Kapitel 13
Als Doktor Karl Mertens in den Sektionssaal zurückkehrte, hatte er ein triumphierendes Grinsen im Gesicht. Er hatte eben den Leiter des für Delikte gegen das Leben zuständigen 1. Fachkommissariats des Zentralen Kriminaldienstes in Hameln innerhalb weniger Minuten am Telefon glaubhaft machen können, dass der Fall Nadja Stern viel intensiver untersucht werden muss als sonst üblich. Der stellvertretende Chef des Instituts für Rechtsmedizin in Hannover hatte damit gerechnet, bei Kurt Brenner mehr Überzeugungsarbeit leisten zu müssen. Der Erste Kriminalhauptkommissar war ein vernünftiger Mann. Er neigte nicht dazu, überstürzte Entscheidungen zu fällen, wollte für gewöhnlich überzeugt werden. Diesmal hatte Brenner seine Meinung sofort geteilt. Mit wehendem Kittel eilte Mertens auf Assistenzarzt Martin und Präparator Schmidt zu. Schon aus der Ferne erkannte Doktor Martin, dass der Chef seinen Willen bekommen hatte. „Na, sieh mal einer an ...“, nuschelte der Gerichtsmediziner und drehte sich zu Präparator Schmidt um. „Der Alte ist sichtbar aus dem Häuschen. Hat wohl sein Ziel erreicht.“
Schnellen Schrittes näherte sich Doktor Mertens dem Seziertisch, auf der immer noch die Leiche der Toten aus Hameln lag. In der rasierten Kopfschwarte klaffte ein zwei mal zwei Zentimeter großes Loch. Es sah aus wie ausgestanzt und ließ den Blick frei auf den weiß-grauen Schädelknochen. Rechtsmediziner Doktor Martin hatte das Gewebe, in dessen Mitte sich ein winziges Loch befand, fein säuberlich präpariert und in einem kleinen Kunststoff-Fläschchen mit Schraubverschluss abgelegt. „Ah, ich sehe, du warst schon fleißig, Klaus“, sagte Mertens und warf seinem Assistenten einen erfreuten Blick zu. „Also, wir dürfen jetzt mit der forensischen Laboruntersuchung weitermachen. Ich bringe die Probe gleich selbst nach oben in unser Labor. Ist der Proben-Behälter schon beschriftet?“ Mertens sah abwechselnd Martin und Schmidt an. „Ja, klar“, meldete sich Doktor Martin und lehnte sich an der Fensterbank an. Er war genervt, hatte das Gefühl, dass sein Chef seine Arbeit argwöhnisch überwachte. „Na, das versteht sich doch von selbst, oder?“, antwortete der Rechtsmediziner. Doktor Mertens überhörte den Unterton seines Kollegen. „Fein, fein.“ Er streckte seinen rechten Arm aus, bewegte seine Finger und sagte fordernd: „Dann mal her mit der Probe.“ Martin stieß sich von der Fensterbank ab, ging zwei Schritte auf seinen Chef zu und stellte das Fläschchen wortlos auf seiner Handfläche ab. Mertens schloss seine Hand und ließ die Flasche mit der Gewebeprobe in seiner Kitteltasche verschwinden.
Der Anwalt der Toten machte auf dem Absatz kehrt und steuerte das Labor des Rechtsmedizinischen Instituts an. Noch im Weggehen drehte er sich zu Martin und Schmidt um. „Ach ja ... Herr Schmidt, die Leiche kann dann weg. Ähm ... Also, ich meine, sie kann wieder ins Kühlfach geschoben werden. In der Causa Freigabe der Leiche zur Bestattung nehme ich dann nachher selbst Kontakt mit der Staatsanwaltschaft auf. Wir haben ja jetzt alle Proben zusammen, oder?“ Doc Mertens blieb stehen und zählte an den Fingern seiner Hände ab: „Blut, Hirnkammerwasser, Urin, Mageninhalt, Gallenflüssigkeit, Gewebe ... Habe ich etwas vergessen?“ Martin und Schmidt schüttelten unisono den Kopf. „Gut, ich bin kurz im Labor. Ihr könntet schon mal die nächste Leiche auf den Tisch legen. Es gibt noch viel zu tun ... Wie heißt es so schön: Packen wir’s an.“
Mertens riss die Tür auf und verschwand.
