Plötzlich nicht mehr da
Mitarbeiter verlassen nicht das Unternehmen, sondern ihren Vorgesetzten
Als geschäftsführender Gesellschafter meiner Firmen bin ich für die jeweiligen Mitarbeiter der Chef. Doch ich habe auch selbst viele Chefs, denn neben meiner Tätigkeit als Unternehmer mache ich noch etliche ehrenamtliche Jobs. Dabei sammle ich meine ganz persönlichen Cheferfahrungen aus der Perspektive des einfachen Mitarbeiters. Zum Beispiel diese: Eines Tages ging ich zu einem meiner Chefs. Er ist immerhin Abteilungsleiter in einem Betrieb mit knapp 223 000 Mitarbeitern. Hinzu kommen über 1,1 Millionen ehrenamtlich Tätige, ohne deren Mithilfe dieser Betrieb wahrscheinlich bald schließen müsste. Ich meine die evangelische Kirche
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Sofort aufgeben wollte ich jetzt nicht. Deshalb machte ich ein konkretes Angebot: Vor der Kirche liegt immer Laub und Abfall. Der Platz sieht einfach unschön aus, und keiner kümmert sich darum. Ich bot an, diesen Platz jeden Samstag zu reinigen, damit die Kirche für den Sonntagsgottesdienst einladend wirkt. Daraufhin sagte der Pfarrer: »Ich weiß, was Sie wollen. Sie wollen dem Küster den Arbeitsplatz wegnehmen.« Und damit war mein Vorschlag abgebügelt. Ich machte noch einen dritten Anlauf und sagte, dass ich in keiner Kirchengemeinde sein will, wo man nicht mitarbeiten kann. Irgendeine Möglichkeit mitzumachen, müsste es doch wohl geben. Da wurde mein Chef sarkastisch: »Es gibt auch anderswo billige Bauplätze.«
Wenn dieses Erlebnis eine Ausnahme wäre, würde ich nicht darüber schreiben. Meine Meinungsverschiedenheiten mit einzelnen Personen sind für Sie als Leser uninteressant. Ich habe jedoch mit vielen anderen christlichen Unternehmern gesprochen und ungefähr jeder zweite hat ähnliche Erfahrungen gemacht. »Unser Geld ist sehr erwünscht«, heißt es dann zum Beispiel, »aber in der Kirche mitdenken und mitarbeiten gilt als störend.« Als Christen erleben viele Chefs also selbst, wie es ist, wenn der Vorgesetzte an engagierter Mitarbeit kein Interesse hat. Es ist total frustrierend. Nach dem Erlebnis mit meinem Pfarrer habe ich mich gefragt: Warum kehren so viele Menschen den Kirchen den Rücken? Liegt es an der Botschaft von Jesus – oder liegt es an seinen Führungskräften hier auf der Erde? Ich bin davon überzeugt, dass es am Verhalten der Führungskräfte liegt.
In diesem Kapitel lesen Sie, warum es nicht nur in der Kirche, sondern in den meisten Organisationen die Chefs sind, die Mitarbeiter vertreiben. Immer wieder höre ich von Angestellten, die gekündigt haben, dass ihre Aufgabe ihnen eigentlich Freude gemacht hat. Aber ihre Chefs waren unerträglich. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gilt: Mitarbeiter verlassen nicht das Unternehmen, sondern ihren Vorgesetzten. Wer wechselt schon den Job, weil ihn die Qualität der hergestellten Produkte nicht mehr überzeugt, er an die Mission des Unternehmens nicht mehr glaubt oder ihn plötzlich ethische Bedenken überkommen? Das sind verschwindend we
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Warum Mitarbeiter wirklich kündigen – und was sie hält
Bei der Arbeit an dem Buch Die besten Mitarbeiter finden und halten, das ich gemeinsam mit Jürgen Kurz geschrieben habe, bin ich zum ersten Mal auf Leigh Branham aufmerksam geworden. Der Chef der amerikanischen Personalberatung Keeping the People ist Experte für Mitarbeiterbindung und hat ein Buch über »Die sieben verborgenen Gründe, warum Mitarbeiter kündigen« geschrieben (siehe Kasten). Als Jürgen Kurz und ich die Liste dieser sieben Gründe zum ersten Mal sahen, waren wir erschrocken. Denn sämtliche Gründe hatten mit uns als Vorgesetzte zu tun: Ob nun ein Mitarbeiter den falschen Job macht, er zu wenig Feedback bekommt, es ihm an Anerkennung fehlt, er keine Aufstiegschancen sieht oder gar das Vertrauen zu seinem Vorgesetzten verloren hat – immer könnten wir als Chefs eine Kündigung verhindern.
