Kapitel 21
Im Saal herrschte Totenstille. Doktor Karl Mertens beugte sich über die komplett geöffnete Bauchhöhle eines 58 Jahre alten Mannes, dessen Leiche im Mittellandkanal bei Berenbusch in der Nähe von Bückeburg gefunden worden war. Herz, Lungen und Halsorgane hatte er bereits entnommen, mit einem scharfen Skalpell und einem langen Parenchym-Messer aufgeschnitten und untersucht. Die behandschuhten Hände des Rechtsmediziners steckten nun im kleinen Becken des Toten. Mit einem Messer trennte der Rechtsmediziner zunächst den Enddarm vom Schließmuskel und hob danach den Magen mitsamt dem Gedärm aus der Grube. Von seinen Handschuhen tropften hellrotes Blut und eine bräunliche Flüssigkeit auf den Seziertisch. Mertens legte die Organe am Fußende des Toten ab und säuberte sie mit reichlich Wasser, um mögliche äußere Verletzungen und eventuelle Veränderungen durch Tumore besser erkennen zu können. Nach der äußeren Besichtigung setzte der Forensiker zu einem weiteren Schnitt an. Er wollte sich jetzt den Mageninhalt und dessen Verdauungszustand näher anschauen. Gemeinsam mit vielen anderen Faktoren konnten Gerichtsmediziner daran erkennen, wann ein Mensch gestorben war. Während Doktor Mertens versuchte, die Überreste der Speisen, die der Mann, der vor ihm auf dem Edelstahltisch lag, zuletzt zu sich genommen hatte, zu identifizieren, spürte er plötzlich eine Hand auf seiner linken Schulter. Mertens erschrak und zuckte zusammen. Er drehte sich um und sah in die gütigen Augen eines belustigten Kollegen. Der rechtsmedizinische Toxikologe Doktor Stefan Dehlius war zu ihm gekommen, um ihm das Ergebnis der von Mertens in Auftrag gegebenen Augenwasser-Analyse persönlich mitzuteilen.
„Na, mein Lieber“, sagte Dehlius. „Warum so schreckhaft? Hast du etwa auf deine alten Tage Angst davor, dass einer deiner Patienten aus seinem Kühlfach steigt?“ Mertens lachte verlegen. „Du, ich arbeite konzentriert und mag es überhaupt nicht, wenn sich jemand von hinten an mich heranschleicht. Das ist alles.“ Der Rechtsmediziner blickte lächelnd auf seine blutverschmierte rechte Hand, in der er ein spitzes Messer hielt. „Das gilt für die Lebenden und für die Toten. Du siehst ja: Ich weiß mich zu wehren.“ Dehlius hob abwehrend seine beiden Hände. „Na, na, na, alter Knabe. Wer wird denn gleich ...“ Die beiden Freunde brachen in Gelächter aus. Mertens schielte auf ein zerknittertes Papier, das der Giftexperte in seiner Rechten hielt und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Dokument. „Was hast du für mich? Los, sag schon.“
„Das hier ...“, sagte Dehlius und wedelte freudestrahlend mit den Aufzeichnungen in der Luft herum, so als wolle er mit dem Zettel einen unsichtbaren Mückenschwarm verscheuchen, „... ist die Analyse, die du so dringend haben wolltest. Na, ging das nicht schnell?“
„Ja, du bist ein ganz fixer Junge – jedenfalls, wenn es dir gefällt. Das weiß doch jeder. Dafür bin ich dir auch sehr dankbar. Nun sag schon. Was hast du herausgefunden?“
Stefan Dehlius setzte eine ernste Miene auf. „Du hattest den richtigen Riecher, Karl. Diese Frau ... äh ... Stern oder wie die hieß ... ist tatsächlich an einer Überdosis Insulin gestorben. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Du kannst jetzt die Polizei informieren. Du hast tatsächlich ein Tötungsverbrechen aufgedeckt, alter Knabe. Darfst stolz auf dich sein.“
Mertens stand mit ausgebreiteten Armen vor Dehlius. Seine OP-Maske verdeckte sein breites Grinsen. Aber seine im kühlen Neonlicht funkelnden Augen zeigten deutlich, dass er sich freute. Normalerweise hätte er sich jetzt mit einer Hand durch sein schütteres Haar gefahren oder verlegen an der Schläfe gekratzt, aber angesichts seiner blutigen Latex-Handschuhe musste er sich zwingen, auf diese Angewohnheit zu verzichten. „Danke, Stefan“, sagte Mertens. „Und wie schon gesagt: Ich bringe dir morgen ein schönes Fläschchen vorbei. Das hast du dir verdient. Ich habe da einen ganz edlen Tropfen in meinem Keller.“ Mit seinem Kopf deutete er auf die aufgeschnittene Leiche, die breitbeinig und mit geöffnetem Schädel auf dem Seziertisch lag. „Ich beende nur noch rasch die Autopsie. Dann informiere ich die Kripo.“
„Ja, mach das, mein Lieber“, sagte Dehlius im Weggehen und hob seine rechte Hand, als wolle er damit zum Abschied winken. „Und ganz liebe Grüße an Barbara.“
Mertens wandte sich wieder der halb ausgeweideten Leiche zu. Er bat seinen Assistenten Doktor Klaus Martin, eine Probe des Mageninhalts zu asservieren und schaute sich Prostata, Blase und Harnröhre des Toten genauer an. Eine Stunde später streifte der Obduzent die blauen Handschuhe und die lindgrüne Maske ab.
