Kapitel 24

Er saß in einem Schaukelstuhl aus poliertem Ebenholz und bohrte gelangweilt in der Nase. Seine Füße, die in halbhohen Lederschuhen steckten, ruhten auf einem Stahltresor, den er mit einer Brechstange, die er in der Garage gefunden hatte, von der Schlafzimmerwand gerissen hatte. Den Panzerschrank hatte er hinter Erika Modders langen Faltenröcken in der äußersten rechten Ecke des Kleiderschranks entdeckt. Um besser an den gut versteckten und mit fingerdicken Schrauben fixierten Würfeltresor heranzukommen, hatte Petrov das reich verzierte Möbel kurzerhand mit einer Axt zerlegt.

Die Suche nach dem Schlüssel war ohne Erfolg verlaufen. Deshalb hatte er den Tresor auf eine Wolldecke gewuchtet, ihn darauf aus dem Zimmer gezogen und ihn dann mit dem Fuß die Treppe hinuntergestoßen. Dass der zentnerschwere Stahlbehälter die aus Marmor und Onyx gefertigten Stufen beschädigte, hatte ihn nicht weiter gestört. Er wusste, dass er nicht lange in der Fabrikantenvilla bleiben konnte, also waren ihm die Schäden, die er anrichtete, völlig egal. Irgendwann musste das Verschwinden der Witwe auffallen. Das war ihm klar. Den Stahlschrank hatte er bei geschlossenen Jalousien mit einem Winkelschleifer, der wohl einmal Otto Modder gehört hatte, aufgeschnitten. Es war eine schweißtreibende Arbeit gewesen. Am Ende war er zu der Überzeugung gelangt, dass er sich den Inhalt – um was immer es sich auch handeln würde – redlich verdient hatte. Der meterlange Funkenschweif aus rasch verglühenden Metallpartikeln, der beim Auftrennen des Panzerschranks entstanden war, hatte in einem handgeknüpften Orientteppich aus feiner chinesischer Seide zahlreiche kleine Brandlöcher hinterlassen und schließlich einen Schwelbrand verursacht. Er hatte die qualmende Brandstelle aber zum Glück rechtzeitig bemerkt und das Feuer austreten können. Petrov hatte das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Er konnte mit dem, was er gefunden hatte, zufrieden sein. 25000 Euro in bar, Goldschmuck, teils mit Brillanten und Rubinen besetzt, historische Münzen und ein hochwertiges Silberbesteck.

Er kannte einen Hehler in Bulgarien, der ihm dafür locker 15000 bis 20000 Euro geben würde. Sein Aufkäufer hieß Daniel Krylov – er arbeitete als Juwelier in der verwinkelten Altstadt von Plovdiv und betrieb dort einen kleinen Schmuckladen. Petrov kannte ihn seit mehr als zehn Jahren, er hatte mit ihm schon des Öfteren gute Geschäfte gemacht. Bei dem alten Krylov gingen Einbrecher, Trickdiebe und Raubgräber ein und aus. Die Gendarmerie ließ ihn gewähren – sogar Polizisten kauften bei dem Schmuckhändler ein.

Peter Petrov kratzte sich an der Stirn – der Grenz­übertritt bereitete ihm Kopfzerbrechen. Er musste die heiße Ware außer Landes schaffen, ohne dabei von der Bundespolizei oder vom Zoll erwischt zu werden. Zwar gab es ein Europa ohne Grenzen, aber die Gefahr, in eine Kontrolle zu geraten, war nach wie vor groß. Mehr als 10000 Euro in bar und Geschenke, die mehr als 400 Euro gekostet hatten, durften Reisende nicht aus- oder einführen. Er musste sich etwas einfallen lassen.