Die sieben verborgenen Gründe, warum Mitarbeiter kündigen
Der amerikanische Personalberater Leigh Branham nennt in seinem Buch Die sieben verborgenen Gründe, warum Mitarbeiter kündigen: Wie Sie die feinen Signale erkennen und handeln, bevor es zu spät ist (The 7 Hidden Reasons Employees Leave: How to Recognize the Subtle Signs and Act Before It’s Too Late) die folgenden sieben häufigsten Kündigungsgründe. Er stützt sich dabei auf unabhängige Befragungen von über 20 000 Angestellten, die gekündigt haben.
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Der Arbeitsplatz entspricht nicht den Erwartungen.
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Arbeitsplatz und Mitarbeiter passen nicht zusammen.
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Die Betreuung ist ungenügend, es gibt zu wenig Feedback.
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Die Wachstums-/Aufstiegsmöglichkeiten sind zu schlecht.
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Die Leistung wird unterbewertet, es mangelt an Anerkennung.
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Die Balance zwischen Arbeits- und Privatleben fehlt.
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Das Vertrauen in die Vorgesetzten ist verloren gegangen.
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Leigh Branham hat Daten aus rund 20 000 Mitarbeiterbefragungen analysiert, die vom Saratoga Institute, einer auf Human-Capital-Management spezialisierten Institution aus dem Silicon Valley, durchgeführt wurden. Diese anonymen Befragungen zielten auf die wahren Kündigungsgründe qualifizierter Mitarbeiter – unabhängig von den Gründen, die dem Arbeitgeber im Kündigungsgespräch präsentiert wurden. Branham fand heraus, dass es in allen Branchen und Unternehmen dieselben »Auslöser-Ereignisse« für Mitarbeiterkündigungen gibt. Es ist immer mindestens einer der sieben »verborgenen« Gründe, der einen Mitarbeiter kapitulieren lässt. Das Schlimme für die Chefs: Mitarbeiter behalten ihre wahren Kündigungsgründe in der Regel für sich.
»Die meisten Mitarbeiter haben Scheu, mit dem Management offen über derartige Punkte (gemeint sind die sieben verborgenen Gründe) zu sprechen«, schreibt Leigh Branham. Vorgesetzte müssen deshalb lernen, die leisen Alarmsignale zu deuten, die darauf hinweisen, dass ein Mitarbeiter unzufrieden ist. Doch wie soll das in der Praxis aussehen? Die wenigsten Chefs sind schließlich Hellseher. Leigh Branham wurde von der Zeitschrift Harvard Business Review gebeten, zu einem konkreten Fall Stellung zu nehmen. Bei einem erfolgreichen Architekturbüro in Chicago kündigten die besten Leute und gingen ausgerechnet zum schärfsten Konkurrenten. Was kann eine solche mittelständische, von der Erbin des Gründers geführte Firma tun, um ihre Mitarbeiter zu halten?
Der Personalexperte Branham empfiehlt, »ein Forum (zu) schaffen, in dem die Mitarbeiter offen und ohne Angst vor negativen Folgen über ihre Unzufriedenheit sprechen können«. Für manche Unternehmen ist so etwas ein Riesenschritt, der einem Kulturwandel gleichkommt. Bei anderen, auch großen und erfolgreichen Unternehmen, sind solche Foren bereits eine Selbstverständlichkeit. General Electric zum Beispiel, einer der größten Mischkonzerne der Welt, hat regelmäßige »Workout-Sessions« eingeführt. Was klingt wie ein Besuch im Fitnessstudio, sind in Wirklichkeit offene Gruppendiskussionen zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten. Hier erfahren Chefs, was ihre Mitarbeiter tatsächlich bewegt. So können sie auf Unzufriedenheit reagieren, bevor es zu spät ist.
Einen Link zu der kompletten Fallstudie aus dem Harvard Business Review finden Sie unter www.die-chef-falle.de.
