TEIL ZWEI
DER BERG
Alice und Pen blieben stehen, als das Dorf in den Blick kam. Diesmal war es ein echtes Dorf, wie Pen ihr versicherte, ohne Tricks oder Fallen.
Sie nickte erschöpft. Alice wollte hier ein oder zwei Nächte bleiben, in einem richtigen Bett schlafen und etwas anderes essen als altbackenes Brot und kalte Pilze und harte, saure Beeren. Sie konnte von Glück reden, dass sie überhaupt so etwas hatte, nahm sie an. Ohne den Riesen, der sie vor einigen tödlich giftigen Pflanzen gewarnt hatte, wäre sie wahrscheinlich irgendwo in diesem Wald einsam erstickt.
Ja, der Riese war hilfreich gewesen. Aber er war auch abwechselnd entweder wütend (auf die Königin)
oder ängstlich (um Alice)
, und dieser ständige Wechsel seines Gemütszustands war anstrengend. Sie hätte dankbar sein müssen, und irgendwo tief drinnen war sie das auch, aber vor allem war sie müde und unendlich betrübt.
Hatcher war ein Wolf, stand unter dem Bann der Königin.
Gut möglich, dass das Heulen, das Alice in der Nacht in dem verzauberten Häuschen gehört hatte, aus Hatchers Kehle gekommen war, der nicht mehr er selbst war.
In Alice’ Kehle steckte ein Schrei, aber wenn sie dem nachgab, würde sie nicht mehr aufhören können zu schreien. Also schrie sie nicht oder schluchzte oder raufte sich die Haare oder hämmerte mit den Fäusten auf etwas ein, bis sie bluteten, obwohl sie all dies am liebsten getan hätte. Stattdessen klammerte sie sich mit allen Kräften an einen Gedanken, den sie nicht mehr losließ – jeder Zauber kann rückgängig gemacht werden.
Daran musste sie glauben, auch wenn sie keinerlei Beweise dafür hatte, dass es stimmte. Sie musste daran glauben, dass sie Hatcher zurückbekommen würde.
Pen stand unsicher neben Alice, die stehen geblieben war und ins Leere starrte. »Ich seh dich dann in ein, zwei Tagen, Miss Alice«, sagte er zögerlich.
»Ja«, antwortete sie.
»Auf der anderen Seite des Dorfs.«
»Ja.«
»Und dann gehen wir zum Schloss und nehmen Rache für meine Brüder und deinen Mann.«
»Ja.«
Sie sagte ja, auch wenn sie nicht wusste, wie das geschehen sollte. Irgendwie hatte sie die ganze Zeit ihr Bestes gegeben, und doch war alles schiefgegangen. In all dem Horror, all der Traurigkeit war Alice sich einer Sache vollkommen sicher gewesen – dass Hatcher immer an ihrer Seite sein würde. Und dann plötzlich war er es nicht mehr. Hatcher war nicht einmal mehr Hatcher
.
Und du bist eine Zauberin, die nicht mal Sand in Brot verwandeln kann. Wie willst du da einen Wolf in einen Mann zurückverwandeln?
»Jeder Zauber kann rückgängig gemacht werden«, murmelte Alice.
Sie musste daran glauben. Sie musste. Doch das war kein Problem, das man mit Liebe oder Mut oder Entschlossenheit oder auch nur durch inniges Wünschen lösen konnte. Es konnte nur durch Zauberei gelöst werden, echte Zauberei.
Alice kam wieder zu sich und merkte, dass Pen immer noch da herumlungerte und auf eine Reaktion von ihr wartete.
»Alles in Ordnung, Pen«, sagte Alice. »Ich vergesse es nicht.«
»Wenn du es sagst, Miss Alice«, antwortete der Riese zweifelnd.
»Das tu ich.«
Er sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, überlegte es sich dann aber wohl anders und drehte sich um.
Und dann war Alice wieder allein. Kein Riese ragte schützend über ihr auf, kein Kobold lauerte hinter ihr. Kein Hatcher sprach mit ihr durch ein Mauseloch, kein Grinser sprach zu ihr in ihrem Kopf. Sie war allein, zumindest so lange, bis sie an die ersten Häuser am Dorfrand kam. Gestern hatte die Vorstellung, allein zu sein, noch etwas Beängstigendes gehabt. Jetzt war sie entspannend. Sie konnte aufhören, so zu tun, als ginge es ihr gut, wenn es gar nicht so war.
Das Dorf war etwa eine Viertelmeile entfernt. Der Wald
endete in einer abrupten Linie, als hätte jemand den Bäumen gesagt, wo sie aufhören sollten zu wachsen. Zwischen Wald und Dorf befand sich eine Wiese mit hohem Gras, goldgelb in den Strahlen der tief stehenden Nachmittagssonne, das Alice bis zur Hüfte reichte.
Holzrauch stieg aus den Schornsteinen der kleinen Häuser, und der Wind trug den schweren Geruch von Schweinen und Kühen und dem dazugehörigen Mist hinüber. Außerdem briet da Fleisch über irgendjemandes Kochfeuer, und der angenehme Duft von sonnenwarmer Vegetation und frisch umgegrabener Erde hing in der Luft.
Alice hielt das Gesicht in die Sonne und dachte einen Moment, wie schön es doch war, einfach mal die Sonne zu sehen, nachdem sie – wie viele Tage? – in diesem schrecklichen Wald herumgeirrt war. Es kam ihr vor wie ein halbes Leben.
Und wenn du nicht eine weitere Nacht draußen im Freien verbringen willst, dann musst du dich in Bewegung setzen, Miss Alice.
Also trottete sie los, denn es blieb ihr nichts anderes zu tun, und es gab nichts anderes, wohin sie gehen konnte.
Das Dorf war genau dort hingebaut worden, wo das Grasland endete und der Berg sich erhob, sodass ein Ende der Hauptstraße tiefer lag als das andere. Es schien Alice eine seltsame Entscheidung, sein Zuhause ausgerechnet auf so einer schiefen Ebene zu suchen. Wie sollte man Tee trinken, wenn alles ständig vom Tisch rutschte?
Sie musste kichern und erkannte sowohl das Kichern als auch ihre dummen Gedanken als erste Anzeichen von Hysterie. Sie brauchte Zeit, um sich zu besinnen, um Kraft
für die vor ihr liegende Aufgabe zu sammeln und für die Möglichkeit, dass sie scheitern könnte.
Vielleicht würde sie Hatcher nicht von dem Fluch befreien können. Aber sie könnte ihn zumindest von der Königin befreien. Sie könnten zusammen durch das Land streifen, und die Leute würden sich Geschichten erzählen von dem großen Mädchen mit dem grauäugigen Wolf, der sie zu lieben schien.
Wenn sie Jenny fanden (was mit Hatcher als Wolf wahrscheinlich sehr viel einfacher werden würde, nahm Alice an, denn er könnte sie mit seiner Nase aufspüren), würde sie ihr einfach erklären, dass ihr Vater unter einem Zauberbann stand, und sie bitten, einfach trotzdem mit ihnen mitzukommen.
»Hysterisch«, sagte Alice zu sich. Ihre Gedanken wurden mit jedem Augenblick lächerlicher.
Sie ging an den ersten Häusern der Siedlung vorbei, ohne wirklich auf die Umgebung zu achten, sodass sie die aufgeschreckte Gans erst bemerkte, als sie ihr schimpfend entgegenflog und überall Federn herumwirbelten.
»Komm her, du dummer Vogel!«, rief ein Junge.
Alice wich zurück und versuchte sich die wütende Kreatur und ihren schnappenden Schnabel mit wedelnden Händen vom Leib zu halten, hatte aber nur wenig Erfolg. Sie fühlte das Schnappen an ihren Händen und in ihrem Haar und schrie auf.
Kurz darauf war das Trommeln von Füßen zu hören, und ein Paar schmutziger Hände packte die Gans an beiden Flügelansätzen.
»Entschuldigung, Miss«, sagte der Junge. Er bestand nur
aus langen Armen und Beinen und Knochen und Sommersprossen mit einem Schopf aus unordentlichem braunem Haar darüber. »Sie brütet gerade, und da lässt sie nicht jeden in ihre Nähe.«
Brütet?,
dachte Alice. Machen Vögel das nicht im Frühling? Heißt das, es ist Frühling?
Ihr wurde klar, dass sie nicht wusste, welche Jahreszeit war oder wie viel Zeit vergangen war, seit Hatcher und sie aus dem Irrenhaus geflohen waren.
»Eigar, weg von da, sofort!«, rief eine Frauenstimme.
Alice betastete ihren Kopf und fühlte etwas Klebriges. Sie sah auf ihre Hand, die blutig war, dann blickte sie in Richtung der Rufe. Eine Frau, gealtert durch Sorge und Arbeit, stand auf der Schwelle eines der kleinen Steinhäuser, das Haar unter einem Kopftuch, und ihre blauen Augen blickten Alice misstrauisch und böse entgegen.
»Tut mir leid, Miss«, sagte der Junge und deutete eine Verbeugung an, bevor er nach Hause zurückrannte, die immer noch wütend strampelnde Gans in den Armen.
Alice sah ihm nach, sah, wie seine (Mutter? Großmutter? Tante?)
den Jungen in Empfang nahm, ihn und den Vogel hineinschob und die Tür fest hinter ihnen schloss.
So viel zum Thema Gastfreundlichkeit,
dachte Alice. Die Frau hätte ihr doch zumindest einen feuchten Lappen für ihren Kopf anbieten können. Immerhin war es ihr Vogel gewesen, der ihr die Verletzung zugefügt hatte.
Alice riss einen Streifen von ihrem immer kürzer werdenden Hemd ab und versuchte, die Schnitte abzutupfen. Sie sah furchterregend aus, so viel stand fest, sogar ohne dass ihr Gesicht blutverschmiert war. Kein Wunder, dass
die Frau auf der Schwelle ihr so misstrauisch begegnet war.
Vielleicht gab es einen öffentlichen Brunnen oder eine Quelle im Dorf, wo Alice sich waschen konnte, dachte sie. Sie trottete weiter, in Gedanken halb bei ihrer schmuddeligen Erscheinung (das Blut und meine Narbe lassen mich wohl kaum besonders ansprechend aussehen)
und halb bei ihrer Umgebung.
Die meisten Häuser waren fest verschlossen, die Läden vor den Fenstern zugezogen, die Türen entschieden geschlossen. Wenn sie jemandem auf der Straße begegnete, warf er nur einen Blick auf sie und sah dann schnell wieder weg, beinahe, als glaubten sie, sie würde verschwinden, wenn sie sie nicht beachteten.
Während Alice langsam weiterging und versuchte, sich nicht allzu schlecht zu fühlen wegen ihres Aussehens, überlegte sie, ob sie vielleicht einfach nur etwas zu essen kaufen und gleich weiterziehen sollte. Dieses Dorf machte nicht den Eindruck, als wollte es ihr einen angenehmen Aufenthalt für die Nacht bieten.
Dann fiel ihr das schwarze Zeichen auf, das wie eine Narbe in das Holz einiger Türen eingebrannt war. Sie blieb stehen, betrachtete es genauer, und in ihrer Erinnerung verschob sich etwas.
Hatcher, im Rausch des Sehens, wie er Linien in den Sand malte. Ein großer zackiger Stern umringt von sieben kleineren.
»Die Verlorenen«, sagte Alice.
Ihr Weg hatte also unweigerlich hierher führen müssen, weil ihr Schicksal – und Hatchers – irgendwie mit diesen
Verlorenen verknüpft war. Sie konnte nicht einfach nur durch dieses Dorf gehen. Sie musste mehr über die Verlorenen herausfinden.
Der Gedanke, eine Aufgabe und ein Ziel zu haben, verlieh ihr Kraft und Zuversicht, die sie einen Augenblick zuvor noch nicht empfunden hatte. Hatcher und Alice sollten hier sein. Und das, so hoffte sie, bedeutete, dass es auch für Hatcher noch eine Zukunft gab.
Ihr Kinn hob sich, und sie erwiderte ruhig den Blick zweier mittelalter Männer – Bauern, dem Aussehen nach zu urteilen –, die sie misstrauisch anstarrten, als sie vorbeiging, Hatchers Stimme im Ohr.(Husche nicht wie eine Maus.)
Er hatte recht, natürlich. Alice mochte keine besonders gute Zauberin sein, aber sie war
eine Zauberin. Sie hatte Sachen überlebt, die andere mit Sicherheit zerstört hätten. Sie war nicht hilflos. Daran zu glauben machte es wahr und stärkte ihr den Rücken.
Der Dorfplatz sah mehr oder weniger aus wie der des falschen Dorfs am Rand der Ebene. Eine Ansammlung kleiner Läden – Bäcker und Metzger und so weiter – umrahmte einen kleinen Platz. Natürlich lehnte dieser Platz am Hang des Bergs, also war alles seltsam schief.
In der Mitte befand sich ein Brunnen, aber anders als in dem anderen Dorf schien dieses Wasser sicher trinkbar zu sein. Ein paar Leute standen darum herum und füllten Eimer, um sie nach Hause zu tragen. Obwohl alle höflich miteinander umgingen, bemerkte Alice nichts von der freundschaftlichen Nähe, die man in einem so kleinen Dorf erwarten würde.
Es gab keine Vertraulichkeiten, keine Scherze, kein
Gelächter. Und vor allem gab es keine Kinder, obwohl es welche geben müsste. Es hätten Kinder herumrennen und kreischen und dafür ausgeschimpft werden müssen von nur nebenbei auf sie achtenden Müttern. Aber das einzige Kind, das Alice bisher zu Gesicht bekommen hatte, war der Junge mit der Gans gewesen.
