Kapitel 10

 

Im fünfzigsten Jahr der Herrschaft der Kaiserin

 

Die Photonenwellen-Technikerin Kelica udHosn streckte sich auf einem gemieteten Solo-Schweber und angelte nach Vögeln. Hier ließen sie der Stress ihrer Arbeit und der Krieg unberührt. Anderenorts im Reich gab es Mühsal und Nullflotten kämpften gegeneinander, aber nicht hier auf Wsor, einer Innenwelt zwischen Tkon und der sterbenden Sonne. Kelicas flacher Schweber flog mehrere Längen unter einigen großen, wie angeschwollen wirkenden orangefarbenen Wolken. Ein dünner, polynitrierter Faden ging von der Rolle in ihrer linken Hand aus und verschwand weiter oben in der Wolkenbank. Ein mit negativer Gravitation ausgestatteter Haken wartete dort mit einem Köder aus rohem Ewone auf Vögel, die sich von dem magentafarben glitzernden Leckerbissen anlocken ließen.

Eigentlich war es Kelica völlig gleich, ob sie einen Sturmvogel fing oder nicht. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit hatte sie Gelegenheit bekommen, die Arbeit an der Großen Anstrengung zu unterbrechen und Urlaub zu machen. Es fühlte sich herrlich an, auf dem Schweber zu liegen und sich von ihm durch die Luft tragen zu lassen. Oben die Wolken und unten eine malerische Hügellandschaft … Ja, genau dies brauchte sie nach den vielen Monaten, die sie damit verbracht hatte, immer wieder Berechnungen für den solaren Transfer anzustellen. Es bestand nicht die Gefahr, dass sich die sterbende alte Sonne in dieser Woche zu einem Roten Riesen aufblähte. Die Große Anstrengung sollte imstande sein, einige Tage lang ohne Kelica zurechtzukommen.

Sie rollte sich auf die Seite, griff nach dem Saftbeutel und trank einen Schluck Würznektar. Der Rand des Schwebers ragte etwa eine Handbreite weit nach oben – dadurch sollte verhindert werden, dass Passagiere durch eine Unachtsamkeit von Bord stürzten. Trotzdem trug Kelica ihren Fluggürtel, für alle Fälle. Sie hob den Kopf und bewunderte erneut das herrliche Panorama. Abgesehen von einem anderen Schweber am Horizont hatte sie den ganzen Himmel für sich. Das war das Schöne an Wsor. Als eine der innersten Welten hatte sie kaum etwas vom Krieg gegen die äußeren Planeten zu spüren bekommen.

Kelica blickte über den Rand des Schwebers und sah den Berg Proutu, der im Südosten emporragte. Sein schneebedeckter Gipfel spiegelte sich im See Vallos wieder. Einige Vergnügungsflöße schwammen dort, und aus dieser Höhe betrachtet sahen sie aus wie Holzschnipsel. Kelica fragte sich, warum es immer noch Leute gab, die nach Fischen angelten, wenn man durch die Wolken fliegen konnte.

Minuten verstrichen, ohne dass etwas am Faden zog, und die junge Frau spürte einen Hauch Langeweile. Sie schloss die Augen, aktivierte ihr zerebrales Implantat, stellte eine Verbindung zum Psi-Netz her und suchte bei den lokalen Frequenzen nach einer interessanten Sendung.

Bewohner von Wsor, wendet euch ab von euren Sünden und von eurer Arroganz. Vernehmt die Stimme Des Einen, der über euch alle urteilt. Groß ist Der Eine, der von jenseits kommt …

Was war das? Irgendeine verrückte religiöse Sendung? Nun, vielleicht taugte sie für den einen oder anderen Lacher. Kelica streckte die Beine im Sonnenschein und trank einen weiteren Schluck Nektar. Von einer kühlenden Brise angetrieben glitt der Schweber nach Süden, dem Berg entgegen.

… sollt ihr auch für den überheblichen Stolz eurer Vorfahren zur Rechenschaft gezogen werden. Bereut euren Eigensinn, denn Der Eine duldet weder Ungläubigkeit noch Geringschätzung. Fürwahr, selbst wenn sich mehr als nur eine Seele von Dem Einen abwendet, sollen alle bestraft werden. Viele werden fallen unter Seinem Zorn und jene, die die erste Züchtigung überleben, werden sich nach der süßen Erlösung des Todes sehnen …

Kelica schüttelte den Kopf. Sie hatte die Botschaft verstanden und verlor schnell das Interesse daran. Warum sollte jemandem daran gelegen sein, sich einen solchen Unsinn anzuhören? Sie schaltete auf die nächste Psi-Frequenz um.