Das gelang mit Unterstützung unserer Berater vor einiger Zeit auch bei
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Unternehmen, in denen offene und ehrliche Kommunikation noch unterentwickelt ist, lassen sich am besten von externen Beratern helfen. Es erleichtert den Kulturwandel, wenn die Mitarbeiter zunächst von vertrauenswürdigen Externen befragt werden und die Berater die Ergebnisse dem Management vermitteln. Schritt für Schritt kann dann der direkte Dialog zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern aufgebaut werden. In Gruppendiskussionen ist am Anfang ein Moderator nützlich, der die Spielregeln der offenen Diskussion vermittelt und überwacht. Sollten einzelne Mitarbeiter später immer noch gehen, helfen Ausstiegsgespräche den Vorgesetzten, aus der Situation zu lernen und es bei den verbliebenen Mitarbeitern besser zu machen.
Jeder Chef hat die Mitarbeiter, die er verdient
Mit Seminaren sind mein Team und ich in den vergangenen Jahren im ganzen deutschsprachigen Raum unterwegs gewesen. Da ist es praktisch, immer wieder in dieselben Hotels zu gehen, weil wir uns dann nach einigen Besuchen schon auskennen und alles einfacher ist. In Berlin haben wir uns für ein Hotel entschieden, das verkehrsgünstig zwischen dem Flughafen Tegel und der Stadtautobahn liegt. An einem Frühjahrsmorgen stehen wir also wieder an der Rezeption. Die Dame dort fragt forsch und knapp: »Einchecken?« – »Nein«, sage ich, »wir sind von der Firma tempus und machen hier ein Seminar.« – »Also einchecken?«, wiederholt sie, jetzt schon etwas unwirsch. – »Nein, wir sind von der Firma t-e-m-p-u-s …«
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Die Dame geht wortlos zu ihrem männlichen Kollegen. Dieser schreibt etwas auf einen Zettel, reicht uns einen Schlüssel und schickt uns auf die Suche nach dem Seminarraum. Als wir den Raum endlich gefunden haben, erwartet uns dort ein Deutschtürke im Outfit der Hotelkette und strahlt uns mit einem breiten Lächeln an. »Guten Morgen«, sagt er. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise. Hier sind Kaffee und Tee. Ich hole Ihnen aber auch gerne einen Cappuccino oder einen Latte Macchiato.« Als wir dankend ablehnen, bleibt er im Raum und hilft uns, alles herzurichten und vorzubereiten. Im Lauf des Tages hat der hilfsbereite Mitarbeiter sich dann immer wieder erkundigt, ob alles in Ordnung ist und ob er irgendwie behilflich sein kann.
Unseren Seminarteilnehmern fiel das freundliche Verhalten des Deutschtürken ebenso auf wie die Unhöflichkeit an der Rezeption. Eine Teilnehmerin wollte von dem Mitarbeiter wissen, wie er es schaffe, in einem Hotel mit einem so schlechten Betriebsklima eine so positive Haltung zu haben. Da antwortete er: »Wissen Sie, es gibt drei Sorten Menschen. Die einen arbeiten für Geld, die anderen, um die Zeit totzuschlagen. Ich gehören zu den Menschen, die arbeiten, weil es ihnen Spaß macht.« Dabei lächelte er, verbeugte sich leicht und legte die rechte Hand auf sein Herz. Später fragte ein Teilnehmer, der Unternehmer in der Region war, ob der Deutschtürke nicht für ihn arbeiten wolle. Dieser lächelte und verriet, dass er praktisch jede Woche von Gästen Jobangebote erhalte.
Neulich war ich wieder im besagten Hotel und der freundliche Mann hat auch diesmal unseren Tag gerettet. Aber wie lange wird das noch gut gehen? Eines habe ich in vielen Jahren Erfahrung mit dem Personalmanagement kleiner, mittlerer und großer Unternehmen gelernt: Ein guter Mitarbeiter hat einen guten Chef. Ich vermute, dass der Front Desk Manager in dem Hotel mit der Dame an der Rezeption genauso umgeht, wie sie dann die Gäste behandelt. Der Deutschtürke hingegen bekommt von dem Bankettleiter wahrscheinlich mehr Feedback und Unterstützung. Falls nicht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er auf eines der Jobangebote eingeht, die er von den Gästen erhält. Denn jeder Chef hat die Mitarbeiter, die er verdient.