Sie ging zu der Gruppe am Brunnen in der Hoffnung, ihren Wasserschlauch auffüllen und sich das Gesicht waschen zu können, ohne allzu sehr aufzufallen. Sobald sie sich zu den paar Leuten gestellt hatte, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, verstummten die Gespräche.
Alle starrten sie an – kalt und misstrauisch. Alice setzte ein, wie sie hoffte, freundliches Lächeln auf und hielt ihren Wasserschlauch hoch. Vielleicht konnte das Blut in ihrem Gesicht im schwindenden Licht der Abendsonne als Schmutz oder Schatten durchgehen. »Ich würde gern etwas von eurem Wasser haben. Ich bin heute sehr weit gegangen und habe schrecklichen Durst.«
»He du, woher kommst du?«, bellte ein alter Mann sie an. Er sah ausgedörrt aus wie ein alter Apfel und genauso braun, mit knotigen Händen, die von lebenslanger Arbeit sprachen.
Alice wollte gerade antworten »aus der Stadt«, doch dann kam ihr der Gedanke, dass die Leute ihr das vielleicht nicht glauben würden. Die Stadt schien von hier aus sehr weit weg zu sein, sowohl was die Entfernung anging als auch das Bewusstsein. »Aus dem Wald«, sagte sie und zeigte hinter sich und den Berg hinunter.
Daraufhin erhob sich Gemurmel, und Alice hörte mehr als einmal das Wort »Lügnerin«
.
»Niemand kommt aus dem Wald«, sagte der Mann.
»Ich schon«, antwortete Alice.
Sie hatte kein herzliches Willkommen erwartet, aber ebenso wenig absolute Ungläubigkeit. Wo sonst hätte sie herkommen sollen? Sie war schließlich nicht vom Himmel gefallen, auch wenn die Mienen der Umstehenden so aussahen, als glaubten sie das.
»Dann musst du zur Weißen Königin gehören, und das bedeutet, dass du hier nicht willkommen bist«, sagte der alte Mann.
»Schsch, Asgar«, sagte ein jüngerer Mann, der immer wieder ängstliche Blicke auf Alice warf. »Nicht die Königin beleidigen.«
»Ich mach, was ich will«, rief Asgar. »Sie hat uns schon genug genommen, mehr als genug. Wenn diese Kreatur mich im Auftrag der Königin bestrafen will, dann soll sie es tun, aber ich werde ihr freiwillig keinen Tropfen Wasser geben oder sonst etwas.«
Einige der Leute wichen zurück, während er das sagte, als fürchteten sie, Asgars Worte könnten sie beschmutzen.
»Er meint es nicht so, Miss«, sagte Gunnar, und sein Gesichtsausdruck flehte um Gnade, um Verständnis. »Es ist nur, dass seine Enkeltochter …«
»Rede nicht über meine Asta!«, bellte Asgar mit hochrotem Gesicht. Er trat auf Alice zu und schüttelte eine Faust vor ihrem Gesicht. »Diese Hexe … diese Hexe …«
Plötzlich schlug er die Hände vors Gesicht und fiel in sich zusammen, seine Schultern zitterten.
»Ich komme nicht von der Weißen Königin«, sagte Alice. »Und ich habe genauso viel Grund, sie zu verabscheuen,
wie ihr. Sie hat mir den Mann genommen, den ich liebe, und ihn in einen Wolf verwandelt und dann in der Nacht im Wald ihren Kobold auf mich gehetzt.«
Gunnar blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Wenn du nicht ihre Kreatur bist, wie hast du dann den Angriff des Kobolds überlebt?«
Alice erklärte, wie sie die Nacht in dem Häuschen verbracht hatte und wie der Kobold versucht hatte, sie dazu zu verleiten, nach draußen zu kommen. Einige runzelten die Stirn, und eine Frau fragte zögerlich: »Warum ist der Kobold nicht in das Häuschen eingedrungen?«
Alice seufzte. Sie fand es ziemlich unfair, dass sie ihr so misstrauisch begegneten, bloß weil sie im Wald nicht getötet worden war. »Ich weiß es nicht. Es gibt so viel, was ich nicht weiß oder verstehe.«
»Wieso sollten wir dir glauben, dass du bist, was du zu sein behauptest?«, fragte Gunnar.
»Ich kann es nicht beweisen«, sagte Alice. Auch das war neu für sie. In der Stadt war sie bei jeder Begegnung an der Narbe im Gesicht sofort erkannt worden. Hier in diesem kleinen Dorf hatte noch nie jemand von Alice oder dem Kaninchen gehört. »Aber ich versichere euch, dass ich euch nichts Böses will. Ich möchte mich hier nur etwas ausruhen, essen und trinken, wenn ihr es mir erlaubt. Ich muss hoch auf den Berg, um den Mann zu finden, den ich liebe, und versuchen, ihn zu retten und wieder zurückzubringen.«
»Niemand kommt vom Berg zurück«, sagte Asgar. »Sie nimmt sie mit, aber sie kommen nie zurück.«
»Wen?«, fragte Alice, obwohl sie das Gefühl hatte, die Antwort bereits zu kennen
.
»Unsere Kinder. Die Verlorenen.«
Einige der Frauen bedeckten bei diesen Worten ihre Gesichter, und mehr als eine unterdrückte ein lautes Schluchzen.
»Wieso nimmt sie sie mit?«, fragte Alice. Wenn sie das verstehen würde, dann könnte sie vielleicht auch verstehen, warum sie hier war, warum Hatcher ihr genommen worden war.
»Wer kann schon verstehen, wie eine Hexe denkt?«, fragte Asgar, und etwas von seinem Temperament kehrte zurück. »Einmal in jeder Jahreszeit, am dritten Vollmond, müssen wir eines von unseren Kindern zur großen Eiche schicken und es dalassen. Immer bleiben einige der Männer dort und versuchen, die Königin zu erwischen, bevor sie das Kind mitnimmt. Immer scheitern sie. Sie schlafen ein, und wenn sie wieder aufwachen, ist das Kind fort, und es gibt keine Möglichkeit, ihm zu folgen, denn rund um das Schloss gibt es eine undurchdringliche Barriere, einen Bann. Also du siehst – du kommst nicht an sie heran und auch nicht an deinen Mann. Niemand kommt auf den Gipfel, wenn sie es nicht will, und wenn sie es will, dann wünschst du dir, dass es nicht so wäre.«
»Ihr könnt die Kinder nicht retten, die sie genommen hat, und ihr könnt nicht verhindern, dass weitere genommen werden«, sagte Alice. »Warum geht ihr nicht hier weg?«
»Und wohin sollten wir gehen?«, fragte Gunnar. »Auf einer Seite ist der Berg der Königin, und auf der anderen ist der Wald der Königin. Wenn du wirklich durch den Wald gekommen bist, dann weißt du, was für Ungeheuer darin wohnen: Riesen, die Menschenfleisch essen.
«
Alice trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, während sie an Pen dachte, der auf der anderen Seite des Dorfs auf sie wartete. »Ja, ich kenne sie. Aber ich weiß auch, dass zwei von den Riesen tot sind, verbrannt durch ein Feuer weit weg von hier, am Ende der Ebene.«
»Hast du dieses Feuer gesehen?«, wollte Gunnar wissen.
»Nein«, sagte Alice. »Aber es war jemand, dem die Königin ebenfalls Unrecht getan hat.«
»Der Aschekönig«, murmelte eine der Frauen, und eine andere forderte sie zum Schweigen auf.
»Der Aschekönig?«, fragte Alice. »Wird er so genannt?«
»Wir sprechen nicht von ihm«, erklärte Gunnar und warf der Frau, die gesprochen hatte, einen tadelnden Blick zu. »Aber wenn er tatsächlich derjenige ist, der diese Riesen getötet hat, dann wäre es für uns noch wesentlich gefährlicher, den Wald zu durchqueren. Abgesehen davon gibt es hier kaum eine Familie, die nicht über Blut oder Heirat mit den anderen verwandt ist, und wer würde schon seine Familie zurücklassen, wenn auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit bestünde, dass unsere Kinder doch wieder nach Hause kommen?«
»Wenn sie aus dem Schloss kommen, müssen wir hier sein«, bekräftigte die Frau, die von dem Aschekönig gesprochen hatte. »Wie würden ihre Herzen brechen, wenn sie zurückkämen, und wir wären nicht mehr hier.«
Und wie eure Herzen jeden Tag brechen,
dachte Alice. Die Trauer durchtränkte die Luft um sie herum. Wie viele von diesen Menschen saßen jeden Abend an ihren Fenstern, starrten in die Schatten am Berg hinaus und hofften gegen jede Hoffnung, dass sich einer dieser Schatten in ein
vermisstes Kind verwandelte? Und wie jede Mutter und jeder Vater davon träumte, dass sie auf ihren Liebling zuliefen und ihn in den Arm nahmen, um ihn nie wieder loszulassen.
Doch statt Wiedersehen erwartete sie mehr Kummer, wenn ein weiteres Kind fortgeschickt werden würde, und noch eins und noch eins, ohne jede Hoffnung auf Entkommen und ohne Hoffnung darauf, dass es aufhörte, bis alle Kinder fort waren.
Und was, wenn die Dorfbewohner durch den Wald gingen, was, wenn sie beschlossen, die verbleibenden Kinder zu retten, wohin könnten sie dann gehen? Die Ebene war verbrannt von dem Mann, den sie den Aschekönig nannten, und dahinter lag die Stadt, und Alice wusste nur zu gut, dass dort keine Hoffnung zu finden war. Also würden sie bleiben und auf das unausweichliche Schicksal warten, bis ihre Zukunft vollkommen ausgelöscht war.
»Wann ist der dritte Vollmond dieser Jahreszeit?«, fragte Alice, denn sie hatte das Gefühl für Zeit und Jahreszeiten verloren.
»In drei Tagen«, sagte Gunnar. »Morgen Abend wird das Los gezogen.«
»Das Los?«, fragte Alice.
»Das Kind wird zufällig ausgewählt per Los«, erklärte Asgar. »Es war der einzige Weg, den wir für gerecht hielten, auch wenn es wahrscheinlich sowieso egal ist, in welcher Reihenfolge sie uns genommen werden. Sie wird erst zufrieden sein, wenn sie sie alle hat.«
»Es wird nicht nötig sein, einen weiteren Namen zu ziehen«, erklärte Alice. »Ich gehe anstatt des nächsten Kindes.
«
Schweigen senkte sich über die kleine Menge, niemand murmelte etwas, niemand regte sich, niemand atmete hörbar. Den Dorfbewohnern schien es die Sprache verschlagen zu haben. Der alte Mann war der Erste, der sich wieder fasste.
»Warum solltest du das tun?«, fragte er. »Du schuldest uns doch gar nichts.«
»Ich tue es nicht für euch«, antwortete Alice. »Ich tue es für mich selbst. Ich muss ins Schloss, und diejenigen, die unter der Eiche warten, können den Bann der Königin nicht durchdringen. Wenn ich dann noch eines eurer Kinder retten kann, umso besser.«
»Das funktioniert niemals«, sagte Gunnar. »Die Königin wird dich nicht nehmen. Und dann wird sie sich an uns rächen.«
»Welche Rache könnte denn schlimmer sein als das, was sie euch ohnehin schon antut?«, fragte Alice. »Abgesehen davon denke ich schon, dass sie mich nehmen wird. Sie wollte mich im Wald und hat mich nicht gekriegt – oder zumindest ihr Kobold wollte mich.« Während sie das sagte, fühlte Alice wieder das Flüstern langer Finger im Nacken.
»Wir sollten sie es versuchen lassen«, sagte die Frau, die vorhin gesprochen hatte. »Sie hat recht. Nichts kann schlimmer sein als das, was wir jetzt erleiden.«
»Und wenn sie scheitert, Brynja? Wenn die Königin ihren Kobold schickt oder irgendeine andere Kreatur, um uns alle zu zerstören?«, fragte Gunnar.
»Dann wird es zumindest zu Ende sein«, sagte Brynja. »Wenn ich den Mut dazu hätte, hätte ich mir längst einen Dolch ins Herz gejagt.
«
»Das ist kein Mut«, sagte Alice. »Es braucht mehr Mut weiterzuleben, die Hoffnung nicht zu verlieren.«
»Was weißt du denn schon davon?«, fragte Gunnar brüsk. »Hast du ein Kind verloren?«
»Nicht so, wie du denkst«, antwortete Alice und dachte an das Mädchen, das sie einst gewesen war, das Mädchen, das vom Kaninchen verschlungen worden war. »Aber ich kenne Leid und Verlust, und ich kann nicht weiterleben, ohne zu versuchen, meinen Hatcher zurückzubekommen.«
»Hatcher? Ist das dein Mann?«, wollte Brynja wissen.
»Ja, so heißt er«, sagte Alice, und zwischen den beiden Frauen entstand eine Verbindung, Verständnis.
»Und was wirst du tun, wenn du dorthin kommst?«, fragte Gunnar.
Wünschen,
dachte Alice. Aber sie sprach es nicht aus. Sie wollte das Vertrauen dieser Menschen gewinnen, und sie könnten misstrauisch werden, wenn sie erfuhren, dass sie über Magie verfügte, selbst wenn ihre Magie im Vergleich zu der der Weißen Königin armselig war.
