Kapitel 20

Herma stand unter der Dusche und ließ das dampfende Wasser aus dem Durchlauferhitzer minutenlang über ihren Körper laufen. Ihren Kopf sparte sie absichtlich aus. Kam warmes Wasser mit ihren Narben in Berührung, löste das mitunter einen schlimmen Migräne­anfall aus, der über viele Stunden andauern konnte. Zu heftigen Kopfschmerzattacken gesellten sich zu allem Überfluss dann auch noch Brechreiz und Lichtempfindlichkeit. In solchen Momenten hätte Herma vor Wut Geschirr zerschlagen können, aber es war ihr bislang immer gelungen, sich zu beherrschen. Bis Dezember hatte sie nicht unter Migräne gelitten.

Diese bösartigen Attacken waren ein Andenken an einen Serienmörder, der Ronny Rosslau hieß und sich Bernd Melchior genannt hatte. Während das Wasser den Schweiß abspülte, der sich beim Joggen gebildet hatte, musste Herma immer wieder an Rosslau, der wie sie aus Ostfriesland stammte, denken. Vor ihrem geistigen Auge tauchte seine fiese Fratze auf. Sie hatte ihn damals nur ganz kurz gesehen, aber das Gesicht des Mannes, der sie töten wollte, hatte sich dennoch in ihr Gedächtnis eingebrannt. Nachts hörte sie manchmal sein dämonisches Lachen. Sie wollte diesen Kerl vergessen, aber er schien sich in ihrem Gehirn eingenistet zu haben. Sie wurde ihn nicht los. Mit ihrer rechten Hand schlug die Mordkommissarin gegen die geflieste Wand und schrie ihren Ärger – so laut sie konnte – heraus: „Verpiss dich, du scheiß Psycho.“ Tränen schossen ein, liefen über ihre geröteten Wangen. Herma wischte sie trotzig mit ihrem rechten Handrücken fort und zwang sich, an Harm zu denken, an dessen Schulter sie sich jetzt gern angelehnt hätte. Aber ihr Freund war weit weg. 5000 Kilometer trennten das Paar.

Das frühmorgendliche Joggen rund um den idyllisch gelegenen Mahlbusen in Dornumersiel hatte ihr gutgetan. Die Nachricht des Polizeipsychologen auch. Sie durfte es jetzt nicht zulassen, dass Ronny Rosslau von ihr Besitz ergriff. Sie musste nach vorne schauen, die Gespenster der Vergangenheit abschütteln und einen Neuanfang zulassen. Rixinger hatte ihr die Chance dazu gegeben. Sie musste sie nur ergreifen. Herma drehte den Wasserhahn zu und tastete im Duschnebel nach einem großen weißen Frotteehandtuch. Vor lauter Wasserdampf konnte sie kaum ihre Hand vor Augen sehen. Die Kommissarin zog das Badehandtuch vom Wandhaken, öffnete das Fenster und trocknete sich ab. Der Dampf waberte nach draußen. Es sah so aus, als würde die Natur die weißen Schwaden aufsaugen. Nachdem sie ihre dünnen blonden Haare mit dem Föhn getrocknet hatte, ging Herma in ihre Küche und setzte Teewasser auf. Das Handtuch hatte sie lässig um ihre schmalen Hüften gebunden, ansonsten war sie nackt. Sie musste sich keine Sorgen machen, dass sie jemand so sehen konnte. Die Ferienhäuser ihrer Nachbarn standen weit genug weg und waren zu dieser Jahreszeit nicht besetzt. Im Winter hatten die Ostfriesen ihr Ostfriesland ganz für sich allein. Herma van Dyck genoss die Stille und die Abgeschiedenheit, dennoch fehlte ihr die Arbeit. Nach einer guten Tasse Assam-Tee mit zwei Stück Kluntje und einem Schuss Sahne würde sie ihren Chef in Hameln anrufen, um ihm mitzuteilen, dass sie schon bald wieder Verbrecher jagen würde.