Der Managementautor Reinhard K. Sprenger hat schon vor etlichen Jahren in seinem Buch
Mythos Motivation behauptet, Vorgesetzte könnten Mitarbeiter nicht motivieren, sondern nur aufhören, sie zu demotivieren.
|50|Ich habe Sprenger und sein Buch lange kritisch gesehen, muss ihm aber nach meinen Erfahrungen der letzten Jahre heute auch in vielen Punkten Recht geben. Es stimmt, dass der direkte Vorgesetzte oft den größten demotivierenden Einfluss auf Mitarbeiter ausübt, wie Sprenger schreibt. Das habe ich selbst hundertfach beobachtet. Wer seinen unmittelbaren Untergebenen als Checklisten-Pedant, Besserwisser oder selbstverliebter »Big Boss« gegenübertritt, nimmt ihnen die Freude an der Arbeit. Das Resultat: Die A-Mitarbeiter kündigen, die B-Mitarbeiter machen Dienst nach Vorschrift.
Die falsche Motivation, auch darauf hat schon Sprenger hingewiesen, ist oft noch schlimmer als überhaupt keine Motivation. Bonusprogramme und andere rein finanziellen Anreize zum Beispiel erleben Mitarbeiter oft als Ausdruck von Misstrauen. Sie sagen sich: Mein Vorgesetzter denkt wohl, ohne diese Mohrrübe vor der Nase arbeite ich nicht. Gut, dann nehme ich die Mohrrübe, aber tue auch nur das, was ich tun muss, damit er sie mir gibt. Der amerikanische Autor Daniel Pink nennt das in seinem Bestseller Drive die »Wenn-dann«-Belohnung: Wenn die Mitarbeiter spuren, dann bekommen sie eine Belohnung. Das degradiert Menschen zu Dressurpferden, zerstört Kreativität und nutzt sich am Ende vollständig ab. Die Belohnung wird zum selbstverständlichen Teil des Gehalts.
Die einzig wirksame Motivation ist für Daniel Pink die »Nun-da«-Belohnung. Das soll heißen: Der Vorgesetzte kündigt Belohnungen nicht an, sondern freut sich über gute Leistungen der Mitarbeiter und macht ihnen spontan eine Freude, wenn etwas besonders gut gelungen ist. Ein solcher Vorgesetzter setzt also »positive Verstärker« ein, um eine gute Leistung anzuerkennen, die auch ohne ihn schon da ist. Seine Anerkennung kommt im Idealfall von Herzen. Genau wie der Deutschtürke bei unserer Hotelerfahrung einfach von Herzen einen guten Job machte und es uns mit seiner Geste – »Hand aufs Herz« – demonstrierte. Reinhard K. Sprenger schreibt in seinen Büchern genau das, was auch dieser Servicemitarbeiter in seinen einfachen Worten ausdrückte: Wirkliche Motivation stellt sich von ganz alleine ein, wenn ein Mitarbeiter das tut, was er am besten kann und womit er auch freiwillig seine Zeit verbringen würde. Mitarbeiter sollen ihre Tätigkeit mit ganzem Herzen ausführen, meint Sprenger. Bei einem misslaunigen Vorgesetzten ist das jedoch schwierig bis unmöglich.
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Lustloser Vorgesetzter = demotivierter Mitarbeiter
Schlecht gelaunt und gelangweilt saßen die Zuhörer da. Das kann ja heiter werden, dachte ich, als ich mit meinem Vortrag begann. Ich werde häufig als Redner gebucht und habe dann in der Regel mittelständische Unternehmer vor mir. Diesmal waren es rund 60 Chefs, die alle aus dem Handwerk kamen. Ich war als Keynote Speaker für ihr jährliches Netzwerktreffen eingeladen. Normalerweise geht es bei diesen Treffen um Kostenreduktion, Rhetorik oder Verkauf. Diesmal hatte der Organisator etwas Besonderes bieten wollen: Ich sollte zum Thema Lebensplanung sprechen. Dazu habe ich gemeinsam mit Johannes M. Hüger und Marcus Mockler das Buch Dem Leben Richtung geben geschrieben. Es stellt eine einfach umsetzbare Methode zur Zielplanung vor, von der Unternehmer und Führungskräfte ganz besonders profitieren. Ein Blick in die Runde verriet mir, dass dieses Thema die hier versammelten Chefs nicht die Bohne interessierte.