»Ich werde mich der Königin entgegenstellen«, sagte sie.
»Du wirst sterben«, sagte Asgar.
»Das kannst du nicht wissen«, sagte Alice. Ich sollte sterben, als ich dem Jabberwock entgegengetreten bin, und ich bin nicht gestorben.
»Wenn ich scheitere, hat sich für euch nichts geändert. Wenn ich Erfolg habe, kann ich vielleicht den Fluch über diesem Ort brechen. Vielleicht gibt sie mir eure Kinder zurück.«
Wenn sie noch am Leben sind.
Niemand sprach es aus, aber der Gedanke war in den Gesichtern aller zu lesen
.
»Wir müssen das besprechen«, sagte Asgar. »Gunnar, ruf die anderen in der Halle zusammen.«
Gunnar nickte und lief los. Die noch am Brunnen standen, schöpften ihr Wasser und eilten nach Hause.
»Du kannst zumindest eine Nacht hierbleiben«, sagte Asgar. »Während wir über deinen Vorschlag entscheiden.«
»Danke«, sagte Alice.
Wahrscheinlich würde irgendeine Art Ältestenrat darüber beraten, ob sie Alice anstatt eines ihrer Kinder gehen lassen wollten. Aber wie auch immer sie entscheiden würden, Alice würde so oder so gehen, mit oder ohne ihre Zustimmung. Sie musste ins Schloss. Sie musste die Königin treffen und mit ihr sprechen und versuchen, Hatcher zurückzubekommen und auch die Verlorenen. Alice hatte keine Ahnung, wie sie das erreichen sollte, aber sie musste es dennoch versuchen.
»Du kannst bei mir bleiben«, sagte Brynja und bedeutete Alice, ihr zu folgen.
Alice ging neben der schweigenden Frau her. Sie sah, wie Gunnar an die Türen bestimmter Häuser klopfte und mit bestimmten Männern sprach. Wenn diese Männer Alice erblickten, starrten sie sie an, und Alice spürte das Gewicht ihres Misstrauens.
Brynja führte Alice zu einem kleinen, sauberen Häuschen mit einer frisch gefegten Schwelle und dem Brandzeichen der Verlorenen über der Tür. Die Frau zündete eine Kerze an, die auf einem kleinen Tischchen direkt am Eingang stand. Der schwache, flackernde Schein enthüllte einen einzigen Raum mit einem großen Kamin auf einer Seite. In einer Ecke stand ein kleiner runder Tisch mit drei
Stühlen und auf der anderen Seite ein Bett mit einer großen Strohmatratze und einem bunten Quilt in fröhlichen Farben darüber. Eine sehr kleine Holztruhe stand am Fuß des Betts und daneben ein paar lederne Kinderschuhe.
Brynja folgte Alices Blick zu den Schuhen. Sie hatte sehr helle blaue Augen und so hellblondes Haar, dass es beinahe weiß aussah. »Sie gehören meiner Tochter, Eira. Sie war eine der Ersten, die geholt worden sind. Sie war erst fünf. Mein Mann ist danach verrückt geworden. Er konnte einfach nicht hinnehmen, dass er die Barriere um das Schloss nicht durchdringen konnte. Irgendwann hat er seine ganze Zeit damit verbracht, nach einem Weg zur Königin zu suchen, um Eira zurückholen zu können. Er hatte keinen Erfolg und ist auch nie mehr zurückgekommen.«
Brynja sprach mit ausdrucksloser Stimme, als wäre die Geschichte etwas, das einer anderen Frau passiert war, einer, die sie nicht besonders gut kannte.
»Das tut mir leid«, sagte Alice. Mit Sicherheit war kein Satz jemals so nutzlos und unpassend gewesen wie dieser. »Wie lange ist Eira schon weg?«
»Mehr als zwei Jahre«, antwortete Brynja.
Zwei Jahre?,
dachte Alice. Dann ist das Kind inzwischen tot oder hat solchen Schaden genommen, dass es sich nicht mehr davon erholen wird.
Brynja lächelte traurig. »Ja, ich weiß, was du denkst, denn ich habe auch schon oft gedacht, dass ich sie für immer verloren habe. Ich habe nichts mehr außer der Hoffnung, also warte ich hier auf sie. Mein Mann ist fort und wahrscheinlich tot, in einen Abgrund gestürzt oder von der Königin getötet worden oder vielleicht auch von einem
dieser Riesen aufgefressen worden. Aber meine Eira könnte irgendwann nach Hause kommen. Könnte sie. Niemand weiß, was mit ihnen passiert, nachdem die Königin sie geholt hat.«
Sie schreien,
dachte Alice, während sie sich an ihren Albtraum in der Nacht im Wald erinnerte. Sie schreien Tag und Nacht, und ihre Schreie sind schrecklich anzuhören.
»Sobald das Feuer wieder im Gang ist, habe ich etwas Suppe für dich«, sagte Brynja und machte sich eifrig ans Werk. Alice verstand, dass sie sich beschäftigen musste, um nicht zu sehr an Eira zu denken.
Brynja gab ihr etwas von dem Wasser, das sie vom Brunnen geholt hatte, damit sie sich Gesicht und Hände waschen konnte. Alice begutachtete den Zustand ihres Hemds und ihrer Hose und fragte sich, ob sie am nächsten Tag Gelegenheit bekommen würde, sie zu waschen. Im Krankenhaus hatte sie viele Jahre tagaus, tagein dasselbe schmutzige Hemd getragen, aber jetzt war sie ihren eigenen Geruch leid. Sie sehnte sich danach, jeden Tag in frische Kleidung schlüpfen zu können und ein Bad zu nehmen, wann immer sie wollte. Als sie noch jung gewesen war und in der Stadt lebte, war ihr nie klar gewesen, dass einem solche Dinge jederzeit durch den Zufall weggenommen werden konnten.
Brynja stellte Suppe, Brot und zwei Gläser warme Milch (»Frisch von unserer Ziege«, sagte sie mit einem gewissen Stolz) auf den Tisch. Alice musste sich zwingen, langsam zu essen, um sich nicht den Mund an der Suppe zu verbrennen. Außerdem wollte sie ihre Gastgeberin nicht mit ihren schlechten Manieren kränken. Abgesehen davon,
sich nicht waschen zu können, war das Schlimmste, die ganze Zeit Hunger zu haben.
»Es ist lange her, dass du ein anständiges Mahl bekommen hast«, bemerkte Brynja.
»Ja«, sagte Alice. Offensichtlich war es ihr nicht besonders gut gelungen, das zu verbergen. Sie hatte ihr Essen heruntergeschlungen, während Brynja noch dasaß und darin herumstocherte. »Man kommt im Wald nur schlecht an Essen.«
»Und wieso warst du im Wald?«, wollte Brynja wissen.
Alice musste erst überlegen, wie sie am besten auf diese Frage antworten sollte. Sie wollte nicht jemanden anlügen, der freundlich zu ihr war. Aber sie wollte Brynja auch nicht alles erzählen, was sie bis hierhin geführt hatte. Schließlich sagte sie: »Hatchers Tochter Jenny ist vor langer Zeit entführt worden. Wir haben gehört, sie sei in den Fernen Osten gebracht worden.«
»Wir haben auch schon davon gehört, dass Mädchen in den Fernen Osten verschleppt werden, sogar hier«, sagte Brynja mit kummervoller Miene. »Nach allem, was man hört, erwartet sie kein schönes Schicksal dort.«
»In der Stadt erwartet sie auch kein schönes Schicksal. Da sind wir ursprünglich hergekommen, vor dem Wald«, erklärte Alice. »Aber wie kommt es, dass du und deine Leute hierhergezogen seid?«
»Unsere Vorfahren kamen aus dem Norden, wo alles immer mit Schnee und Eis bedeckt ist. Unsere Leute hielten sich an die alten Sitten, aber es gab einige, die die alten Sitten nicht mehr für richtig hielten. Sie sagten, unsere Götter seien tot, und sie verbrannten unsere Bäume und unsere
Altäre und Häuser. Wir bauten die Häuser wieder auf, versteckten unsere Altäre im Wald und pflanzten unsere Bäume neu. Aber sie kamen immer wieder und redeten davon, dass unsere Bräuche falsch wären, auch wenn einige von denen, die das sagten, noch vor gar nicht langer Zeit selbst noch daran geglaubt hatten. Und dann brannten sie unsere Häuser wieder nieder und sagten uns, wir sollten ihnen gehorchen, sonst würde es beim nächsten Mal nicht so glimpflich für uns ausgehen.
Einige Männer versuchten, sich zu widersetzen, die anderen, die auch die neuen Götter nicht mochten, davon zu überzeugen, sich zur Wehr zu setzen. Aber diejenigen, die für die neuen Götter waren, wurden immer mehr, und wenn man nicht machte, was sie wollten, konnte man alles verlieren. Und die, die unserer Meinung waren, hatten Angst, Angst, dass ihre Häuser und Höfe niedergebrannt würden, dass ihren Kindern Leid angetan würde, wenn sie versuchten zu kämpfen. Also nahmen sie die neuen Götter an und verurteilten uns zusammen mit den anderen.
Schließlich hatte einer unserer Ältesten einen Traum. Einen Traum, der besagte, dass wir das große Eis überqueren und dann über verschiedene Berge gehen müssten, bis wir den einen Berg am Rande eines Walds fänden, und dass wir dort einen sicheren Ort zum Leben finden würden. Wo wir nach unseren alten Sitten leben könnten. So verließen wir unser Land und alles, was wir kannten, und zogen über den großen Eisschild, der so dick war, dass er eine ganze Stadt hätte tragen können. Aber das Eis ist trügerisch und gefährlich, nicht fest. Es ist ständig in Bewegung, knackt und stöhnt unter der Oberfläche, verändert sich, ist nie
gleich, nie beständig. Und einige von uns stürzten, als sich das Eis bewegte, aber wir wussten, dass dies das Opfer war, das die Götter von uns verlangten, und wir behielten unsere Zuversicht und unseren Glauben und gingen weiter.
Wir kamen in die Berge, wo die Stürme heulten und Felsbrocken fielen, und wir waren hungrig und durstig und verloren wieder ein paar mehr. Aber wir gingen weiter, denn die Vision unseres Ältesten war wahr, und wir wussten, dass wir ihr folgen mussten.
Endlich, nach vielen Monaten voller Gefahr und Mühsal, kamen wir hierher. Es war gut hier, es gab eine Wasserader für den Brunnen, es gab Ackerland, der Boden schwarz und schwer, und im Wald reichlich Wild. Ja, es schien ein guter Ort zu sein und ein glücklicher auch, und wir bauten unsere Häuser und säten unsere Samen und lebten voller Hoffnung eine Zeit lang.«
»Aber was war mit der Königin?«, fragte Alice, die an Pens Geschichte dachte. Die Königin hatte Pen und seine Brüder vor langer Zeit verflucht, lange bevor diese Menschen sich hier angesiedelt haben konnten.
»Es war eine andere Königin damals«, sagte Brynja. »Diese Königin, die neue, ist wesentlich grausamer, als die alte es je gewesen ist.«
»Es gab davor noch eine andere?«, fragte Alice.
Das passte nicht zu dem, was Pen erzählt hatte. Er schien zu glauben, dass es immer dieselbe Königin gewesen war. Wenn es zwei verschiedene gab, dann war die alte genauso schrecklich gewesen wie die neue, denn sie hatte aus einer Laune heraus drei Jungen verflucht und sie über Jahrhunderte als ihr Spielzeug gehalten
.
»Diese Königin ist aus dem Osten gekommen und hat die Macht der alten Königin in ihren Körper aufgenommen. Ich glaube, auch wenn ich es nicht ganz sicher weiß, das hat sie verrückt gemacht.«
»Woher weißt du das alles?«, überlegte Alice laut.
»Der Aschekönig hat uns etwas darüber erzählt, bevor er zum Grauen König wurde«, sagte Brynja und wandte den Blick ab.
»Wer ist dieser Graue König?«, fragte Alice.
»Wir sprechen nicht von ihm«, sagte Brynja, aber ihre Augen erzählten eine andere Geschichte. Sie wollte von ihm sprechen. »Er war früher einer von uns.«
Alice wartete, aber Brynja sagte nichts mehr. Sie stand auf und räumte den Tisch ab, und Alice half ihr schweigend abzuwaschen, abzutrocknen und alles ordentlich in einen kleinen Schank zu räumen. Doch die ganze Zeit musste sie über den Grauen König und die Weiße Königin und die Leute nachdenken, die auf der Suche nach einem sicheren Zuhause hierhergekommen waren und jetzt einen Albtraum lebten, der schlimmer war als das, was sie hinter sich gelassen hatten.
Sie überlegte auch, was die Anführer des Dorfs wohl beschließen würden. Wenn sie nicht zu ihren Gunsten entschieden, musste sie dennoch einen Weg finden, um die Stelle eines Kindes einzunehmen, denn ihre Magie würde nicht ausreichen, um den Bann zu brechen, den die Königin um ihr Schloss gelegt hatte.
Im Grunde,
dachte Alice, taugt meine Magie echt nicht viel. Und ich habe niemanden, der mir helfen könnte, mehr darüber zu lernen. Alle Zauberer, die ich bisher getroffen habe, waren entweder
verrückt oder grausam oder beides. Ich war auch mal verrückt, aber bei mir scheint es nicht so richtig durchgedrungen zu sein. Jedenfalls bin ich nicht mit irgendwelchen echt mächtigen Kräften aus dem Irrenhaus gekommen.