Eine Viertelstunde später saß Herma in ihrem Lieblingssessel und starrte in Gedanken versunken durch das Fenster ihres Wohnzimmers nach draußen. Neben ihr knisterte der Kaminofen, der eine wohlige Wärme abstrahlte. Sie führte eine feine Porzellantasse zu ihrem Mund, pustete den heißen Tee an und genoss das Nationalgetränk der Ostfriesen in kleinen Schlucken. Eine Weile saß sie so da. Sie ordnete ihre Gedanken, legte sich zurecht, was sie dem Leiter des 1. Fachkommissariats sagen würde. Eines war ihr klar: Brenner würde sich nach ihrem Gesundheitszustand erkundigen. Und sie konnte nicht die Wahrheit sagen. Die Migräneattacken und die Ohrgeräusche musste sie verschweigen, ansonsten würde sie Brenner nicht im Büro haben wollen. Herma schaute auf ihre goldene Armbanduhr, die sie von ihren Eltern zu ihrem 30. Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Schon Viertel nach zehn. Die morgendliche Lagebesprechung mit dem Chef des Zentralen Kriminaldienstes, die um halb neun begann und an der alle sieben Kommissariatsleiter teilnehmen mussten, war längst zu Ende. „Dann sollte ich jetzt mal anrufen“, sagte Herma zu sich selbst und gab sich einen Ruck. Sie stellte die Teetasse auf einen Beistelltisch aus Metall, den sie weiß lackiert hatte, und holte ihr Smartphone aus der Küche. Herma wischte mit ihrem Zeigefinger über den Bildschirm und betrachtete einen Moment lang das Hintergrundbild, das sie und Harm zeigte. Das Selfie war im vergangenen Jahr in Oldenburg entstanden, als sie bei ihrem Seebären übernachtet hatte. Herma wählte die Dienstnummer ihres Chefs, hielt das iPhone an ihr rechtes Ohr und hörte ein Freizeichen. Hoffentlich ist Kurt am Platz, dachte sie. Nachdem es dreimal getutet hatte, hörte Herma eine ihr wohl vertraute dunkle Männerstimme. „Brenner, FK1, guten Morgen“, meldete sich der Leiter vom Mord und Totschlag. Kurt Brenner hatte offenbar nicht auf das Display seines Telefonapparates geschaut, denn sonst hätte er gewusst, dass es Herma war, die ihn anrief. „Moin, lieber Kurt. Hier ist Herma“, säuselte die Mordermittlerin ins Mikrofon ihres Handys. „Mensch, Herma, was für eine Überraschung. Ich habe gar nicht gesehen, dass du es bist ...“ Herma lachte. „Ja, das habe ich wohl bemerkt.“

„Wie geht es dir denn?“, wollte Brenner wissen.

„Gut“, log Herma und setzte noch einen drauf. „Richtig gut sogar.“

Kurt Brenner war ein Verhörspezialist. Er ließ sich nicht einfach aufs Glatteis führen; er war skeptisch. „Na, das freut mich zu hören. Obwohl: So ganz glauben kann ich es nicht, nachdem ich erfahren habe, was dieser Scheißkerl dir angetan hat. Du flunkerst mich doch nicht an oder machst dir selbst etwas vor, oder?“ Brenner ließ van Dyck nicht zu Wort kommen. „Mädchen, mach keinen Scheiß.“

Herma pustete eine Strähne aus ihrem Gesicht und tat empört. „Na, hör mal, Kurt. Was ist das denn für eine Begrüßung? Ich dachte, du freust dich über meinen Anruf.“

„Das tue ich ja auch, Herma. Wenn du jetzt hier neben mir stehen würdest, dann würde ich dich glatt in den Arm nehmen. Du fehlst uns – mir ganz besonders. Wenn es nach mir ginge, könntest du gleich wieder anfangen. Ich könnte jetzt eine gute Mordermittlerin gebrauchen. Da bahnt sich nämlich was an. Mertens hat mich schon vorgewarnt. Aber als dein Chef habe ich eine Fürsorgepflicht für meine Mitarbeiter – auch für meine Lieblingskollegin.“

Herma hatte die Neugier gepackt. Was bahnte sich da an? Offenbar ging es um eine Leiche. Sonst wäre Doktor Mertens nicht im Spiel, kombinierte die Hauptkommissarin. Sie traute sich vorerst aber nicht, Kurt zu fragen. „Also es ist wirklich so: Ich bin wieder fit. Das habe ich bald schwarz auf weiß.“

Brenner runzelte die Stirn. „Was meinst du mit schwarz auf weiß? Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst.“

„Na, dass ich wieder dienstfähig bin. Ich war doch bei diesem Rixinger, also, das ist der für mich zuständige Polizeiarzt und Psychologe. Der hat mich ausführlich exploriert und mir heute in aller Herrgottsfrühe mitgeteilt, dass ich wieder arbeiten darf. Vorerst halbtags, aber immerhin. Also ich könnte vor Glück Luftsprünge machen.“

Brenner kratzte sich mit dem Daumen an der linken Schläfe. „Ich kann kaum glauben, was ich da höre. Das ist ja toll. Mensch, Herma – welcome back. Und wann möchtest du anfangen, du verrücktes Huhn?“

Hermas Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Am liebsten sofort. Ich packe noch heute meine Siebensachen, schwinge mich in meinen Yeti und fahre nach Hameln.“

Der Erste Kriminalhauptkommissar atmete hörbar durch die Nase aus. Herma entging das nicht. „Was? Freust du dich etwa nicht?“

„Doch, doch, natürlich freue ich mich. Sehr sogar“, beeilte sich Brenner zu sagen. „Es ist nur“, stammelte der 1,94-Meter-Mann. „Ich möchte nur nicht, dass du dir zu früh zu viel zumutest. Dieser beschissene Anschlag ist noch nicht wahnsinnig lange her, verstehst du, was ich meine? Ich sehe dich immer noch, wie du halbtot im Krankenhaus liegst.“