… und die Zeichen Seines Urteils werden zwischen den Elementen niedergeschrieben sein. Feuer und Wasser sind Seine Rute und Seine Geißel, so wie die Felsen unten und der Himmel darüber …

Kelica fragte sich verwirrt, wieso sie die gleiche Sendung empfing. Sie wählte eine andere neurale Frequenz.

… und es wird weder Frieden noch Gnade geben, weder Heil noch Erlösung …

Die junge Frau fühlte sich von vager Nervosität erfasst. Das irre Gequatsche schien das ganze Psi-Spektrum zu füllen und sogar die kaiserlichen Nachrichtensendungen zu überlagern. Kelica versuchte, einen sehr beliebten erotischen Kanal zu öffnen, ohne Erfolg. Überall ertönten apokalyptische Warnungen, die überhaupt keinen Sinn zu ergeben schienen.

Fallt auf die Knie und betet um eine Rettung, die euch verwehrt bleibt. Die Zeit der Erlösung ist vorbei. Jetzt kommt Der Eine, und Sein Zorn ist unermesslich …

Kelica vermutete, dass es sich um eine psychologische Propaganda-Offensive handelte, aber wie konnte es Rzom-Agenten gelungen sein, das ganze Psi-Netz unter Kontrolle zu bringen? Und erwarteten sie wirklich, dass die modernen Tkon sich von einem derartige Gerede beeindrucken ließen?

Etwas zerrte ihre Hand mit einem Ruck zur Seite, und daraufhin erinnerte sie sich wieder an den Angelfaden. Ganz automatisch drehte sie die Rolle und begann damit, den Faden einzuholen. Doch die seltsame Sendung beunruhigte Kelica so sehr, dass sie sich gar nicht fragte, was sie gefangen hatte. Es ging ihr nur darum, den Vogel wieder freizulassen. Sie fand großen Gefallen daran, die hübschen Vögel zu fangen, aber sie anschließend leiden zu lassen … Das lief auf sinnlose Grausamkeit hinaus.

Plötzlich donnerte es ohrenbetäubend laut, und der Schweber erbebte in einer Druckwelle. Kelica verlor den Halt und fiel zwischen die Kissen. Ihr Ellenbogen stieß an den Saftbeutel, und Nektar spritzte aus ihm hervor. Mit der freien Hand griff sie nach dem erhöhten Rand, brachte sich in eine sitzende Position und blickte nach Süden.

Der obere Teil des Berges Proutu existierte nicht mehr. Wo sich zuvor der schneebedeckte Gipfel befunden hatte, gab es nun einen gewaltigen Krater, aus dem Rauch und heiße Asche aufstiegen. Lava strömte über die Hänge des Bergs – des Vulkans! –, ließ Schnee verdampfen und erreichte kurze Zeit später den See. Eine gewaltige Dampfwolke stieg auf und verwehrte den Blick auf alles, das sich in und hinter ihr befand. Eben noch war die Wasseroberfläche spiegelglatt gewesen, doch jetzt begann der See zu brodeln.

Ein Ausbruch des Proutu? Aber wie sollte so etwas möglich sein? Der einstige Vulkan war seit Äonen erloschen. Alle wissenschaftlichen Daten bestätigten das. Und nichts hatte auf die bevorstehende Eruption hingewiesen, weder geothermische Anomalien noch leichte Beben.

Seht seine Gerechtigkeit und zittert. Werdet Zeugen der Vergeltung Des Einen und wisset, dass das Entsetzen gerade erst begonnen hat …

»Beim Heiligen Ozari«, flüsterte Kelica. Es war völlig ausgeschlossen, dass so etwas geschehen konnte – aber es passierte. Ihre Ohren schmerzten noch immer vom Donnern der kataklystischen Explosion. Die junge Frau nahm einen unangenehmen Geruch wahr, wie von Schwefel oder Macrum. Sie schenkte dem klebrigen Nektar zwischen den Kissen des Schwebers keine Beachtung und war geistesgegenwärtig genug, die Angelrolle zu deaktivieren, den Faden durchzuschneiden und den gefangenen Vogel zu befreien. Dann blickte sie zum brodelnden See hinab. Bisher war noch keins der Touristenflöße gekentert, aber Hunderte von toten Fischen trieben an die Oberfläche und verwandelten das trübe Wasser in eine groteske, kolossale Bouillabaisse.