Wenn Zuhörer zunächst skeptisch sind, dann motiviert mich das, mich anzustrengen, um sie zu erreichen. Ich legte mich also mächtig ins Zeug. Nur wer als Unternehmer sein Leben plane, könne später die so wichtige Nachfolgerregelung hinbekommen, sagte ich. Führungskräfte, die sich selbst keine hohen Ziele setzen und sich nicht weiterentwickeln, könnten außerdem auch kein Vorbild für ihre Mitarbeiter sein. Ich spitzte das Thema zu und hoffte, die Zuhörer damit aufzurütteln. Einen solchen augenöffnenden Vortrag hatte sich der Geschäftsführer des Netzwerks auch von mir gewünscht. Doch er hatte wahrscheinlich vergessen, seine Mitglieder zu fragen. Denn während ich sie ermutigen wollte, mehr Verantwortung für ihr Leben und die Zukunft ihres Betriebs zu übernehmen, riefen viele ihre E-Mails ab oder tuschelten mit dem Nachbarn. Als ich später bei einzelnen nachfragte, bestätigte sich mein Verdacht: Das Thema interessierte einfach keinen.
Wenn es im Anschluss an derartige Vorträge ans obligatorische Büfett geht, dann höre ich von Unternehmern oft Klagen über faule und unmotivierte Mitarbeiter. An diesem Tag habe ich mich gefragt: Wie können Vorgesetzte motivierte Mitarbeiter erwarten, wenn sie selbst an Weiterentwicklung überhaupt nicht interessiert sind? Wie kann ein Chef, der sich nur mit Kostensenkung oder Verkaufssteigerung, nicht aber mit sei
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»Herr Knoblauch«, sagte er, »meine zwei Seniorchefs und die beiden Juniorchefs würden dringend eine solche Planung ihrer Lebensziele brauchen. Aber zu solchen Vorträgen wie heute gehen die grundsätzlich nicht. Da schicken sie immer mich. Ich bin einer der vier Bereichsleiter und auch dafür zuständig, die Weiterbildung mitzunehmen, die eigentlich für die obersten Chefs gedacht ist.« Ich traute meinen Ohren kaum. Bei den Chefs dieser Firma frage ich mich: Sehen sie sich überhaupt noch als Lernende? Sind sie bereit, sich zu verändern? Haben sie die Kraft, hart zu arbeiten, um die Zukunft ihres Unternehmens zu sichern? Denn nur wer das von sich behaupten kann, ist auch für A-Mitarbeiter attraktiv.
Michael Hyatts 20 Lektionen von schlechten Chefs
Können Mitarbeiter auch von schlechten Chefs etwas lernen? Der ehemalige Topmanager und heutige Führungsexperte und Buchautor Michael Hyatt sagt: Ja. Während seiner langen Karriere in der Medienbranche hat er selten gute, meistens eher schlechte und manchmal sogar paranoide und bösartige Chefs gehabt. Als positiv eingestellter Mensch sagt Hyatt heute: »Damals habe ich gehasst, für sie zu arbeiten, aber heute möchte ich die Lernerfahrung nicht missen.« Der Kontrast hat ihm nämlich gezeigt, wie man es richtig macht. Hier sind seine 20 Lektionen von schlechten Chefs:
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Jeder im Team ist wichtig. Niemand verdient schlechte Behandlung.
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Mit ihrer Einstellung und ihrem Verhalten schaffen Vorgesetzte ein emotionales Klima.
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Je weiter du aufsteigst, desto mehr versuchen Leute, aus allen deinen Worten und Taten etwas »herauszulesen«. Während die Vermutungen nach unten durchsickern, wird ihnen immer mehr Bedeutung beigemessen.
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Ein aufmunterndes Wort kann einem Mitarbeiter die ganze Woche retten. Umgekehrt kann ein barsches Wort sie ruinieren.
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Stelle die richtigen Leute ein und dann habe Vertrauen, dass sie ihren Job erledigen.