Die krankgeschriebene Mordkommissarin wurde zunehmend nervöser. Ihr rechtes Bein fing zu zittern an. Herma heuchelte Brenner Verständnis vor. „Ich verstehe, was du meinst, Kurt. Aber ich kann dich beruhigen. Mir geht’s gut. Ich bin topfit. Ehrlich, das kannste mir glauben.“

Brenner kratzte sich an der Wange – er dachte nach. Einerseits machte er sich Sorgen um seine Kollegin, andererseits war Herma eine ausgezeichnete Todesursachen-Ermittlerin, die sein Team verstärken würde – gerade jetzt. „Okay, Herma. Ich kann deinen Tatendrang ja eh nicht stoppen. Wenn du das Okay von diesem Seelenklempner hast, dann schwing halt deinen Hintern hier runter. Aber bring mir bitte etwas Schriftliches mit.“ Der Leiter des FK 1 sprach in diesem Moment lauter, um zu verhindern, dass Herma ihn unterbrach. „Ist nichts gegen dich. Ich vertraue dir blind, aber ich muss etwas für die Akten haben. Ist das okay für dich?“

Herma antwortete ihrem Chef kleinlaut: „Ja, Kurt. Ist doch klar. Sollst du haben. Kannst dich auf mich verlassen. Wie immer. Aber sag mal: Was ist das denn für ein Fall, an dem ihr da arbeitet? Du sagtest doch zu Beginn unseres Gesprächs, du könntest eine Mordermittlerin wie mich jetzt gut gebrauchen.“

„Ja, das stimmt. Die Rechtsmedizin hat gestern angerufen. Die sind bei der Autopsie auf etwas gestoßen. Glaubt jedenfalls Doktor Mertens. Toxikologische Untersuchungen laufen. Näheres weiß ich noch nicht.“

Herma war wie elektrisiert. „Bei welcher Autopsie, Kurt? Lass dir nicht jeden Wurm aus der Nase ziehen.“

Brenner räusperte sich. „Ähm ... Sorry, ja stimmt, das kannst du ja nicht wissen. In einer Wohnung wurde die Leiche einer Frau gefunden. Sie war ...“ Brenner suchte seine handschriftlichen Notizen, wühlte mit der linken Hand einen Papierstapel durch, fand den Zettel aber nicht. „Ja, wo habe ich denn die Daten? Verflixt und zugenäht ... Sie war noch nicht so alt. Mitte dreißig, glaube ich. Wenn ich mich richtig erinnere. Also, was ich sagen wollte: Die Staatsanwaltschaft hat eine Obduktion angeordnet. Mertens konnte keine Hinweise auf Fremdverschulden entdecken. Damit war der Fall eigentlich erledigt. Am nächsten Tag hat er mich angerufen, also Mertens, und mir gesagt, er habe die Leiche ein zweites Mal untersucht. Frag mich nicht, warum. Vielleicht, weil sie Ärztin war. Keine Ahnung. Jedenfalls hat er wohl noch einmal genauer hingeschaut und eine verdächtige Stelle am Kopf der Toten entdeckt. Der Doc meint, es könnte sich um eine Einstichstelle handeln. So, nun weißt du alles, was ich weiß. Ich warte jetzt auf das Ergebnis der Laboranalyse.“

Herma hatte Blut geleckt. „Hm ... Also, wir haben es vermutlich mit einem heimtückischen Giftmord zu tun“, stellte sie trocken fest. Brenner druckste herum. „Könnte sein. Aber noch ist es zu früh, das sagen zu können.“

„Alles klar, Kurt. Das klingt spannend. Ich packe jetzt meine Koffer, fahre bei diesem Polizeipsychologen in Oldenburg vorbei, hole mir bei ihm diesen Wisch ab, den du brauchst, und komme nach Hameln. Morgen stehe ich bei dir auf der Matte. Also, wenn das wirklich ein Giftmord ist, dann möchte ich zur Aufklärung dieses Falles beitragen. Gift, hm ... Ich vermute, wir suchen eine Frau.“

Der Erste Kriminalhauptkommissar musste herzhaft lachen. „Keine vorschnellen Schlüsse. Noch ist es nur ein Verdacht. Erst mal sehen, was das Labor sagt. Vielleicht ist Frau Stern ja nur von irgendeinem Insekt gestochen worden. Dann können wir das unter der Rubrik ,Viel Aufregung um nichts‘ verbuchen. Wäre nicht das erste Mal. Falls nicht, bist du dabei, okay?“

Herma hatte ein Lächeln auf den Lippen. Sie konnte es kaum abwarten, wieder zu arbeiten. „You made my day“, sagte die Ostfriesin. „Mach’s gut, Kurt. Wir sehen uns.“

„Mach’s besser, Herma. Und fahr vorsichtig. Tschüss.“ Die beiden Mordermittler beendeten das Gespräch. Während Kurt Brenner die Hände hinter seinem Kopf verschränkte und sich auf seinem Drehstuhl zurücklehnte, machte Herma van Dyck in ihrem Wohnzimmer Luftsprünge.