… nichts soll verschont bleiben, weder die Tiere der Felder noch die Schwimmer der Tiefe

Zum Glück hatte die Druckwelle dafür gesorgt, dass sich der Schweber vom Vulkan entfernte. Kelica dankte Ozari – oder wem auch immer – dafür, dass sie dem Berg zum Zeitpunkt der Eruption nicht näher gewesen war. Sie streckte die Hand nach den Kontrollen aus, um möglichst schnell zum Startzentrum zurückzukehren, doch dann fiel ihr der andere Schweber ein, den sie zuvor am Horizont gesehen hatte. Lebte die entsprechende Person noch?

Mit einem mentalen Befehl wies sie ihren eigenen Schweber an, die gegenwärtige Position zu halten, blickte dann in die wogende Mischung aus Rauch und Dampf zurück. Der beißende Geruch wurde mit jeder verstreichenden Sekunde stärker und verursachte ein Brennen in Kelicas Hals.

»Hallo!«, rief sie heiser. »Ist dort jemand?« Es hatte keinen Sinn, nach einem psionischen Hilferuf zu horchen. Noch immer erklang die boshafte und inzwischen sogar schadenfroh klingende Predigt auf allen Frequenzen des Psi-Netzes und übertönte alles andere. Kelica hörte die strenge, erbarmungslose Stimme zwischen ihren Schläfen, wie sehr sie auch versuchte, sie aus ihrem Selbst zu verdrängen. Die Deaktivierung des zerebralen Implantats nützte nichts – die Stimme erklang auch weiterhin.

… kommt Seine Rache aus den unteren Regionen. Schmerz bringt Seine Peitsche, so heiß wie das Feuer des Infernos …

Kelica wölbte die Hände vor Mund und Nase, in dem sinnlosen Versuch, die ätzenden Gase von ihren Atemwegen fern zu halten. Mit tränenden Augen spähte sie in die dichten Rauchschwaden. Ich kann nicht länger warten, dachte sie. Ich muss diesen Bereich verlassen.

Dann hörte sie etwas.

»Hilfe!«, ertönte es hinter dem Vorhang aus Qualm und Dampf. Es war die von Entsetzen erfüllte Stimme eines Mannes. »Bitte helft mir!«

Kelica zögerte. Sie wollte ihren Schweber nicht in den dunklen Rauch hineinsteuern, aber es widerstrebte ihr auch, den verzweifelten Fremden sich selbst zu überlassen.

»Hilfe!«, rief der Mann erneut und hustete – es hörte sich so an, als drohte er zu ersticken.

Erleichtert sah Kelica, wie der Bug des anderen Schwebers die finsteren Schwaden durchstieß, gefolgt vom Rest des Gefährts. Doch ihre Hoffnung wich jäher Besorgnis, als sie sah, dass der Luftangler nicht sicher auf dem Schweber saß, sondern sich mit den Fingerspitzen am Rand festhielt, während seine Beine über der Tiefe baumelten.

»Nicht in Panik geraten«, flüsterte die junge Frau und dachte dabei an die vielfältigen Sicherheitssysteme in dem Fluggürtel an ihrer Taille. Der Mann konnte selbst dann nicht zu Tode stürzen, wenn das seinem Wunsch entsprach. Ein fataler Sturz war schlicht und einfach unmöglich.

Ebenso unmöglich wie der Ausbruch des Proutu?, dachte Kelica.

Wie die Halme vor der Sense sollen die Sündigen vor Dem Einen fallen. Er ist die Nemesis, der Gleichmacher von Nationen, der Reiniger von Welten …

Mann und Schweber waren rußbedeckt. Die Augen des Unglücklichen tränten, und dadurch hatten sich zwei feuchte Spuren auf den Wangen gebildet.

»Lassen Sie einfach los!«, rief Kelica ihm zu. Sie fürchtete eine Kollision mit dem anderen Schweber. Angesichts ihrer geringen Geschwindigkeit wäre dabei vermutlich kein großer Schaden entstanden, aber sie wollte jedes Risiko meiden. »Betätigen Sie den Schalter für negative Gravitation. Anschließend nehme ich Sie an Bord.«

Er versuchte zu antworten, doch es wurde ein neuer Hustenanfall daraus. Nach einigen Sekunden nickte er, schloss die Augen und übermittelte dem Gürtel psionische Anweisungen. Dann ließ er los – und fiel wie ein Stein.

Kelica glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. Der Gürtel hätte den Mann schweben lassen sollen – warum funktionierte er nicht? Ihr stockte der Atem, als sie beobachtete, wie der Mann dem kochenden See entgegenfiel.

