, in dem wir dachten, du würdest sterben?

Und dafür, dass deine letzten Worte waren: «Hertha, ich hoffe»,[6] bin ich auch sehr dankbar. Wie musstest du kämpfen, um treu zu bleiben, aber deine Treue hat über alles andere gesiegt. Und ich habe es dir manchmal sehr schwer gemacht, ich weiß, aber von dir habe ich auch gelernt, was Treue ist und was Kämpfen und was Schwäche ist.

Alles Schlechte und alles Gute, das in einem Menschen sein kann, war in dir. All die Dämonen, all die Leidenschaften, all die Güte, all die Menschenliebe, du, großer Verstehender, Gottsucher und Gottfinder. Überall hast du Gott gesucht, in jedem Menschenherz, das sich dir öffnete – und wie viele sind das gewesen –, und überall fandest du ein Stückchen Gott. Du hast nie aufgegeben, bei Kleinigkeiten konntest du so ungeduldig sein, aber in großen Dingen warst du so geduldig, so unendlich geduldig.

Und dass es wieder ausgerechnet Tide war, die heute Abend zu mir kam und es berichtete, Tide mit ihrem liebenswürdigen und strahlenden Gesicht. Wir saßen eine Weile zusammen in der Küche. Und im Wohnzimmer saß mein Waffenbruder.[7] Und später stand Vater Han im hinteren Teil des Zimmers. Und Tide griff in die Tasten deines Flügels und sang ein kurzes Lied: Auf, auf mein Herz in Freuden.[8]

Es ist jetzt 2 Uhr nachts. Es ist so still im Haus. Ich muss dir etwas Seltsames sagen, aber ich denke, du wirst es schon verstehen. Dort an der Wand hängt ein Porträt von dir. Ich würde es am liebsten zerreißen und wegwerfen und hätte das Gefühl, dir dadurch näher zu sein. Wir haben einander nie beim Namen genannt. Wir sagten sehr lange «Sie» zueinander und später, sehr viel später sagtest du: «Du!» Und dieses «Du» von dir war für mich eines der zärtlichsten Worte, die ein Mann je zu mir gesagt hat. Und ich war wirklich einiges gewohnt, das weißt du ja. Du hast deine Briefe immer mit einem Fragezeichen unterschrieben, ich meine auch. Du hast deine Briefe begonnen mit: «Hören Sie mal …!», dein charakteristisches: «Hören Sie mal», und über deinem letzten Brief stand: «Liebstes.» Aber du bist für mich namenlos, so namenlos wie der Himmel. Und ich möchte all deine Porträts weglegen und sie nie wieder anschauen, das ist alles noch viel zu viel Materie. Namenlos will ich dich in mir weitertragen, und ich möchte das, was du mir vermittelt hast, in einer einzigen neuen und zärtlichen Geste weiterreichen, die ich früher noch nicht kannte.

Mittwochmorgen [16. September 1942], 9 Uhr
(im Sprechzimmer des Arztes).

Oft, wenn ich in Westerbork zwischen den lärmenden, zankenden und den aktiven, allzu aktiven Mitgliedern des J. R.[9] herumlief, dachte ich: Ach, lasst mich doch ein Stückchen eurer Seele sein. Lasst mich die Aufnahmebaracke des Besseren in euch sein, das sicherlich in jedem von euch steckt. Ich muss nicht viel tun, ich will einfach nur da sein. Lasst mich doch in diesem Körper die Seele sein. Und in jedem der Menschen entdeckte ich manchmal eine Geste oder einen Blick, die weit über ihr eigenes Niveau hinausgingen und deren sie sich wahrscheinlich selbst kaum bewusst waren. Und ich fühlte mich als deren Hüterin.

16. September, 3 Uhr nachmittags, Mittwoch.

Jetzt gehe ich noch einmal in diese Straße. 3 Straßen, eine Gracht und eine kleine Brücke trennten mich immer von ihm. Er ist gestern um Viertel nach 7 gestorben, genau an dem Tag, an dem meine Reisegenehmigung[10] abgelaufen ist. Jetzt gehe ich noch einmal zu ihm. Gerade eben war ich im Badezimmer. Ich dachte: Jetzt gehe ich das erste Mal zu einem Toten. Ich konnte damit eigentlich nichts anfangen. Ich dachte: Ich muss etwas Feierliches, etwas Außergewöhnliches tun. Und ich kniete auf der alten Kokosmatte im kleinen Badezimmer nieder. Und dann dachte ich: Das ist so konventionell. Wie sehr lässt sich der Mensch doch von Konventionen leiten, wie sehr ist er von vielen Vorstellungen von Handlungen bestimmt, die er in einer bestimmten Situation glaubt verrichten zu müssen.

Manchmal, in einem unerwarteten Moment, kniet plötzlich jemand in einem Winkel meines Wesens nieder. Manchmal, wenn ich auf der Straße gehe oder mitten in einem Gespräch mit jemandem. Und wer da niederkniet, das bin ich selbst.

Und jetzt liegt da nur noch eine sterbliche Hülle auf dem vertrauten Bett. Oh, diese Cretonnedecke! Ich habe eigentlich gar kein Bedürfnis, da noch einmal hinzugehen. Alles spielt sich irgendwo in meinem Inneren ab, alles, es gibt weite Hochebenen ohne Zeit und Grenzen in mir, und dort spielt sich alles ab. Und jetzt gehe ich wieder durch die paar Straßen. Wie oft bin ich sie gegangen, auch mit ihm zusammen, immer in einem spannenden und fruchtbaren Dialog. Und wie oft werde ich noch durch diese paar Straßen laufen, ganz gleich, auf welchem Fleck der Welt ich mich befinde, auf den Hochebenen in mir, wo sich mein eigentliches Leben abspielt. Wird jetzt von mir erwartet, dass ich ein feierliches oder trauriges Gesicht mache? Ich bin ja nicht traurig? Ich möchte meine Hände falten und sagen: Kinder, ich bin so glücklich und so dankbar, und ich finde das Leben so schön und sinnreich. Jawohl, schön und sinnreich, obwohl ich hier am Bett meines toten Freundes stehe, der viel zu jung gestorben ist, und obwohl ich jeden Moment in eine unbekannte Gegend deportiert werden kann. Mein Gott, ich bin dir so dankbar für alles.

Mit demjenigen Teil der Toten, der ewig lebt, werde ich weiterleben, und dasjenige, was in den Lebenden tot ist, werde ich wieder zum Leben erwecken, und so wird es nichts als Leben geben, ein einziges großes Leben, mein Gott.

Tide wird noch einmal für ihn singen, und mit Freude sehe ich dem Moment entgegen, in dem ich ihre strahlende und ausdrucksvolle Stimme höre.

Joop, mein Waffenbruder, ich fahre jetzt mit dir mit. Ach nein, ich fahre eigentlich gar nicht mit dir mit, aber ich spreche ab und zu mit dir und beschäftige mich viel mit dir in Gedanken, und ich bin so dankbar dafür, dass ich dir von all dem, was ich weitergeben muss, etwas abgeben darf – denn ich kann nicht anders.

Es ist so sinnreich, dass du in mein Leben getreten bist, es hätte gar nicht anders kommen können.

Lebe wohl.

17. September [1942], Donnerstagmorgen, 8 Uhr.

Das Lebensgefühl ist so groß und stark und ruhig in mir und es macht mich so dankbar, dass ich gar nicht mehr probieren werde, es in einem einzigen Wort auszudrücken. In mir ist ein so vollkommenes und vollständiges Glück, mein Gott. Es lässt sich doch wieder am besten in seinen Worten ausdrücken: «ruhen in sich». Und damit ist mein Lebensgefühl wohl am vollkommensten ausgedrückt: Ich ruhe in mir selbst. Und dieses Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, nenne ich «Gott». In Tides Tagebuch bin ich oft auf diesen Satz gestoßen: «Nimm ihn sanft in deine Arme, Vater.» Und so fühle ich mich, immer und unaufhörlich: als ob ich in deinen Armen läge, mein Gott, so behütet und so geborgen und so von einem Gefühl der Ewigkeit durchdrungen. Es ist, als ob jeder meiner geringsten Atemzüge von einem Gefühl der Ewigkeit durchdrungen wäre, als ob die unbedeutendste Handlung und das belangloseste Wort sich vor diesem großen Hintergrund abspielten und einen tieferen Sinn hätten.

In einem seiner ersten Briefe an mich schrieb er: «Und wenn ich von all dieser überströmenden Kraft abgeben kann bin ich sehr froh.» Es ist sicherlich gut, dass du meinen Körper hast «halt» rufen lassen, mein Gott. Ich muss ganz gesund werden, um all das tun zu können, was ich tun muss. Oder ist dies vielleicht eine weitere konventionelle Vorstellung? Selbst wenn der Körper krank ist, kann doch der Geist weiterwirken und fruchtbar sein? Und lieben und «hineinhorchen» in sich und in andere und in die Zusammenhänge des Lebens und in dich. «Hineinhorchen», ich wünschte, ich könnte dafür einen guten niederländischen Ausdruck finden. Eigentlich ist mein Leben ein einziges unablässiges «hineinhorchen», in mich selbst, in andere, in Gott. Und wenn ich sage: Ich «horch hinein», dann ist es eigentlich Gott in mir, der «hineinhorcht». Das Wesentlichste und Tiefste in mir, das auf das Wesentlichste und Tiefste im anderen horcht. Von Gott zu Gott.

Wie groß ist doch die innere Not deiner Geschöpfe auf dieser Erde, mein Gott. Ich danke dir, dass du so viele Menschen mit ihren inneren Nöten zu mir kommen lässt. Sie sitzen ruhig und arglos da und reden mit mir, und plötzlich bricht ihre Not in ihrer ganzen Nacktheit aus ihnen heraus. Und auf einmal sitzt da ein verzweifeltes Häufchen Mensch, das nicht weiß, wie es weiterleben soll.

Und dann beginnen für mich die Schwierigkeiten erst. Es reicht nicht aus, dich nur zu verkündigen, mein Gott, dich zu anderen hinauszutragen, um dich in den Herzen von anderen zutage zu fördern. Man muss den Weg zu dir bahnen in anderen, mein Gott, und dazu muss man ein großer Kenner der menschlichen Seele sein. Ein geschulter Psychologe muss man sein. Verhältnis zu Vater und Mutter, Jugenderinnerungen, Träume, Schuldgefühle, Minderwertigkeitsgefühle, nun ja, und der ganze Kram. Bei jedem, der zu mir kommt, beginne ich eine behutsame Erkundung des Inneren. Das Werkzeug, das mir zur Verfügung steht, um den Weg zu dir in anderen freizulegen, ist noch sehr unzureichend. Aber es sind immerhin schon ein paar Werkzeuge vorhanden und ich werde sie langsam und mit Geduld verbessern. Und ich danke dir, dass du mir die Gabe geschenkt hast, in anderen zu lesen und einen Weg in ihnen zu finden. Die Menschen sind für mich manchmal wie Häuser mit offen stehenden Türen. Ich gehe hinein und streife durch die Gänge und Räume, und jedes Haus ist ein wenig anders eingerichtet, und doch sind sie alle gleich, und aus jedem Haus sollte man eine heilige Bleibe für dich machen, mein Gott. Und ich verspreche dir, ich verspreche dir, ich werde in so vielen Häusern wie möglich eine Unterkunft und eine Bleibe für dich suchen, mein Gott. Das ist eigentlich eine lustige Vorstellung. Ich werde mich auf den Weg machen, um eine Bleibe für dich zu suchen. Es gibt so viele leer stehende Häuser, in denen ich dich als wichtigsten Kostgänger unterbringe. Verzeih mir diese nicht allzu subtile Vorstellung. Da komme ich schon wieder mit Rilke daher: «Denn wahrlich, auch die Größe der Götter hängt an ihrer Not: daran, daß sie, was man ihnen auch für Gehäuse behüte, nirgends in Sicherheit sind als in unserem Herzen.»[11]

abends gegen halb 11.

Gott, gib mir Ruhe und lass mich alles «bewältigen». Es ist so viel. Ich muss endlich wirklich anfangen zu schreiben. Aber ich muss damit beginnen, diszipliniert zu leben. Jetzt geht gerade das Licht in der Männerbaracke[12] aus. Aber sie haben doch nicht einmal Licht, oder? Wo warst du denn heute Abend, kleiner Waffenbruder? Manchmal überfällt mich plötzlich ein Anflug wilder Traurigkeit, dass ich nicht aus der Tür meiner Baracke gehen und dann plötzlich vor der großen Heide[13] stehen kann. Dann laufe ich ein wenig auf dem Gelände umher und es dauert nicht lange, bis von der einen oder anderen Seite mein Waffenbruder mit seinem braun gebrannten Gesicht und mit dieser senkrechten, fragenden Falte zwischen den???? Augen herbeigelaufen kommt. Ich kann noch nicht das richtige Adjektiv finden. Wenn es zu dämmern beginnt, höre ich aus der Ferne die ersten Töne von Beethovens Fünfter.