Er nahm den Fahrstuhl. Bis zum institutseigenen Labor waren es dann nur noch wenige Schritte. Vor einer Aluminiumtür mit Milchglas-Einsatz blieb Mertens stehen. Auf der Scheibe stand in schwarzen Buchstaben „Forensische Toxikologie – Dr. Stefan Dehlius“. Der stellvertretende Institutsleiter drückte auf den Klingelknopf. Die Abteilung, die von Dehlius geleitet wurde, hatte die Aufgabe, Arzneimittel, Drogen und andere Giftstoffe in Körperflüssigkeiten, Gewebeproben und an Spurenträgern, die von der Kripo eingeschickt wurden, nachzuweisen. Das Labor verfügte auch über Hightech. Mit einem Massenspektrometer konnten die Laborärzte Verbindungen, die nur in Form von geladenen Molekülen vorlagen, qualitativ und quantitativ messen und bestimmen. Auf diese Weise waren die Spezialisten in der Lage, sowohl Rückschlüsse auf die Strukturformel als auch auf die Häufigkeit der einzelnen Analyt-Ionen zu ziehen. Es dauerte keine zehn Sekunden, da stand Doktor Dehlius in der geöffneten Tür. „Hallo, Karl ... Was verschafft mir die Ehre?“, wollte der sportlich wirkende Toxikologe mit dem kantigen Gesicht und den blonden Locken wissen. Bevor Mertens etwas erwidern konnte, schob der Toxikologe hinterher: „Kommt ja nicht alle Tage vor, dass du uns besuchst ...“ Karl Mertens fischte das Proben-Fläschchen aus seiner Kitteltasche. „Moin, Stefan, wie geht’s denn so?“, fragte Mertens und hielt die Gewebeprobe hoch. „Ich brauche von euch ganz schnell eine Analyse von dieser Probe. Ich habe da eine relativ junge Frau auf dem Tisch, der möglicherweise eine Substanz injiziert wurde. Subkutan in die Kopfhaut.“
Doktor Dehlius lächelte. „Und jetzt möchtest du von uns ein Screening, richtig?“ Mertens nickte. „Wie eilig ist es denn? Weißt du, wir ersticken gerade in Arbeit. Dir brauche ich es ja nicht zu sagen: Gestorben wird immer – und jeder möchte die Laborergebnisse sofort.“ Der Leitende Oberarzt presste seine Lippen aufeinander. „Na ja, so ist es auch in diesem Fall. Ist ’ne Eilsache. Die Ergebnisse bräuchte ich eigentlich schon gestern. Ich vermute, dass Nadja Stern, äh, so hieß die Frau, um die es geht, ermordet wurde. Um ein Haar hätten wir die Einstichstelle übersehen.“
Stefan Dehlius kratzte sich amüsiert an der rechten Schläfe. Mertens sah ihn fragend an. „Was ist denn jetzt so lustig daran?“ Der Laborarzt nahm ihm das Fläschchen aus der Hand, hielt es vor seine Augen und schaute auf das mit blasser Haut überzogene ausgefranste gelbe Fettgewebe.
„Nun, sagtest du nicht, diese Probe stamme vom Kopf der Toten? Da befinden sich für gewöhnlich sehr viele Haare. Kein Wunder also, dass du den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hast. So, nun komm erst mal rein ...“ Dehlius fasste seinen Kollegen an die Schulter, bugsierte ihn in einen hallenartigen Raum.
Mertens kannte natürlich das forensische Labor des Instituts. Häufig besuchte er allerdings nicht die Kollegen von der Toxikologie. Frauen und Männer in weißen Kitteln standen vor Geräten und Apparaturen. Einige trugen Mundschutz und Schutzbrillen. Eine attraktive Brünette, deren Name Mertens entfallen war, grüßte ihn freundlich. Sie saß vor einem Binokularmikroskop, hielt eine Pipette in der Hand und träufelte irgendeine Flüssigkeit auf einen gläsernen Objektträger. Mertens erinnerte sich nur noch daran, dass er im Herbst vergangenen Jahres mit der Laborantin im Stehen einen Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten getrunken hatte. Sie hatte ihn seinerzeit um einen Gefallen gebeten. Mertens erinnerte sich nicht mehr daran, um was es gegangen war. Er wusste aber noch sehr gut, dass er niemals zuvor einen schlechteren Cappuccino getrunken hatte. Das Gesicht der Frau, das einen eigenartigen Reiz auf ihn ausübte, war dem Rechtsmediziner allerdings im Gedächtnis geblieben.
Dehlius nahm Mertens mit in sein Büro und bot ihm mit einer einladenden Handbewegung einen Platz an.