Brynja schien nicht weitersprechen zu wollen, weder um höfliche Konversation zu betreiben noch um Alice mehr über den Grauen König oder die Weiße Königin zu erzählen. Sie saß still am Tisch, starrte aus dem Fenster (hofft gegen jede Hoffnung, dass einer der Schatten sich in Eira verwandelt,
dachte Alice) und schien Alice’ Anwesenheit kaum noch zu bemerken.
Alice holte die Decke aus ihrem Bündel, breitete sie vor dem Feuer aus und legte sich hin. Sie starrte in die Flammen, der harte Boden war unbequem, und dachte, dass dies ihr alles sehr vertraut war. Schon bald würde sie einschlafen, das Feuer würde ausgehen, und dann würde jemand an die Tür klopfen und ihren Namen rufen.
Weit draußen, vielleicht ganz oben auf dem Berg, heulte ein Wolf. Das Heulen war so leise, dass Alice schon dachte, sie hätte es sich nur eingebildet, doch Brynja zuckte kurz zusammen.
»Ein Wolf«, sagte sie.
»Das ist nur Hatcher«, meinte Alice schläfrig. Ihr fielen die Lider zu, doch vor ihren Augen tanzten immer noch die Flammen. »Hatcher tut niemandem was.«
Zumindest nicht den Unschuldigen, nicht absichtlich jedenfalls.
Das Heulen erklang wieder, doch diesmal schien es näher. Was allerdings unmöglich war. Wenn der Wolf eben so weit weg gewesen war, ganz oben auf dem Berg, dann
konnte er jetzt nicht plötzlich so nah sein, nicht einmal, wenn er sehr schnell gerannt war.
Was, wenn er Flügel hätte?
Hör auf mit diesem Unsinn, Alice, Wölfe können nicht fliegen.
Ebenso wenig können Männer Kaninchenohren haben oder Frauen Fischschwänze, aber du hast beides gesehen und noch mehr.
Alice glitt in jene Welt zwischen Schlaf und Wachen, wo seltsame, unsinnige Gedanken durch ihr Hirn liefen, hörte, wie Brynja ihren Wachtposten aufgab und zu Bett ging. Wieder heulte der Wolf, und Alice spürte eine tröstliche Wärme in der Brust, weil sie wusste, dass Hatcher da draußen war.
Brynja drehte sich um, die Strohmatratze raschelte, als sie sich bewegte. Das Feuer sank mehr und mehr in sich zusammen, und Dunkelheit hüllte das kleine Häuschen ein, während Alice und Brynja einschliefen.
Einige Zeit später wachte Alice auf, und das Feuer war bis auf ein paar glühende Stückchen Holzkohle heruntergebrannt. Schaudernd vor Kälte setzte sie sich auf, tastete in der Dunkelheit nach ihrem Bündel und suchte nach einem zweiten Hemd, auch wenn es schmutzig war.
Vor dem Fenster stand ein großer grauäugiger Wolf, die Vorderpfoten auf das Fensterbrett gestützt, die Zunge hechelnd im geöffneten Maul.
»Hatcher«, sagte Alice und warf die Decke beiseite.
Ein Umhang aus Fellen hing auf dem Stuhl, auf dem Alice beim Essen gesessen hatte, und sie warf ihn sich um, dankbar für die Wärme, die er spendete. Sie öffnete die Tür und ging hinaus in die Nacht, eine so vollständig stille Nacht, dass Alice war, als könnte sie die Sterne am Himmel klingeln hören
.
Sie war nur auf Strümpfen, weil sie ihre Stiefel in Brynjas Häuschen gelassen hatte, hatte aber keine Lust zurückzugehen, um sie zu holen. Der Wolf kam um die Ecke und blieb, ein paar Meter von Alice entfernt, stehen.
»Hatcher«, sagte Alice wieder und streckte die Hand in Richtung des Wolfs aus.
Sie hatte damit gerechnet, dass er zu ihr kommen würde, doch stattdessen drehte er sich um und trottete davon. Kurz darauf blickte er erwartungsvoll zu ihr zurück. Alice folgte ihm durch das Dorf, wo sich nichts regte außer ihr und dem Wolf.
Schon bald hatten sie das letzte Gebäude hinter sich gelassen. Der Mond beschien eine karge Landschaft, die mit wild übereinandergefallenen Steinbrocken übersät war. Hoch oben, beinahe unmöglich hoch, glänzte das Schloss der Königin mit seinem hohen Turm.
Ich müsste ein Vogel sein, um da hochzukommen,
dachte Alice. Selbst wenn sie diese Barriere durchbrechen könnte, von der alle sprachen, würde es keine leichte Aufgabe sein, zum Schloss zu kommen.
Der Wolf lief weiter vor ihr her, und Alice kletterte ihm nach, wobei sie sich fragte, warum sie nicht so ungeschickt und kurzatmig war wie sonst. Sie konnte es nur der guten Luft zuschreiben, die so rein und klar war, dass sie direkt in ihr Blut und ihre Knochen zu dringen schien und sie mit einer Energie und Lebenskraft erfüllte, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Sie fühlte sich stark und schnell und hatte sogar das Gefühl, als könnte sie Magie wirken, echte Magie, nicht nur sich etwas wünschen.
Alice sprang Hatcher nach, der Pelzumhang floss hinter
ihr her. Irgendwo auf dem Weg verlor sie ihre Strümpfe, aber ihre nackten Füße fanden besseren Halt auf den Felsen, und es fiel ihr leichter, dem trittsicheren Wolf zu folgen. Schließlich kamen sie an einen Baum, von dem Alice vermutete, dass es die große Eiche war, von der die Dorfbewohner gesprochen hatten.
Der Wolf kam zu ihr, stellte sich neben sie, und sie warteten. Eine Frau ging an ihnen vorbei. Gesicht und Körper verhüllt von einem weißen Mantel mit großer Kapuze, und doch vermittelte sie den Eindruck großer Schönheit. Alice erhaschte nur einen Blick auf ihre weiße durchscheinende Haut und die feine Knochenstruktur ihres Gesichts, bevor sie wieder verdeckt waren.
Die Frau blieb unter der großen Eiche stehen, und aus den Schatten erschien ein Mann. Nein,
dachte Alice, er besteht aus Schatten, Schatten und Rauch.
Als er die Frau in die Arme schloss, leuchtete ihr weißer Mantel wie die Oberfläche des Monds, als würde sie von einer Lichtquelle in ihrem Inneren erstrahlt.
Alice wandte den Kopf ab, als sie einander umarmten, und als sie wieder hinsah, wirkte es, als stritten die beiden. Der Mann hatte den Kopf schiefgelegt und ließ ein Lächeln aufblitzen, das so viel Charme enthielt, dass es sogar Alice bezauberte, obwohl es nicht an sie gerichtet war. Doch die Frau schüttelte den Kopf und ging weg. Ihr steifer Rücken zeigte, dass sie wütend war.
Alice überlegte, ob sie der Frau folgen sollte (die mit Sicherheit die Weiße Königin war), aber der Wolf stieß mit der Schnauze ihr Bein an, sagte ihr, sie solle bleiben. Der Mann verschmolz erneut mit den Schatten, und die Art,
wie er sich bewegte, war alles andere als menschlich. Er musste der Graue König sein.
Nach einer Weile erschienen sie erneut, die Weiße Königin und der Graue König, und Alice verstand, dass dies ein anderer Abend war, den sie beobachtete, dass sie nicht die Gegenwart betrachtete, sondern die Vergangenheit. Es war nicht nur eine einzige Vergangenheit, sondern verschiedene, die in diesem Raum miteinander verflossen wie die Erinnerungen des Baums. Dieses Mal gab es keine zärtliche Umarmung, keinen Versuch zu bezaubern.
Der Mann forderte, die Frau lehnte ab. Der dunkle Schatten des Grauen Königs schien zu wachsen, bis er so hoch aufragte wie der Wipfel der großen Eiche, um die bleiche Frau in dem bleichen Mantel zu ersticken. Ihre weißen Hände erschienen aus den Falten des Mantels, und der Schatten fiel in sich zusammen, mit Eis überzogen.
Vor Zorn brach eine wütende Stichflamme aus ihm heraus, die nach ihr greifen wollte, doch sie war nicht mehr da. Sie hatte sich in Mondlicht aufgelöst. Der Graue König heulte seine Wut heraus und schoss in den Himmel hinauf, und aus weiter Ferne erscholl zur Antwort ein ähnlicher Schrei, der Schrei einer Frau, der von Verrat und gebrochenem Herzen kündete.
»Sie hat ihn geliebt«, sagte Alice zu dem Wolf. »Sie hat ihn geliebt, aber er hat sie nicht zurückgeliebt oder vielleicht auch nur nicht genauso viel wie sie. Er wollte etwas von ihr, aber es war etwas, das sie ihm nicht geben wollte. Ich frage mich, was das war.«
Der Wolf stieß wieder mit der Schnauze gegen Alices Bein. Sie kniete sich hin und vergrub das Gesicht in seinem
Fell und roch den Geruch des wilden Walds darin. Dann löste sich der Wolf aus ihren Armen und lief davon, den Berg hinauf, wohin Alice ihm nicht folgen konnte.
Langsam ging sie den Berg hinunter zum Dorf zurück. Ihre Kraft schien aufgebraucht, sie atmete schwer, und ihre Füße bluteten dort, wo sie sie sich an den scharfkantigen Felsen aufgerissen hatte.
Als sie an den Brunnen im Dorf kam, zog sie einen Eimer Wasser herauf und trank, bis ihr Bauch gegen das Hemd drückte. Sie war so durstig.
Alice spritzte sich Wasser ins verschwitzte Gesicht, trocknete sich mit ihrem Hemd ab und hoffte, dass sie Brynjas Häuschen wiederfand. Die kleinen Häuschen sahen im Dunkeln eines wie das andere aus, und Alice hatte nicht besonders gut aufgepasst, als sie hinter Brynja hergegangen war.
Das Zeichen der Verlorenen schien wie Kohle in einem ersterbenden Feuer über den Türen zu glühen. Sie nimmt die Kinder als Rache für die Liebe, die er ihr verweigert hat,
dachte sie. Brynja hatte gesagt, der Graue König sei einer von ihnen gewesen. Also musste die Weiße Königin ihn damit treffen wollen. Im Gegenzug hatte er alles verbrannt, was er erreichen konnte, weil sie ihm etwas verweigerte, das er wollte.
Und alle Dorfbewohner hier und die Leute, die früher auf der verbrannten Ebene lebten, und Pipkin und die Mädchen des Walrosses, Cod und Gil, Hatcher, wir alle sind mit ins Netz ihres Zorns, ihres Verlangens und ihres Leidens geraten. Und beide haben nichts anderes im Sinn, als weiter Schaden anzurichten, statt nachzugeben
.
Aus einem der Fenster schien Licht, und als Alice näher kam, sah sie im Licht der Sterne ihre eigenen Fußabdrücke und dazwischen die Pfotenabdrücke eines Wolfs. Vorsichtig öffnete sie Tür des Häuschens, rechnete damit, die Hausherrin wach vorzufinden, und machte sich darauf gefasst, ausgeschimpft zu werden.
Stattdessen fand sie Brynja im Gespräch mit einem Mann am Tisch sitzen, eine Kerze flackerte zwischen ihnen. Der Mann blickte auf, als Alice hereinkam, und sie schnappte nach Luft, als sie seine Augen erblickte, denn sie wirkten, als seien sie aus rotem Feuer.
Aus Angst vor dem Feuer schlug sie die Hände vors Gesicht, und als sie die Augen wieder aufschlug, war es Morgen. Sie lag eng zusammengerollt auf dem Boden, und ihr ganzer Körper fühlte sich kalt und steif an. Ihre Finger umklammerten die Decke, die sie bis ans Kinn gezogen hatte, weshalb ihre nackten Füße unten herausragten.
Ein Traum,
dachte sie, aber als sie aufstand, waren ihre Fußsohlen wund, und sie sah, dass sie schmutzig und zerschunden waren. Das Fenster stand offen, und Alice hörte Brynja hinter dem Haus, wo sie die Ziege molk.
Alice rieb sich über das Gesicht. Hatte tatsächlich der Graue König mit Brynja am Tisch gesessen? War Alice wirklich mit einem Wolf in die Nacht hinausgegangen und hatte in die Vergangenheit geblickt? Von dem Pelzumhang war nirgendwo etwas zu sehen, und auf Brynjas blank gescheuertem Holzboden waren keine schmutzigen Fußabdrücke.
Die Frau kam zurück und lächelte Alice kurz an. »Heute Morgen kam eine Nachricht von Asgar. Du sollst dich
heute Mittag mit den Ältesten treffen. Ich habe noch ein paar Sachen, die du anziehen kannst, und dachte, du möchtest dich vielleicht waschen. Ich kann den Zuber hereinbringen, auch wenn das Wasser kalt sein wird.«
Das war eine sehr taktvolle Art, ihr zu sagen, dass sie ein Bad brauchte, fand Alice. Sie bezweifelte, dass sie in irgendein Kleidungsstück von Brynja passen würde, da sie viel kleiner war als Alice, aber das Angebot war freundlich gemeint, und so nahm sie es an.