Ich wünschte, ich könnte alles mit Worten bewältigen, diese zwei Monate hinter dem Stacheldraht, die zu den intensivsten und reichsten Monaten meines Lebens gehören und die wirklich eine Bestätigung der letzten und höchsten Werte meines Lebens waren. Ich habe dieses Westerbork so lieb gewonnen und ich habe Heimweh danach. Und wenn ich dort auf meiner schmalen Pritsche einschlief, hatte ich Heimweh nach dem Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze und schreibe. Ich bin dir dankbar dafür, mein Gott, dass du mein Leben auf jedem Fleck dieser Erde so schön machst, dass ich Heimweh danach habe, wenn ich davon entfernt bin. Aber das macht das Leben manchmal auch hart und schwierig. Siehst du, jetzt ist es nach halb elf, in der Baracke geht das Licht aus, ich glaube, ich sollte jetzt ins Bett gehen. «Patientin muss ein ruhiges Leben führen», heißt es in dem beeindruckenden Attest. Und ich muss Reis und Honig essen und noch andere solche sagenhaften Dinge. Plötzlich muss ich an diese Frau mit ihren schneeweißen Haaren um das edle, ovale Gesicht denken, die ein Päckchen Toast in ihrem Brotbeutel hatte. Das war das Einzige, was sie für die Reise nach Polen bei sich hatte, denn sie war auf einer strengen Diät. Sie war furchtbar lieb und ruhig und hatte eine mädchenhafte, hochgewachsene Gestalt. Ich verbrachte mit ihr einen Nachmittag auf dem Gras in der Sonne vor den Durchgangsbaracken.[14] Ich habe ihr noch ein kleines Buch gegeben, das ich aus Spiers Bibliothek mitgenommen hatte: «Die Liebe» von Johannes Müller,[15] über das sie sehr glücklich war. Sie sagte zu ein paar jungen Mädchen, die sich später zu uns setzten: «Denkt daran, morgen früh, wenn wir abreisen, darf jede von uns nur dreimal weinen.» Und eines der Mädchen antwortete: «Ich habe meinen Bezugsschein fürs Weinen noch nicht erhalten.»

Es ist gegen elf. Wie schnell dieser Tag vergangen ist, ich werde jetzt doch ins Bett gehen. Morgen wird Tide ihr hellgraues Kostüm anziehen und in der Friedhofshalle singen: «Auf, auf mein Herz mit Freude.» Ich werde zum ersten Mal in meinem Leben in einem Wagen mit schwarzen Gardinen sitzen. Ich habe noch so viel zu schreiben, tage- und nächtelang. Gib mir Geduld, mein Gott, eine ganz neue Art von Geduld. Der Schreibtisch ist mir wieder vertraut geworden und der Baum vor meinem Fenster ist schon nicht mehr schwindelerregend. Du wirst dir schon etwas dabei gedacht haben, dass du mich jetzt wieder an diesem Schreibtisch sitzen lässt; ich werde mein Bestes geben. Und nun wirklich gute Nacht.

Ich habe solche Angst, dass du es dort sehr schwer hast, Jopie, und ich würde dir so gerne helfen. Und ich werde dir auch helfen. Tschüss!

Freitagmorgen, 18. September [1942].

Deine Lektionen sind hart, Gott, lass mich deine gute und geduldige Schülerin sein.

Ich fühle mich als einer von vielen Erben eines großen geistigen Vermächtnisses. Ich werde dessen treue Hüterin sein. Ich werde davon so viel wie nur möglich austeilen. Ich ertappe mich dabei, dass ich so vage, zerbrechliche und fragile Gesten mache, ich fühle mich so leicht und schwebend in meinem Körper, aber mein Geist ist so sicher und stark.

Ich werde meinen Schreibtisch aufräumen. Ich muss auch weiterhin in den äußeren Dingen Ordnung halten, gerade in den äußeren Dingen, sonst wachsen sie mir über den Kopf. Wenn ich etwas irgendwo hinlege, weiß ich eine Minute später nicht mehr, wo es abgeblieben ist, und dann kostet alles so viel Zeit, es wiederzufinden, und mit dieser Zeit könnte man etwas Besseres anfangen. Ich werde mein Bestes tun und meinen Schreibtisch aufräumen.

20. September [1942], Sonntagmorgen, 10 Uhr.

Wie kann ich dir nur danken, mein Gott, für all das Gute, das du mir ununterbrochen zuteilwerden lässt. Für alle Freundschaft, für die vielen fruchtbaren Gedanken, für dieses große Gefühl der Liebe, das ich in mir trage und das ich bei jedem Schritt anwenden kann, für alles. Manchmal glaube ich fast, dass es zu viel ist, dann weiß ich nicht, wie ich das alles jemals wiedergutmachen kann. Aber es ist so, als ob diese große Liebe alles, was man tut, fruchtbar werden lässt, vielleicht werde ich das irgendwann einmal ausdrücken können.

Sonntagabend.

In Wort, Klang und Bild umsetzen.

Viele Menschen sind für mich noch Hieroglyphen, aber ich lerne allmählich, sie zu entziffern. Es ist das Schönste, was ich kenne: das Leben aus Menschen herauslesen.

In Westerbork war es manchmal so, als stünde ich vor dem nackten Gerüst des Lebens. Das innerste Skelett des Lebens, ohne jegliche Verkleidung. Ich danke dir, mein Gott, dass du mir das Lesen immer besser beibringst.

Ich weiß, dass ich mich irgendwann entscheiden muss. Es wird sehr schwierig sein. Wenn ich schreiben will, wenn ich versuchen will, alles aufzuschreiben, was immer dringender in mir zum Ausdruck gebracht werden muss, werde ich mich viel mehr von den Menschen zurückziehen müssen, als ich das jetzt tue. Dann werde ich wirklich meine Tür abschließen müssen und den blutigen und zugleich selig machenden Kampf mit einer Materie aufnehmen, die mir kaum zu bewältigen zu sein scheint. Dann muss ich mich aus einer kleineren Gemeinschaft zurückziehen, um mich einer größeren zuwenden zu können. Es geht vielleicht nicht einmal darum, sich einer Gemeinschaft zuzuwenden. Es ist der reine dichterische Drang, etwas von dem inneren Bilderreichtum materialisieren zu wollen, es ist, ja, es ist so grundlegend, dass man eigentlich nicht einmal erklären muss, was es ist.

Ich frage mich manchmal, ob ich das Leben nicht bis zur Neige auskoste; ich lebe und genieße und verarbeite es so bis aufs Äußerste, dass überhaupt kein Rest mehr übrig bleibt. Und vielleicht braucht man, um schöpferisch sein zu können, doch einen übrig bleibenden Rest, der nicht zu Ende gelebt wird, wodurch eine Spannung erzeugt wird, die der Antrieb für schöpferische Arbeit ist?

Ich spreche viel mit Menschen, sehr viel in letzter Zeit. Im Moment spreche ich noch viel bildhafter und pointierter, als ich es je schreiben könnte. Manchmal denke ich, ich sollte nicht zu viel Zeit mit gesprochenen Worten vergeuden, sondern mich zurückziehen und meinen eigenen stillen Weg auf dem Papier suchen. Ein Teil von mir will das auch. Ein anderer Teil kann sich noch nicht dazu entschließen und verliert sich in Worten unter den Menschen.

«Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.»[16]

Ich werde später einmal ein Heft haben, in dem ich versuchen werde zu schreiben. Das ist etwas, mit dem ich allein fertigwerden muss, meine persönliche Front, es wird manchmal zum Verzweifeln sein. Es wird in diesem Heft aussehen wie auf einem blutigen Schlachtfeld von Worten, die miteinander ringen und sich gegenseitig bekämpfen. Und vielleicht erhebt sich dann über diesem Schlachtfeld eines Tages, rein wie der Mond, eine kleine Geschichte, die hier und da wie ein besänftigendes Lächeln über einem unsteten Leben schweben wird.

«Ich würde dir gerne in dieses Lager folgen», sagte Klaas erbittert und verzweifelt. Wir standen vor dem Fenster meines kleinen Zimmers und blickten auf das üppige Grün hinaus. Es war das Postskriptum einer langen Nachmittagsunterhaltung und in diesem PS stand auf einmal das Wesentliche, wie dies bei einem PS meist der Fall ist. «Tief in meinem Herzen bin ich verzweifelt», sagte Klaas, «es stimmt etwas nicht in meinem Leben, ich schleppe es mit mir herum und komme nicht damit zurecht. Dass ich nicht der Kerl großen Formats war, der ich hätte sein müssen und für den ich mich immer gehalten habe. Ich hätte als Arbeiter in einer Fabrik in D[eutschland] arbeiten sollen. Und jetzt kann ich zwar sagen: Ich arbeite nicht für die Wehrmacht und das ist auch viel besser so, aber das ist eigentlich nur eine Ausrede.» Ich sagte: «Es ist genau dasselbe wie bei den Juden, die untertauchen: Sie sagen manchmal, dass sie das tun, weil sie nicht für die D[eutschen] arbeiten wollen. Aber so heldenhaft und revolutionär sind sie nicht. Tatsächlich entziehen sie sich mit einer schön klingenden Ausrede einem Schicksal, das sie mit anderen zusammen hätten tragen müssen. Und es wird viele geben, die, wenn sie weitergeschickt werden, mit dem Einwand aufwarten würden: ‹Wir sind hier für die Wehrmacht unentbehrlich, dürfen wir bleiben?›»

Er kämpfte mit vielen Worten, sprach halb mit sich selbst, halb mit mir vor diesem Fenster. Es war ein atemberaubendes Schauspiel. In Klaas’ Fach ausgedrückt: Hörspiel.[17] Du schenkst mir immer so großartige Schauspiele, mein Gott, ich bin dir so dankbar dafür. Die nackten Seelennöte, ihre letzten Fragen stehen so oft nackt vor mir, und von dem, was sich in deinen Geschöpfen abspielt, mein Gott, versuche ich mit all meinen Sinnen etwas aufzufangen. Ich halte das für eine großartige Zeit, ich halte das trotz allem für eine großartige Zeit, ich werde dir später einmal sagen, weshalb.

Morgendliche Begegnung mit K.[18] zwischen den Baracken nach jenem Nachttransport.[19] «Wir kennen bloß die Zusammenhänge nicht.»

Frage an K.: «Kann ich was für Sie mitbringen aus A.?» K.: «Ja, die Liebe können Sie mir mitbringen.» Ich: «Die Liebe kann man einem nicht mitbringen, die muß man selber haben.» K.: «Wissen Sie das auch schon, woher haben Sie das alles doch erfahren?»

Fr.:[20] «Man soll denen allen die Beine brechen. Jawohl, ich weiß, Sie werden sagen, es gibt auch anständige D. Gut, die werden nur erschossen werden.» «Wird dem da die Beine gebrochen oder wird er erschossen?» Fr. großmütig: «Der wird nur erschossen. H. können, meine Vaterstadt, können sie plattbombardieren. Vor einigen Wochen hat man von da meine 83-jährige Mutter verschleppt. Jetzt darf es platt. Ja, so weit ist es schon mit uns gekommen.»

K. und der Mangel an Kritik. Ich konnte mir plötzlich vorstellen, weshalb Könige sich Hofnarren hielten.

Schwester Mendes da Costa aus dem Karmeliterkloster[21] mit 4 portugiesischen Großeltern. Und der Pater mit den ungetrübten Augen und den groben Händen,[22] der die kom[munistische] Revolution vorhergesagt hatte. Seit 15 Jahren hatte er sein Kloster nicht mehr verlassen. Und die beiden Nonnen aus dieser streng orthodoxen, reichen, hochbegabten Familie aus Breslau[23] mit Sternen auf ihren Ordenstrachten. Sie kehrten zu ihren Jugenderinnerungen zurück.

«Hast du das gesehen, Max,[24] die taubstumme Frau im 8. Monat mit ihrem epileptischen Ehemann?» Max: «Wie viele Frauen im 9. Monat werden in diesem Moment in Russl[and] aus ihren Häusern vertrieben und greifen noch nach einem Gewehr?»

Mein Herz ist eine Schleuse für eine nicht enden wollende Flut des Leids.

Jopie, unter dem großen Sternenhimmel auf der Heide sitzend, während eines Gesprächs über Heimweh: «Ich habe kein Heimweh, ich bin doch zu Hause.» Daraus habe ich damals so viel gelernt. Man ist «zu Hause». Unter dem Himmel ist man zu Hause. Auf jedem Fleck der Erde ist man «zu Hause», wenn man alles in sich trägt.

Ich habe mich oft wie ein Schiff gefühlt, das eine kostbare Fracht an Bord verstaut hat, und fühle mich immer noch so; die Taue werden gekappt und nun fährt das Schiff, so frei und durch alle Länder und es führt alle kostbare Fracht mit sich.

Man muss sich selbst eine Heimat sein.

Ich habe damals mehrere Abende lang gebraucht, bis ich es ihm erzählen konnte, das Intimste des Intimsten. Und ich wollte es ihm doch so gerne sagen, wie wenn ich ihm ein Geschenk machen würde. Ja, weißt du, dann bin ich nachts aus meiner Baracke herausgegangen. Es war so schön, weißt du. Und dann habe ich, dann habe ich, oh, es war so schön. Und erst einen Abend später konnte ich es ihm sagen: Dann habe ich mich vor der großen Heide niedergekniet. Er war völlig atemlos und still, er sah mich an und sagte: «Wie schön du bist!»

Dieser Arzt hatte natürlich nicht recht. Früher hätte mich so etwas womöglich verunsichert, aber jetzt habe ich gelernt, die Menschen zu durchschauen und Worte mit meiner eigenen Einsicht zu durchleuchten. «Sie leben zu sehr geistig, Sie leben sich nicht genug aus, Sie verzichten auf die elementaren Dinge des Lebens.» Fast hätte ich gefragt: «Soll ich mich etwa hier zu Ihnen auf den Diwan legen?» Das hätte nicht besonders taktvoll geklungen, aber eigentlich ging sein Monolog in diese Richtung. Und danach: «Sie leben nicht genügend in der Realität.» Und später dachte ich: Das stimmt doch eigentlich alles nicht, was so ein Mann behauptet. Jawohl, die Realität. Die Realität ist, dass an vielen Orten dieser Welt Männer und Frauen nicht zusammenkommen können. Die Männer sind an den Fronten. Das Lagerleben. Die Gefängnisse. Das Getrenntsein voneinander. Das ist die Realität. Und damit muss man fertigwerden. Und man muss sich doch nicht nur vergeblich sehnen und Onans Sünde begehen? Könnte man nicht jetzt diese Liebe, die man nicht einem Einzigen des anderen Geschlechts geben kann, in eine Kraft umwandeln, die der Gemeinschaft zugutekommt und die man vielleicht auch wiederum Liebe nennen könnte? Und wenn man das anstrebt, steht man nicht gerade dann auf dem Boden der Realität? Eine Realität, die nicht so greifbar ist wie ein Bett mit einem Mann und einer Frau darin. Aber es gibt doch auch andere Realitäten? Es wirkt ein wenig albern und ausgehungert, wenn ein älterer Mann in dieser Zeit, mein Gott, in dieser Zeit von «sich ausleben» spricht. Ich hätte es mir gerne plastisch erzählen lassen, was er damit genau meint.