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Stelle niemals Menschen absichtlich vor ihrem Chef, ihren Kollegen oder ihren direkten Untergebenen bloß.
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Greife niemanden persönlich an. Nimm stattdessen die Leistung in den Blick.
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Lass dir einen Konflikt aus beiden Perspektiven schildern, bevor du reagierst.
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Sag die Wahrheit, dann brauchst du dir auch nicht zu merken, was du gesagt hast.
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Gib Menschen die Möglichkeit, zu scheitern, und reibe ihnen ihre Fehler nicht unter die Nase.
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Verzeihe Menschen, ohne zu zögern, und lege einen Vorfall im Zweifel zu ihren Gunsten aus.
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Triff keine voreiligen Entscheidungen.
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Verlange nie etwas von deinen Leuten, das du nicht selbst auch tun würdest.
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Gehe behutsam mit der Zeit anderer Menschen um, insbesondere wenn sie für dich arbeiten.
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Glaube nicht alle Komplimente, die dir gemacht werden.
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Ziehe durch, woran du wirklich glaubst, auch wenn es mühsam oder teuer wird.
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Sei nicht ehrgeizig, um befördert zu werden. Konzentriere dich darauf, anderen zu dienen und einen guten Job zu machen.
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Sei offen für jeden, der dir begegnet. Du weißt nie, wer dein nächster Chef wird.
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Behalte Vertrauliches für dich. Ohne Ausnahme.
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Beschwere dich über deinen Vorgesetzten bei niemandem, der nicht zur Lösung des Problems beitragen kann. Wenn du dich immer wieder beschweren musst, dann habe den Mut, zu kündigen.
In meinen Vorträgen habe ich schon mindestens 10 000 Kleinunternehmern und Mittelständlern immer dieselbe Frage gestellt: »Zu wie viel Prozent, glauben Sie, haben Sie das Interesse und die Begeisterung, ja das Herzblut Ihrer Mitarbeiter?« Ich rufe dann in Zehnerschritten Prozentzahlen auf und die einzelnen Zuhörer sollen jeweils bei ihrer Einschätzung die Hand heben. Die Ergebnisse sind durchweg enttäuschend. Die meisten heben die Hand bei 60 oder 70 Prozent. Also können diese Chefs keine A-Mitarbeiter haben! Denn ein A-Mitarbeiter ist mit vollem Einsatz dabei. Manchmal frage ich die Chefs auch, wie sie ihre eigene Begeisterung einschätzen. Und weil sich da einige nicht so gerne outen, drücke ich allen einen Zettel in die Hand mit der Bitte, die Prozentzahl darauf zu schrei
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Ursprünglich hatte ich auf den Zetteln einmal Zahlen wie 70, 80 oder 90 Prozent erwartet. Schließlich sind das ja alles Chefs, Unternehmer, Macher. Doch weit gefehlt. Da steht regelmäßig 15, 20 oder 50 Prozent, selten mal 70 Prozent. Nur ein Unternehmer hat einmal 120 Prozent notiert – wow! Wenn ich den Durchschnitt berechne, dann komme ich eher auf 40 als auf 50 Prozent. Chefs schätzen sich selbst also noch weit weniger begeistert ein, als sie ihre Mitarbeiter einschätzen! Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Halbherzige Vorgesetzte brauchen sich über lustlose Mitarbeiter nicht zu wundern.
Wenn ich eines in den vielen Jahren der Beschäftigung mit Personalmanagement und Führung gelernt habe, dann ist es dies: Ein Vorgesetzter kann seine Mitarbeiter immer nur maximal so weit entwickeln, wie er selbst entwickelt ist. Der Chef kann auch nur so viel Begeisterung wecken, wie er selbst von seiner Arbeit begeistert ist. Wenn sich die Begeisterung, die ich im Durchschnitt erlebe, nur um 10 Prozent steigern ließe, wäre zumindest schon ein positiver Trend da. Führungskräfte und Mitarbeiter, die alle nur mit halber Kraft arbeiten, müssen sich klarmachen, dass ihr Unternehmen langfristig in großer Gefahr ist. Und Chefs, die ihre Bereichsleiter an ihrer Stelle zu Fortbildungen schicken, weil sie selbst unentbehrlich sind, sollten wissen, dass sie keine A-Mitarbeiter haben. Denn hätten sie A-Mitarbeiter, könnten sie jederzeit ein paar Tage aus dem Betrieb sein und fänden bei ihrer Rückkehr alles in bester Ordnung vor.
