Kapitel 23

Herma hielt ihr Gesicht in den Wind, ließ ihn mit ihren dünnen blonden Haaren spielen und sog die salzige Luft ein, die der eisige Nordwestwind zu ihr über den nahen Deich wehte. Sie schloss ihre Augen, atmete tief ein und aus. Die dürren Zweige der kahlen Bäume schienen im Sonnenlicht um die Wette zu zittern. Sie hörte das leise Rascheln des Schilfgrases und das geheimnisvolle Knarren der knorrigen Äste. Herma hatte ihre Koffer und Taschen gepackt – sie warteten im Flur ihrer urigen Kate darauf, in den schwarzen Yeti gepackt zu werden, der in der Einfahrt stand. In Momenten wie diesen quälten Herma wieder einmal Selbstzweifel. Im Stillen dachte sie darüber nach, ob sie wirklich schon so weit war, wie sie es Rixinger und Brenner weisgemacht hatte. Machte sie sich selbst etwas vor? Neigte sie zur Selbstüberschätzung? Was, wenn sie im Job scheitern würde? Davor hatte sie panische Angst. Herma gestand sich ein, wankelmütig zu sein. Sie ging in den Vorgarten und schaute wehmütig auf ihr kleines Haus am Deich. In ihrer Brust schlugen zwei Herzen – einerseits liebte sie dieses raue platte Land, in dem sich die Bäume vor dem Wind verneigten, andererseits wollte sie so schnell wie möglich wieder im Weserbergland mit ihren Kollegen Verbrecher jagen. Die Arbeit fehlte ihr. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Hameln nicht aus der Welt war und sie dort nur 300 Kilometer von ihrer ostfriesischen Heimat trennten. Herma verstaute ihre Siebensachen in ihrem Wagen, dann zog sie die Haustür hinter sich ins Schloss und drehte den Schlüssel zweimal um. „Tschüss, schönes Haus“, sagte sie, so als würde sie sich von einem alten Freund verabschieden. Herma van Dyck setzte sich in ihren Škoda und startete den Motor. Sie bog von ihrem Grundstück nach rechts auf die Grüne Küstenstraße ab, die parallel zum Seedeich verlief, und steuerte den Hafen von Bensersiel an. Die Mordkommissarin hatte bereits ein Kilogramm Ostfriesentee des Emder Teehauses Thiele und Freese im Gepäck, jetzt wollte sie sich noch einen ganz besonderen Leckerbissen gönnen – eine Delikatesse, die es so frisch nur im hohen Norden zu kaufen gab.

Im Westhafen stand der Imbiss-Wagen von Jann Linneberg. Der alte Fischer verkaufte täglich fangfrischen Granat, den er im Wattenmeer zwischen Bensersiel und Neuharlingersiel mit seinem 16-Meter-Kutter „Edelweiß“ gefangen hatte. Herma besaß die Handynummer des Kapitäns. Sie hatte ihn schon am Morgen an Bord angerufen und bei dem Seebären zwei Kilo garantiert nicht konservierte Nordseegarnelen bestellt. Jetzt war es 13 Uhr durch. Zu dieser Zeit würde der Krabbenkutter vor der Fischbude anlegen und Linneberg seine auf dem Holzboot in kochendem Salzwasser gebrühte Fracht löschen. Herma lief schon jetzt das Wasser im Munde zusammen. Sie freute sich darauf, nach ihrer Rückkehr in Hameln an ihrem Küchentisch zu sitzen und Granat zu pulen. Sie würde die CD „Küstenklänge“ in den Player schieben, auf der auch die ihr vertraute Stimme des Krabbenfischers zu hören war. Linneberg war ein be­gnadeter Sänger – er gab den ersten Bass. Herma liebte insbesondere die melancholischen Seemannslieder des inzwischen international erfolgreichen Shanty-Chores aus Carolinensiel, in dem der Fischer Mitglied war. Die Sänger zählten zu den aktivsten an der Nordseeküste, sie waren aber auch schon in zahlreichen europäischen Ländern und sogar im fernen Kanada aufgetreten und mit einer Goldenen Schallplatte und einer Goldenen CD ausgezeichnet worden.