«Daß es eine ästhetische Meinung gab, die die Schönheit zu fassen glaubte, hat Sie irregemacht und hat Künstler hervorgerufen, die ihre Aufgabe darin sahen, Schönheit zu schaffen. Und es ist immer noch nicht überflüssig geworden, zu wiederholen, daß man Schönheit nicht ‹machen› kann. Niemand hat je Schönheit gemacht.»

«… daß alles, was man machen kann, ist: eine auf bestimmte Weise geschlossene, an keiner Stelle zufällige Oberfläche herzustellen, eine Oberfläche, die, wie diejenige der natürlichen Dinge, von der Atmosphäre umgeben, beschattet und beschienen ist, nur diese Oberfläche, – sonst nichts. Aus allen den großen anspruchsvollen und launenhaften Worten scheint die Kunst auf einmal ins Geringe und Nüchterne gestellt, ins Alltägliche, ins Handwerk. Denn was heißt das: eine Oberfläche machen?

Aber lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, ob nicht alles Oberfläche ist, was wir vor uns haben und wahrnehmen und auslegen und deuten? Und was wir Geist und Seele und Liebe nennen: ist das nicht alles nur eine leise Veränderung auf der kleinen Oberfläche eines nahen Gesichts? Und wer uns das geformt geben will, muß er sich nicht an das Greifbare halten, das seinen Mitteln entspricht, an die Form, die er fassen und nachfühlen kann? Und wer alle Formen zu sehen und zu geben vermöchte, würde der uns nicht (fast ohne es zu wissen) alles Geistige geben?

… … …

Denn alles Glück, vor dem je Herzen gezittert haben; alle Größe, an die zu denken uns fast zerstört; jeder von den weiten umwandelnden Gedanken: es gab einen Augenblick, da sie nichts waren als das Schürzen von Lippen, das Hochziehn von Augenbrauen, schattige Stellen auf Stirnen: und dieser Zug um den Mund, diese Linie über den Lidern, diese Dunkelheit auf einem Gesicht – vielleicht waren sie genau so schon vorher da: als Zeichnung auf einem Tier, als Furche in einem Felsen, als Vertiefung auf einer Frucht …»[25]

«Nach diesem Krieg wird neben einer Flut des Humanismus auch eine Flut des Hasses über die Welt hereinbrechen.» Und da wusste ich wieder: Ich werde gegen diesen Hass zu Felde ziehen.

[Dienstag] 22. September [1942].

Man muss mit sich selbst leben, als lebte man mit einem ganzen Volk von Menschen. Und in sich selbst lernt man dann alle guten und schlechten Eigenschaften der Menschheit kennen. Und man muss zuerst lernen, sich selbst seine schlechten Eigenschaften zu vergeben, wenn man anderen vergeben will.

Das ist womöglich das Schwierigste, was ein Mensch lernen muss; ich stelle das so oft bei anderen fest (früher auch bei mir selbst, jetzt nicht mehr): sich selbst seine Fehler und Irrtümer verzeihen. Dazu gehört zuallererst: akzeptieren können, großmütig akzeptieren, dass man Fehler macht und Irrtümer begeht.

Ich möchte gern so wie die Lilien auf dem Feld[26] leben. Wenn man diese Zeit richtig verstünde, könnte man es von ihr lernen: wie eine Lilie auf dem Feld zu leben.

Ich habe früher einmal in eines meiner Tagebücher geschrieben: Ich möchte mit meinen Fingerspitzen die Konturen dieser Zeit abtasten.[27] Ich saß damals an meinem Schreibtisch und wusste nicht genau, wie man das Leben direkt angehen sollte. Das lag daran, dass ich noch keinen Zugang zu meinem eigenen Leben gefunden hatte. Ich habe es geschafft, das Leben in mir zu erreichen, obwohl ich noch an diesem Schreibtisch saß. Und dann wurde ich plötzlich in einen Brennpunkt menschlichen Leidens geschleudert, an eine der vielen kleinen Fronten, die es in ganz Europa gibt. Und dort erlebte ich plötzlich dies: Aus den Gesichtern der Menschen, aus Tausenden Gesten, kleinen Äußerungen und Lebensgeschichten, begann ich diese Zeit – und noch viel mehr als nur diese Zeit – herauszulesen. Weil ich gelernt hatte, in mir selbst zu lesen, bemerkte ich, dass ich auch in anderen lesen konnte. Es kam mir da wirklich vor, als ertastete ich mit empfindlichen Fingerspitzen die Konturen dieser Zeit und des Lebens. Wie kommt es nur, dass mir dieses mit Stacheldraht umzäunte Stück Heideland, wo so viele Schicksale und so viel menschliches Leid an- und weggespült wurden, fast lieblich in Erinnerung geblieben ist? Wie kommt es, dass mein Geist dort nicht getrübt, sondern vielmehr erleuchtet und erhellt wurde? Ich habe dort etwas von dieser Zeit, die mir nicht sinnlos erscheint, gelesen und verstanden. An diesem Schreibtisch zwischen meinen Schriftstellern, Dichtern und Blumen habe ich das Leben so sehr geliebt. Und dort inmitten der Baracken voller aufgescheuchter und verfolgter Menschen habe ich die Bestätigung für meine Liebe zum Leben gefunden. Das Leben in jenen zugigen Baracken stand keineswegs im Gegensatz zum Leben in diesem geschützten, ruhigen Zimmer. Ich war keinen Augenblick lang von dem Leben abgeschnitten, das angeblich vorbei ist, es bestand eine große, sinnreiche Kontinuität. Wie soll ich das alles irgendwann beschreiben? So, dass auch andere nachempfinden können, wie schön und lebenswert und gerecht, ja gerecht, das Leben doch im Grunde ist. Vielleicht gibt mir Gott irgendwann diese wenigen einfachen Worte? Auch farbenfrohe und leidenschaftliche sowie ernste Worte. Aber vor allem: einfache. Wie zeichne ich mit ein paar dünnen/zarten und doch kräftigen Pinselstrichen dieses kleine Barackendorf zwischen Heide und Himmel? Und wie kann ich andere in diesen vielen Menschen, die wie Hieroglyphen entziffert werden müssen, mitlesen lassen, Zeile für Zeile, bis man schließlich ein einziges großes lesbares und verständliches Ganzes vor sich sieht, eingerahmt zwischen Heide und Himmel?

Eines weiß ich schon jetzt sicher: Ich werde es nie so aufschreiben können, wie es das Leben mir selbst in seinen lebendigen Buchstaben aufgeschrieben hat. Ich habe alles gelesen, mit meinen eigenen Augen und vielen Sinnen. Ich werde es niemals so nacherzählen können. Das könnte mich zur Verzweiflung bringen, wenn ich nicht gelernt hätte zu akzeptieren, dass man mit den unzureichenden Kräften vorliebnehmen muss, die man besitzt, aber dass man mit ihnen so gut wie möglich arbeiten muss.

Ich gehe an den Menschen vorbei, als ob sie Setzlinge wären, und schaue, wie hoch die Saat der Menschlichkeit gewachsen ist.

Dieses Haus hier, ich spüre es, fängt langsam an, mir von den Schultern zu gleiten. Das ist gut so, die Trennung davon wird jetzt vollständig vollzogen. Sehr vorsichtig, mit großer Wehmut, auch mit der Gewissheit, dass es gut ist und nicht anders sein kann, lasse ich es gleiten, Tag für Tag.

Und mit einem Hemd am Körper und einem Hemd in meinem Rucksack – wie ging noch einmal Kormanns Märchen von dem Mann ohne Hemd? Der König, der in seinem ganzen Reich nach dem Hemd seines glücklichsten Untertanen suchte, und als er endlich den glücklichsten Menschen gefunden hatte, stellte sich heraus, dass er gar kein Hemd besaß – und mit der winzigen Bibel, vielleicht kann ich auch noch meine russischen Wörterbücher und die Volkserzählungen von Tolstoi[28] mitnehmen, und vielleicht, wer weiß, ist noch genug Platz für einen Band von Rilkes Briefen übrig. Und dann der Pullover aus reiner Schafwolle, von einer Freundin eigenhändig gestrickt, wie viel ich immer noch besitze, mein Gott, und so jemand will eine Lilie auf dem Feld sein? Also, mit dem einen Hemd in meinem Rucksack gehe ich in eine «unbekannte Zukunft». So wird das genannt. Aber ist es denn nicht überall dieselbe Erde unter meinen umherirrenden Füßen und derselbe Himmel, mal mit dem Mond und mal mit der Sonne, und nicht zu vergessen all die Sterne über meinem begeisterten Kopf? Warum also von einer unbekannten Zukunft sprechen?

[Mittwoch] 23. September [1942].

«Und der Hass bringt uns doch nicht weiter, Klaas, die Dinge sind in Wirklichkeit doch ganz anders, als wir sie in unseren künstlichen Schemata sehen wollen. Zum Beispiel gibt es einen Mitarbeiter[29] bei uns. Ich sehe ihn oft in Teilen vor mir. Das Auffälligste an ihm ist sein starrer, aufrechter Nacken. Er hasst unsere Verfolger mit einem Hass, für den er – wie ich annehme – triftige Gründe hat. Aber er selbst ist ein Leuteschinder. Er würde einen vorbildlichen Leiter eines Konzentrationslagers abgeben. Ich habe ihn oft beobachtet, wenn er am Lagereingang stand, um seine gehetzten Rassegenossen zu empfangen, es war nie sonderlich erfreulich. Ich erinnere mich, wie er einmal einem weinenden dreijährigen Kind ein paar ekelhafte schwarze Lakritzbonbons auf den Holztisch knallte und äußerst väterlich-streng hinzufügte: ‹Pass auf, dass dein Maul nicht schmutzig wird.› Im Nachhinein glaube ich, dass es eher Unbeholfenheit und Verlegenheit als böser Wille war, er konnte den richtigen Ton nicht treffen. Übrigens war er einer der brillantesten Juristen Hollands und seine scharfsinnigen Artikel waren immer hervorragend formuliert. (Dieser Mann, der sich schließlich im Krankenhaus erhängt hat: ‹Denke daran, dass wir ihn aus der ‹Hopla›-Kartei[30] streichen›.) Wenn ich ihn so mit seinem geraden Nacken, seinem Herrscherblick und seiner ewigen Stummelpfeife zwischen den Menschen herumgehen sah, dachte ich immer: Ihm fehlt nur noch eine Peitsche in der Hand, die würde wunderbar zu ihm passen.

Und doch konnte ich ihn nicht verabscheuen, dafür interessierte er mich zu sehr. Ich hatte im Grunde sogar hin und wieder ganz schreckliches Mitleid mit ihm. Er hatte so einen unzufriedenen Mund, genau genommen einen todunglücklichen Mund. So einen Mund eines 3-jährigen Kindes, das seinen Willen bei seiner Mutter nicht durchsetzen konnte. Er war inzwischen über 30, ein gut aussehender Mann, ein bekannter Jurist und Vater von zwei Kindern. Aber sein Gesicht hatte den Mund eines unzufriedenen und quengelnden dreijährigen Kindes behalten, natürlich nur etwas gröber und größer geworden im Laufe der Jahre. Wenn man ihn genauer betrachtete, war er eigentlich überhaupt kein gut aussehender Typ.

Siehst du, Klaas, im Grunde war es eigentlich so: Er war so voller Hass gegen jene, die wir unsere Peiniger nennen könnten, aber was für ein hervorragender Henker und Verfolger von Wehrlosen wäre er doch selbst gewesen. Und doch tat er mir so leid. Kannst du das irgendwie verstehen? Es gab nie einen freundlichen Kontakt zwischen ihm und seinen Mitmenschen, und er konnte so verstohlen hungrige Blicke auf andere werfen, wenn sie freundlich miteinander umgingen. (Schließlich konnte ich ihn immer sehen und wahrnehmen, das Leben dort war ohne Wände.) Später erfuhr ich von einem Kollegen, der ihn schon seit Jahren kannte, ein paar Details über ihn. Während des Krieges war er aus dem dritten Stock auf die Straße gesprungen, aber es war ihm nicht gelungen, sich umzubringen, was ja anscheinend seine Absicht gewesen war. Später hatte er einmal versucht, sich von einem Auto überfahren zu lassen, aber auch das misslang. Er verbrachte danach ein paar Monate in einer Irrenanstalt. Es war Angst, nichts als Angst. Er war ein so brillanter und intelligenter Jurist, in Debatten mit Professoren und anderen Gelehrten hatte er immer das letzte und entscheidende Wort. Aber im entscheidenden Moment sprang er vor Angst aus dem Fenster. Ich hörte auch über ihn, dass seine Frau auf Zehenspitzen durch das Haus gehen musste, wenn er da war, weil er keinerlei Geräusche ertragen konnte, und auch, dass er seine Kinder immer anschnauzte und wie sehr sie sich vor ihrem Vater ängstigten. Ich hatte tiefes, tiefes Mitleid mit ihm, denn was ist ein solches Leben denn für ein Leben?

Klaas, ich wollte dir eigentlich nur sagen: Wir haben noch so viel mit uns selbst zu tun, dass wir es nicht einmal dazu kommen lassen sollten, unsere sogenannten Feinde zu hassen. Wir sind einander noch feind genug. Und ich habe es noch nicht zu Ende gedacht, wenn ich sage, dass es unter unseren eigenen Leuten auch Peiniger und schlechte Elemente gibt.[31] Ich glaube nämlich nicht an die Existenz dessen, was man als ‹schlechte Menschen› bezeichnet.