Doch Alice war immer noch aufgewühlt, als sie das Brot und die Butter aß und die Milch trank, die Brynja ihr zum Frühstück herausgestellt hatte, und diese aufgewühlten Gedanken ließen sie auch nicht los, als sie sich in dem eiskalten Wasser wusch. Als sie fertig war, brachte Brynja ihr eine Hose aus Wolle, ein grob gewebtes Hemd und einen dicken grauen Pullover, die Brynjas Mann gehört haben mussten.
»Danke«, sagte Alice und versuchte Brynja spüren zu lassen, dass ihr bewusst war, dass sie mehr als nur etwas zum Anziehen von ihr bekommen hatte.
»Er braucht sie nicht mehr, weil er nicht mehr zurückkommt«, sagte Brynja, während sie mit der Hand über den Pullover strich. »Den habe ich ihm in unserem ersten Jahr gestrickt, und auch wenn die späteren besser gelungen sind, hat er den hier immer am liebsten getragen, weil er der Erste war.«
Nachdem Alice sich angezogen hatte, musterte Brynja sie mit kritischem Blick: »Du siehst aus wie ein Junge.«
»Wahrscheinlich schon«, sagte Alice und fuhr sich mit der Hand über ihr Haar. Es war immer noch kurz und weit
davon entfernt, in Zöpfe geflochten zu werden wie Brynjas wunderschöne helle Locken. Alice hatte schon lange nicht mehr daran gedacht, wie sie aussah. Es erschien ihr einfach nicht mehr wichtig. Sie erinnerte sich an festliche Kleider und daran, wie sie ihr langes, langes Haar gebürstet hatte, aber das lag in einer weit entfernten Vergangenheit.
»Darf ich fragen, wie dein Gesicht …« Brynja verstummte und zeigte auf die lange Narbe, die sich über Alices Wange zog.
Auch an die Narbe dachte Alice in letzter Zeit kaum noch, jetzt, da es das Kaninchen nicht mehr gab. Er hatte sie gezeichnet, und jetzt, da er tot war, bedeutete sein Zeichen nichts mehr. Nichts, außer dass Alice nicht mehr hübsch aussah, und dazu gehörte ja nicht nur die Narbe. Da war der Schnitt auf ihrem Kopf, den Bess genäht hatte, und die kleinen Blutergüsse, wo die Gans sie gebissen hatte. Sie konnte fühlen, wie hohl ihre Wangen waren, die Rundlichkeit der Kindheit und des guten Essens war schon vor langer Zeit vergangen. Nein, sie war nicht hübsch, aber ein hübsches Aussehen würde auch nicht ihr Leben retten oder Hatchers oder das von irgendwem anders.
Brynja trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, und Alice wurde klar, dass sie sich in ihren Gedanken verloren hatte und die andere Frau womöglich dachte, sie hätte sie gekränkt, indem sie nach der Narbe gefragt hatte.
»Das ist vor vielen Jahren passiert, als ich einem bösen Mann entkommen bin«, sagte sie.
Brynja nickte und stellte keine weiteren Fragen. Alice war froh darüber, denn sie hätte nicht nur einen kleinen Teil der Geschichte erzählen können, ohne alles zu erzählen,
und es gab so viel, worüber sie nicht sprechen wollte, Dinge, von denen sie wünschte, dass sie sich nicht an sie erinnern würde …
(Mädchen aufgestapelt wie Feuerholz, mit weggefressenen Gesichtern)
Was immer die Weiße Königin mit diesen Kindern machte – konnte es schlimmer sein als das, was das Walross getan hatte? Nichts konnte schlimmer sein als das Walross.
»Brynja«, sagte Alice, denn sie musste an das denken, was sie in der vergangenen Nacht gesehen hatte. »Ist der Graue König mit dir verwandt?«
Brynja senkte den Blick. »Wie kommst du auf so etwas?«
Weil ich dich mit ihm zusammen gesehen habe,
dachte Alice. Stattdessen fragte sie: »Ist er?«
Brynja nickte, ein kurzes, scharfes Nicken. »Er ist – oder war – mein Bruder. Ich weiß nicht, was er jetzt ist.«
»Bist du …« Sie verstummte, wusste nicht recht, wie sie die Frage stellen sollte. Brynja könnte beleidigt sein.
»Eine Hexe?«, schlug Brynja vor.
»Ich wollte sagen, eine Zauberin«, erklärte Alice. »Denn der Graue König ist mit Sicherheit ein Zauberer, und so etwas scheint erblich zu sein.« Resolut schob sie den Gedanken an ihre Mutter beiseite, die ebenfalls eine Zauberin war, diese Kraft jedoch vor sich selbst und Alice immer gut verborgen hatte.
»Mir liegt keinerlei Magie im Blut«, sagte Brynja. »Wir hatten einige unter uns, die in die Zukunft sehen konnten, und ein paar Mal auch jemanden, der kleine Zauber wirken konnte, aber nicht vergleichbar mit dem, wozu die
Weiße Königin fähig ist. Und niemanden, der so wurde wie das, was mein Bruder geworden ist. Die Magie ist nicht stark in unserem Blut.«
»Wie ist er an seine Macht gekommen?«, wollte Alice wissen.
»Ich glaube, er hat sie gestohlen«, sagte Brynja. »Auch wenn die Geschichte, die er mir erzählt hat, etwas anderes sagte und ihn in einem besseren Licht erscheinen ließ.
Mein Bruder hieß Bjarke, und dieser Name bedeutet in unserer Sprache ›kleiner Bär‹, und das war er auch für uns, ein kleiner, kugeliger Bär, mein einziger Bruder und der Augapfel meiner Eltern. Er war bezaubernd, konnte dich verzaubern und die Vögel direkt von den Bäumen herunterzaubern, wenn er wollte. Wir verwöhnten ihn alle, wir konnten nicht anders, und niemand von uns ertrug es, ihn traurig zu sehen, nicht einmal für einen kurzen Augenblick. Wahrscheinlich war das, was später passiert ist, unser eigener Fehler, denn er hatte nie gelernt, auf etwas zu warten oder etwas auszuhalten.
Als Bjarke sechzehn wurde, ging er zum ersten Mal allein auf die Jagd. Unser Vater litt an einer Lungenkrankheit und konnte ihn nicht begleiten. Meine Mutter sorgte sich, dass Bjarke ohne die Begleitung unseres Vaters in Gefahr geraten könnte, obwohl viele Jungen in seinem Alter schon allein auf die Jagd gingen. Es war nur eins von vielen Zeichen dafür, wie sehr wir ihn verweichlicht hatten, ein Zeichen dafür, dass wir ihn nie genug hatten reifen lassen.
Bjarke brach am frühen Morgen mit seinem Bogen auf und versicherte uns, dass er am Abend mit einem Reh oder einem schönen fetten Truthahn zurückkommen würde. Als
die Sonne unterging, wartete meine Mutter voller Sorge an der Tür, während mein Vater ängstlich in seinem Bett hustete und ich besorgt vor dem Kamin auf und ab ging, aber Bjarke kam nicht nach Hause.
Meine Mutter wollte Alarm schlagen und die Männer des Dorfs auf die Suche nach ihm ausschicken, aber mein Vater hat gesagt, dass der Junge wahrscheinlich nur die Zeit vergessen habe und morgen wieder zurück sein würde, unbeschadet, auch wenn er eine Nacht im Wald verbringen musste.
Damals wussten wir nichts von diesen Riesen, die am anderen Ende des Walds lauerten. Wenn wir von ihnen gewusst hätten, wäre meine Mutter sicher selbst in den Wald hinausgelaufen, um nach Bjarke zu suchen. Und so verbrachten wir alle die Nacht damit, so zu tun, als würden wir schlafen, ohne irgendwelche Ruhe zu finden, und als die Sonne über dem Berg erschien, ging meine Mutter wieder zur Tür und wartete.
Ein oder zwei Stunden später kam Bjarke. Er brachte kein Wild mit, aber er schien auch vollkommen unbeeindruckt von seiner Nacht im Wald. Er grinste übers ganze Gesicht und erzählte meiner Mutter, sie solle sich nicht so haben, und ließ sich von ihr ein richtig gutes Essen kochen. Er behauptete, im Wald auf einen kranken Reisenden gestoßen zu sein, er habe dem Mann helfen wollen, und das habe ihn bis nach Sonnenuntergang aufgehalten. Wir glaubten seine Geschichte, weil wir gern gut von Bjarke dachten und glauben wollten, dass er jemandem in Not helfen würde.
Ich war auch erleichtert, dass mein kleiner Bruder
wieder sicher zu Hause war, und dachte nicht weiter über die Geschichte mit dem kranken Reisenden nach. Wir hatten uns in unserer Familie immer sehr nahegestanden und genossen es, zusammen zu sein und Spiele zu spielen und Geschichten zu erzählen. Aber nach dieser ersten Nacht im Wald schlich sich Bjarke immer häufiger allein hinaus, und er schien nicht mehr so viel Gefallen an den Dingen zu finden, die wir alle früher so gemocht hatten.
Er wurde immer dünner, obwohl meine Mutter ihm von allem auf dem Tisch einen Nachschlag gab und er auch alles mit Freuden aufaß. Es war, als fräße ihn eine Krankheit von innen auf, und die Sorge meiner Mutter wuchs ins Unermessliche, denn auch meinem Vater ging es immer schlechter. Jeden Tag hustete er mehr Blut, und die Heilerin konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Ich konnte meiner Mutter die Furcht ansehen, dass Bjarke dieselbe Krankheit befallen hatte, dass er ebenfalls bald anfangen würde zu husten und wir sie beide verlieren würden. Beim nächsten Vollmond nach Bjarkes erster Jagd war mein Vater tot, und wir verbrannten ihn nach der alten Weise.
Am Morgen, nachdem wir den Leichnam meines Vaters verbrannt hatten, verschwand Bjarke für sechzehn Tage. Meine Mutter war in tiefer Trauer über den Verlust meines Vaters, und nun war auch noch Bjarke fort. Ich konnte sie nicht trösten, und so wurde sie auch krank. Ein Fieber befiel sie, und dann war sie plötzlich ebenfalls tot, so schnell, dass ich es kaum fassen konnte.
Jetzt war ich allein im Haus und wartete darauf, dass Bjarke zurückkam, auch wenn viele im Dorf mir sagten, dass ihm etwas zugestoßen sein müsse, denn sonst wäre er
sicher längst wieder zurück gewesen. Aber ich glaubte – ich musste glauben –, dass er uns nicht verlassen würde. Ich dachte, dass ihn der Verlust unseres Vaters wild vor Trauer gemacht hatte, wie den Bären, nach dem wir ihn benannt hatten, und dass er den Weg nach Hause finden würde, sobald seine Raserei abgeklungen war … und dass es ihm leidtun würde.
Am siebzehnten Tag kehrte Bjarke zurück. Ich wollte ihn ausschimpfen, weil er so lange weg gewesen war, aber sein Gesicht war todesbleich, und er war so mager, dass sich seine Knochen durch das Hemd abzeichneten. Er stirbt, dachte ich, und alles in mir krampfte sich vor Trauer zusammen. Ich hatte das Gefühl, meine gesamte Familie entgleitet mir.
Bjarke legte sich ins Bett, und die Heilerin kam und besprach ihn und gab ihm übelriechende Tränke, aber nichts schien zu helfen. Ich saß die ganze Zeit auf einem Stuhl neben seinem Bett und hörte Bjarke im Fieber reden. Etwas von dem, was er sagte, brachte mich auf den Gedanken, dass das keine normale Krankheit war und er mit Dingen herumgespielt hatte, die er nicht verstand.
Eine Woche verging, und eines Morgens sprang Bjarke aus dem Bett, als wäre er nie krank gewesen. Als ich ihn fragen wollte, wo er gewesen war und was er gemacht hatte, schickte er mich weg, und als ich ihm sagte, dass unsere Mutter gestorben war, zeigte er keine Reaktion. Kurz darauf versuchte er heimlich nach draußen zu schlüpfen, aber ich sah ihn und folgte ihm.
Er ging tief in den Wald hinein. Er schritt mit einer Kraft aus, die nach einer Woche Bettlägerigkeit verblüffend
erschien, und ich konnte kaum mithalten. Aber ich schaffte es, mich nicht abhängen zu lassen, und kam schließlich an ein kleines, baufälliges Häuschen, bei dem ich mich wunderte, warum es noch nicht in sich zusammengefallen war. Und als ich durch das Fenster sah, wuchs meine Überraschung noch, denn das Innere schien überhaupt nicht zum Äußeren zu passen.«
Mein kleines Häuschen im Wald,
dachte Alice, ohne etwas zu sagen. Dieses Haus war gesättigt mit Magie, Schichten um Schichten lagen darauf, auch wenn Alice damals zu dumm gewesen war, sie zu bemerken. Vielleicht hatte Bjarke das Haus damit belegt, vielleicht war sie aber auch schon da gewesen und hatte ihn angezogen. Jedenfalls würde das erklären, warum der Kobold nicht hatte hineinkommen können und versuchen müssen, Alice hinauszulocken.
»Durch das Fenster erspähte ich meinen Bruder, und was ich da sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Auf einem Bett lag ein alter Mann, und dieser alte Mann sah so ausgedörrt und abgemagert aus, dass er kaum noch am Leben sein konnte. Neben ihm kniete Bjarke mit einem Messer und machte einen langen Schnitt in den Arm des Mannes. Ich erkannte sowohl an den Armen als auch an den Beinen noch weitere Schnitte, die meisten sahen frisch aus. Dann legte Bjarke seinen Mund auf den Schnitt und trank das Blut, das daraus hervorquoll. Erschreckt und beschämt, schlug ich die Hände vors Gesicht. Was er da tat, war zu grauenvoll, um es zu begreifen. Als ich einen Blick durch meine Finger hindurch wagte, sah ich einen Schauder durch den Körper des alten Mannes laufen, der
offensichtlich im Sterben lag. Der Ausdruck auf dem Gesicht meines Bruders war kaum zu ertragen. Das war nicht mehr Bjarke, meine kleiner Bärenbruder, sondern ein Ungeheuer aus Schatten und Feuer.