Die Vorfreude auf frische Krabben und eine kalte Weinschorle zauberte ein Lächeln auf das Gesicht der Kommissarin. Herma hatte die kleinen Schalentiere schon als Kind gepult. Für ein Kilo brauchte sie weniger als 45 Minuten. Krabben pulen war nicht jedermanns Sache. Herma beherrschte die Fingertechnik aus dem Effeff. In Neuharlingersiel hatte sie einmal einen Wettbewerb gewonnen. Das war zwar lange her. Aber hatte man den Kniff erst einmal heraus, war das so wie Fahrrad fahren. Man verlernte es nicht mehr. Sogar mit verbundenen Augen hätte Herma den mit langen Fühlern ausgestatteten Kopf einer Garnele zwischen Daumen und Zeigefinger fixieren, mit ihrer linken Hand das Hinterteil greifen und ohne Druck drehen können. Brach der Panzer in der Mitte auf, musste sie nur noch die hintere Hälfte des Krabbenpanzers vom schmackhaften Fleisch abziehen. Fangfrische Krabben schmeckten nach Meer. Bei dem Gedanken leckte sich Herma unbewusst über ihre roten Lippen. Sofort breitete sich in ihrem Mund ein intensives Fruchtaroma aus. Ihr aktuelles Lipgloss schmeckte nach Kirsche.

Herma ließ das Hotel Nordstern links liegen, bog in Westbense nach rechts in Richtung Bensersiel ab. Wenige Minuten später parkte sie ihren Geländewagen neben Linnebergs Kutter, zog den Schlüssel ab und stieg aus. Es war Ebbe. Herma schaute von der Kaimauer hinunter zur „Edelweiß“. Der Käpt’n war nicht mehr an Bord. Vermutlich saß er daheim und wärmte sich am Ofen. Die Kommissarin wurde schon von Maike, die im Verkaufswagen stand, begrüßt. „Moin, Herma. Zwei Kilo Granat ohne Konservierungsmittel ... Bitte schön. Hier sind sie.“ Maike hielt lächelnd einen schwarzen Baueimer in den Händen. „Warte, ich fülle dir die Krabben in zwei Plastiktüten.“ Während Maike mit den hauchdünnen im Wind flatternden Tüten kämpfte, legte Herma wortlos einen 20-Euro-Schein auf den Tresen aus Glas und beschwerte ihn mit einer Riesenmuschel. Es war die Schale einer pazifischen Felsenauster, die sich zunehmend in der südlichen Nordsee breitmachte. Noch vor 20 Jahren waren solche Muscheln eine Seltenheit. Herma konnte sich nicht erinnern, jemals beim Baden hinterm Deich auf eine Auster getreten zu sein. Heute musste sie beim Wattwandern und Schwimmen höllisch aufpassen, nicht Bekanntschaft mit einer dieser scharfkantigen Schalen zu machen. Die Nordseefischer befürchteten, dass die Pazifischen Austern die einheimischen Muschelarten verdrängen, denn sie wuchsen schnell und hatten keine Fressfeinde. Nicht einmal die heimischen Winter konnten ihnen etwas anhaben – dafür waren sie viel zu mild.

„Macht 16 Euro“, sagte Maike und schob die Krabbentüten über den Tresen. „Danke, der Rest ist für die Kaffeekasse“, erwiderte Herma und winkte der Tochter des Fischers zum Abschied zu. „Und ganz liebe Grüße an Jann“, schob die Kommissarin hinterher. „Jo, wird gemacht. Der ...“, hörte sie Maike sagen. Den Rest des Satzes wehte der auffrischende Wind fort.

Herma öffnete den Yeti, legte die Nordseegarnelen hinter den Fahrersitz und nahm dann hinter dem Steuer Platz. Sie startete den Motor und verließ den Hafen. Die Kommissarin schaute auf ihre Armbanduhr. Kurz vor halb zwei. Wenn sich der Verkehr auf den Autobahnen, die in Richtung Hannover führten, nicht staute, und Doktor Rixingers Persilschein – wie telefonisch vereinbart – für sie am Empfang des Polizeipsychologischen Dienstes bereitlag, konnte sie in vier Stunden in Hameln sein. Für die Fahrt nach Oldenburg brauchte sie keine sechzig Minuten. Dass Rixinger heute frei hatte, kam ihr gerade recht. Sie hatte keine Lust auf dieses Psychogequatsche. Zum Glück hatte der Psychologe Wort gehalten. In Oldenburg musste sie nur aus ihrem Wagen springen und die Papiere, die für ihren Chef und den Direktor der Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden bestimmt waren, abholen. Kurz darauf fuhr Herma zurück zur Autobahn. Vorbei an Osnabrück und Bad Oeynhausen ging’s zügig in Richtung Weserbergland. Die Fahrt über die Autobahnen 29, 1, 30 und 2 verlief ohne Probleme. Obwohl ein Werktag war, kam sie gut durch. Kein Stau, kein zäh fließender Verkehr. Als NDR 1 Niedersachsen „Leinen los, volle Fahrt“ spielte, musste sie wieder an den alten Linneberg denken. Er hatte ihr eine Einladung zu seinem Geburtstag geschickt. Sie hatte sich sehr darüber gefreut. Am 22. April wurde der Fischer 70. Jann und Herma verband eine lange Freundschaft. Schon als Kind hatte sie ihn bei seinen Fangreisen im Wattenmeer begleitet – bei Wind und Wetter. Für Herma war es ein Ferienspaß, für Jann harte Arbeit gewesen. Die Schwielen an den Händen des Nordseefischers zeugten davon. Wie oft hatte ihr der alte Seebär bei einer Tasse Tee aus seinem Leben erzählt. Es waren Geschichten über harte Zeiten und furchtbare Schicksalsschläge, über die Freiheit auf See und die Unbarmherzigkeit der Naturgewalten gewesen. Herma drehte das Autoradio lauter und sang mit: „Der Abschied fällt schwer / Sag mein Mädchen ade / Leinen los / Volle Fahrt Santiano / Die Tränen sind salzig und tief wie das Meer / Doch mein Seemannsherz brennt lichterloh.“