Ich möchte diesen Mann in seinen Ängsten erreichen, ich möchte bei ihm die Quelle dieser Angst aufspüren, ich möchte eine Treibjagd auf ihn machen und ihn in sein eigenes Inneres treiben, das ist das Einzige, was wir in dieser Zeit tun können, Klaas.»

Und Klaas winkte müde und mutlos ab und sagte: «Aber was du willst, dauert so lange, so viel Zeit haben wir doch nicht?» Und ich antwortete: «Aber mit dem, was du willst, beschäftigt man sich jetzt schon seit zweitausend Jahren unserer christlichen Zeitrechnung, abgesehen von den vielen Jahrtausenden zuvor, in der es die Menschheit ja auch schon gab. Und was hältst du von dem Ergebnis, wenn ich fragen darf?»

Und ich wiederholte mit derselben Leidenschaftlichkeit wie immer, obwohl ich mir allmählich selbst langweilig vorkam, weil es bei mir immer wieder auf das Gleiche hinauslief: «Es ist wirklich die einzige Möglichkeit, Klaas, ich sehe keinen anderen Weg, als dass sich jeder von uns auf sich selbst besinnt und in sich all das ausrottet und vernichtet, um dessentwillen er andere vernichten zu müssen glaubt. Wir müssen durchdrungen sein von der Überzeugung, dass jedes Fünkchen Hass, das wir dieser Welt hinzufügen, sie noch ungastlicher macht, als sie ohnehin schon ist.»

Und Klaas, der alte und verbissene Klassenkämpfer,[32] sagte entsetzt und erstaunt zugleich: «Ja, aber das – aber das wäre ja wieder das Christentum!»

Und ich, über so viel plötzliche Verwirrung amüsiert, sagte ganz kaltschnäuzig: «Ja, warum eigentlich auch nicht – das Christentum?»

Lass mich gesund und stark bleiben!

Wie die Baracke dort manchmal nachts unter dem Mond aus Silber und Ewigkeit dalag: wie ein Spielzeug, das Gottes schusseliger Hand entglitten ist.

[Donnerstag] 24. September [1942].

«Zumindest einen Trost gibt es», sagte Max mit seinem derben, flegelhaften Grinsen, «der Schnee bildet dort im Winter so hohe Verwehungen, dass er die Fenster der Baracken bedeckt, nun, dann ist es dort tagsüber auch dunkel.» Er kam sich dabei ziemlich geistreich vor. «Aber dann werden wir es wenigstens schön warm haben, die Temperatur wird nie unter null sinken können.» «Und in den Arbeitsbaracken haben wir zwei kleine Öfen bekommen», fuhr er begeistert fort, «diejenigen, die sie brachten, berichteten, dass sie so gut brennen, dass sie beim ersten Mal schon einen Riss kriegen.»

Wir werden im Winter eine Menge zusammen zu ertragen und miteinander zu teilen haben, wenn wir es denn auch wirklich tragen und einander tragen helfen: die Kälte, die Dunkelheit und den Hunger. Und zugleich muss uns bewusst sein, dass wir diesen Winter mit der gesamten Menschheit zusammen ertragen müssen, auch mit unseren sogenannten Feinden, wenn wir uns dann auch wirklich in ein großes Ganzes eingebettet fühlen und wissen, dass wir eine der vielen Fronten sind, die über die ganze Welt verstreut sein werden.

Es wird eine Holzbaracke unter freiem Himmel geben mit Betten von der Maginot-Linie,[33] drei übereinander und ohne Licht, weil das Kabel aus Paris immer noch nicht kommen will. Und selbst wenn es Licht gäbe, hätten wir immer noch kein Verdunkelungspapier. – Ich breche alles mittendrin ab und jetzt ist es schon wieder Abend. Mein Körper führt sich heute verdammt unerfreulich auf. Unter meiner Stahllampe steht ein kleines rosarotes Alpenveilchen. Heute Abend viel mit S. zusammen gewesen. Ich spürte plötzlich eine einsetzende Traurigkeit, doch auch das gehört zum Leben dazu. Und dennoch bin ich dir dankbar dafür, mein Gott, ich bin sogar fast stolz darauf, dass du mir deine letzten und größten Rätsel nicht vorenthältst. Ich kann noch das ganze Leben lang darüber nachdenken. Aber heute Abend hatte ich plötzlich so viele Fragen an ihn, auch über ihn selbst, auf einmal war mir so vieles nicht klar. Ich muss nun selbst die Antworten finden. Was für eine verantwortungsvolle Aufgabe. Aber ich muss sagen: Ich fühle mich ihr gewachsen. Komisch, wenn das Telefon klingelt, wird es nie wieder seine Stimme sein, die am anderen Ende halb gebieterisch, halb zärtlich sagt: «Hören Sie mal?» Es wird manchmal doch sehr schwer sein. Wie lange ich Tide nicht mehr gesehen habe!

In den letzten Tagen haben mich die Vögel des Himmels und die Lilien auf dem Feld[34] und Matthäus 6,33 bereichert:

«Trachtet vielmehr zuerst nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles dazugegeben werden.»[35]

Und morgen eine Verabredung mit Ru Cohen[36] im Café de Paris, und fünf Leute waren auf dem Adama v. Scheltemaplein[37] im Nachthemd und in Pantoffeln, es wird schon allmählich so kalt, und jetzt wurde auch jemand mitgenommen, der Krebs im Endstadium[38] hatte, und gestern Abend ist ein Jude in der Van Baerlestraat, also gleich hier um die Ecke, erschossen worden, weil er weglaufen wollte. Es werden in diesem Moment viele Menschen auf der ganzen Welt erschossen, während ich diese Zeilen hier bei meinem rosaroten Alpenveilchen im Licht meiner stählernen Schreibtischlampe schreibe. Meine linke Hand ruht während des Schreibens auf der kleinen, aufgeschlagenen Bibel, ich habe Kopfschmerzen und Bauchschmerzen, und auf dem Grunde meines Herzens liegen die sonnigen Sommertage auf der Heide und das gelbe Lupinenfeld, das sich bis zur Entlausungsbaracke[39] erstreckte.

Es ist noch keinen Monat her, dass Joop mir am 27. August um Mitternacht schrieb:[40] «Da sitze ich nun, meine Beine baumeln nach draußen und ich lausche der gewaltigen Stille. Das Lupinenfeld, jetzt ohne fröhliche Farben, nicht in das grell-strahlende tröstliche Sonnenlicht getaucht. Jetzt ist alles so feierlich und friedlich, was mich ganz still und ernst werden lässt. Ich springe aus dem Fenster, mache ein paar Schritte im lockeren Sand und schaue zum Mond auf.» Und dann beendet er den nächtlichen Brief mit seiner geschlossenen, konzentrierten Handschrift auf dem gewöhnlichen Papier: «Ich verstehe, dass jemand sagen kann: Hier kann man nur eine Gebärde machen: niederknien. Nein, ich habe es nicht getan, ich halte das nicht für notwendig, ich kniete im Fenster sitzend und ging dann schlafen.»

Es ist so sonderbar, wie dieser Mann plötzlich fast lautlos, belebend und beseelend mitten in mein Leben trat, während der große Freund, der Geburtshelfer meiner Seele, mit Schmerzen in seinem Bett lag und kindisch wurde.[41]

Ich frage mich manchmal in einem schwierigen Moment wie heute Abend, was du für Absichten mit mir hast, mein Gott. Und vielleicht hängt es davon ab, was ich für Absichten mit dir habe?

Alle nächtlichen Nöte und Einsamkeiten einer leidenden Menschheit ziehen nun plötzlich mit quälendem Schmerz durch mein kleines Herz. Was gedenke ich denn in diesem Winter auf mich zu nehmen?

Später möchte ich durch die verschiedenen Länder deiner Welt reisen, mein Gott, ich spüre einen Drang in mir, der alle Grenzen überschreitet und der in all deinen unterschiedlichen und sich bekämpfenden Geschöpfen auf der ganzen Erde doch etwas Gemeinsames entdeckt. Und über diese Gemeinsamkeit möchte ich sprechen, mit einer ganz kleinen und leisen Stimme, aber unaufhörlich und überzeugend. Gib mir die Worte und die Kraft dazu. Aber zuerst möchte ich an den Fronten inmitten der leidenden Menschen sein. Aber dann werde ich doch auch ein Wörtchen mitzureden haben? Es steigt immer wieder wie eine kleine, wärmende Welle in mir auf, immer und immer wieder, auch nach den schwersten Momenten: Wie schön das Leben ist! Es ist ein unerklärliches Gefühl. Es wird auch nicht durch die Realität gestützt, in der wir jetzt leben. Aber es gibt doch noch andere Realitäten außer denen, die man in der Zeitung und in den gedankenlosen und hitzigen Gesprächen aufgeschreckter Menschen findet? Es gibt auch noch die Realität dieses kleinen rosaroten Alpenveilchens und des großen Horizonts, die man doch immer wieder hinter dem Lärm und dem Wirrwarr dieser Zeit entdecken kann?

Gib mir täglich eine kleine Gedichtzeile, mein Gott, und wenn ich sie nicht immer aufschreiben kann, weil es kein Papier und kein Licht mehr gibt, werde ich sie abends deinem großen Himmel zuflüstern. Aber gib mir ab und zu eine einzige kleine Gedichtzeile.

[Freitag] 25. September [1942], 11 Uhr abends.

Tide erzählte mir, eine Freundin habe ihr einmal nach dem Tod ihres Mannes gesagt: «Gott hat mich in eine höhere Klasse versetzt, die Bänke sind schon noch ein bisschen zu groß.»

Und als wir darüber sprachen, dass er nicht mehr ist und wie seltsam es sei, dass wir beide überhaupt keine Leere, sondern vielmehr eine solche Fülle empfanden, zog Tide ihren Kopf ein und sagte mit einem tapferen Lächeln: «Ja, die Bänke sind noch ein bisschen zu groß, es ist ab und zu schon schwer.»

Matthäus 5,23: «Wenn du nun deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dort einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat,

24. dann lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen und geh, versöhne dich zuerst mit deinem Bruder; dann komm und bring deine Gabe dar.»

Es ist einmal eine Silberflotte im Ozean versunken. Die Menschheit hat seither immer wieder versucht, die versunkenen Schätze aus dem Wasser zu heben. In meinem Herzen sind schon so viele Silberflotten untergegangen und ich werde mein ganzes Leben lang versuchen, etwas von den vielen versunkenen Schätzen, die dort liegen, an die Oberfläche zu bringen. Ich habe noch nicht das richtige Werkzeug dafür. Ich muss es aus dem Nichts erschaffen.

Ich trippelte neben Ru her, und nach einem sehr langen Gespräch, in dem wieder einmal alle «letzten Fragen» aufgeworfen wurden, blieb ich plötzlich regungslos an seiner Seite stehen, mitten in der engen und eintönigen Govert Flinckstraat, und sagte: «Ja, und weißt du, Ru, dann habe ich noch so eine kindliche Eigenschaft, dank der ich das Leben immer wieder so schön finde und dank der ich vielleicht alles so gut tragen kann.» Ru schaute mich erwartungsvoll an und ich sagte, als wäre es die normalste Sache der Welt (– und ist es das nicht eigentlich auch?): «Ja, siehst du, ich glaube an Gott.» Ich glaube, er fand es ziemlich verwirrend und er sah mich an, als gäbe es etwas Geheimnisvolles in meinem Gesicht zu lesen, aber im Nachhinein fand er es doch schön für mich. Vielleicht fühlte ich mich deshalb für den Rest des Tages so strahlend und kraftvoll? Weil es so unvermittelt und einfach mitten in dem grauen Arbeiterviertel aus mir herausbrach: «Ja, siehst du, ich glaube an Gott.»

Es ist gut, dass ich ein paar Wochen hiergeblieben bin. Ich gehe mit erneuerten Kräften wieder zurück. Ich habe doch nicht den rechten Gemeinschaftssinn, ich war viel zu bequem. Zu den alten Leuten, den Bodenheimers,[42] hätte ich natürlich auch gehen sollen und mich nicht mit der Ausrede davor drücken sollen: Ich kann sowieso nichts für sie tun. Und so gibt es viele Dinge, bei denen ich versagt habe. Ich bin zu sehr meinen eigenen Vergnügungen nachgejagt. Ich schaute abends auf der Heide so gerne in ein Augenpaar. Es war sehr schön, und doch habe ich in jeder Hinsicht versagt. Auch den Mädchen in meinem Saal gegenüber.[43] Ab und zu warf ich ihnen ein Stückchen von mir zu und rannte dann wieder weg. Das war nicht richtig. Und doch bin ich dankbar, dass es so war, es war so schön, so bezaubernd schön, und ich bin auch dankbar dafür, dass ich es wiedergutmachen kann. Ich glaube, ich werde ernster und konzentrierter zurückkehren und weniger auf Jagd nach meinem eigenen Vergnügen gehen. Wenn man moralisch auf andere einwirken will, muss man damit anfangen, mit der eigenen Moral Ernst zu machen. Ich bin den ganzen Tag mit Gott beschäftigt, als wäre das ganz selbstverständlich, aber dann muss man auch dementsprechend leben. Ich bin noch lange nicht so weit, o nein, noch lange nicht, aber manchmal tue ich gerade so, als ob ich es schon wäre. Ich bin verspielt und bequem, ich erlebe die Dinge oft mehr als Künstlerin denn als ernsthafter Mensch, etwas Bizarres und Abenteuerliches und Willkürliches steckt auch in mir. Aber während ich hier spätabends so an diesem Schreibtisch sitze, spüre ich auch wieder, dass eine gebieterische, lenkende Kraft in mir ist, eine große, wachsende Ernsthaftigkeit, die manchmal wie eine lautlose Stimme ist, die mir sagt, was ich zu tun habe, und die mich schließlich auch ganz ehrlich niederschreiben lässt: Ich habe in jeder Hinsicht versagt, meine eigentliche Arbeit muss erst noch beginnen. Bis jetzt war alles hauptsächlich Spielerei.

