Kapitel 25
Im Erdgeschoss des ZKD an der Zentralstraße in Hameln, in dem die sieben Fachkommissariate und die Leitung der Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden untergebracht waren, erhellte kaltes Neonlicht den mit Linoleum ausgelegten Flur und ein Büro. Kurt Brenner saß mit geöffnetem Kragen und gelöstem Krawattenknoten an seinem Schreibtisch und brütete seit einer halben Stunde über einem vorläufigen Obduktionsergebnis und seinen Notizen. Auf diversen Zetteln und sogar auf dem Rand einer ausgelesenen Deister- und Weserzeitung hatte sich der Leiter des für die Bekämpfung von Kapitaldelikten zuständigen Kommissariats 1 aufgeschrieben, was ihm Rechtsmediziner Doktor Karl Mertens während der beiden Telefonanrufe über den Todesfall Nadja Stern mitgeteilt hatte.
Brenner war für seine Gewissenhaftigkeit bekannt. Der Erste Kriminalhauptkommissar wollte gut vorbereitet in die Konferenz mit dem Leiter des Zentralen Kriminaldienstes, die um 10 Uhr im Anschluss an die obligatorische Morgenlage im großen Besprechungsraum stattfinden sollte, gehen. Brenner hatte eine genaue Vorstellung von dem, was sich in knapp viereinhalb Stunden im Dachgeschoss des ehemaligen Arbeitsamtes, das jetzt das Hauptquartier der Kriminalpolizei war, abspielen würde. Kriminaloberrat Andreas Kaufmann würde offiziell eine Mordkommission einsetzen und ihn zu deren Leiter ernennen. Brenner war seit vielen Jahren leitender Ermittler; er hatte schon so einigen Sonderkommissionen vorgestanden. Die Aufklärungsquote seiner Abteilung im Bereich der Tötungsdelikte konnte sich sehen lassen – sie lag das zehnte Jahr in Folge bei 100 Prozent. Dennoch war ihm flau im Magen. Nein, es war nicht die Sorge, den Mörder nicht fassen zu können, die ihn schon vor Dienstbeginn ins Büro getrieben hatte.
Brenner war Perfektionist, der planvolles Arbeiten liebte und Stümperei hasste. Er wollte sich bei der Vorstellung dieses Falles, der alles andere als alltäglich war, nicht durch fehlendes Detailwissen blamieren – und ganz nebenbei auch Führungsstärke zeigen. Häufig wurden von den Kollegen, die zum ersten Mal zu einer Moko abgeordnet worden waren, viele Nachfragen gestellt. Einige würden sicher aus dem Nachbarkreis Holzminden stammen und sich in Hameln nicht so gut auskennen. Hinzu kam, dass die Informationslage noch äußerst dünn war und sich der Leichenfundort im Nachhinein als mutmaßlicher Tatort entpuppt hatte. Brenner hatte früher selbst einmal beim KDD, dem Kriminal-Dauerdienst, gearbeitet. Der oberste Mordermittler ahnte, dass die Kollegen der Tatort-Gruppe, die stets die ersten Ermittler am Schauplatz eines Verbrechens waren, in der Wohnung von Nadja Stern kaum Spuren gesichert hatten. Da die Beamten weder am Leichenfundort noch bei der polizeilichen Leichenschau Hinweise auf ein Fremdverschulden gefunden hatten, waren die Ermittler der TOG nicht davon ausgegangen, dass dieser Todesfall eine größere Dimension annehmen würde. Deshalb hatten sie darauf verzichtet, die Wohnungstür zu versiegeln. Das bedeutete, dass Dritte in der Zwischenzeit unbemerkt den Tatort verändert und Spuren verwischt haben konnten. Das machte es nicht leichter, diesen noch undurchsichtigen Mordfall aufzuklären.