„Magst du ein Glas Wasser, Karl? Vielleicht einen Kaffee oder ein Tässchen Tee?“
„Nein, danke. Ich habe es eilig. Es warten noch ein paar Leichen auf mich, denen ich ihr Geheimnis entlocken soll.“
„Hm ... Ja, natürlich. Verstehe ... Bei uns brummt’s auch. Dürfte dir aber bekannt sein. Ihr beschäftigt uns ja auch ganz gut.“ Dehlius lachte. „So, dann lass mal hören, Karl. Um was geht es konkret?“ Karl Mertens klärte den forensischen Toxikologen auf. Er schilderte ihm, was er und Doktor Martin herausgefunden und welche Gifte die Rechtsmediziner bereits anhand äußerer Merkmale ausgeschlossen hatten. Der Giftexperte hörte aufmerksam zu, nur dann und wann nickte er unmerklich. Als Mertens fertig war, schlug er zum Zeichen des Aufbruchs seine flachen Hände auf seine Oberschenkel und erhob sich von seinem Drehstuhl. „Gut, das scheint mir ein höchst interessanter Fall zu sein. Wir geben unser Bestes – wie immer. Heute Abend kannst du mit ersten Screening-Ergebnissen rechnen. Ich rufe dich an, sobald ich Näheres weiß. Wir machen auch eine Liquid-Chromatographie-Massenspektrometrie – die dauert freilich deutlich länger. Dehlius sah, dass Mertens seine Stirn in Falten gelegt hatte und es in dem Gerichtsmediziner arbeitete. „Du fragst dich jetzt: Warum, verdammt noch mal, dauert das nur so lange? Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, mein Lieber.“ Mertens, der mit seinen Augen nachdenklich einen Locher fixiert hatte, der auf dem mit Akten beladenen Schreibtisch des Toxikologen stand, stemmte sich aus dem Besucherstuhl und schaute Dehlius in die Augen.
„Alles okay, Stefan. Ich weiß doch, dass ihr für die LC-MS-MS drei, vier Tage braucht, andererseits ist mir auch bekannt, dass ihr mit diesem Hightech-Verfahren in der Lage seid, Messungen innerhalb von Millisekunden zu machen“, antwortete Mertens und strich sich den Kittel glatt. „Ich bin leider ein ungeduldiger Mensch.“
Der Toxikologe rieb sich das rechte Ohrläppchen und holte tief Luft. „Ja, ja, Karl. Du bist für deine Ungeduld, aber auch für deine Perfektion bekannt. Aber mal im Ernst: Dieses hochmoderne Detektionsverfahren ist zwar leistungsstark, aber hexen kann der Computer bei der Spurenanalyse auch nicht. Ich will dir jetzt keinen Vortrag halten, nur so viel: Bei dieser Art von Spurenanalytik laufen mehrere Verfahren hintereinander ab. Und durch dieses Nacheinanderschalten von mehreren Massenspektrometer-Einheiten ergibt sich eine Kopplungsmöglichkeit. Wir sprechen von Tandem-MS oder auch MS/MS.“ Er winkte ab. „Musst du dir nicht merken. Dennoch sollst du wissen: Dieses Tandem wiederum ist an ein chromatographisches Trennsystem gekoppelt – bei uns im Institut ist das die Flüssigchromatographie. Und diese komplizierte, aber effektive Methode braucht halt ihre Zeit ...“
Mertens hatte bereits seine rechte Hand erhoben. „Mensch, Stefan. Das weiß ich doch alles. Ich kenne das Verfahren gut. Manchmal wünschte ich mir nur, dass ich die Ergebnisse schneller auf dem Tisch hätte – am liebsten sofort. Es geht ja auch darum, Mordermittlern rasch Hinweise und Erkenntnisse zu liefern, damit die einen Verbrecher, der da draußen rumläuft, fassen und überführen können. Da spielt der Faktor Zeit schon eine gewisse Rolle.“
„Das verstehe ich sehr gut.“ Dehlius zuckte mit den Schultern. „Aber wie schon gesagt: Zaubern können weder unsere Geräte noch meine Mitarbeiter. Du erwartest von uns schließlich eine exakte Identifizierung und Quantifizierung sowohl von reinen Substanzen als auch von Substanzgemischen. Das ist echte Detektivarbeit.“
Dehlius fasste Mertens an die Schulter und begleitete ihn zur Tür. „Euer Fall hat bei uns oberste Priorität. Du kannst dich darauf verlassen. Wir checken gleich mal auf alle gängigen Beruhigungs- und Betäubungsmittel, die allerneuesten psychoaktiven Substanzen und natürlich die üblichen Gifte. Wir können dann ja gleich auch auf Herzglykoside, also Digitoxin, Digoxin und Oleandrin, testen. Gaschromatographie auf Alkohol machen wir auch. Das volle Programm. Dann sehen wir weiter, okay?“
Mertens nickte. „Danke, Stefan. Äh ... Also, ich weiß das zu schätzen. Prio eins und so. Du hast einen gut bei mir.“ Der stellvertretende Institutsleiter drückte den Türgriff nach unten, verließ das Labor, drehte sich noch einmal um und schob seinen Kopf durch den Türspalt. „Eine Sache noch, Stefan. Geht bitte mit der Gewebeprobe sparsam um. Ich will ja den Teufel nicht an die Wand malen, aber: Vielleicht brauchen wir einen Teil davon noch für weitergehende Untersuchungen.“ Dehlius schwieg. Er hielt stattdessen den Daumen hoch.