[Samstag] 26. September [1942], halb 10.

Ich danke dir, mein Gott, dass ich eines deiner Geschöpfe so vollständig an Leib und Seele erfahren habe.

Ich muss dir noch viel mehr überlassen, mein Gott. Dir auch keine Bedingungen stellen: Wenn ich nur gesund bleibe, dann … Selbst wenn ich nicht gesund bin, geht das Leben doch sicherlich auch weiter, und zwar so gut wie möglich, nicht wahr? Ich kann doch keine Forderungen stellen? Ich werde es auch nicht tun. Und in dem Moment, als ich alles «aus der Hand» gab, wurden meine Magenschmerzen auch plötzlich viel besser.

Ich habe am frühen Morgen ein wenig in meinen Tagebüchern geblättert, tausend Erinnerungen sprangen mir wieder entgegen. Was für ein überwältigend reiches Jahr! Und auch: Welch neue Reichtümer jeder Tag bringt! Und auch: Ich danke dir, dass du mir so viel Raum gegeben hast, damit ich all diese Reichtümer aufbewahren kann.

Ich bemerke immer mehr, wie sehr Rilke einer meiner großen Erzieher des letzten Jahres gewesen ist.

[Sonntag] 27. September [1942].

Dass man ein solches Funken sprühendes Feuer sein kann! Alle Worte und alle Ausdrücke, die ich einmal verwendet habe, erscheinen mir in diesem Augenblick grau, verblasst und farblos, verglichen mit dieser intensiven Lebensfreude und Liebe und Kraft, die aus mir herausbricht.

Mein 21-jähriger Klavier spielender kleiner Bruder schreibt aus einer Irrenanstalt im wievielten? Kriegsjahr:

«Henny,[44] auch ich glaube, ich weiß, dass es ein anderes Leben nach diesem gibt. Ich glaube sogar, dass manche Menschen es bereits zeitgleich mit diesem Leben sehen und erfahren können. Das ist eine Welt, in der die ewigen Einflüsterungen der Mystik zu lebendiger Wirklichkeit geworden sind und in der gewöhnliche, alltägliche Gegenstände oder Äußerungen eine höhere Bedeutung erlangt haben. Es ist gut möglich, dass die Menschen nach dem Krieg offener dafür sein werden als bisher, dass sie gemeinsam von einer höheren Weltordnung durchdrungen sein werden.»

«Und wenn ich all meine Habe verschenke, … aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts.»[45]

Du musst jetzt nicht mehr leiden, du Verwöhnter, ich kann dieses bisschen Kälte und dieses bisschen Stacheldraht gut vertragen und ich lasse dich in mir weiterleben. Was von dir unsterblich war, lebt in mir weiter.

Wie der Mensch doch am Materiellen hängt: Tide hat mir einen kleinen zerbrochenen rosa Kamm von ihm gegeben. Fotos von ihm möchte ich eigentlich nicht einmal haben, vielleicht werde ich sogar seinen Namen nie wieder aussprechen, aber dieser schmuddelige kleine rosa Kamm, mit dem ich ihn 1 ½ Jahre lang sein schütteres Haar habe kämmen sehen, befindet sich jetzt in meiner Brieftasche zwischen den wichtigsten Papieren und ich wäre wahnsinnig traurig, wenn ich ihn je verlieren sollte. Der Mensch ist doch ein seltsames Wesen.

[Montag] 28. September [1942].

Audi et alteram partem.[46]

Der Giftgasbandit mit dem geänderten Namen und die Maiglöckchen und die verführte Krankenschwester.[47]

Es hat mich damals schon stark beeindruckt, als der flirtende Internist[48] mit den melancholischen Augen zu mir sagte: «Sie leben geistig zu intensiv, das ist schlecht für Ihre Gesundheit, Ihre körperliche Verfassung kann das nicht verkraften.» Als ich es Jopie erzählte, sagte er nachdenklich und beipflichtend: «Er hat wahrscheinlich recht.»

Ich habe lange darüber nachgedacht und weiß mit immer größerer Gewissheit: Er hat nicht recht. Es stimmt, ich lebe intensiv, manchmal kommt es mir vor, als sei es eine dämonische und ekstatische Intensität, aber ich erneuere mich von Tag zu Tag am Urquell, am Leben selbst, und ich ruhe mich von Zeit zu Zeit in einem Gebet aus. Und diejenigen, die sagen: «Du lebst zu intensiv», wissen nicht, dass man sich in ein Gebet wie in eine Klosterzelle zurückziehen kann und dann mit erneuerter Kraft und wiedergewonnener Ruhe weitergeht.

Es ist, glaube ich, ausgerechnet die Angst der Menschen, sich zu sehr zu verausgaben, die ihnen die meisten Kräfte raubt. Wenn man nach einem langen und mühsamen Prozess, der täglich voranschreitet, zu den Urquellen in sich vorgedrungen ist, die ich nun einmal Gott nennen möchte, und wenn man dafür sorgt, dass dieser Weg zu Gott frei bleibt und nicht verbarrikadiert wird – und das geschieht durch «Arbeit an sich selbst» –, dann erneuert man sich immer wieder an dieser Quelle und dann braucht man auch keine Angst zu haben, sich zu sehr zu verausgaben.

Ich glaube nicht an objektive Feststellungen. Unendliches Zusammenspiel menschlicher Wechselwirkungen.

Man sagt, du seist zu früh gestorben. Nun denn, dann wird eben ein Psychologiebuch weniger geschrieben, aber es ist ein bisschen mehr Liebe in die Welt gelangt.

[Dienstag] 29. September [1942].

Du sagtest oft: «Das ist Sünde an dem Geist, das rächt sich. Jede Sünde an dem Geist rächt sich.» Ich glaube auch, dass sich jede «Sünde» gegen die Menschenliebe rächt, am Menschen selbst und an der Außenwelt.

Ich will es noch einmal für mich aufschreiben, Matthäus 6,34:

«Sorgt euch also nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last.»[49]

Man muss sie täglich bekämpfen wie Flöhe, die vielen kleinen Sorgen um die kommenden Tage, die die besten schöpferischen Kräfte des Menschen anfressen. Man versucht, in Gedanken Vorkehrungen für die kommenden Tage zu treffen – und dann kommt alles anders, ganz anders. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last. Die Dinge, die getan werden müssen, müssen getan werden, und ansonsten darf man sich nicht von den vielen kleinen Ängsten und Sorgen anstecken lassen, jede einzelne ein Misstrauensvotum gegen Gott. Es wird mit der Aufenthaltsbewilligung und auch mit den Bezugsscheinen schon gut gehen, in diesem Augenblick hat es keinen Sinn, darüber zu grübeln, ich mache besser eine Übersetzungsübung aus dem Russischen. Das ist eigentlich unsere einzige moralische Pflicht: in sich selbst große Flächen der inneren Ruhe zu kultivieren, immer mehr Ruhe, damit man diese Ruhe wiederum auf andere ausstrahlen kann. Und je mehr Ruhe in den Menschen herrscht, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt.

Gerade ein kurzes Telefongespräch mit Toos.[50] Jopie schreibt: «Keine Päckchen mehr schicken. Dort ist alles Mögliche im Gange.»[51] Haanen[52] schrieb in einem Brief an seine Frau: «zu wenig, um etwas davon zu kapieren, und zu viel, um nicht darüber beunruhigt zu sein.» Usw. Und dann kommt plötzlich etwas in mir in Bewegung, was auch nicht in Ordnung ist. Man muss das bekämpfen. Man muss sich von all den fruchtlosen Gerüchten, die wie eine ansteckende Krankheit um sich greifen, zurückziehen. Annähernd kann ich dann wieder nachempfinden, wie es in all diesen Menschen aussehen muss. Armes, karges Leben. Ja, und dann gelangt man dahin zu sagen, wie ich es schon von vielen hörte: «Ich kann kein Buch mehr lesen, ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren.» «Früher hatte ich das Haus immer voller Blumen, aber zurzeit, nein, jetzt habe ich keine Lust mehr darauf.» Verarmtes, armes Leben. Ich weiß schon wieder, wogegen ich Stellung beziehen muss. Könnte man den Menschen beibringen, dass man daran «arbeiten» kann, den Frieden in sich selbst zu erobern? Innerlich produktiv und vertrauensvoll weiterzuleben, sich über alle Ängste und Gerüchte hinwegzusetzen? Dass man sich zwingen kann, in der entferntesten und ruhigsten Ecke des eigenen Inneren niederzuknien und dort so lange knien zu bleiben, bis der Himmel über einem wieder klar ist und sonst nichts? Seit gestern Abend habe ich wieder einmal am eigenen Leib erfahren, was die Menschen gegenwärtig erleiden müssen; es ist gut, sich das immer wieder bewusst zu machen und sich immer wieder selbst beizubringen, wie man dagegen ankämpfen muss. Und dann wieder unbehelligt durch die weiten und unverstellten Landschaften des eigenen Herzens zu gehen. Aber so weit bin ich noch nicht. Jetzt zuerst einmal zum Zahnarzt und heute Nachmittag zur Keizersgracht.[53]

«Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: die Freiheit eines Lieben nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen: denn daß wir uns halten, das fällt uns leicht, und ist nicht erst zu lernen.»[54]

[Mittwoch] 30. September [1942].

Treu sein, allem, was man in einem spontanen, einem allzu spontanen Moment manchmal, begonnen hat.

Treu sein jedem Gefühl, jedem Gedanken, der zu keimen begonnen hat.

Treu im umfassendsten Sinne des Wortes.

Treu sein sich selbst, Gott, den eigenen besten Momenten.

Und dort, wo man ist, ganz und gar sein, zu hundert Prozent sein. Mein «Tun» wird darin bestehen, zu «sein». Und wo meine Treue noch wachsen muss und wo ich am meisten versage: dem treu zu sein, was ich als mein «schöpferisches Talent» bezeichnen möchte, so gering es auch sein mag. Wie auch immer: Es gibt vieles, was von mir noch gesagt und niedergeschrieben werden möchte. Ich müsste es auch allmählich tun. Ich schaffe es mir auf alle möglichen Arten vom Halse, hierin versage ich. Ich weiß es ja: Auf der anderen Seite muss ich auch die Geduld haben, das, was von mir gesagt werden muss, in mir wachsen zu lassen. Aber ich muss ihm auch helfen und entgegenkommen. Es ist immer wieder dasselbe: Man möchte sofort etwas ganz Besonderes und «Geniales» aufschreiben, man geniert sich für die eigenen Belanglosigkeiten. Aber wenn ich eine wirkliche Pflicht im Leben, in dieser Zeit, in dieser Phase meines Lebens habe, dann ist es diese: schreiben, notieren, festhalten. Währenddessen verarbeite ich es auch. Ich lese mir das Leben zusammen und ich weiß: Ich kann es lesen, und ich denke jetzt in meinem jugendlichen Übermut und meiner Bequemlichkeit, dass ich mir alles auf diese Art und Weise Gelesene schon merke und es später nacherzählen kann. Aber kleine Anknüpfungspunkte sollte ich mir doch schaffen. Ich lebe das Leben bis zur Neige, aber ich bekomme immer stärker das Gefühl: Ich bekomme allmählich Verpflichtungen dem gegenüber, was ich meine Talente nennen möchte. Aber wo beginnen? Mein Gott, es ist so viel. Man darf auch nicht den Fehler machen, alles, was man so intensiv erlebt, unmittelbar aufs Papier schludern zu wollen. Darum geht es auch nicht. Wie ich das alles irgendwann einmal «bewältigen» soll, weiß ich noch nicht, es ist sehr viel. Ich weiß nur: Ich werde es ganz allein tun müssen. Und ich weiß auch: Ich habe genug Kraft und Geduld, es allein zu schaffen. Ich muss auch treu sein, ich darf nicht mehr auseinanderstieben wie Sand im Wind. Ich teile mich auf und verteile mich auf die vielen Betroffenheiten und Eindrücke und Menschen und Rührungen, die auf mich einprasseln. Ich muss ihnen allen treu sein. Aber es muss eine neue Treue hinzukommen, die Treue zu meinem Talent. Es reicht nicht mehr aus, alles allein zu erleben, es muss jetzt noch etwas mehr hinzukommen.

Es ist, als sähe ich immer deutlicher, in welchen gähnenden Abgründen die schöpferischen Kräfte und die Lebensfreude der Menschen verschwinden. Es sind Löcher, die alles verschlucken, und diese Löcher sind im eigenen Gemüt. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last. Und: «Der Mensch leidet am meisten unter dem Leiden, das er fürchtet.» Und die Materie, immer wieder ist es die Materie, die allen Geist an sich zieht, statt umgekehrt. «Du lebst zu sehr aus dem Geist.» Warum, Osias? Weil ich meinen Körper nicht sofort deinen gierigen Händen preisgab? Wie seltsam Menschen doch sind. Wie viel ich gerne schreiben würde! Irgendwo tief in mir: eine Werkstatt, in der Titanen die Welt neu schmieden. Ich schrieb einmal verzweifelt: Es ist, als müsste ausgerechnet in meinem kleinen Kopf, unter meiner engen Schädeldecke die Welt zur Klarheit durchdacht werden. Auch jetzt denke ich noch manchmal mit einem fast satanischen Übermut daran. Ich weiß auch, weshalb: Alle meine schöpferischen Kräfte – ich danke dir, mein Gott, dass du mir so viele gegeben hast – sind bei mir intakt und unversehrt. Es gelingt mir immer wieder, sie den Fängen der alltäglichen Sorgen und Ängste zu entreißen, es gelingt mir immer besser, sie aus der Gefangenschaft der materiellen Nöte zu befreien, die aus der Vorstellung von Hunger, Kälte und Gefahren erwachsen. Schließlich ist es ja immer die Vorstellung und nicht die Realität. Die Realität ist etwas, das man auf sich nehmen muss, all das Leiden, das damit verbunden ist, all die Schwierigkeiten, man muss sie auf sich nehmen und tragen, und während des Tragens vergrößert sich die Tragkraft. Doch die Vorstellung vom Leiden (die kein wirkliches «Leiden» ist, denn Leiden an sich ist fruchtbar und kann das Leben zu etwas Kostbarem machen) muss man zerschlagen. Und wenn man die Vorstellungen zerschlägt, in denen das Leben wie hinter Gittern gefangen ist, dann befreit man das wirkliche Leben und die Kräfte in seinem Inneren und dann wird man auch die Kraft haben, das wirkliche Leiden im eigenen Leben und in dem der Menschheit zu tragen.