Während Präparator Hermann Schmidt die Leiche zunähte, suchte Doktor Mertens sein Diktiergerät. Er fand es auf dem kleinen Tischchen, an dem für gewöhnlich die Polizeibeamten saßen, die einer Autopsie beiwohnten. Vom Fachkommissariat 1 der Polizeiinspektion Nienburg/Schaumburg war heute niemand erschienen. Die Grippewelle hatte die Todesursachenermittler nicht verschont. Klack, klack. Mertens drückte auf die Aufnahmetaste und diktierte den vorläufigen Autopsie-Bericht. Am Ende fasste er zusammen: „Bei der äußeren und bei der inneren Leichenschau wurden keine Hinweise gefunden, die auf ein Fremdverschulden hindeuten. Wasser in den Lungen spricht für Tod durch Ertrinken. Allerdings war bei der Eröffnung des Magens ein intensiver Alkoholgeruch wahrnehmbar. Wir empfehlen deshalb eine toxikologische Analyse des Mageninhalts und der Körperflüssigkeiten, in diesem Fall Blut und Urin. Entsprechende Proben wurden vorsorglich sichergestellt. Gezeichnet: Doktor Karl Mertens, Leitender Oberarzt, stellvertretender Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts der Medizinischen Hochschule Hannover.“ Klack.
Der Anwalt der Toten stellte das Aufnahmegerät zurück auf den Tisch und zog sich den Kittel aus. Dann verließ er schnellen Schrittes den Saal und ging hinauf in sein Arbeitszimmer.
Wenige Minuten später stand Mertens vor seinem mit Akten und hastig vollgekritzelten Notizzetteln überladenen Schreibtisch – er setzte sich lässig auf die Tischkante, schnappte sich seinen Dienstapparat und tippte die Nummer des Leiters des für Mord und Totschlag zuständigen Chefermittlers in Hameln in das Tastenfeld ein. Mertens war etwas außer Atem. Die letzten Treppenstufen war er mehr hochgelaufen als -gegangen. Der Rechtsmediziner konnte es kaum abwarten, Kurt Brenner über die neuesten Erkenntnisse zu informieren. In seinem Kopf schwirrte aber noch ein anderer Gedanke umher, der den Verdacht nahelegte, dass der Fall Nadja Stern nur die Spitze eines Eisbergs war.
Kurt Brenner hob schon nach dem zweiten Klingeln ab. Karl Mertens hatte das Gefühl, dass der Erste Kriminalhauptkommissar schon auf seinen Anruf gewartet hatte.