Als sich unsere Blicke trafen, drehte ich mich um und rannte, rannte und rannte zurück zum Dorf, hoffte gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass er mir nicht folgte, denn ich wollte nicht so tun müssen, als sei dieses Ungeheuer mein Bruder, und ich wollte die Lügen, die er mir bestimmt erzählen würde, nicht hören. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich nach Hause gekommen bin, denn meine Augen waren blind vor Tränen, und ich konnte den Weg nicht sehen.
Als ich nach Hause zurückkam, war er schon da, und mir war sofort klar, dass er versuchen würde, so zu tun, als sei es nie passiert, dass er sagen würde, dass es nicht er gewesen war, den ich im Wald gesehen habe. Ich schnitt ihm das Wort ab, als er anfing zu erklären, und sagte ihm, er solle gehen und nie wieder zurückkommen und dass es meinen Bruder nicht länger gab. Er antwortete mit einer Geschichte, die nur eine totale Närrin geglaubt hätte und die ich, sosehr ich ihn auch liebte, niemals glauben konnte, auch wenn ich es gern getan hätte und mir das Herz brach, so sehr wollte ich es.
Er behauptete, der Mann in dem Häuschen im Wald sei der kranke Reisende, den er in der Nacht seines ersten Jagdausflugs getroffen hätte. Er hätte dem Mann zu dem Häuschen geholfen, und der Mann hätte Bjarke erzählt, er sei ein Zauberer und sterbenskrank und er wolle seine magischen Kräfte an ein Kind weitergeben, das ihrer würdig sei, sodass sein Vermächtnis weiterleben könne. Er verriet
Bjarke die geheime Methode, mit der mein Bruder die Magie in seinen eigenen Körper aufnehmen könne. Bjarke behauptete, dass ihn dies natürlich abgestoßen hätte, aber ich sah, wie seine Augen glänzten, und glaube, dass es ihm nicht das Geringste ausgemacht hat. Ja, ich glaube, er hat es genossen.
So wie Bjarke es erzählt hat, hat der Mann die ganze Nacht versucht, ihn davon zu überzeugen, dass er im Sterben liege. Es sei sehr wichtig, dass seine Magie nicht in seinem sterbenden Körper bleibe, weil sie von anderen Magiern gestohlen werden könnte, die Böses im Schilde führten. Und da Bjarke reinen Herzens war, wollte der Mann seine Macht unbedingt auf ihn übertragen, und am Ende hatte Bjarke nachgegeben.«
»Aber du glaubst ihm nicht, dass die Magie ihm freiwillig übertragen wurde«, sagte Alice.
»Nein, das glaube ich nicht«, seufzte Brynja. »Ich halte es für wesentlich wahrscheinlicher, dass Bjarke den Zauberer im Wald dabei beobachtet hat, wie er Magie wirkte, und dass er den Mann verletzt hat, um ihn zu schwächen. Nachdem er geschwächt war, musste er ihn nur noch foltern, um herauszufinden, wie er an die Magie herankommen konnte. Aber vielleicht ist Bjarke auch von allein darauf gekommen. Jedenfalls war der Moment, als ich durch das Fenster sah, der letzte Augenblick im Leben des alten Zauberers, und seine gesamte Magie war auf meinen Bruder übergegangen.«
»Und was hat er dann getan?«, fragte Alice gespannt.
»Erst hat er versucht, im Dorf zu bleiben, obwohl ich ihn nicht bei mir im Haus geduldet habe. Ich konnte nicht
ertragen, dass die Kreatur, die ich freiwillig das Blut eines anderen Menschen hatte trinken sehen, auch mein Bruder sein sollte. Er führte den anderen seine neuen Kräfte vor und versuchte sie davon zu überzeugen, dass er sie zum Nutzen aller einsetzen würde. Doch wie ich schon sagte, diese Art von Magie ist bei uns nicht üblich, und die meisten hatten Angst davor und vor der neuen Grausamkeit, die sie in Bjarkes Augen sahen. Also ging er schon bald darauf fort, in den Wald zurück. Ab und zu sah ihn jemand von uns, eine Kreatur aus Schatten, und ein paar, die in den Wald gingen und ihn dort trafen, entdeckten später Brandmale an seltsamen Stellen ihres Körpers, und diese Brandwunden verheilten nie ganz.
Später, sehr viel später behaupteten einige, sie hätten ihn Hand in Hand mit einer Frau in einem weißen Mantel gehen sehen und dass dort, wo sie gegangen waren, der Boden verbrannt war und niemals mehr etwas wachsen würde.«
»Sie haben einander geliebt, dein Bruder und die Königin«, sagte Alice. »Oder zumindest hat sie ihn geliebt. Ich denke, dass er etwas von ihr verlangt hat, das sie ihm nicht geben wollte.«
»Und das ist der Grund, warum Eira und die anderen entführt wurden«, sagte Brynja, und das Licht in ihren Augen erstarb. »Sie bestraft ihn, indem sie uns bestraft.«
»Ja, das denke ich auch«, sagte Alice. »Du musst mich an Stelle des nächsten Kindes gehen lassen. Das wird nicht aufhören, solange niemand die Königin herausfordert.«
»Aber was kannst du schon tun?«, fragte Brynja. »Du verfügst nicht über irgendwelche Kräfte, soweit ich sehen
kann. Sonst hätte sie dir deinen Mann nicht wegnehmen können. Und es ergibt keinen Sinn, dass sie unsere Kinder nimmt. Bjarke interessiert sich nicht für sie. Es hat ihm nicht wehgetan zu sehen, wie seine Nichte mir gestohlen wurde oder wie mein Mann verrückt geworden ist. Wir sind nichts mehr in seinen Augen, weil wir seine Magie gefürchtet haben, statt sie willkommen zu heißen.«
Alice widersprach Brynjas Behauptung, dass sie keine Macht habe, nicht. Sie spiegelte nur, überwiegend, was Alice selbst empfand. Der Unterschied zwischen ihr und den Dorfbewohnern allerdings war, dass Alice Hatcher nicht kampflos gehen lassen würde. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie sie ihre Kinder so leicht gehen lassen konnten, und dachte, dass zumindest Brynjas Mann etwas Widerstandsgeist gezeigt hatte, auch wenn er darüber verrückt geworden war.
Außer Warten gab es nicht viel zu tun bis zu ihrem Treffen mit den Ältesten. Als es so weit war, schwang sich Alice ihr Bündel über die Schulter, auch wenn sie nicht genau wusste, warum sie es mitnahm. Es war nicht viel darin außer einer Decke und schmutziger Kleidung und etwas, das sie vergessen sollte, ein Fläschchen mit etwas darin, das inzwischen tot sein sollte. Das Messer war weg und der Rosenanhänger, den Bess ihr gegeben hatte, ebenfalls (er musste zusammen mit dem Messer heruntergefallen sein, nahm sie an, als Cod sie am Knöchel gepackt und kopfunter herumgeschwenkt hatte), und ihr gesamtes Essen war auch aufgebraucht. Die Decke konnte sie aber vielleicht noch brauchen, dachte Alice, besonders oben auf dem Berg
.
Brynja brachte Alice zum Treffpunkt des Dorfs, den sie Halle nannte, auch wenn es nichts so Großartiges war. Der Raum war nicht besonders groß, mit niedriger Decke und einem Tisch am Ende, an dem fünf Männer mit abweisenden Mienen saßen, unter ihnen Asgar. Trotzdem hätte wohl die gesamte Bevölkerung des kleinen Dorfs in diesen kleinen Raum gepasst, und es wäre noch Platz geblieben. Alice fühlte sich sehr allein und seltsam klein, als Brynja sie verließ.
»Wie heißt du, Mädchen?«, fragte Asgar.
»Alice.«
»Nun, Alice, ich kann nicht behaupten, dass irgendeiner von uns glaubt, dass du etwas ausrichten kannst, aber unser Seher hat uns gesagt, dass du morgen anstatt eines unserer Kinder zur Eiche gehen solltest, und also wirst du gehen.«
Alice wusste nicht, was sie auf diese harsche Erklärung antworten sollte, also nickte sie nur. Irgendwie hatte sie so etwas wie eine Verhandlung erwartet, den Austausch von Argumenten oder ein Streitgespräch, oder dass sie die Männer von ihrem Plan überzeugen müsste.
»Du kannst gehen«, sagte Asgar, und die anderen Männer nickten.
Wozu dann so ein Getue?,
fragte sich Alice, während sie die Halle wieder verließ. Sie hätten einfach eine Nachricht zu Brynja schicken können.
Sie wollten dich sehen, um herauszufinden, aus was für einem Holz du geschnitzt bist,
flüsterte eine Stimme, und es war nicht ihre eigene. Sie wischte sich am Ohr entlang, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Wirklich, sie hatte
keine Ahnung, wie Grinser es geschafft hatte, aber irgendwie war es ihm gelungen, erneut eine Verbindung zu ihr herzustellen. Allerdings war diese Verbindung instabil und nicht so stark wie früher, sonst würde er ihr ständig mit seinen unverlangten Ratschlägen auf die Nerven fallen.
Warum interessierte er sich überhaupt noch für sie? Alice war weit weg von der Stadt, weit weg von Grinser und dem Einfluss, den er durch sie gewonnen hatte. Natürlich hatte sie ihm nicht helfen wollen, aber sie und Hatcher hatten das Kaninchen getötet und das Walross und die Raupe, und daher kontrollierte Grinser jetzt einen großen Teil der Stadt. Was wollte er jetzt noch von ihr, außer sich zu unterhalten?
Und echt jetzt,
dachte Alice, wenn er mich schon beobachten und sich einmischen muss, warum tut er dann nicht zur Abwechslung mal was Nützliches, wie zum Beispiel mich zu warnen, bevor Hatcher in den Wald davonläuft?
Die komische Begegnung mit den Älteren und die Erinnerung an Grinser machten sie sehr missmutig, sodass sie, als Brynja ihr erwartungsvoll entgegenblickte, nur wütend knurrte: »Sie lassen mich gehen.« Kurz darauf setzte sie etwas milder hinzu: »Entschuldige.«
Brynja schüttelte verständnisvoll den Kopf: »Schon in Ordnung, es ist einfach alles ein bisschen viel.«
»Ja«, sagte Alice und fasste einen Entschluss. »Ich denke, ich sollte jetzt gehen, um heute Abend schon an der Eiche zu sein.«
Brynja starrte sie verblüfft an. »Aber Vollmond ist erst morgen.«
»Ich weiß«, sagte Alice. »Und wenn die Weiße Königin
mich heute nicht mitnimmt, wird sie es sicher morgen tun, solange ihr alle hier im Dorf bleibt und keine Kinder hinschickt.«
»Aber warum willst du schon heute Abend gehen?«
»Ich … hab so ein Gefühl«, sagte Alice. Sie sagte nichts davon, dass sie sich Sorgen um Pen machte, der irgendwo am anderen Ende des Dorfs lauerte. Sie wollte weder, dass die Dorfbewohner den Riesen zu Gesicht bekamen, noch, dass ihm irgendetwas zustieß. Alice hatte nicht vergessen, dass es der Graue König gewesen war, der ohne Grund Pens Brüder erbarmungslos verbrannt hatte.
»Nun«, sagte Brynja, als sie ins Haus zurückkamen. »Ich habe ein paar Sachen für dich, die du mitnehmen kannst.«
Sie hatte bereits einen kleinen Stapel Vorräte zusammengestellt – frische Kleidung anstelle von Alice’ alten Sachen und etwas Brot und Käse, in ein Tuch eingeschlagen. Über dem Stuhl hing ein schwerer Pelz-Umhang, der Alice sehr bekannt vorkam.
Sie leerte ihr Bündel, zog jedoch das Fläschchen mit dem Ding-das-vergessen-werden-musste sorgfältig aus der Tasche ihrer alten Hose und legte es ganz nach unten in den Sack. Sie sah nicht einmal hin dabei, achtete aber darauf, das Fläschchen so zu halten, dass auch Brynja es nicht sehen konnte. Die rümpfte die Nase, als sie Alice schmutzige Sachen und die Decke nahm und sie wortlos nach draußen trug. Kurz darauf war das Bündel wieder gefüllt. Alice legte sich den Umhang um.
»Ich habe noch etwas für dich«, sagte Brynja und öffnete die Truhe, die am Fuß des Betts stand.
Sie holte ein großes Messer heraus, sehr ähnlich den
Messern, die Hatcher trug, und Alice wusste, dass dies das Jagdmesser ihres Mannes gewesen sein musste. Alice hob protestierend die Hände.
»Das kann ich nicht …«, begann sie, aber Brynja schnitt ihr das Wort ab.
»Mir nützt es nichts«, sagte sie. »Und du weißt nicht, welche Gefahren dir begegnen werden. Bitte nimm es.«
Alice nahm es. Es war sehr viel schwerer als das kleine Messer, das Bess ihr gegeben und das sie im Wald verloren hatte, und es sah sehr viel mehr nach einer richtigen Waffe aus, irgendwie. Das kleine Messer war die letzte, verzweifelte Zuflucht gewesen, wenn sie sich verteidigen musste. Dies war die Klinge eines Angreifers, etwas, das Alice nicht war.