Petrov tastete auf dem Tisch, der neben ihm stand, nach einer Fernsteuerung; er fand sie unter einer aufgeschlagenen Fernsehzeitung und drückte auf einen grünen Knopf. Wie von Geisterhand fuhren kaum hörbar die Jalousien hoch. Sonnenlicht drang durch winzige Löcher ein, die zwischen den einzelnen Lamellen eingestanzt worden waren. Das Licht schien gebündelt zu werden – es fiel wie dünne Laserstrahlen ein und traf den im Halbdunkel liegenden Fußboden. Petrov kniff die Augen zusammen. Er musste sich erst an das Tageslicht gewöhnen. Im Halbdunkel blickte er auf die geöffnete Globus-Bar. Der Macallan-Glenlivet ging zur Neige. Petrov grapschte nach der Flasche, setzte sie an den Mund und kippte den Rest Whisky in sich hinein. Er schüttelte sich. Der harte Alkohol rann glucksend seine Kehle hinab und brannte in seiner Speiseröhre. „Ahhh, das tut gut“, sagte er selbstzufrieden und grinste in sich hinein. Er lehnte sich zurück, strich sich mit beiden Händen über seinen Bauch und starrte an die Decke.

Petrov konnte es nicht fassen: Er war jetzt reich. Holdorfs Feingoldbarren und Modders Geld, Gold und Silber machten ihn zu einem gemachten Mann. Er zog eine Cognac-Flasche aus dem Barwagen, entkorkte sie und prostete sich damit selbst zu. „Nazdrave!“, rief er laut. Er dachte darüber nach, mit dem Töten aufzuhören. Jetzt konnte er unbeschwert leben, sich seine Träume erfüllen. Endlich. Das Geld würde eine Weile reichen. Andererseits übte das Töten einen Reiz auf ihn aus. Der Nervenkitzel und der Adrenalin-Kick würden ihm fehlen. Dessen war er sich sicher.

Er stand auf, zog ein zerfleddertes Büchlein, das den Namen „Schwarze Wege“ trug, aus der Innentasche seiner Lederjacke, die er am Vortag achtlos auf das Sofa geworfen hatte. Er las gern darin. Das vergilbte Taschenbuch war vor Jahrzehnten von einem gewissen Onnick Ovanesov geschrieben worden und dem Kampf gegen das Böse gewidmet. Es waren die Erinnerungen eines Kriminalinspektors an spektakuläre Fälle, die er in den 1950er-Jahren bearbeitet hatte. Die Texte waren zum überwiegenden Teil aus alten Kriminalakten übernommen worden und lasen sich auch so – trocken und dröge. Dafür war der Inhalt umso brisanter und grausamer.

Peter Petrov war fasziniert von den detailreichen Fallakten – er hatte die von Kriminalisten sachlich abgefassten Tatort-Berichte, die exakten Beschreibungen der Leichen durch Rechtsmediziner, die Protokolle der Zeugenaussagen und das gefühlskalte Geständnis eines Serientäters, der seinerzeit genauso skrupellos vorgegangen war, wie er heute, schon dermaßen oft gelesen, dass er die einzelnen Kapitel wie Gedichte hätte auswendig aufsagen können. Petrov strich über den zerknitterten dunkelgrünen Einband, so als streichele er einen geliebten Menschen. Die „Schwarzen Wege“ waren sein Schatz. Die Aufzeichnungen über den geheimnisvollen Mann, der zehn Morde an Erwachsenen und Kindern, zahlreiche brutale Raubüberfälle und Diebstähle begangen hatte, regten seine Fantasie an. Die Fakten waren grausig und zeugten von großer Gefühlskälte. Auch Petrov empfand keine Empathie für seine Opfer.