Freitagmorgen [2. Oktober 1942], im Bett.

Ich werde das Risiko auf mich nehmen, ich bin jetzt nicht ganz ehrlich zu mir selbst. Auch diese Lektion werde ich noch lernen müssen, und sie wird die schwerste sein, mein Gott: jenes Leid auf mich zu nehmen, das du mir auferlegst, und nicht das, was ich mir selbst ausgesucht habe.

Ich brauche in den letzten Tagen so viele Worte, um mich und andere davon zu überzeugen, dass ich wieder fortgehen muss und dass mein Magen nicht der Rede wert ist – vielleicht ist er das auch wirklich nicht –, aber wenn man so viele gewichtige Argumente benötigt, stimmt etwas nicht. Irgendetwas stimmt in der Tat nicht. Und jetzt kann ich doch wieder laut zu mir sagen: Nun ja, aber das haben doch derzeit alle gelegentlich, dass sie sich ein paar Tage schwindelig und schlapp fühlen, wenn das vorbei ist, ist es vorbei, und dann macht man wieder weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Es kommt mir vor, als müsste ich nur die Finger meiner Hand spreizen und schon hielte ich ganz Europa und Russland im Griff. So klein und übersichtlich und vertraut, so mit einer Hand zu umfassen ist für mich alles geworden. Alles erscheint mir so nahe. Sogar in diesem Bett. Merke dir das: sogar in diesem Bett. Selbst wenn ich wochenlang still und regungslos darin liegen müsste. Es ist immer noch zu schwer für mich. Ich kann mich noch nicht mit dem Gedanken versöhnen, dass ich im Bett bleiben müsste.

Ich verspreche dir, ich werde nach meinen besten schöpferischen Kräften an jedem Ort leben, an dem du mich festhalten zu müssen glaubst, aber ich möchte am Mittwoch so gerne gehen, und sei es auch nur für zwei Wochen. Ja, ich weiß schon, es gibt Risiken: Es kommt immer mehr SS ins Lager und es wird immer mehr Stacheldraht darum herum gezogen, alles spitzt sich immer mehr zu, vielleicht können wir in zwei Wochen nicht einmal mehr weg, so etwas ist immer möglich. Kannst du dieses Risiko eingehen?

Schließlich hat mein Arzt nicht gesagt, dass ich das Bett hüten müsse, er war überrascht, dass ich noch nicht nach Westerbork zurückgekehrt war. Aber mit diesem Arzt habe ich doch nichts zu tun? Selbst wenn hundert Ärzte der Welt mich für kerngesund erklären, wenn mir eine innere Stimme sagt, dass ich nicht gehen sollte, nun, dann sollte ich nicht gehen. Ich werde abwarten, ob du mir noch ein Zeichen gibst, mein Gott, ich nehme mir jetzt fest vor zu gehen. Ich werde mit dir verhandeln: Würdest du mir einen Gefallen tun? Darf ich am nächsten Mittwoch für 2 Wochen zurück in die Heide, und wenn es mir dann immer noch nicht gut geht, werde ich hierbleiben und gesund werden. Lässt du dich auf einen solchen Handel ein? Ich glaube, eigentlich nicht. Aber trotzdem würde ich am Mittwoch gerne gehen. Und alle Gründe, weshalb ich gehen will, haben doch wirklich ihre Berechtigung. Ich werde jetzt erst einmal schlafen, ich habe aber längst noch nicht alles mit dir besprochen. Aber ja, ich weiß schon: Meine wahre, tiefste Geduld hat mich verlassen. Aber ich weiß, dass sie wieder zur Stelle sein wird, wenn ich sie brauche. Und meine Ehrlichkeit wird mir wohl immer bleiben. Aber im Moment ist es sehr schwierig.

Ich gebe mir bis Sonntag Zeit, und wenn sich dann herausstellt, dass es nicht nur ein vorübergehendes Schwindelgefühl war, dann werde ich vernünftig sein müssen und nicht weggehen. Ich gebe mir drei Tage Zeit. Aber dann muss ich auch Ruhe bewahren.

Mädchen, mach keine Dummheiten. Verlebe nicht ein ganzes Leben in ein paar Wochen. Die Menschen, die von dir erreicht werden müssen, werden bestimmt erreicht. Es kommt doch nicht auf die paar Wochen an, setze doch nicht dein kostbares Leben aufs Spiel. Fordere jetzt nicht vorsätzlich die Götter heraus, sie haben alles so wunderbar für dich arrangiert, zerstöre jetzt nicht ihr Werk. Ich gebe mir noch drei Tage Zeit.

später.

Ich habe das Gefühl, dass es noch nicht zu Ende ist, mein Leben dort, noch kein abgerundetes Ganzes. Ein Buch, und was für ein Buch, in dem ich mittendrin stecken geblieben bin. Ich möchte so gerne weiterlesen. Es war dort in manchen Momenten so, als sei mein ganzes Leben eine einzige große Vorbereitung auf das Leben in dieser Gemeinschaft gewesen – obwohl mein Leben doch eigentlich immer ein Leben in Abgeschiedenheit war?

später.

Früchte und Blüten zu tragen auf jedem Fleckchen Erde, auf das man gepflanzt wurde, wäre das nicht das Ziel? Und sollten wir nicht dazu beitragen, dieses Ziel zu verwirklichen?

Ich glaube schon, dass ich es lernen werde.

All den Bezeichnungen, die gut für die Fachleute sind, sollte man entsagen. Ob man nun Magenblutung oder Magengeschwür oder Blutarmut sagt, man braucht nicht zu wissen, wie es bezeichnet wird, um Bescheid zu wissen. Ich werde wahrscheinlich eine Weile flach liegen müssen, ich will es nur noch nicht wahrhaben, ich denke mir die schönsten Scheinbeweise aus, um mir einzureden, dass es nicht schlimm ist und dass ich am Mittwoch bestimmt abreisen kann. Ich bleibe dabei: Ich gebe mir noch drei Tage Zeit. Und wenn ich dann noch immer ganz in dem Panzer der Schwäche gefangen bin, den ich jetzt um mich spüre, dann gebe ich es vorläufig auf, d.h., dann gebe ich mein eigenwilliges Programm auf. Und wenn ich mich am Montag wieder fit fühle? Dann gehe ich zu Neuberg[55] und sage auf meine eigene einnehmende Weise – jawohl, ich sehe es schon vor mir, wie ich ihn mit einem neuen, goldgeränderten Backenzahn aus Porzellan anlächle: «Herr Doktor, ich komme, um mit Ihnen von Freund zu Freund zu sprechen, schauen Sie, so stehen die Dinge und ich möchte so gerne gehen, halten Sie das für vertretbar?» Und ich weiß jetzt schon, dass er «Ja» sagen wird, denn ich werde ihn «Ja» sagen lassen, so suggestiv werde ich es ihm erläutern. Ich werde ihn dazu bringen, mir die Antwort zu geben, die ich gerne hören möchte. So leben die Menschen eben. Sie benutzen andere, um sich selbst von etwas zu überzeugen, an das sie im Grunde ihres Herzens nicht glauben. Sie suchen in den anderen ein Instrument, um die eigene innere Stimme zu übertönen. Wenn doch jeder etwas mehr auf seine eigene innere Stimme hörte, wenn man doch nur versuchte, sie in sich selbst erklingen zu lassen – dann gäbe es viel weniger Chaos.

Ich glaube, ich werde schon noch lernen, meinen Anteil, wie auch immer dieser aussehen mag, auf mich zu nehmen. Wie viel habe ich an diesem einen Vormittag, an dem ich krank im Bett liege, schon gelernt!

Tatsächlich empfinde ich immer wieder eine solche Genugtuung, wenn ich sehe, wie sich ein scharfsinnig erdachter menschlicher Plan plötzlich als Eitelkeit entpuppt, nichts als Eitelkeit. Wir hätten heiraten sollen, wir hätten die Not der Zeit gemeinsam ertragen. Nun liegt ein ausgemergelter Körper unter einem Stein – wie sieht dieser Stein überhaupt aus? – in der hintersten Ecke des großen, blumengeschmückten Friedhofs Zorgvlied, und ich liege in einem Panzer der Schwäche in dem kleinen Raum, der jetzt schon seit fast 6 Jahren mein Zimmer ist. Eitelkeit der Eitelkeiten – aber was nicht eitel war, war die Entdeckung in mir selbst, dass ich imstande war, mich vollständig zu jemandem zu bekennen, mich an ihn zu binden und die Not mit ihm zu teilen – das war keine Eitelkeit. Und ansonsten? Er hat mir doch den direkten Weg zu Gott frei gemacht, nachdem er ihn mir erst mit seinen unvollkommenen Menschenhänden gebahnt hatte.

Nein, Mädchen, so wie sich dein Körper unter den Decken anfühlt, das gefällt mir überhaupt nicht.

Nicht beweglich sein zu können ist ganz schlimm. Und wie beweglich ich war, mein Gott, wie war ich beweglich! Ich war selbst erstaunt und erfreut darüber, wie ich mit einem Rucksack auf meinem ungeübten Rücken auf deinen unbekannten Wegen dahinzog. Es war für mich ein großes Wunder. Plötzlich waren für mich Ausfalltore in «die Welt» entstanden, zu der es, wie ich geglaubt hatte, für mich keinen Zugang gab. Und ob ich Zugang hatte! Doch jetzt bin ich grässlich krank, ich muss es ganz ehrlich zugeben. Noch 2 ½ Tage Zeit gebe ich dir.

Wenn nachher Jopie kommt und mich mit seinen ehrlichen, ernsthaften Augen so durchdringend anschaut, werde ich keine solchen Geschichten mehr erzählen: «Ach, ich bin ja so gesund und werde am Mittwoch mit dir mitgehen», sondern ich werde sagen: «Lass mich noch ein wenig mit mir selbst kämpfen, und dann werde ich schon herausfinden, was das Beste für mich ist.»

Und doch möchte ich am Mittwoch so gerne noch einmal gehen!

Du verlangst zu viel, Mädchen. Werde nicht übermütig. Möchtest du dich erst zugrunde richten und dich dann hier wiederherstellen lassen? Ich glaube wirklich, dass du das möchtest. Es ist dort alles so «unfertig», ich muss noch so viel fertigstellen. Und was ist mit jenen, die unerwartet aus ihren Häusern und mitten aus ihren Aktivitäten («unerwartet» kann man das gegenwärtig nicht mehr wirklich nennen) herausgerissen werden und die auch ein «unfertiges» Gefühl haben werden? Aber sollte man sein Leben nicht so leben, dass man es als abgeschlossenes und abgerundetes Ganzes in sich trägt, sodass es immer fertig ist, in jedem Moment gänzlich fertig?

Ich möchte sie alle später aufsuchen, einen nach dem anderen, all die Tausenden, die auf diesem Stück Heide durch unsere Hände gegangen sind. Und wenn ich sie nicht finde, dann werde ich ihre Gräber finden. Ich werde hier nicht mehr ruhig an meinem Schreibtisch sitzen können. Ich möchte durch die Welt ziehen, um mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, wie es allen ergangen ist, die wir haben gehen lassen.

«Nur gesund, mein Kind, nur gesund», sagte Dr. Fränkel,[56] als ich nach dem letzten Urlaub nicht mehr zurückgehen konnte, und es war das Erste, was ich ihn mit echter Leidenschaft sagen hörte.

Am späten Nachmittag.

Ein bisschen durch das Haus spaziert. Ach, wer weiß, vielleicht ist es doch nicht so schlimm, es ist wohl nur ein bisschen generelle Blutarmut, die ich dort mit ein paar Arzneimitteln auskurieren kann. Aber übrigens: Man sollte nicht kurzsichtig sein und nicht kurzfristig leben.

Und nun scheine ich «gesperrt»[57] zu werden. «Nun muss ich sicherlich vor Freude in die Luft springen?», fragte ich den Notar mit dem einen kürzeren Bein.[58] Ich will all die Papiere, um die sich die Juden gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen, ja überhaupt nicht haben, warum fallen sie mir dann von selbst zu? In allen Lagern in ganz Europa würde ich gerne sein, an allen Fronten möchte ich sein, ich will ja gar nicht in sogenannter «Sicherheit» sein, ich will doch dabei sein, ich möchte ein bisschen Verbrüderung an jedem Ort, wo ich bin, zwischen all den sogenannten Feinden herbeiführen, ich will verstehen, was geschieht, ich wünsche mir, dass so viele Menschen wie irgend möglich – und ich weiß, dass ich viele erreichen kann, mach mich gesund, o Gott – das Weltgeschehen so begreifen wie ich. Und was ist das dann alles noch, wenn ich keine Liebe habe? Mach mich ein bisschen gesund, ganz gesund muss ich gar nicht sein, das bin ich noch nie gewesen.

