Kapitel 15
Doktor Karl Mertens hatte an diesem Tag schon in die Augen von 24 Toten geschaut – nach 20 Leichenschauen im Krematorium und vier Obduktionen im Institut war er fix und fertig. Er fühlte sich ausgelaugt. Aber sein Arbeitstag war noch lange nicht zu Ende. Der forensische Mediziner hatte Bereitschaftsdienst. Während draußen die Schatten der kahlen Bäume immer länger wurden und die Sonne hinter den Hochhäusern von Groß Buchholz abtauchte, saß der Rechtsmediziner bei Neonlicht an seinem Schreibtisch, wälzte dicke medizinische Bücher und machte sich dann und wann auf einem karierten Blatt Papier Notizen für ein Gutachten, das die 13. Große Strafkammer des Landgerichts Hannover in Auftrag gegeben hatte.
Es ging um einen schwer verletzten Säugling. Mertens hatte das Baby vor zehn Wochen auf der Intensivstation der renommierten Kinderklinik auf der Bult untersucht. Das zur Tatzeit vier Monate alte Kind hatte subdurale Blutungen im Gehirn und massive Blutungen in den Augen davongetragen. Noch war unklar, ob der Kleine bleibende Schäden zurückbehalten würde. Die Sache war kompliziert: Die Staatsanwaltschaft war davon überzeugt, dass der Kindsvater seinen weinenden Sohn massiv geschüttelt hatte – vermutlich in einem Moment der Ohnmacht und der Überforderung. Der Angeklagte bestritt die Tat vehement. Sein Verteidiger vertrat die Ansicht, die Blutungen könnten auch von einer Sechsfachimpfung ausgelöst worden sein. Zeugen für eine Schüttelattacke gab es nicht. Nun lag es an Rechtsmediziner Doktor Mertens, die Wahrheit herauszufinden. Seine intensive Literaturrecherche hatte ergeben, dass es keinen wissenschaftlichen Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen Hirnblutungen und einer Schutzimpfung gibt. Also musste der Familienvater Schuld auf sich geladen haben. Alles deutete auf ein Schütteltrauma hin. Aber ließ sich die Misshandlung auch beweisen? Mertens las die Sätze, die er bislang zu Papier gebracht hatte. Der Fall ging dem Rechtsmediziner nahe. Für den Gerichtsmediziner gab es nichts Schlimmeres, als fürchterlich zugerichtete Kinder untersuchen zu müssen.
Der Rechtsmediziner atmete tief durch, fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare und legte seinen Kopf in den Nacken, um Verspannungen zu lösen. Während er das tat, schloss er seine müden Augen. Mertens ließ den Kugelschreiber kraftlos aus seiner Hand gleiten und gähnte. Er konnte sich nicht auf die mutmaßliche Kindesmisshandlung konzentrieren. Seine Gedanken kreisten seit gestern nur noch um die junge Frau aus Hameln, der mutmaßlich ein Gift in den Kopf injiziert worden war. Mertens wartete mit Ungeduld auf den Anruf von Doktor Dehlius. Der Toxikologe hatte ihm versprochen, ihn bis zum Abend über die Ergebnisse des Screenings zu informieren. Der Forensiker starrte das Telefon an, als wolle er es durch Hypnose zum Klingeln bringen. Er ertappte sich bei dem Gedanken, im Labor anzurufen, zwang sich aber, es nicht zu tun. Stefan Dehlius würde ihn schon nicht vergessen. Wenn ich ihm jetzt auf den Keks gehe, wird er mir das übel nehmen, dachte er. Mertens erhob sich aus seinem Drehstuhl und ging zum Fenster. Ein großer Schwarm Krähen zog auf der Suche nach Schlafplätzen krächzend am Institut vorbei und ließ sich kurz darauf in der ausladenden Krone einer knorrigen alten Kastanie nieder. Mertens musste unweigerlich an den Horror-Klassiker „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock denken.
Um sich die Wartezeit zu verkürzen, beschloss der Gerichtsmediziner, sich rasch einen Kamillentee aufzubrühen. Er wusste, dass die Kamillenblüten, die er im vergangenen Jahr bei Spaziergängen am Leineufer gesammelt hatte, neben ätherischen Ölen auch Flavonoide enthielten, die ihnen die gelbe Farbe verliehen. Im alten Ägypten war die Pflanze daher als Blume des Sonnengottes verehrt worden. Der Anwalt der Toten trank täglich zwei bis drei Tassen Kamillentee – er sollte ihn vor Magengeschwüren bewahren. Mertens füllte stilles Mineralwasser in einen Topf und erhitzte es mit einem Tauchsieder. Es dauerte nicht lange, bis das Teewasser Blasen schlug und zu brodeln begann. Dampf stieg auf und kondensierte sogleich an der kühlen Fensterscheibe. Karl Mertens öffnete eine Schreibtischschublade. Darin bewahrte der Forensiker eine verbeulte Keksdose auf, in der er die getrockneten Kamillenblüten, vor Feuchtigkeit gut geschützt, aufbewahrte. Der Arzt füllte einen Esslöffel Blüten in einen Porzellanbecher, auf dem sich das blau-weiße BDRM-Logo des Berufsverbandes Deutscher Rechtsmediziner befand, brühte sie mit kochendem Wasser auf. Für gewöhnlich ließ er den Tee drei Minuten ziehen.