Brenner kaute auf seinem Bleistift. Er war nervös, hungrig und durstig. Sein Magen knurrte, seine Zunge klebte am Gaumen. Er konnte in diesem Zustand nicht klar denken. Der FK-1-Chef beschloss, seine Arbeit für kurze Zeit zu unterbrechen, um sich in der Teeküche einen starken Kaffee aufzubrühen. EKHK Brenner sah auf seine Armbanduhr – es ging auf sechs zu. In weniger als einer Stunde würden die ersten Kollegen eintrudeln. Bis dahin wollte er sämtliche Erkenntnisse, die er hatte, zu Papier gebracht haben. Er erhob sich aus seinem Drehstuhl und gähnte herzhaft. Dabei hob er seine Arme und streckte sie weit von sich. Das laute Geräusch, das er dabei machte, erinnerte entfernt an einen Tarzan-Schrei. In der Nacht hatte der Leiter des FK1 kaum geschlafen. Zu viele Dinge schwirrten in seinem Kopf herum. Müde schlurfte Brenner in die winzige Küche, schnappte sich einen Esslöffel, schaufelte den Filter halb voll und füllte Leitungswasser auf. Im Weggehen betätigte er den Kippschalter, der im selben Moment rot zu leuchten begann. Sein Blick fiel auf einen Kanister, in dem Herma ihr kalkfreies Quellwasser aufbewahrte. Sie fuhr dafür extra in den Stadtwald und zapfte abseits des Weges, der zur Riepenburg führte und im Schatten 30 Meter hoher Buchen lag, den dahinplätschernden Kuttenborn an. Die kleine Waldquelle war ein echter Geheimtipp – Teeliebhaber von nah und fern holten sich dort das weiche Wasser, das einen indischen Assam fast so schmecken ließ wie in Ostfriesland. Dabei dachte Brenner an seine Kollegin aus dem hohen Norden und musste schmunzeln. Herma van Dyck war wirklich ein verrücktes Huhn. Er musste sich eingestehen, dass sie ihm fehlte. Während die von dem harten Hamelner Brunnenwasser verkalkte Kaffeemaschine wie eine alte Dampflokomotive schnaufend weiße Schwaden ausstieß und zeitweise röchelnde Geräusche von sich gab, ging Brenner zurück in sein Büro. Auf seine Notizen starrend, fragte er sich, wie er den Kollegen die Wirkung von Insulin auf einen gesunden menschlichen Körper erklären sollte. Er hatte nicht alles, was ihm Doktor Mertens gesagt hatte, mitgeschrieben, geschweige denn verstanden. Wie auch? Er war Kriminalist und kein Mediziner. Trotzdem wollte er nicht dumm dastehen. Was, wenn jemand aus der Runde nachfragte? Während Brenner angestrengt nachdachte und mit seinen Schneidezähnen seine Unterlippe bearbeitete, kam ihm eine Idee. Er fischte sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts, rief seine Kontakte auf und suchte aus der Liste die Handynummer des Rechtsmediziners Doktor Karl Mertens heraus. Der Erste Kriminalhauptkommissar zögerte einen Moment, er schaute auf die Uhr. Kurz nach sechs. Hm ... Verdammt früh, dachte er. Brenner fragte sich, ob Mertens wohl gerade unter der Dusche stand, gemeinsam mit seiner Frau beim Frühstück saß oder schon auf dem Weg zur Medizinischen Hochschule war. Sollte er lieber später anrufen? Dann liefe er Gefahr, dass er Mertens nicht mehr ans Telefon bekam, weil er irgendeinen Toten aufschnitt und untersuchte. „Ich mach’s. Scheiß was drauf“, sagte Brenner leise zu sich selbst. „Auf mich nimmt auch niemand Rücksicht, wenn mitten in der Nacht oder am Sonntagabend irgendwo eine Leiche gefunden wird.“
Bevor er den Gerichtsmediziner anrief, wollte sich Brenner aber noch einen Kaffee holen. Er brauchte jetzt endlich eine Dosis Koffein. In der Dienstküche goss der Mordermittler seinen bdk-Becher randvoll und schlürfte genussvoll an dem Muntermacher, der schwarz wie die Nacht war. Mit dem Pott in der Hand kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück und drückte auf die Wähltaste. Es klingelte nur zweimal, da war die jugendlich klingende Stimme des Arztes zu hören. „Ja, Mertens hier. Guten Morgen, Herr Brenner. Was verschafft mir die Ehre zu dieser frühen Stunde? Ist in Hameln mal wieder jemand eines nicht natürlichen Todes gestorben?“ Brenner hörte Mertens lachen. „Hallo, Doc. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Es ist ... Also, ich habe gedacht ... Äh ...“, stammelte der Chefermittler, der sonst eher selten um Worte verlegen war. „Nun, es ist so: Könnten Sie mir wohl einen großen Gefallen tun und um 10 Uhr zu mir nach Hameln in die Dienststelle kommen?“ So, nun ist’s raus.