Und dieser Schmerz, den ich jetzt in meinem Körper spüre, den habe ich vor Monaten doch schon einmal gehabt und damals ist er auch wieder weggegangen. Aber jetzt ist es mehr diese allgemeine Schwäche. Noch 2 ¼ Tage Zeit gebe ich dir.

Samstagmorgen [3. Oktober 1942], halb 7, im Badezimmer.

Ich fange an, unter Schlaflosigkeit zu leiden, das darf nicht sein. In aller Herrgottsfrühe sprang ich aus dem Bett und kniete vor meinem Fenster nieder. Totenstill stand der Baum dort im grauen, bewegungslosen Morgen. Und ich habe gebetet: Mein Gott, gib mir dieselbe große und gewaltige Ruhe in meinem Inneren, die sich auch in deiner Natur findet: Und wenn du mich leiden lassen willst, gib mir dann das große, alles umfassende Leiden, aber gib mir nicht die tausend aufzehrenden kleinen Sorgen, die von einem Menschen nichts übrig lassen. Gib mir Ruhe und Zuversicht. Lass mich ein wenig mehr sein, lass mich an jedem Tag ein wenig mehr sein als die Summe der tausend Sorgen um das alltägliche Dasein. Und all die Sorgen, die wir uns um das Essen, um die Kleidung, um die Kälte, um unsere Gesundheit machen, sind das nicht ebenso viele Misstrauensvoten gegen dich, mein Gott? Und du bestrafst uns ja direkt dafür? Mit Schlaflosigkeit und einem Leben, das ja eigentlich kein Leben mehr ist?

Ich möchte noch ein paar Tage ruhig liegen bleiben, aber danach möchte ich ein einziges großes Gebet sein. Eine einzige große Ruhe. Ich muss wieder meine eigene Ruhe mit mir herumtragen. «Patientin muss ein ruhiges Leben führen.» Sorge du für meine Ruhe, mein Gott, an jedem Ort. Es kann sein, dass ich keine Ruhe mehr habe, weil ich womöglich die falschen Dinge tue. Vielleicht – ich weiß es nicht. Ich bin so sehr ein Gesellschaftsmensch, mein Gott, ich wusste nie, wie sehr. Ich möchte mitten unter den Menschen sein, inmitten ihrer Ängste, ich möchte alles selbst sehen und begreifen und später davon erzählen. Aber ich möchte so gerne gesund sein. Ich grüble jetzt zu viel über meine Gesundheit nach, und das ist natürlich nicht gut. Lass in mir dieselbe große Bewegungslosigkeit sein, die heute früh in deinem grauen Morgen war. Lass meinen Tag ein wenig mehr sein als nur die Sorge um den Körper.

Das ist immer meine letzte Zuflucht, aus dem Bett zu springen und in einer verborgenen Ecke des Zimmers niederzuknien.

Ich will dich auch nicht zwingen, mein Gott, mich in zwei Tagen gesund zu machen. Ich weiß, dass alles wachsen muss, dass alles ein langsamer Prozess ist. Es ist jetzt kurz vor 7 Uhr. Ich werde mich von Kopf bis Fuß mit kaltem Wasser waschen und mich dann wieder still in mein Bett legen, totenstill, ich werde nicht mehr in dieses Heft schreiben, ich werde nur versuchen, zu liegen und ein Gebet zu sein. Es erging mir schon so oft so, dass ich mich ein paar Tage lang so elend fühlte, dass ich glaubte, mich wochenlang nicht erholen zu können, und nach ein paar Tagen war dann alles wieder weg. Aber im Moment lebe ich nicht richtig, ich will etwas erzwingen. Wenn es irgendwie geht, würde ich doch gerne am Mittwoch fahren. Ich weiß es ja: So wie es mir jetzt geht, hat die Gemeinschaft nicht viel von mir, ich möchte am Mittwoch gerne wieder ein bisschen gesund sein. Wirklich, ich brauche nur ein bisschen Gesundheit, das reicht mir schon. Aber wenn ich etwas mit aller Gewalt will, dann wird der Rhythmus völlig aus dem Takt gebracht. Ich darf die Dinge nicht wollen, ich muss die Dinge in mir geschehen lassen. Und genau das tue ich im Moment nicht.

Nicht ich will, sondern dein Wille geschehe.[59]

Ein wenig später.

So, jetzt habe ich mich gewaschen, ich habe einen Brief geschrieben, von dem ich dachte, es sei notwendig, ihn zu schreiben, ich habe die Runde durchs Haus gemacht und mein Zimmer ein wenig hergerichtet und jetzt, mein Gott, um es einmal ganz trivial auszudrücken, jetzt gehe ich zu deiner Kasse und tausche das viele klimpernde und schwere Kleingeld, das ich habe, gegen eine einzige glatte, ungebrauchte Banknote. Was sagst du zu so viel Poesie auf nüchternem Magen? Aber jetzt komme ich zu dir, um meine vielen kleinen beunruhigenden Sorgen gegen eine einzige große innere Ruhe einzutauschen.

Meine Eltern, mein Gott, meine Eltern!

Natürlich, es ist die vollständige Vernichtung, aber lasst sie uns doch zumindest mit Anmut ertragen.

Es ist kein Dichter in mir, aber es gibt ein Stückchen Gott in mir, das zu einem Dichter heranwachsen könnte. In einem solchen Lager muss es doch einen Dichter geben, der das Leben dort, ja, auch dort, als Dichter erlebt und der davon singen können wird.

Wenn ich nachts dort so auf meiner Pritsche lag, inmitten leise schnarchender, laut träumender, heimlich weinender und sich herumwälzender Frauen und Mädchen, die tagsüber so oft sagten: «Wir wollen nicht denken», «Wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt», war ich bisweilen unendlich gerührt, ich lag wach da und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages an mir vorüberziehen und dachte: «So lasst mich denn das denkende Herz dieser Baracke sein.» Ich möchte es wieder sein. Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein. Ich liege jetzt so geduldig und ruhig hier, ich fühle mich auch schon ein bisschen besser, nicht weil ich es erzwingen will, sondern – wirklich besser; ich lese Rilkes Briefe «Über Gott»,[60] jedes Wort davon ist bedeutungsschwer für mich, ich hätte sie selbst geschrieben haben können, und wenn ich sie geschrieben hätte, hätte ich sie genau so und nicht anders geschrieben. –

Ich spüre jetzt auch wieder die Kraft in mir, um wegzugehen, ich denke auch nicht mehr über Pläne und Risiken nach, es kommt, wie es kommt, es ist gut, so wie es kommt. –

«Christus mochte recht haben, wenn er in einer von abgestandenen und entlaubten Göttern erfüllten Zeit schlecht vom Irdischen sprach, obwohl es (ich kann es nicht anders denken) auf eine Kränkung Gottes hinauskommt, in dem uns hier Gewährten und Zugestandenen nicht ein, wenn wir es nur genau gebrauchen, vollkommen bis an den Rand unserer Sinne uns Beglückendes zu sehen! Der rechte Gebrauch, das ists. Das Hiesige recht in die Hand nehmen, herzlich liebevoll, erstaunend, als unser, vorläufig, Einziges: das ist zugleich, es gewöhnlich zu sagen, die große Gebrauchsanweisung Gottes, die meinte der heilige Franz von Assisi aufzuschreiben in seinem Lied an die Sonne, die ihm im Sterben herrlicher war als das Kreuz, das ja nur dazu dastand, um in die Sonne zu weisen[61]

Samstagnachmittag, 4 Uhr.

Jetzt ergebe ich mich wirklich ganz. Ich sehe mich schon am Mittwoch auf diesen wackeligen Beinen gehen. Das ist sehr betrüblich. Aber ich bin so dankbar, dass ich hier in Ruhe krank liegen bleiben darf und dass man sich um mich kümmern will. Ich muss zuerst wieder ganz gesund werden, sonst falle ich der Gemeinschaft nur zur Last. Ich glaube, ich bin doch ein bisschen krank, von Kopf bis Fuß krank, eingezwängt in einen Panzer aus Schwäche und Schwindel.

Ich habe jetzt auch das Gefühl, dass ich nicht mehr mit nur ein paar Stunden Ruhe auskomme. Ich fühle mich im Moment wie eine Schuhsohle, auf der man so lange herumgelaufen ist, dass sie völlig abgenutzt ist. Ich darf wirklich nicht kindisch oder ungeduldig sein. Warum habe ich es so eilig, alle Nöte mit anderen hinter Stacheldraht zu teilen? Und was sind schon 6 Wochen in einem ganzen Leben? Um meinen Schädel herum spannt sich ein eisernes Band und das Gewicht einer ganzen Stadt in Trümmern lastet auf meinem Kopf. Ich möchte kein krankes, verdorrtes Blatt sein, das vom Stamm der Gemeinschaft herabfällt.

3. Oktober [1942], Samstagabend, 9 Uhr.

Wenn du wirklich gesund werden willst, musst du anders leben, als du es jetzt tust. Du solltest tagelang nicht sprechen, dich in dein Zimmer einschließen und keine Menschen hereinlassen, das ist der einzige Weg. Es ist nicht gut, so wie du dich jetzt verhältst. Vielleicht wirst du doch noch vernünftig.

Man sollte beten, Tag und Nacht, für die Tausenden. Man sollte nicht eine einzige Minute ohne Gebet sein.

Ich weiß, dass ich eines Tages sprachgewaltig genug sein werde.

4. Oktober [1942], Sonntagabend.

Heute Morgen zuerst Tide. Am Nachmittag Prof. Becker. Danach Jopie S.[62] Mit Han gegessen. Schwindelig und schwach.

Gott, du gibst mir so viel Kostbares zur Aufbewahrung, lass mich gut darauf aufpassen und lass es mich gut verwalten.

All diese Gespräche mit Freunden sind im Moment nicht gut für mich. Ich verschleiße meine Kräfte völlig. Ich bin noch nicht stark genug, um mich zurückzuziehen. Irgendwann einmal die richtige Balance zwischen meiner introvertierten und extrovertierten Seite zu finden, das ist meine große Aufgabe. Sie sind beide gleich stark in mir. Ich bin gerne mit Menschen in Kontakt. Mir ist, als holte ich mit meiner intensiven Aufmerksamkeit das Beste und Tiefste in ihnen zum Vorschein, sie öffnen sich mir, jeder Mensch ist für mich eine Geschichte, die mir vom Leben selbst erzählt wird. Und meine entzückten Augen lesen einfach nur. Das Leben vertraut mir so viele Geschichten an, ich werde sie weitererzählen müssen und sie jenen Menschen nahebringen, die nicht selbst so direkt im Leben lesen können. Gott, du hast mir die Gabe verliehen, lesen zu können, wirst du mir auch die Gabe verleihen, schreiben zu können? Aber ich stehe mir selbst im Weg, meine andere Seit–

abends halb 12.

Das ist typisch für mich: Ich beende Sätze nie. Ich muss dafür sorgen, dass das nicht typisch für mich bleibt.

Heute Abend Jopie. Wie schön du das menschliche Auge gemacht hast, mein Gott. Er hatte recht, mein Waffenbruder.[63] Er sagte: «Wenn du so unvernünftig weitermachst, frage ich mich, ob es dir wirklich ernst damit ist, gesund werden zu wollen.» Habe ich mich unbewusst doch schon wieder an mein bequemes Bett und eine gute Versorgung gewöhnt? Das Westerbork, in das ich in ein paar Wochen zurückkehren werde, ist ein anderes W. als das, was ich verlassen hatte. Ich muss mir dies immer wieder aufs Neue vergegenwärtigen. Ich muss mich wiederum verabschieden und mir ganz bewusst darüber werden, worum es jetzt überhaupt geht.

Wie ich heute mit mir selbst umgesprungen bin, ist im Grunde fürchterlich leichtsinnig. Ich sitze jetzt an meinem Schreibtisch und fühle mich überall wie gerädert, vor allem am Rücken. Aber mein Geist ist immer noch so klar und frisch, und solange das der Fall ist, schleppt er den Körper noch mit sich mit. Aber du bist sehr leichtsinnig. Und nun gute Nacht und beginne morgen einfach ein «neues Leben».

Auf einmal mitten in der Nacht.

Gott und ich sind jetzt noch allein zurückgeblieben. Es gibt sonst niemanden mehr, der mir helfen kann. Ich habe eine Verantwortung, aber ich habe sie mir noch nicht auf meine beiden Schultern geladen. Ich spiele immer noch zu viel und bin undiszipliniert.

Ich fühle mich dadurch keineswegs verarmt, eher bereichert und ruhig: Gott und ich sind jetzt ganz allein zurückgeblieben. Gute Nacht.

8. Oktober [1942], Donnerstagnachmittag.

Ich bin jetzt krank, ich kann es nicht ändern. Später werde ich dort alle Tränen und alles Grauen einsammeln. Ich mache das eigentlich ja auch schon jetzt, hier im Bett. Vielleicht ist mir auch deshalb so schwindelig und fiebrig? Ich möchte nicht die Chronistin von Gräueltaten werden. Es wird genug andere geben. Auch nicht die Chronistin von Sensationen. Heute Morgen sagte ich noch zu Jopie: «Und doch komme ich immer wieder zum selben Schluss: Das Leben ist schön. Und: Ich glaube an Gott. Und ich möchte inmitten dessen sein, was die Menschen ‹Gräueltaten› nennen, und dennoch sagen: ‹Das Leben ist schön.›» Und jetzt liege ich mit Schwindel und Fieber in einer Ecke und kann nichts tun. Ich wachte soeben auf und fühlte mich ganz ausgetrocknet, ich griff nach einem Glas Wasser und war so dankbar für den einen Schluck frisches Wasser und dachte: Wenn ich nur dort herumlaufen könnte, um einigen von den zusammengepferchten Tausenden, die es am dringendsten brauchen, einen Schluck Wasser zu geben.