Ich bin ein A-Mitarbeiter, holt mich hier raus!
Die Auszubildende wollte nur noch weg. Sie hielt es bei dem Mittelständler hier in unserer Region keinen Tag länger aus. Wir hörten davon und lernten die junge Frau kennen. Sie wirkte nicht nur intelligent und sympathisch, sondern zeigte nach unseren Bewertungsmaßstäben für Ein
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Ich bin oft zu Gast in mittelständischen Betrieben und mache dort Rundgänge. Wo immer sich die Gelegenheit bietet, versuche ich, mit Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Immer öfter höre ich in der letzten Zeit Sätze wie: »Mein Chef ist ein Dummkopf, hat keine Ahnung und weiß nichts Besseres, als hier rumzustänkern.« Der Frustpegel ist hoch. Die regelmäßigen Untersuchungen des Gallup Instituts bestätigen das. Nach dem »Gallup Engagement Index« von 2012 haben 24 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland bereits innerlich gekündigt. Diese Mitarbeiter bezeichne ich als C-Mitarbeiter. Weitere 61 Prozent machen Dienst nach Vorschrift – das sind die B. Lediglich 15 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind laut Gallup emotional an ihren Arbeitgeber gebunden und setzen sich gerne und freiwillig für dessen Ziele ein. Das sind die A-Mitarbeiter, um die Chefs sich reißen sollten.
So weit das deprimierende ABC in deutschen Firmen. Gallup hat aber noch eine andere Zahl ermittelt: 92 Prozent der Mitarbeiter geben an, dass sie die Arbeit, die sie ausführen, gerne machen und damit zufrieden sind. Warum haben Unternehmen dann nicht 92 Prozent A-Mitarbeiter? Sondern 86 Prozent B und C? In der Pressemitteilung zur Studie erklärt Marco Nink, Strategic Consultant bei Gallup Deutschland, den Widerspruch: »Diese Zahlen zeigen ganz eindeutig, dass die Gründe für eine mangelnde emotionale Bindung nicht in den Rahmenbedingungen des Arbeitsverhältnisses liegen. Führungskräfte sind diejenigen, die in der Verantwortung stehen, da sie es sind, die das Arbeitsumfeld durch ihr Führungsverhalten prägen und gestalten.«
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Da haben wir es wieder: Mitarbeiter sind nicht frustriert über ihre Arbeit oder über ihre Firma, sondern über ihren Vorgesetzten. Chefs verderben Mitarbeitern, denen ihre Arbeit eigentlich Spaß macht, durch ihr Führungsverhalten die Laune. Deshalb ist das Verhalten der Vorgesetzten der entscheidende Hebel für positive Veränderungen. Das bestätigt auch der Managementberater, Coach und Buchautor Johannes M. Hüger. Wenn sich B-Mitarbeiter nicht zu A-Mitarbeitern entwickeln, dann liegt das seiner Meinung nach zu 80 Prozent an den Chefs und nur zu 20 Prozent an persönlichen Lebensschicksalen und negativen Glaubenssätzen, die Mitarbeiter über sich selbst haben. Solche negativen Glaubenssätze lauten zum Beispiel: »Meine Arbeit ist nicht gut genug.« Oder: »Ich werde hier nicht gemocht und geschätzt.«
Doch selbst solche negativen Muster, die aus früheren Lebenserfahrungen stammen und mit der heutigen Realität meist nichts zu tun haben, können Vorgesetzte aufbrechen. Das hat Professor Joachim Bauer, Neurobiologe, Psychotherapeut und Autor des Bestsellers Prinzip Menschlichkeit, herausgefunden. Das Mittel gegen negative Glaubenssätze von Mitarbeitern heißt Wertschätzung. Werden alte Glaubenssätze durch Wertschätzung aufgebrochen, dann kommt es im Gehirn zu neuen »Schaltungen«, die weiteres Lernen ermöglichen und Spitzenleistungen erlauben, sagt Joachim Bauer. Johannes M. Hüger ergänzt: In der Vergangenheit ist Wertschätzung von Chefs als Lob verstanden worden, es ist aber deutlich mehr. Wertschätzung bedeutet, einen Mitarbeiter wahrzunehmen und ihn zu verstehen. Durch diese Empathie kommt ein Wachstumsprozess in Gang.