Der Täter aus dem dünnen Büchlein, in dem er jetzt in Gedanken versunken blätterte, hieß Ivan Ivanov Ivanov. Dieser Mann war sein Idol. Ihm eiferte er seit Jahren nach. Er wollte so sein wie er. Wegen seines Namens hatten ihm diejenigen, die ihn damals gekannt und gejagt hatten, den Spitznamen Triple-Ivan gegeben. Petrov verband eine Art Seelenverwandtschaft mit Ivanov. Davon war er fest überzeugt. Auch seine Eltern hatten ihm einen dieser seltsam anmutenden Dreifach-Namen gegeben – er hieß Peter Petrov Petrov, aber das wussten nur die wenigsten. Der Modus Operandi, die Art, wie er mordete, unterschied Petrov von seinem Vorbild. Ivanov hatte seine Opfer mit einer von ihm gestohlenen Armeepistole und mit einem Messer getötet. Petrov dagegen nutzte eine Insulin-Spritze als Mordwerkzeug. Das war genauso effektiv, aber unauffällig. Er hatte die Methode verfeinert. Petrovs Taten blieben unentdeckt.

„Mir kommen sie nicht so einfach auf die Schliche“, dachte er und gönnte sich noch einen Schluck Hennessy XO. Das Prädikat XO stand für Extra Old. Petrov wusste das. Der Cognac war deutlich dunkler als der ohnehin schon lang gereifte VSOP und vermittelte deshalb ein noch viel volleres Geschmackserlebnis. Es war wohl diese Mischung aus sanften Fruchtnoten und geräuchertem Holz, aus frischem Zimt und einem Hauch Karamell, dem bereits legendäre Künstler wie Dr. Dre, Snoop Dogg, Nas oder der Wu-Tang-Clan erlegen waren.

Petrov machte sich nicht viel aus Cognac – er trank lieber Whisky, aber zur Not tat es auch ein alter Hennessy. Er hielt die Flasche am Hals, drehte sie um und schaute sich das Etikett an. Vor seinen Augen verschwammen plötzlich die Buchstaben. Alles um ihn herum schien sich zu drehen. Er wusste, was das bedeutete. Er musste jetzt schnell handeln – agieren, solange er überhaupt noch dazu in der Lage war. Petrov erhob sich aus dem Schaukelstuhl. Ihm wurde sofort schwarz vor Augen. Um nicht zu stürzen, ging er instinktiv in die Hocke und kroch dann auf allen vieren durch das Zimmer. Er war auf der Suche nach seinem silberfarbenen Etui, in dem er Insulin und eine Notfallration Traubenzucker aufbewahrte. Er überlegte angestrengt, wo er es hingelegt hatte. Er versuchte, sich zu erinnern. Lag es immer noch oben auf dem Nachttisch? Er geriet in Panik. Auf seiner Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen. Übelkeit stieg in ihm auf. Er konnte seinen Atem riechen – er stank nach faulen Äpfeln. Petrov musste sich zusammenreißen.

Er durfte jetzt nicht die Kontrolle über seinen Körper verlieren und auf keinen Fall einschlafen. Wenn er nicht sterben wollte, musste er die Treppe hochkriechen. Mit zittrigen Händen zog er sich an den Streben des Geländers hinauf bis in die erste Etage. Zeitweise hatte er das Gefühl, es nicht zu schaffen. Die Angst, auf dieser Treppe sein Leben lassen zu müssen, jetzt, wo er reich war, wurde übermächtig. So kurz vor dem Ziel den Löffel abzugeben, ausgerechnet auf der Treppe seines letzten Opfers – was für eine Ironie des Schicksals. Doch Peter Petrov, der schon so viele Leben ausgelöscht hatte, wollte weiterleben. Mit allerletzter Kraft gelang es ihm, das Zimmer zu erreichen. Er spürte, dass er kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Petrov musste sich übergeben. Der Inhalt seines Magens sprudelte wie eine Fontäne aus Mund und Nase, bildete eine braune Pfütze – es war ein übelriechender Mix aus Whisky, Cognac, Schokoladenbrocken und Magensäure. Ihm war klar: Er hatte einen dummen Fehler gemacht. Sein Stoffwechsel war entgleist, weil er viel zu viel Alkohol getrunken hatte. Petrov hatte vergessen, seinen Blutzuckerspiegel zu kontrollieren – ein verhängnisvoller Fehler. Der Killer war kurz davor, diese Nachlässigkeit mit seinem Leben zu bezahlen.