Aber etwas, das du vielleicht sein musst,
dachte sie.
Sie ließ das Messer in ihr Bündel gleiten. Dann stand sie vor Brynja und wusste nicht, was sie zu dieser Frau sagen sollte, die so viel verloren hatte.
Brynja legte ihr die Hände auf die Schultern und zog sie zu sich herunter, damit sie ihr einen Kuss auf die Stirn geben konnte. »Mögen alle Götter über dich wachen und dir Mut verleihen, wenn du ihn brauchst.«
»Ich werde mein Bestes geben für dich«, sagte Alice. »Für Eira.«
Brynja nickte, und Alice ging hinaus. Während sie durch das Dorf lief, nickten ihr die Leute zu, an denen sie vorbeikam. Einige verbeugten sich sogar oder küssten ihre Fingerspitzen und legten die Hand aufs Herz, eine Geste, von der Alice hoffte, dass sie ihr Glück bringen sollte und nicht, dass sie schon um sie trauerten
.
Das Dorf endete so unvermittelt, wie es angefangen hatte, wenn auch aufgrund der seltsamen Anlage etwas höher. Alice fragte sich erneut, warum die Leute sich entschlossen hatten, es so schräg zu bauen, doch dann schüttelte sie den Kopf und kam zu dem Schluss, dass wahrscheinlich ihr Seher es ihnen gesagt hatte.
Der Boden war mit struppigem Gras und kleinen Steinen bedeckt. Etwas weiter oben konnte sie die großen Felsbrocken aus ihrem Traum sehen, ein Meer aus Felsen, das schwierig zu überklettern sein würde. Von einer großen Eiche war weit und breit nichts zu sehen, aber da es hier nicht besonders viele Bäume gab, sollte sie nicht schwierig zu finden sein.
Das Wetter war freundlich, die Sonne schien auf ihren Pelzumhang und machte ihn schwer. Sie nahm ihn ab und legte ihn sich über den Arm, aber das wurde schon bald unbequem, als der Hang steiler wurde. Zu gern hätte sie das schwere Ding einfach liegen gelassen, aber das war ein dummer Gedanke. Oben auf dem Berg würde es kalt sein.
Ein paar Stunden später blieb sie stehen und blickte zurück. Sie war nicht so weit gekommen, wie sie gehofft hatte. Wie konnten die Dorfbewohner ihre Kinder so schnell zur großen Eiche bringen? Gingen sie früher los, als Alice es getan hatte? Sie machte Rast, aß und trank etwas und fragte sich, wo Pen sich wohl versteckt hielt. Es gab hier eigentlich nichts, wohinter sich ein Riese verstecken könnte.
Alice ging weiter, bis es dunkel wurde und sie an den Beginn des steinernen Meeres kam. Als die Sonne unterging, wurde es schnell kalt, und sie war wieder dankbar
für den Umhang. Erschöpft hielt sie Ausschau nach einer kleinen Senke, in der sie vor dem Wind geschützt wäre.
Als sie es sich bequem gemacht hatte, schloss Alice die Augen und versuchte nicht darüber nachzudenken, wie still es war. Sie schloss die Augen und hoffte auf einen traumlosen Schlaf.
»Miss Alice.«
Eine sehr große Stimme. Eine sehr höfliche Stimme.
»Miss Alice«, wiederholte die Stimme.
Alice schlug die Augen auf und sah, dass es immer noch stockfinster war und Pen sich über sie beugte, ein dunkler Umriss, der die Sterne auslöschte.
»Gut, dass ich dich gefunden habe, Miss Alice«, sagte Pen. »Ich habe oben auf dem Berg einen Wolf heulen gehört.«
»Das ist nur Hatcher«, murmelte Alice schlaftrunken. Nach den Anstrengungen des Tages hatte sie sehr tief geschlafen und wünschte sich nichts mehr, als das einfach bis zum Morgen weiter tun zu können.
»Nein, ich glaube nicht, dass er das ist«, sagte Pen.
»Das kannst du nicht wissen«, sagte Alice, zog den Fellumhang enger um sich und machte es sich bequem.
»Du aber auch nicht«, entgegnete Pen. »Ich lebe schon länger hier als du, und ich sage dir, dass ich nicht glaube, dass dieser Wolf ungefährlich ist. Der Kobold hält sich ein eigenes wildes Rudel, und die Weiße Königin hat einen weißen Wolf, der alles für sie tut.«
»Oh, ist ja schon gut«, grummelte Alice und stand auf. »Wo sollen wir also hingehen? Wenn der Ärger vom Schloss ausgeht, dann sollten wir darauf zugehen, denn da müssen
wir sowieso hin. Und ein Wolf kann uns überall aufspüren, ganz egal, wo wir uns verstecken.«
»Ich möchte mich gar nicht verstecken«, sagte Pen. »Ich will nur, dass du wach bist, falls irgendetwas passiert.«
»Ja, ja«, sagte Alice. »Aber wenn ich nun schon mal wach bin, lass uns zur großen Eiche weitergehen.«
Auf Pens fragenden Blick hin berichtete Alice ihm von dem Baum, unter dem die Dorfbewohner ihre Opfer für die Königin ließen.
»Davon wusste ich nichts«, sagte Pen. »Genügt es nicht, dass sie alle Reisenden hereinlegt, die in den Wald kommen?«
»Und noch etwas«, setzte Alice hinzu. »Eine der Frauen im Dorf hat mir erzählt, dass diese Königin nicht dieselbe ist, die dich und deine Brüder verflucht hat.«
Alice konnte den Gesichtsausdruck des Riesen im Dunkeln nicht genau erkennen, aber sie hatte das Gefühl, dass er vor Schreck zusammengezuckt war.
»Ist sie nicht?«, fragte Pen. »Aber wie kann das sein? Es fühlt sich jedenfalls genau an wie dieselbe Königin, wenn sie mit mir spricht.«
»Mir hat man erzählt, sie hätte die Macht der alten Königin gestohlen und dass dieser Diebstahl sie verrückt gemacht hat«, erklärte Alice.
Schon lustig,
dachte Alice, dass sowohl die Weiße Königin als auch der Graue König falsche Zauberer sind, Diebe, die ihre Magie von jemand anderem gestohlen haben. Und wie überaus unlustig, dass sie alles, was zwischen sie gerät, kaputt machen.
»Pen«, fragte Alice, »wann hast du die Weiße Königin das letzte Mal tatsächlich gesehen?
«
»In der Nacht, in der sie mich und meine Brüder verflucht hat«, antwortete Pen. »Auch wenn Cod behauptet hat, er hätte sie häufig im Wald gesehen.«
»Und sie spricht in deinem Geist mit dir?«, fragte Alice.
Pen nickte. »Ja. Auch wenn sie das nicht mehr getan hat, seit ich dich an dem Häuschen abgesetzt habe und meine Brüder getötet wurden.«
Alice hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas übersah. Es war wichtig, dass diese Königin nicht dieselbe war wie vorher, auch wenn es vielleicht nicht so sein musste, wenn ihre Magie auf eine andere übergegangen war. Magie war Magie, ganz egal, wer sie ausübte. Wenn das nicht die Wahrheit war, wieso hätte sonst das Walross sie auffressen wollen?
Und die Vision, die sie gehabt hatte, in der der Graue König versucht hatte, der Königin etwas abzutricksen – was bedeutete das? Was hatte die Königin, was der König begehrte?
Und die Kinder – was machte die Königin mit den Kindern? Es musste alles zusammenpassen wie ein Puzzle, nur dass Alice das Muster nicht erkannte. Die Weiße Königin war nicht dieselbe wie zuvor. Der Graue König hatte seine Macht von einem anderen Zauberer gestohlen, genau wie sie. Er verbrannte alles, wenn er zornig war, aber nicht das Schloss der Königin. Die Königin stahl die Kinder des Dorfs, aber dem Grauen König schien das vollkommen gleichgültig zu sein.
Das Heulen der Wölfe riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte es bisher noch nicht vernommen, aber nun war es unüberhörbar. Das war definitiv ein ganzes Rudel, das den Hügel herab auf sie zukam
.
»Wir müssen weg von hier«, sagte der Riese.
Alice sah keinen Sinn darin, vor den Wölfen wegzulaufen. Wenn die Tiere sie finden wollten, dann konnten Pen oder Alice nichts dagegen tun. Aber der Riese schien ängstlich darauf erpicht, Abstand zwischen sich und die Tiere zu legen, also ließ sich Alice fürs Erste darauf ein.
Pen machte sich bergab auf den Weg, in Richtung Dorf. Schon nach ein paar Schritten war er so weit von Alice entfernt, dass sie schreien musste, um ihn aufzuhalten.
»Nicht da lang«, sagte sie. »Du willst sie doch nicht ins Dorf locken.«
»Natürlich nicht, Miss Alice«, sagte Pen beschämt.
Alice lauschte einen Moment auf die Bewegungen des Rudels. Es war schwer auszumachen, wo die Wölfe sich genau befanden, weil die Geräusche am Berghang seltsam wiederhallten. Erst wirkte es, als seien sie direkt über ihnen, dann waren sie beinahe neben ihnen zu hören. Sie beschloss, den Lärm zu ignorieren und direkt den Berg hinaufzugehen, weil das die Richtung war, in die sie so oder so gehen musste.
Alice stieg den Berg hinauf, und Pen stieg mit ihr bergauf, allerdings war er immer sehr schnell so weit voraus, dass er auf sie warten musste. Er hatte ihr angeboten, sie wieder zu tragen, wie er es im Wald getan hatte, aber sie wollte sich lieber aus eigener Kraft bewegen.
Ein sehr kleiner Teil von ihr misstraute dem Riesen immer noch und wollte nicht erneut in seiner Hand gefangen sein. Wenn die Weiße Königin zu ihm sprach, würde er ihr dann wieder gehorchen? Er sagte nein, behauptete, er wolle Rache für den Tod seiner Brüder an ihr nehmen.
Aber wie konnte Alice sicher sein? Pen hatte der Weißen Königin sehr lange gedient, in der einen oder anderen Form. Er hatte behauptet, den Wald nicht verlassen zu wollen, und hatte es doch getan. Was, wenn er Alice in eine Falle führte?
Während Alice mit diesen Gedanken beschäftigt war, verstummten die Geräusche der Wölfe mit einem Mal. Erst merkte sie es gar nicht, doch dann holte sie Pen ein, der sich verwirrt umschaute.
»Was ist?«, fragte Alice, und dann merkte sie, wie still es war. »Wo sind sie hin?«
»Vielleicht waren sie gar nicht wirklich da«, vermutete Pen.
Ein Trick,
dachte Alice, wieder einmal. Genau wie der, den der Kobold bei mir in dem Häuschen versucht hat.
Sie hoffte inständig, dass das nicht bedeutete, dass der Kobold in der Nähe war.
Dann plötzlich war es wieder da, das Scharren krallenbewehrter Pfoten, das Hecheln, das Knurren und Heulen, wie sie es zuvor noch nicht gehört hatten, und es schien ganz dicht hinter ihnen zu sein. Alice starrte in die Dunkelheit unter ihnen und dachte, sich bewegende Schatten zu sehen, die sehr schnell auf sie zukamen, und das Glänzen weißer Fangzähne im Mondlicht.
»Schnell, Miss Alice, schnell, schnell«, sagte Pen. »Geh du vor, ich halte sie hier auf.«
Alice beeilte sich. Hastig kletterte sie über die Felsen immer höher und höher, bis sie Pen nicht mehr sehen konnte. Die Geräusche der Wölfe kamen weiter näher, und Alice fragte sich, ob die Tiere den Riesen einfach umgangen hatten
.
Dann fühlte sie, wie sich die Erde unter ihren Füßen bewegte, und hörte ein lautes, scharrendes Geräusch. Pen musste einen oder zwei Felsbrocken angehoben haben und war dabei, ihn auf die Wölfe unter sich zu werfen.
Und einer davon könnte Hatcher sein.
Als sie das Krachen hörte und das herzerweichende Jaulen der verletzten Tiere, stieg eine Welle der Panik in ihr auf.
»Hatcher«, keuchte sie, und dann hörte sie wieder das Krachen von Stein auf Knochen. Der ganze Berghang schien zu erzittern.
Danach war von dem Wolfsrudel nichts mehr zu hören, entweder weil sie in alle Richtungen auseinandergestoben oder weil sie alle tot waren. Alice wusste es nicht. Sie blinzelte ins Dunkle in der Erwartung, Pen zurückkommen zu sehen, aber da war niemand. Sie konnte nicht einmal den Umriss des Riesen erspähen.
»Pen?«, rief sie.
Da war nichts, kein Geräusch riesiger Schritte, kein Steinschlag, nichts.
Sie rief den Namen des Riesen noch einmal, und ihre Worte hallten durch die Nachtluft.
Was nun?,
dachte Alice. Der Riese war verschwunden, was Alice nicht einmal für möglich gehalten hatte. Ihr Magen rebellierte nervös. Was immer Pen aus dem Weg räumen konnte, könnte das bei ihr mit dem kleinen Finger erreichen. Der Riese war ihr so unbesiegbar erschienen, und Alice wusste, dass sie im Gegensatz zu ihm sehr besiegbar war.