Während die Zeit verstrich, schielte Doktor Karl Mertens immer wieder zu seinem Diensttelefon. Das Warten auf Dehlius’ Anruf stellte ihn auf eine harte Geduldsprobe. Er brauchte jetzt Musik, um auf andere
Gedanken zu kommen. Der Gerichtsmediziner schaltete einen CD-Player ein, in dem sich eine Scheibe mit den größten Hits der Beach Boys befand. Er wählte seinen Lieblingssong aus und drehte die Lautstärke voll auf. Surfin’ USA – er konnte den Text mitsingen. Mertens nippte gierig an seinem Tee und verbrühte sich die Zungenspitze. Er stellte die Tasse ab, spielte Luftgitarre und sang mit Mike Love im Duett.
„If everybody had an ocean
Across the USA
Then everybody’d be surfin’
Like Californ-i-a“
Doktor Mertens dachte an seinen letzten Urlaub, den er gemeinsam mit seiner Frau Barbara auf einem Kreuzfahrtschiff verbracht hatte. Sie waren auf dem Atlantik unterwegs gewesen. Der Käpt’n hatte damals Kurs auf Florida genommen. Wie oft hatten sie abends am Heck an der Reling gestanden, sich umarmt, aufs blaue Meer geblickt und bei einem Glas Sekt der untergehenden Sonne zugeschaut. Sein Gehirn spulte Kurzfilme ab. Sie zauberten ein Lächeln auf sein Gesicht. Die Beach Boys hatten in ihm Urlaubserinnerungen wachgerufen. Die schönen Bilder verflogen sofort beim Blick auf die unverschlossene Tür. Mertens war klar, dass die laute Musik Neugierige anlocken könnte. Die rechtsmedizinische Abteilung war eher ein Ort der Stille. Zwar betraten nur äußerst selten Angehörige von Verstorbenen dieses Gebäude, aber es kam in Ausnahmefällen vor. Im Erdgeschoss, unweit des Sektionssaals, gab es ein kleines Zimmer, in dem der Schneewittchen-Sarg stand. So wurde der Glaskasten jedenfalls von den Gerichtsmedizinern genannt. Darin wurden kurzfristig die Toten aufgebahrt, die von Hinterbliebenen identifiziert werden mussten. Die Glasabdeckung sollte verhindern, dass Trauernde die Leiche berührten und am Körper Spuren hinterließen. Ganz nebenbei sorgte der gläserne Sarg aber auch dafür, dass üble Gerüche nicht in den Raum gelangten. Fast immer ersparte die Kripo den Angehörigen die Identifizierung eines Toten im Institut – so etwas war für alle belastend und konnte bei Menschen ein Trauma auslösen. Kopfbilder der Leiche reichten in der Regel aus.
Der Doc unterbrach sein Gitarrensolo, ging zur Bürotür und schloss sie von innen ab. Er wollte nicht, dass ihn Kollegen, Studenten oder Putzkräfte so ausgelassen sehen würden. Der stellvertretende Institutsleiter wurde in der Medizinischen Hochschule eher als Graue Eminenz wahrgenommen. Das Bild war durchaus stimmig. Der Wissenschaftler zog lieber im Hintergrund die Fäden. Gerüchte waren ihm zuwider, auf den Flurfunk gab er nichts. Er beteiligte sich nicht an Spekulationen und sprach nicht mehr als nötig über sein Privatleben. Dafür lief er im Hörsaal zur Höchstform auf. Die gerichtliche Medizin war seine Leidenschaft. Im Autopsie-Saal war Mertens ein Detektiv am Seziertisch.
Der Gerichtsmediziner trank einen Schluck Kamillentee und sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Draußen war es dunkel geworden. Straßenlaternen warfen kreisrunde Leuchtkegel auf den Asphalt. Die Krähen hatten offenbar ihre Schlafplätze eingenommen, ihr Gezeter war verstummt.