Immer wieder überkommt mich dasselbe Gefühl: Ach, es ist doch alles nicht so schlimm, sei einfach ruhig, es ist nicht so schlimm. Wenn wieder einmal eine Frau oder ein hungriges Kind hinter einem unserer Registrierungstische weinte, dann lief ich dorthin und stellte mich beschützend hinter sie, meine Arme vor der Brust verschränkt, lächelte ein wenig und sagte still in mir zu diesem zusammengesunkenen und erschütterten Häufchen Mensch: Es ist doch alles nicht so schlimm, es ist wirklich nicht so schlimm. Und ich blieb einfach stehen und war nur da, etwas tun konnte man ja nicht? Manchmal setzte ich mich neben jemanden hin und legte den Arm um eine Schulter, ich sagte nicht viel und blickte in die Gesichter. Es war mir nie etwas fremd, kein einziger Ausdruck menschlichen Kummers. Alles kam mir so vertraut vor, als ob ich schon alles wüsste und alles früher schon einmal erlebt hätte. Manche sagen mir: «Du musst Nerven aus Stahl haben, dass du das aushalten kannst.» Ich glaube nicht, dass ich Nerven aus Stahl habe, sondern vielmehr sehr empfindliche, aber «aushalten» kann ich es trotzdem. Ich wage es, jedem Leiden direkt ins Auge zu blicken, ich habe keine Angst davor.

Und am Ende eines jeden Tages war immer wieder dieses Gefühl da: Ich liebe die Menschen so sehr. Ich empfand nie Verbitterung über das, was ihnen angetan wurde, sondern immer Liebe für die Art und Weise, wie die Menschen die Dinge zu ertragen vermochten, trotzdem zu ertragen vermochten, egal wie wenig sie innerlich darauf vorbereitet waren, etwas zu ertragen. Der blonde Max mit dem kahl geschorenen Kopf, auf dem zaghaft ein leichter Flaum nachwuchs, und den sanften, blauen Träumeraugen. Er wurde in Amersfoort dermaßen misshandelt,[64] dass er nicht weiter «auf Transport» konnte und in unserem Krankenhaus zurückblieb. Eines Abends erzählte er die ausführliche Geschichte seiner Misshandlungen.

Andere werden später die Details zu Papier bringen, das ist vermutlich auch erforderlich, um die Geschichte dieser Zeit der Nachwelt vollständig zu überliefern. Ich habe kein Bedürfnis nach vielen Details –

Am nächsten Tag [Freitag, 9. Oktober 1942].

Dann kam unerwartet Vater und es herrschte große Aufregung. «Süßliche Begine» und «Donquichotterie» und «Herr, mach mich nicht so begierig, dass ich verstanden werden will, sondern mache, dass ich verstehe».

Es ist 11 Uhr morgens. Jopie müsste inzwischen in Westerbork angekommen sein. Es kommt mir vor, als wäre jetzt ein Teil von mir dort. Ich habe mich heute Morgen schon wieder durch viel Ungeduld und Niedergeschlagenheit durchgerungen wegen der Rückenschmerzen und des schweren Gefühls in meinen Beinen, die so gerne in die Welt hinauswandern würden, es aber noch nicht können. Wird schon wieder. Man sollte nicht so materialistisch sein. Und während ich hier liege, reise ich nicht auch durch die Welt?

Durch mich hindurch fließen breite Flüsse und in mir erheben sich hohe Gebirge. Und hinter dem Gestrüpp meiner Unruhe und Verwirrungen erstrecken sich die weiten Ebenen meiner Ruhe und Hingabe. Alle Landschaften sind in mir vorhanden. Es ist auch Platz da für sie alle. In mir ist die Erde und in mir ist auch der Himmel. Und dass Menschen so etwas wie die Hölle erfinden konnten, ist mir auch völlig verständlich. Die Hölle in mir selbst erlebe ich gar nicht mehr – ich habe sie früher für ein ganzes Leben im Voraus erlebt –, aber die Hölle der anderen kann ich sehr intensiv miterleben. Das muss auch so sein, man würde sonst vielleicht selbstgefällig werden.

Und so paradox es vielleicht klingen mag: Wenn man es sich allzu hartnäckig in den Kopf setzt, mit einem geliebten Mitmenschen körperlich zusammen zu sein, wenn man all seine Kraft in dieses Verlangen nach diesem Mitmenschen steckt, dann wird man ihm eigentlich nicht gerecht. Denn dann hat man keine Kraft mehr übrig, um wirklich mit ihm zusammen zu sein.

Ich werde wieder den heiligen Augustinus lesen. Er ist so streng und leidenschaftlich. Und so passioniert und voller Hingabe in seinen Liebesbriefen[65] an Gott. Eigentlich sind das die einzigen Liebesbriefe, die man schreiben sollte: Liebesbriefe an Gott.

Ist es sehr hoffärtig von mir, wenn ich sage, dass ich viel zu viel Liebe in mir trage, um sie einem einzigen Menschen geben zu können? Ich finde den Gedanken ziemlich kindisch, dass man sein Leben lang nur einen einzigen Menschen lieben sollte und niemand anderes. Darin steckt etwas ganz Armseliges und Dürftiges. Wird man auf Dauer lernen, dass die Liebe zum Menschen viel glückbringender und fruchttragender ist als die Liebe zum anderen Geschlecht, die der Gemeinschaft die Säfte raubt?

Ich falte die Hände zu einer mir lieb gewordenen Gebärde und sage dir alberne und ernste Dinge durch die Dunkelheit und flehe einen Segen auf deinen ehrlichen, lieben Kopf herab, man könnte das alles zusammen in einem einzigen Wort «beten» nennen. Gute Nacht, mein Lieber!

Samstagabend [10. Oktober 1942].

Ich glaube, ich kann alles in diesem Leben und in dieser Zeit tragen und verarbeiten. Und wenn mein Ungestüm zu groß ist und ich überhaupt keinen Rat mehr weiß, dann bleiben mir immer noch zwei gefaltete Hände und ein gebeugtes Knie. Es ist eine Gebärde, die bei uns Juden nicht von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ich musste sie mühsam erlernen. Es ist mein kostbarstes Erbe von jenem Mann, dessen Namen ich schon fast vergessen habe, dessen bester Teil aber in mir weiterlebt.

Was war das im Grunde für eine seltsame Geschichte von mir: Von dem Mädchen, das nicht knien konnte. Oder als Variation: Von dem Mädchen, das beten lernte. Es ist meine intimste Gebärde, intimer als jede Gebärde im Zusammensein mit einem Mann. Schließlich kann man doch nicht seine ganze Liebe über einem einzigen Menschen ausgießen?

Sonntagnachmittag, 11. Oktober [1942].

Aus «Der Schauende»:

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen,
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.[66]

Dieses Gedicht endet mit den Worten:

Sein Wachstum ist: Der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.

Zwischen zwei Mittagsschläfchen.

Dass es eine Substanz, oder wie auch immer ich es nennen sollte, in mir gibt, die ein Eigenleben führt und aus der man Dinge gestalten kann – dessen werde ich mir immer stärker bewusst. Aus dieser Substanz kann ich sehr viele Leben erschaffen, die alle aus mir gespeist werden. Ich verwalte diese Substanz noch lange nicht gut genug. Vielleicht habe ich noch zu wenig Vertrauen in ihr Eigenleben, in ihre eigenen Leben. Ich selbst habe nichts anderes zu bieten als den Raum, in dem sich diese Leben entfalten können, und ich selbst habe nichts anderes zu verleihen als die Hand, die die Feder führen wird, um diese Leben mit ihren eigenen Anschauungen und Erfahrungen aufzuzeichnen.

[Montag] 12.10.42.

Viele Eindrücke liegen wie funkelnde Steine auf dem dunklen Samt meiner Erinnerung.

Das Alter der Seele ist ein anderes als das Alter, das im Standesamt eingetragen ist. Ich glaube, dass die Seele bei der Geburt bereits ein bestimmtes Alter hat, das sich nicht mehr verändert. Man kann mit einer Seele geboren werden, die 12 Jahre alt ist, und wenn man 80 ist, ist diese Seele noch immer 12 Jahre alt und nicht älter. Man kann auch mit einer tausendjährigen Seele geboren werden, und es gibt manchmal 12-jährige Kinder, denen man anmerkt, dass ihre Seele 1000 Jahre alt ist. Ich glaube, dass die Seele jener Teil des Menschen ist, der ihm am wenigsten bewusst ist, vor allem bei den Westeuropäern, ich meine, dass die Menschen im Osten viel stärker ihre Seele «leben», die Menschen im Westen wissen eigentlich nicht wirklich, was sie damit anfangen sollen, und schämen sich für diese Seele, als wäre sie etwas Unsittliches. Seele ist wieder etwas anderes als das, was wir «Gemüt» nennen. Es gibt Menschen, die zwar viel «Gemüt» haben, aber nur wenig Seele. –

Gestern erkundigte ich mich bei Maria[67] über jemanden: «Ist sie intelligent?»

«Ja», antwortete Maria, «aber nur in ihrem Gehirn.»

S. sagte immer über Tide: «Sie hat ‹seelische Intelligenz›

Wenn S. und ich manchmal über unseren großen Altersunterschied sprachen, sagte er immer: «Wer sagt mir, daß Ihre Seele nicht älter ist als meine.»

Manchmal lodert es plötzlich wieder in hellen Flammen in mir auf, von allen Seiten, wenn, wie jetzt, diese Freundschaft und dieser Mann und das vergangene Jahr in voller überwältigender und dankbarer Größe in mir aufsteigen.

Und jetzt bin ich, was man krank und blutarm und mehr oder weniger bettlägerig nennt, und doch ist jede Minute randvoll und ertragreich; wie wird das erst sein, wenn ich wieder gesund bin? Ich muss es dir immer wieder aufs Neue zujubeln, mein Gott: Ich bin dir so dankbar, dass du mir so ein Leben schenken wolltest.

Eine Seele ist etwas, das aus Feuer und Bergkristallen gemacht ist. Sie ist etwas sehr Strenges und alttestamentarisch Hartes, aber auch so sanft wie die Gebärde, mit der seine sanften Fingerspitzen manchmal meine Wimpern streichelten.

abends.

Und dann kommen wieder Augenblicke, in denen das Leben so entmutigend und schwierig ist. Dann bin ich ungestüm und ruhelos und müde zugleich. Heute Nachmittag Momente sehr starken schöpferischen Erlebens. Und jetzt ein Zustand der Erschöpfung wie nach einem Samenerguss.

Und jetzt habe ich nichts anderes zu tun als das: bewegungslos unter meinen Decken zu liegen und Geduld zu haben, bis die Mutlosigkeit und innere Auflösung in viele Richtungen von mir weichen. Früher habe ich in einem solchen Zustand verrückte Dinge getan: mit Freunden getrunken oder über Selbstmord nachgedacht oder nächtelang in Hunderten von Büchern herumgelesen.

Man muss auch akzeptieren, dass man seine «unschöpferischen» Momente hat, je ehrlicher man dies akzeptiert, desto schneller ist ein solcher Moment vorbei. Man muss den Mut zu einer Pause haben. Man sollte es auch einmal wagen, leer und mutlos zu sein. – Gute Nacht, lieber Sanddorn.

Früh am nächsten Morgen [Dienstag, 13. Oktober 1942].

Ich fuchtle mit einem kleinen Bleistift wild herum wie mit einer Sense, aber ich kann die vielen Auswüchse meines Geistes nicht niedermähen.

«Manche Menschen trage ich wie Blütenknospen in mir und lasse sie in mir aufblühen. Andere trage ich wie Geschwüre in mir, so lange, bis sie aufplatzen und eitern.» (Frau Bierenhack[68]).

«Vorwegnehmen». Ich kenne kein gutes niederländisches Wort dafür. So, wie ich jetzt hier seit gestern Abend liege, verarbeite ich ständig ein bisschen von dem vielen Leiden, das auf der ganzen Welt verarbeitet werden muss. Ich bringe bestimmt schon einen Teil des Leidens des kommenden Winters unter Dach und Fach. Man kann das sowieso nicht alles auf einmal schaffen. Es wird heute ein schwerer Tag für mich. Ich bleibe einfach still liegen und «nehme» etwas von all den schweren Tagen «vorweg», die noch kommen werden.

Wenn ich wegen der Wehrlosen leide, geht es dann nicht um das Wehrlose, das in mir selbst ist?

Ich habe meinen Körper wie Brot gebrochen und ihn unter den Männern ausgeteilt. Warum auch nicht, sie waren ja so hungrig und hatten es schon so lange entbehrt?

Er war der mächtige Stamm, um den sich unsere Frauenleben rankten.

Immer wieder komme ich auf Rilke zurück. Es ist so sonderbar, er war ein zerbrechlicher Mann und schrieb viele seiner Werke innerhalb der Mauern gastfreundlicher Schlösser,[69] und vielleicht wäre er unter Umständen wie denen, unter denen wir jetzt leben müssen, zugrunde gegangen. Aber zeugt es nicht von einer guten Ökonomie, dass sensible Künstler in ruhigen Zeiten und unter günstigen Umständen ungestört nach der schönsten und passendsten Form für ihre tiefsten Einsichten suchen können, an der sich Menschen, die in bewegteren und kräftezehrenderen Zeiten leben, aufrichten können und in der sie eine sichere Zufluchtsstätte für ihre Verwirrungen und Fragen finden können, die sie selbst noch nicht in eine eigene Form bringen und lösen können, weil die tägliche Energie für die täglichen Nöte beansprucht wird? In schweren Zeiten pflegt man gelegentlich mit einer verächtlichen Geste die geistigen Errungenschaften von Künstlern aus sogenannten leichteren Zeiten (Künstlersein ist ja an sich schon so schwierig?) über Bord zu werfen mit der bissigen Bemerkung: Was sollen wir denn jetzt damit anfangen?

Das mag verständlich sein, aber es ist kurzsichtig. Und eine unendliche Verarmung.

Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.

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MAN MUSS SEINE PAUSEN WAHRHABEN WOLLEN!!![70]