Keine Frage: Viele Führungskräfte müssen ihren Führungsstil ändern, wenn sie B-Mitarbeiter (laut Gallup-Studie ja knapp zwei Drittel der Belegschaft) zu A-Mitarbeitern entwickeln wollen. Und erst recht, wenn die wenigen heutigen A-Mitarbeiter nicht einmal wissen sollen, wie man das Wort »Kündigung« schreibt. Doch welcher Führungsstil ist der richtige? Hier hat das Modell des »situativen Führens« von Paul Hersey und Kenneth Blanchard schon vielen Chefs geholfen, einen Führungsstil herauszubilden, der auf den Entwicklungsstand der jeweiligen Mitarbeiter eingeht. Nach Hersey und Blanchard gibt es nicht »den« richtigen Führungsstil, sondern der Vorgesetzte muss die Mitarbeiter durch unterschiedliches Verhalten dort abholen, wo sie stehen.
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»Potenziell sind alle Menschen Spitzenkönner – man muss nur herausfinden, wo sie gerade stehen, und ihnen von dort aus weiterhelfen«, schreibt Kenneth Blanchard. Er unterscheidet vier Führungsstile: dirigieren, trainieren, unterstützen und delegieren. Welchen Führungsstil der jeweilige Mitarbeiter genau benötigt, hängt von einer Kombination aus zwei Faktoren ab: Kompetenz und Engagement. Je niedriger die beiden Faktoren ausgeprägt sind, desto mehr muss der Vorgesetzte dirigieren. Je mehr A-Mitarbeiter Sie haben, desto mehr können Sie die Aufgaben delegieren. Mitarbeiter mit hoher Kompetenz und hohem Engagement brauchen einen Führungsstil, bei dem möglichst viel Verantwortung an sie delegiert wird. Das heißt aber nicht, dass A-Mitarbeiter von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen werden möchten. Sie wollen Vertrauen erfahren, Anerkennung und Bestätigung bekommen und immer wieder neu angespornt und herausgefordert werden.
Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, was passiert, wenn Vorgesetzte einen A-Mitarbeiter behandeln wie einen B- oder gar C-Mitarbeiter. Wer seinen besten Leuten zu enge Vorgaben macht oder ihnen nicht die Unterstützung gibt, die sie wirklich brauchen, wird sie irgendwann verlieren. Je früher Führungskräfte damit beginnen, ihren Mitarbeitern genau die richtige Unterstützung in der jeweiligen Situation zu geben, desto besser. Mitarbeiter merken heute schon während ihrer Ausbildung, ob sie in einer Firma überhaupt die Chance auf Förderung und Unterstützung haben oder nicht.
Doch auch unzureichende Unterstützung ist immer noch besser als gar keine. Am schlimmsten ist es, wenn Vorgesetzte ihre Mitarbeiter völlig allein lassen und deren täglich geleistete Arbeit gar nicht zur Kenntnis nehmen. Nachdem ich eine Kurzfassung der Geschichte mit dem freundlichen Deutschtürken im Hotel in meinem Blog veröffentlicht hatte (
www.tempus.de/blog), schrieb mir ein Leser von seinem Sohn, der gerade seine Ausbildung zum Hotelfachmann abgebrochen hatte. In den Arbeitsfeldern habe es ihm eigentlich gut gefallen und er habe seine Arbeit gern gemacht. Genau wie laut Gallup-Studie 92 Prozent der Mitarbeiter in deutschen Unternehmen.
Was seinen Sohn jedoch zermürbt habe, schreibt der Leser, sei der Umgang dort mit den Mitarbeitern: »In vier Monaten hat ihn nicht ein einziges Mal jemand von der Leitung auf seine Ausbildung angesprochen,
|58|niemand hat sich dafür interessiert, wie es ihm geht, wie es ihm gefällt usw. Er bekam nur seine Arbeitspläne und musste funktionieren, dazu mit einer hohen Zahl von unvergüteten Überstunden.« Da kann ein Unternehmen noch so attraktiv sein – bei solchen Vorgesetzten sind talentierte Mitarbeiter plötzlich nicht mehr da.
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