„Hier ist Brenner, guten Tag, Herr Doktor“, hörte Mertens eine sonore Stimme sagen. „Hallo, Herr Hauptkommissar“, sagte der Mediziner. „Wie geht es Ihnen?“ Brenner lachte. „Das kommt ganz darauf an, was Sie mir gleich mitteilen werden.“
Mertens schob kurz seine Zunge zwischen die Lippen, holte tief Luft. „Also, Herr Brenner, ich falle gleich mal mit der Tür ins Haus: Nadja Stern ist definitiv Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Es ist nämlich so, dass ...“ Brenner ließ den Gerichtsmediziner nicht ausreden. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Also, dann hat sich Ihr Verdacht, dass sie vergiftet wurde, bestätigt, ja?“ Mertens stieß sauer auf, dass ihm der Chefermittler ins Wort gefallen war. Er fuhr Brenner schärfer an, als ihm lieb war. „Wenn Sie mir nicht ins Wort gefallen wären, hätten Sie sich diese Frage sparen können. Hören Sie mir doch bitte zu.“ Brenner, der ungeduldig mit seinen Fingern auf der Tischplatte getrommelt hatte, war erstaunt über die schroffe Reaktion des Gerichtsmediziners. So kannte er Mertens gar nicht. Normalerweise war der Arzt die Höflichkeit in Person. „Entschuldigen Sie bitte. Fahren Sie bitte fort, Herr Doktor.“
Der Forensiker räusperte sich. „Also ... Frau Stern wurde nicht vergiftet. Jedenfalls nicht im wissenschaftlichen Sinne. Der Täter hat ihr ein Hormon gespritzt. Insulin. Das ist extrem schwer nachzuweisen, weil es ja ohnehin im Körper vorhanden ist. Man muss schon genau wissen, wonach man sucht – oder eine Einstichstelle entdecken. Abschließend würde ich sagen: Der Täter wusste, was er tat. Er hat die tödliche Dosis absichtlich in die Kopfschwarte der Frau gespritzt – also dorthin, wo ein winziger Einstich kaum zu finden ist. Nur Insider wissen, dass wir Rechtsmediziner die Haare dort erst dann entfernen, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt – zum Beispiel, wenn wir Schuss-, Hieb-, Stich- oder Schlagverletzungen freilegen müssen, um diese eingehender untersuchen zu können. Bei einer äußerlich unversehrten Leiche tun wir das für gewöhnlich nicht. Aber vielleicht ist das auch nur ein Zufall. Es ist ja auch Ihr Part, das herauszufinden.“
Brenner hatte Mertens geduldig zugehört und sich Notizen gemacht. Der Erste Kriminalhauptkommissar wartete zwei Sekunden, um sicher zu sein, dass Mertens ausgeredet hatte, dann hakte er nach. „Also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hat der Mörder gezielt und planvoll gehandelt, richtig?“
„Nun, das hat zwar später das Gericht zu entscheiden, aber wenn Sie mich fragen, dann hat der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit dieser Frau ausgenutzt. Betäubt oder betrunken war sie jedenfalls nicht, als er ihr das Insulin verabreicht hat. Das zeigen uns die Laborwerte. Die Frau muss demjenigen, der ihr das angetan hat, blind vertraut haben. Anders ist das alles nicht denkbar.“
In Brenner arbeitete es. Er wollte Mertens mit seiner nächsten Frage nicht verletzen, redete aber trotzdem Klartext. „Hm ... Und dass sich Frau Stern das Insulin selbst gespritzt hat, können Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen?“
Mertens reagierte anders als erwartet. Er lachte laut: „Natürlich nicht zu 100 Prozent. Sie wissen ja: Es gibt auf dieser Welt nichts, was es nicht gibt, aber: Nehmen wir an, Frau Stern hätte sich selbst getötet – dann wären Ihre Damen und Herren Ermittler ja wohl am Leichenfundort über eine Spritze gestolpert, oder? Gegenfrage: Können Sie ausschließen, dass Ihre Mitarbeiter eine Spritze übersehen haben, Herr Brenner?“
Der oberste Mordermittler musste schlucken. „Ja, ich denke schon.“
„Gut“, sagte Doktor Mertens. „Dann wären wir uns ja einig: Frau Stern dürfte vorsätzlich und heimtückisch getötet worden sein – und zwar auf eine sehr perfide Art. Einen Totschlag oder eine Affekttat können wir in der Gesamtschau wohl ausschließen. Aber ich bin kein Jurist.“
„Ja, da stimme ich Ihnen allerdings zu. Eine Frage noch: Wann ist Nadja Stern gestorben?“
Brenner hörte wieder das Rascheln von Papier. „Eine Sekunde. Da muss ich nachschauen. Warten Sie bitte einen Moment. Der vorläufige Obduktionsbericht muss noch getippt werden, aber ich habe hier irgendwo meinen Spickzettel.“