Ihm wird nichts geschehen, dachte sie. Wenn er die kritische Geschwindigkeit erreicht, wird ein Nottransfer ausgelöst, der sein Bewegungsmoment neutralisiert und ihn zum Startzentrum zurückbringt. Ungeduldig wartete Kelica darauf, dass der Mann entmaterialisierte und zu Quantenpartikeln wurde.

Doch dazu kam es nicht. Voller Grauen sah sie, wie er in den See stürzte. Die vom Aufschlag auf die Wasseroberfläche verursachten Wellen verloren sich im allgemeinen Brodeln.

Kelica schnappte nach Luft und hustete, als das Brennen im Hals abrupt stärker wurde. Panik breitete sich wie ein Fieber in ihr aus. Sie musste fort von hier, so schnell wie möglich!

Zurück!, befahl sie dem Schweber, dankbar dafür, dass sie keine verbalen Anweisungen erteilen musste. Durch die ätzenden Gase wurde das Atmen zu einer Qual.

… und das Königreich der Luft wird zerbröckeln und die Wasser des Lebens werden sich in giftigen Schleim verwandeln …

»Sei still, sei still«, stöhnte Kelica und hielt sich die Ohren zu. Dies war ein Albtraum. Es konnte unmöglich die Realität sein. »Sei still. Ich will es nicht hören.«

… und die Obstgärten verwandeln sich in Wüsten und die Himmel werden so leblos wie die Leere …

Etwas Fedriges stieß an den Kopf der jungen Frau und fiel dann auf den Boden des Schwebers. Es handelte sich um einen Sturmvogel, ein erwachsenes Exemplar. Die glasigen Augen bewegten sich nicht mehr und der Schnabel war wie zu einem stummen Protest geöffnet. Kelica begriff auf den ersten Blick, dass kein Leben mehr in dem Tier steckte. Vermutlich lag es an den Gasen aus dem Vulkan – sie brachten die Vögel um.

… von den Hilflosen bis zu den Mächtigen, von den Niederen bis zu den Herren der Sphären, niemand wird Dem Einen entkommen …

Weitere Kadaver fielen, zu Dutzenden. Kelica hob die Hände, um sich vor dem gespenstischen Regen zu schützen, der den Schweber erzittern ließ. Überall um sie herum stürzten Vögel vom Himmel, die meisten von ihnen tot. Nur hier und dort schlugen noch karmesinrote Flügel. Eine neue Sorge suchte die junge Frau heim. Was geschah, wenn das Gewicht der Vögel die Kapazität des Schwebers überlastete? Immerhin war dieser Flugapparat nur für eine Person bestimmt.

Sie begann damit, die toten und sterbenden Vögel so schnell wie möglich über Bord zu werfen, während weitere gefederte Geschöpfe herabfielen, sie an Kopf und Schultern trafen und den Schweber immer stärker schaukeln ließen. Kelica atmete schwer im beißenden Rauch, und trotz ihrer Bemühungen neigte sich der Bug alarmierend schnell nach unten. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die junge Frau das Gleichgewicht verlor, auf Hände und Knie sank. Es knackte und knirschte, als die dünnen Knochen der Vögel unter ihrem Gewicht nachgaben.

… denn der Größte der Großen ist nichts weiter als ein Staubkorn der Verdorbenheit vor Dem Einen, so wie selbst der schönste aller Edelsteine nur einer Ansammlung von Schmutz gleicht im Vergleich mit Seiner Pracht …

Kelica spielte mit dem Gedanken, den Schweber zu verlassen und in die Leere zu springen, aber Furcht hinderte sie daran. Vielleicht funktionierte auch ihr Gürtel nicht mehr. Sie versuchte, entweder die negative Gravitation zu aktivieren oder den Transfer-Alarm auszulösen, konzentrierte ihre Gedanken so sehr auf den Gürtel, dass sie Kopfschmerzen bekam, doch nichts geschah. Die normale Schwerkraft band sie an den Schweber, als er mit einem spiralförmigen Flug in die Tiefe begann, dem kochenden Wasser des Sees entgegen. Er wurde immer schneller und trug Kelica dem Tod entgegen.

… und so sollen sterben die Häretiker und Abtrünnigen, die Blasphemisten und Ungläubigen, denn ich bin Der Eine, das A und das O, euer Anfang und euer Ende …

Bevor sie durch den Sturz in die Tiefe gnädigerweise das Bewusstsein verlor, sah sie etwas, das einfach unglaublich war, selbst während eines Albtraums. An der unteren Hälfte des Berges hatte die strömende Lava ein Wort in den Granit gebrannt. Es sah wie eine Signatur aus, vom Künstler seinem neuesten Meisterwerk hinzugefügt.

Es war das uralte Tkon-Symbol für die Zahl eins.