Herma liebte diese Lieder. Sie standen für Träume, Sehnsucht und Lebenslust. Wenn sie Santiano hörte, musste die Ostfriesin immer an den vollbärtigen Seemann und Shanty-Sänger Jann Linneberg denken. Er fuhr schon länger zur See, als sie auf der Welt war. 1964, lange vor Hermas Geburt, hatte Linneberg bei seinem Vater angeheuert, um den Beruf des Fischers zu erlernen. Er hatte ihr oft mit stolzgeschwellter Brust davon erzählt. Die Linnebergs fuhren in sechster Generation zur See. Herma hatte dem Krabbenfischer immer andächtig zugehört – keiner konnte so gut Seemannsgarn spinnen wie er.

Während sie auf der A2 bei Bad Oeynhausen über die Weserflutbrücke düste, sah sie den Alten mit erhobenem Zeigefinger vor sich – sie hörte ihn sagen: „Mädchen, das war eine unerbittliche Lehre. Dat kannst mi glöven. Aber das hat sich für mich ausgezahlt. Ich hatte schon mit 19 mein Kapitänspatent in der Tasche.“ Seine Eltern wussten früh, dass ihr Sohn seinen Weg machen würde – als Jann 16 war, kauften sie ein zweites Schiff. Es hieß „Edelweiß“ und war seit mehr als 50 Jahren Janns erste Liebe. Der Name des Kutters passte zwar nicht so recht in den hohen Norden, doch den Fischkutter umzutaufen, kam für Linneberg nicht infrage. „Das bringt Unglück“, hatte er Herma einmal gesagt.

Linneberg und van Dyck hatten eines gemein – sie brauchten das Meer und den Sturm, den ewigen Gezeitenstrom und die farbenfrohen Sonnenuntergänge wie die Luft zum Atmen. „Das Fischen, die raue See und die Freiheit – das ist mein Leben“, wurde Linneberg nicht müde, zu erklären. Herma konnte ihren väterlichen Freund gut verstehen. Sie mochte ihn gern. Linneberg erinnert sie an ihren Vater – der Küstenfischer hatte eine raue Schale und ein weiches Herz, er war eine ehrliche Haut und äußerst zuverlässig, ein Mann mit Ecken und Kanten – oder wie Linneberg scherzhaft und spitzbübisch lächelnd auf Platt sagen würde: „Een leevn Jung, wenn he slöpt.“

Kurz nach Einbruch der Dämmerung erreichte van Dyck Hameln. Um 17.30 Uhr setzte sie den Blinker und bog mit ihrem SUV von der Deisterstraße in die Koppenstraße ab. Es war eine ruhige Straße, in der sie seit Herbst 2016 wohnte. Nach 400 Metern stellte sie ihren Wagen vor dem weißen Sechsfamilienhaus, dessen Kristallputz im Schein der Straßenlaternen wie eine Diskokugel glitzerte, ab – ausgerechnet an der Stelle, an der sie im Dezember vergangenen Jahres von einem Serienmörder überfallen und beinahe getötet worden war.

Herma beschlich sofort ein ungutes Gefühl. Sie war ein wenig abergläubisch, aber sie hatte keine andere Wahl – es war kein anderer Parkplatz frei. Als Herma aus dem Yeti stieg, blickte sie sich um. Die Ostfriesin schüttelte sich. Angst kroch in ihr hoch. Ihr Herz pochte, ihre Nackenhaare hatten sich aufgestellt, Adrenalin schoss durch ihren Körper. Herma fühlte sich nicht wohl in ihrer Gänsehaut. Sie bekam eine Panikattacke, schnappte sich hektisch die mit den leicht verderblichen Nordseekrabben gefüllten Beutel und schloss ihr Auto ab. Sie musste erst einmal zur Ruhe kommen und beschloss, den Wagen morgen auszuladen – kurz bevor sie sich bei ihrem Chef Kurt Brenner zum Dienst zurückmelden würde.