Doktor Mertens zog eine Notiz aus einem Papierstapel. „Ah, ja ... Richtig. Also, Frau Stern war schon drei bis vier Tage tot, als ihre Leiche entdeckt wurde. Der Fäulnisprozess hatte schon eingesetzt, die Leichenflecke ließen sich nicht mehr wegdrücken – und ja: Die Totenstarre war auch schon nicht mehr vorhanden. Sie wissen ja: Innerhalb der ersten acht, neun Stunden kann man die Totenstarre noch durch kraftvolles Bewegen der Gliedmaßen lösen. Später geht das nicht mehr. Dann aber kommen Bakterien ins Spiel, setzt die Fäulnis ein. Nach zwei bis drei Tagen löst sich die Totenstarre von selbst. Das war im vorliegenden Fall so.“
Im Kopf rechnete Brenner den mutmaßlichen Todeszeitpunkt aus. „Danke, gute Arbeit, Doc. Ohne Ihre Gründlichkeit hätte Frau Stern ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Hm ... Das ist eine harte Nuss, die wir jetzt zu knacken haben.“
Mertens freute sich über das Lob des Mordkommissars. „Ich fürchte, es kommt noch schlimmer.“ Der oberste Mordermittler von Hameln wurde hellhörig. „Wieso?“, wollte Brenner wissen. „Nun, Frau Stern hatte ein rot-weißes Freundschaftsbändchen am Handgelenk. Ich habe so ein Bändchen schon einmal gesehen. Kurz bevor ich die zweite Obduktion bei Frau Stern gemacht habe, war ich im Krematorium in Lahe. Dort habe ich bei einer zweiten Leichenschau, die bekanntlich bei einer Feuerbestattung gesetzlich vorgeschrieben ist, eine Fäulnisleiche untersucht. Diese Frau trug auch so ein Freundschaftsband.“
Brenner verstand nicht, was ihm der Gerichtsmediziner damit sagen wollte. „Worauf wollen Sie hinaus? Das tragen doch bestimmt viele Frauen und Männer.“
„Schon möglich, aber ich sehe solche Bänder in meinem Institut nur noch höchst selten. Scheint aus der Mode gekommen zu sein. Kommt hinzu: Auch die Frau, die ich im Krematorium untersucht habe, wohnte in Hameln. Vielleicht hat das ja auch nichts zu bedeuten, aber ich wollte es wenigstens erwähnt haben.“
Kurt Brenner kaute nachdenklich auf seinem Daumennagel. „Sie meinen also ... äh, Sie vermuten da einen Zusammenhang, nicht wahr?“
Doktor Mertens hatte schon mit dieser Frage gerechnet. Er grinste in sich hinein. „Ich pflege in solchen Situationen immer ,Toyota‘ zu sagen. Meine Studenten kennen das schon.“ Brenner runzelte mit der Stirn. „Das ist mir jetzt zu hoch, Herr Doktor. Bitte Klartext.“
„Na, Herr Brenner. Sie kennen doch den Werbespruch dieses Autoherstellers: Nichts ist unmöglich. Das wollte ich damit zum Ausdruck bringen.“
„Ach so, jetzt verstehe ich.“ Nun musste auch Brenner grinsen. „Ja klar, logisch: Toyota.“
Mertens räumte ein: „Ich gebe zu, mein Hinweis ist sehr vage, aber verdächtig ist das schon.“ Brenner ging nicht weiter darauf ein. Er wusste, dass der Forensiker kein Schwätzer war. Der Mordermittler folgte seinen Instinkten, hatte längst seine Ermittlungen aufgenommen: „Wie ist denn diese andere Frau zu Tode gekommen?“, frage Brenner nach. „Tja, da treffen Sie jetzt einen wunden Punkt, Herr Hauptkommissar. Ich konnte die Todesursache bei der äußeren Besichtigung der Leiche nicht feststellen. Der Fäulnisprozess war schon zu weit fortgeschritten, und ich hatte die Tote ja auch nicht auf meinem Tisch.“
Brenner ahnte in diesem Moment bereits, dass viel Arbeit auf ihn und seine Mitarbeiter zukommen würde. „Und wie heißt diese Frau?“
Wieder war Geraschel zu hören. „Einen kleinen Sack Zement, bitte“, sagte Mertens, der wohl witzig sein wollte. „Ah, da habe ich ja den Totenschein. Der Name ist: Heide-Marie Roth. Alter: 69. Sie ist leblos zu Hause aufgefunden worden. Adresse: Fredenbecker Landstraße 35a. Als Todesursache hat der Hausarzt, ein gewisser Doktor Hans-Hermann Varadin oder so ähnlich, die Handschrift ist unleserlich, lediglich ,Verdacht auf Herzinfarkt’ notiert. Todeszeitpunkt: 27. Januar 2020 um 21.35 Uhr. Das ist alles. Mehr habe ich nicht.“
Brenner hatte sich die Angaben in seinem grauen Merkbuch notiert. „Okay, das habe ich. Wir gehen der Sache nach. Ach ja: Können Sie die Leiche noch anhalten – oder ist das jetzt zu spät?“
„Ich fürchte, ja“, antwortete Doktor Mertens. „Die Tote ist sicher längst eingeäschert worden.“
„Bitte fragen Sie trotzdem nach“, sagte Brenner. „Man kann nie wissen. Und: Gut, dass Sie uns den Hinweis gegeben haben, auch, wenn von der Toten wohl nur noch Asche übrig ist.“ Mertens antwortete auf Latein, lieferte die Übersetzung aber gleich mit: „Potius sero quam numquam – heißt: Besser spät als nie.“