„Everybody’s gone surfin’
Surfin’ USA“
Die Beach Boys waren fertig. Mertens drehte bei „Good Vibrations“ die Musik leiser. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und zog das Telefon zu sich heran. Die Ungeduld hatte über die Vernunft gesiegt. Der Rechtsmediziner hatte sich entschieden, bei Dehlius anzurufen. Er wollte gerade zum Hörer greifen, als es klingelte. Im Display leuchtete die interne Nummer der Forensischen Toxikologie auf. Der Rechtsmediziner war erleichtert. Endlich kam der ersehnte Anruf. „Ja, Mertens.“ Am anderen Ende der Leitung meldete sich Dehlius. „Hallo, Karl, hier ist Stefan. Ich hatte dir ja versprochen, mich sofort bei dir zu melden, wenn mir erste Ergebnisse vorliegen ...“
Mertens kratzte sich am Kopf und suchte seinen Kugelschreiber, um sich Notizen machen zu können. „Und? Habt ihr ein Gift nachweisen können? Spann mich bitte nicht auf die Folter. Los, sag schon.“
Dehlius holte tief Luft. „Tja, Karl. Das vorläufige Ergebnis unserer Untersuchungen wird dir nicht gefallen.“
„Wieso?“, wollte Mertens wissen. Die Antwort kam prompt. „Ganz einfach. Weil wir keines der üblichen Gifte in der Gewebeprobe finden konnten.“
Karl Mertens war enttäuscht. „Und was ist mit neuen psychoaktiven Substanzen und synthetischen Cannabinoiden, Herzmitteln und was weiß ich alles?“
Der Toxikologe unterbrach Mertens. „Karl, halt mal kurz die Luft an. Bevor du mir jetzt alle Substanzen aufzählst, die du so kennst ... Das haben wir selbstverständlich alles ins Kalkül einbezogen – insbesondere Piperazine, Cathinone und Amphetaminderivate aus Badesalzen, Legal Highs wie Methylon, MDPV, TFMPP und wie die alle heißen. Spice, JWH-018, JWH-122 und andere – auch alles negativ. Frau Stern sind auch keine Opioide, Antidepressiva oder Neuroleptika wie Buprenorphin, Fentanyl, Sufentanil, Doxepin, Olanzapin, Citalopram oder Zopiclon injiziert worden. Digitoxin, Digoxin, Oleandrin und andere Herzglykoside – ebenfalls Fehlanzeige. Tut mir leid, Karl. Ich hätte dir gern etwas anderes mitgeteilt.“
Mertens seufzte. „Na ja, da kann man nichts machen. Wäre ja auch zu schön gewesen.“
„Hey, mein Freund. Es ist noch nicht aller Tage Abend. Wenn du mir sagen kannst, um welche Substanz es sich mutmaßlich handelt, werden wir sie auch nachweisen können. Aber so sind mir die Hände gebunden. Du weißt ja: Es gibt unendlich viele Substanzen. Wir können die Probe nicht auf alle testen.“
„Hm“, Doktor Mertens war niedergeschlagen.
„Karl, wir haben nur die Hälfte der Probe für die Analysen benutzt. Ich lasse dir den Rest rüberbringen. Wenn dir noch was einfällt, lass es mich wissen, okay? Ich wünsche dir noch einen schönen Abend. Liebe Grüße an Barbara.“
„Danke für deine Hilfe, Stefan. Du hast einen gut bei mir. Schönen Feierabend!“
Das Gespräch war beendet. Der Rechtsmediziner fluchte laut. „Verdammte Scheiße!“ Er musste sich irgendwie abreagieren. Jetzt war er zwar schlauer, aber bei der Suche nach der Todesursache keinen Schritt weitergekommen. Irgendetwas musste der Täter seinem Opfer doch verabreicht haben. Nur was? Mertens wollte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, das Rätsel nicht lösen zu können. Er wusste, dass im Fall Nadja Stern etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war, wollte nicht, dass der Täter damit durchkam. Der Anwalt der Toten zermarterte sich den Kopf. Ihm kam eine Idee. Er würde die Gewebeprobe und das Leichenblut zusätzlich vom Zentrallabor der Medizinischen Hochschule untersuchen lassen. Dort arbeiteten fachübergreifend Wissenschaftler, die den Bereich der Einstichstelle auch auf Bakterien, Viren und körpereigene Hormone analysieren konnten. Mertens beschloss, die Probe höchstselbst bei Dehlius abzuholen und sie danach zum Analysezentrum zu bringen. Das ZLA war keine 300 Meter vom Institut entfernt. Dort wurde rund um die Uhr gearbeitet. Wenn er Glück hatte, lagen schon morgen früh erste Ergebnisse aus dem Klinischen Labor auf seinem Schreibtisch. Die Kosten für die Spezialanalyse würde er notfalls aus eigener Tasche bezahlen. Er wollte keine Zeit verlieren und die Entscheidung über eine erweiterte Untersuchung nicht der Staatsanwaltschaft überlassen.
Mertens erhob sich, ging zum Kleiderständer, schlüpfte in seinen beigefarbenen Trenchcoat, schloss die Bürotür auf und steuerte eilig die Toxikologie an. Er hoffte, dass Dehlius das Labor noch nicht verlassen hatte.