Die Wölfe schienen fürs Erste ebenfalls verschwunden zu sein. Sollte sie nachsehen? Vielleicht war Pen von einem der Wölfe verletzt worden
?
Aber wenn dem so wäre, wieso hat er dann nicht geantwortet, als ich nach ihm gerufen habe?
Alice zögerte. Selbst wenn Pen verletzt wäre, würde er antworten, sofern er könnte. Wenn er es nicht konnte, dann könnte Alice ihm wahrscheinlich auch nicht helfen. Es schien ihr sehr grausam, ihn einfach so zurückzulassen, womöglich verbluten zu lassen, aber da war es wieder. Hatcher hatte sie gelehrt, sich nicht um die zu kümmern, die nicht mehr gerettet werden konnten.
Und um die Wahrheit zu sagen,
dachte Alice ein wenig schuldbewusst, bin ich auch erleichtert, dass ich nicht mehr so tun muss, als würde ich ihm vertrauen.
Sie kletterte weiter, obwohl sie Angst hatte, in der Dunkelheit die große Eiche zu verpassen. Das ängstliche Gefühl wuchs in ihrem Bauch, das Gefühl, dass ihr die Zeit davonlief. Sie musste an dem Baum ankommen, bevor die Königin das Opfer mitnahm. Die ersten rosa und orangefarbenen Finger der Morgenröte tasteten bereits den Himmel ab, als sie endlich den Baum erblickte. Sie fragte sich, wie sie auf die Idee gekommen war, ihn übersehen und daran vorbeilaufen zu können, selbst in der Dunkelheit erschien ihr der Gedanke absurd.
Die Eiche war sehr viel größer, als sie es in ihrem Traum gewesen war. Der Stamm war so dick, dass Pens Fingerspitzen sich so gerade eben berührt hätten, wenn er ihn umarmt hätte. Hunderte Äste ragten in den Himmel.
Der ganze Standort des Baums war so seltsam, dass Alice sich nicht mehr darüber wunderte, dass die Dorfbewohner ihn für magisch hielten. Meilenweit im Umkreis war kein weiterer Baum zu sehen, und die Vegetation reichte Alice kaum bis zum Knie. Hatte die Weiße Königin –
die erste Weiße Königin – diesen Baum gepflanzt? Oder war er durch irgendeine andere Magie hier erschienen?
Alice hatte nichts mehr von Pen oder den Wölfen gehört, auch wenn sie zwei Mal stehen geblieben war, weil sie meinte, Schritte hinter sich gehört zu haben. Jedes Mal hatte sie sich mit wild klopfendem Herzen umgedreht, voller Angst, in die grapschenden Klauen des Kobolds zu blicken. Jedes Mal war da nichts gewesen außer leerer Luft und ihren eigenen Ängsten.
Jetzt, da die Sonne aufging und sie den Baum erreicht hatte, fühlte Alice plötzlich die Erschöpfung, die sie bisher verdrängt hatte. Sorge, Angst und Unsicherheit schlugen über ihr zusammen, sodass sie ins Taumeln geriet und auf die Knie fiel. Ihr blieb nur ein kurzer Moment, um zu denken, dass es wahrscheinlich nicht besonders sicher war, sich am helllichten Tag hier hinzulegen, bevor ihr Kopf gegen eine große Wurzel krachte und sie gar nichts mehr dachte.
Alice schlug die Augen auf und stellte fest, dass sie zwischen den Wurzeln des Baums lag wie in den Armen einer Mutter. Der Boden unter ihr war warm und fruchtbar und vibrierte wie eine prall gefüllte Ader, in der rotes Blut floss. Als sie die Wurzeln um sich herum berührte, zitterten sie unter ihren Fingern wie eine Katze, die nach Zuneigung von ihrem Besitzer sucht.
Irgendetwas war anders mit diesem Baum, dachte sie,
während sie in eine Art verträumten Halbschlaf zurückfiel. Die Äste waren anders. Es waren Blätter daran, hübsche grüne Blätter, die im Sonnenlicht glitzerten wie Edelsteine. Da waren keine Blätter gewesen, als Alice angekommen war, denn es war noch früh im Jahr, und die Bäume schlugen noch nicht aus.
(Der einzige Grund, warum du denkst, es wäre Frühling, ist dieser Junge und seine Gans, die Gans, die eigentlich brüten sollte. Du weißt gar nicht wirklich, welche Jahreszeit ist. In der Tat, Miss Alice, wenn irgendetwas in diesem ganzen Abenteuer klar geworden ist, dann, dass du im Grunde überhaupt nichts weißt. Seit du das Krankenhaus verlassen hast, bist du hinter Hatcher hergestolpert, und seit er nicht mehr da ist, stolperst du im Kreis herum. Du bist eigentlich ziemlich armselig, Alice, auch wenn Grinser aus irgendeinem Grund zu denken scheint, dass mehr in dir steckt.)
Der Boden unter ihr pulsierte erneut, und ein komisches Gefühl überkam sie. Das komische Gefühl, dass unter ihr etwas verborgen war, das versuchte hinauszukommen.
Wenn da etwas unter dir ist, solltest du wahrscheinlich nicht einfach da liegen bleiben,
sagte eine Stimme, eine Stimme, die mehr nach Grinser klang als nach Alice.
Normalerweise wäre Alice ziemlich sauer auf Grinser gewesen, weil er sich schon wieder einmischte, doch was er sagte, war vernünftig. Sie sollte sich besser bewegen, bevor etwas Schreckliches geschah, zum Beispiel, bevor diese unter ihr pulsierende Erde aufbrach und sie verschluckte.
Sie stand auf, aber sehr langsam. Irgendwie konnte selbst der Gedanke, vom Berg verschluckt zu werden, ihr keine besondere Dringlichkeit vermitteln. Dicke
Pollenstränge segelten vom Baum und landeten sanft auf ihrem Gesicht. Sie wischte sich die Wangen ab und war ganz hingerissen von dem glitzernden Zeug an ihren Fingern.
Beweg dich, beweg dich.
»Ist ja schon gut«, murrte Alice.
Sie wollte sich nicht unbedingt bewegen, aber der Boden verhielt sich wirklich sehr eigenartig. Die Bewegung rollte jetzt in Wellen unter ihren Füßen hindurch, hob sie kurz hoch und senkte sie wieder ab.
»Das ist wirklich alles sehr seltsam«, murmelte Alice. »Mit das Seltsamste, was ich bisher erlebt habe, und ich hab eine Menge seltsamer Sachen erlebt. Mehr als genug, ums mal deutlich zu sagen.«
Ein Schatten fiel über sie, und als sie aufsah, erblickte sie Pen. Vor ihren Augen schrumpfte der Riese zu einem normalen Menschen, während Alice sprachlos vor Verwunderung die Verwandlung beobachtete, einem ziemlich gut aussehenden Menschen sogar mit ernsten grünen Augen und dicken braunen Locken und den sehnigen Muskeln eines Bauern.
»Pen«, sagte Alice. »Was ist denn mit dir passiert?«
»Sie hat mir das Herz zerquetscht«, sagte Pen ziemlich trocken. »Ich war dabei, diese Wölfe zurückzuschlagen, und dachte, dass es mir ein Leichtes wäre, sie mit den Steinen zu erschlagen, als ich plötzlich wieder ihre Stimme in meinem Kopf gehört habe. So wütend war sie, hat mich einen Verräter geschimpft und gesagt, ich wäre ihre Kreatur. Aber ich gehörte nicht mehr ihr, und das habe ich ihr auch geantwortet, nicht nach dem, was meinen Brüdern zugestoßen ist. Und da hat sie gesagt: ›Nun, du hast es ja nicht
anders gewollt.‹ Dann hatte ich grausame Schmerzen im Brustkorb, als hätte sie ihre Hand hineingesteckt, hielte mein Herz in ihren Fingern und drückte es fest zusammen. Aber dann war plötzlich alles wieder vorbei. Und jetzt bin ich hier, und Miss Alice, es tut mir furchtbar leid, dass ich dich allein gelassen habe.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Alice und hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil sie an Pen gezweifelt hatte. »Danke, dass du mich vor den Wölfen gerettet hast.«
»Das war doch selbstverständlich«, sagte Pen. Er zeigte auf eine Stelle hinter Alice. »Du bewegst dich jetzt besser. Ich denke, es bricht jetzt auf.«
Alice drehte sich um und sah, wie sich ein Spalt im Stamm des Baums öffnete. Dicker schwarzer Saft quoll aus dem Schlitz, und der Boden darunter gab saugende Geräusche von sich. Die Wurzeln gurgelten, als würden sie (was immer das sein mag)
in den Baum hineinpumpen.
Der Spalt im Baumstamm wurde tiefer und länger. Alice schauderte, als die Borke aufbrach, Blut (natürlich ist es das, kein Saft, alles andere als das)
troff vom Körper des Baums.
Der Spalt formte sich zu zwei Türen, jede öffnete sich nach außen. Alice fühlte sich wie von einer (magischen)
Kraft dazu hingezogen, während sich der Baum langsam weiter öffnete und enthüllte, was darin verborgen lag.
Eine Frau lag da, ihre Haut war weiß und wächsern und ihr Haar so schwarz wie die Schwingen eines Raben, und sie trug ein schwarzes Kleid, so schwarz wie das Blut, das überall um sie herumfloss. Der Baum hielt sie wie ein Sarg.
»Die Schwarze Königin«, sagte Pen hinter Alice. »Es gibt schon seit langer Zeit keine Schwarze Königin mehr.
«
In den dunklen Locken der Schwarzen Königin sah Alice einen schlanken silbernen Reif, eine Krone in der Form miteinander verwobener Äste. In der Mitte lag ein kleiner roter Edelstein.
»Die Schwarze Königin soll das Gegengewicht zur Weißen sein und die Weiße das Gegengewicht zur Schwarzen«, erklärte Pen. »Aber die Weiße Königin wollte nicht, dass irgendjemand ihr Einhalt gebietet. Sie hat ihre Schwester schon vor langer Zeit getötet, lange bevor sie mich und meine Brüder in Riesen verwandelt hat, damals, als die Stadt noch nicht mehr als ein kleines Dorf an einem Flussufer war. Die Weiße Königin hat sie hier begraben und einen Baum über ihr gepflanzt, damit niemand die Magie der Schwarzen Königin stehlen konnte und sie mit der Zeit vergessen würde.«
»Du scheinst ja auf einmal ziemlich viel zu wissen«, bemerkte Alice geistesabwesend.
Sie wollte die Krone berühren, sie vom Kopf der Schwarzen Königin nehmen und sie sich selbst aufsetzen.
»Ich weiß eine ganze Menge mehr, jetzt, wo ich tot bin«, sagte Pen. »Warte nicht, bis du tot bist, um alles zu lernen, was du wissen musst.«
»Was muss ich denn wissen?«, fragte Alice.
Ihre Finger streckten sich nach der Krone aus und streiften dabei das schwarze Haar der toten Königin. Es war daunenweich wie die glitzernden Pollen, die vom Baum herabgesegelt waren.
»Den Weg zum Schloss der Weißen Königin«, sagte Pen.
Seine Worte ließen Alice in der Bewegung innehalten, brachen das Fieber, das sie ergriffen hatte. War sie tatsächlich
gerade dabei, einer Leiche die Krone zu stehlen? Angewidert zog sie die Hand weg.
Nein, die brauchst du noch,
sagte Grinser. Später kommst du nicht mehr so leicht daran
.
Alice ignorierte Grinser und drehte sich entschlossen zu Pen um, sodass die Schwarze Königin und der blutende Baum und die glänzende silberne Krone mit ihrem leuchtenden Edelstein hinter ihrem Rücken waren, wo sie sie nicht sehen konnte.
»Welches ist der Weg zum Schloss der Weißen Königin?«, fragte Alice.
Pen zeigte hinter sie. »Durch den Baum natürlich. Du musst eine Kleinigkeit für die Königin zurücklassen, aber ich glaube, das hast du bereits getan.«
Alice berührte ihre Stirn, direkt unter dem Pony. Die Stelle, wo sie gegen die Baumwurzel geschlagen war, fühlte sich klebrig an.
»Ich muss jetzt gehen, Miss Alice«, sagte Pen. »Meine Brüder rufen nach mir.«
Eine Welle der Zuneigung zu dem ehemaligen Riesen überkam sie und auch ein bisschen Angst. Sie wollte nicht wieder allein sein. »Geh nicht.«
Pen lächelte sanft. »Ich muss, und du musst weitergehen, denn deine Zeit zum Ausruhen ist noch nicht gekommen.«
»Ich will aber endlich ausruhen«, sagte Alice und meinte es von ganzem Herzen. »Ich habe lange in einem Käfig gelebt und davor in einer anderen Art von Käfig. Als ich versucht habe, aus dem ersten auszubrechen, haben sie mich in einen anderen gesteckt, der noch viel, viel schlimmer
war. Ich wünsche mir nichts mehr, als endlich den Ort zu finden, von dem ich geträumt habe: ein kleines Haus auf einer grünen Wiese an einem See.«
»Dieses Haus ist für dich noch in weiter Ferne«, sagte Pen. »Du hast noch einen langen Weg vor dir, aber du wirst niemals dort hinkommen, wenn du jetzt nicht durch diese Tür gehst.«
»Natürlich«, sagte Alice und musste sich sehr anstrengen, um nicht in Tränen auszubrechen. Weinen würde nicht helfen. Weinen brachte nie irgendetwas in Ordnung.
»Meine Brüder rufen nach mir«, sagte Pen noch einmal.