Brenner hörte Motorengeräusche. Mertens war offenbar mit dem Auto unterwegs. „Verraten Sie mir auch, wie ich Ihnen behilflich sein kann?“, wollte der Rechtsmediziner wissen. „Oh ja, sorry“, entschuldigte sich Brenner. „Der ZKD-Leiter setzt heute eine Moko ein. Ich muss die Truppe unterrichten und dachte mir: Nur ein Wissenschaftler Ihres Formats kann uns erklären, wie der Mörder im Fall Nadja Stern vorgegangen ist und wie dieses verfluchte Insulin zur tödlichen Waffe geworden ist. Ich meine ... Also: Ohne Sie, Herr Doktor Mertens, gäbe es diesen Fall ja gar nicht. Sie sind ein Genie.“
Brenner hatte mit Protest gerechnet, aber Doktor Mertens schien sich über die lobenden Worte zu freuen. Er fühlte sich geschmeichelt, war auch ein wenig stolz auf seine Entdeckung. „Verstehe, verstehe ... Ich soll also vor Ihren Kollegen einen Kurzvortrag halten, damit sie verstehen, wie körpereigenes Insulin wirkt, und damit sie nachvollziehen können, wie – sagen wir mal ganz unbescheiden – die Detektive am Seziertisch vorgegangen sind, um dieses Tötungsdelikt aufzudecken. Habe ich das richtig verstanden?“
„Ja, ja, exakt“, beeilte sich Brenner zu sagen. Die Schmeicheleien hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Mertens hatte angebissen. „Tja, ich muss mal schauen, ob ich es auf zehn schaffen kann. Kommt drauf an, wie viele Leichen ich mir gleich anschauen muss.“
Brenner verstand nicht. „Leichen?“
„Ja, Leichen. Sie haben richtig gehört. Zehn bis zwanzig Tote werden es wohl sein.“
Mertens gab etwas mehr Gas, um die Grünphase einer Ampel nicht zu verpassen. „Mein Gott, was ist denn passiert? Ich habe noch gar keine Nachrichten gehört.“ Doktor Mertens gnickerte in sich hinein. Er war ein humorvoller Mensch, der gern Späße machte. Er tat so, als würde er die Frage nicht verstehen. „Ich bin gerade auf dem Weg nach Lahe ins Krematorium. Die zweite amtliche Leichenschau ... Sie wissen schon. Einer muss es ja machen.“ Der stellvertretende Institutsleiter lachte. „Was haben Sie denn gedacht? Terroranschlag in Hannover?“ Während sich Mertens köstlich amüsierte, verkniff sich Brenner eine Antwort. Er mochte es nicht, wenn man ihn hochnahm. Nach einer kurzen Pause nahm Doktor Mertens den Gesprächsfaden wieder auf. „Okay, Sie konnten über meinen Scherz nicht lachen. Gut, also dann Spaß beiseite. Ich biege gerade von der Laher-Feld-Straße auf das Gelände der Einäscherungshalle ab. Ich werde jetzt wie immer sehr sorgfältig arbeiten und mich dennoch beeilen. Vielleicht kann ich nicht pünktlich in Hameln sein, aber ich werde zu Ihnen kommen, wenn ich nicht zwischenzeitlich zu einem Tötungsdelikt gerufen werde. Ich habe heute Bereitschaftsdienst.“
Brenner freute sich. „Danke, ich weiß das zu schätzen, Doc.“
Mertens stellte seinen Audi auf dem Parkplatz des Krematoriums ab, zog die Handbremse an und den Autoschlüssel aus dem Zündschloss. „Ah, Herr Brenner, noch etwas am Rande, bevor ich es vergesse: Wenn Sie wieder mal etwas auf dem Herzen haben, dürfen Sie mich auch nachts anrufen, wenn es dringend ist. Aber tragen Sie bitte beim nächsten Lob nicht so dick auf. Ich merke es sofort, wenn mir jemand Honig um den Bart schmiert. Also – bis nachher.“ Der Rechtsmediziner lachte, aber das hörte Brenner schon nicht mehr. Ohne Zündung lief die Freisprechanlage des Autos nicht – sie hatte sich mitten im Satz abgeschaltet.
Der Chef der Mordermittler drückte auf den roten Knopf, um die Verbindung zu beenden. Mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht klatschte er vor Freude in die Hände. Er hatte erreicht, was er wollte. Doktor Mertens würde den Kollegen Rede und Antwort stehen – er könnte sich zurücklehnen und selbst noch etwas lernen über Insulin-Injektionen, die für Diabetiker ein Segen waren – und für Nicht-Diabetiker den Tod bedeuten konnten. Der Leiter des FK1 griff nach seiner Tasse. Abgelenkt durch das Telefonat mit Mertens hatte er völlig vergessen, seinen Kaffee zu trinken. Schon bei der ersten Berührung des Porzellanbechers spürte Brenner, dass sein Wachmacher inzwischen erkaltet war. Er hasste lauwarmen Kaffee. „Scheiße“, sagte er laut. Plötzlich waren Schritte zu hören – die auf dem Linoleum klackenden Geräusche ließen Brenner aufhorchen. War das Martha, die gekommen war, um den Flur zu wischen und in den Büros der Ermittler Staub zu saugen? Die Schritte kamen immer näher. Kurt Brenner war gespannt, wer ihn besuchen würde. Wer immer es war, sie oder er musste mindestens drei Türcodes kennen. Unbefugte konnten das ZKD-Gebäude und den Gang, von dem die Büros der FK-1-Ermittler abgingen, wenn überhaupt nur mit brachialer Gewalt betreten.
Wie von Geisterhand ging die Tür auf. Der Kopf einer blonden Frau schob sich langsam durch den Spalt. Es war Kriminalhauptkommissarin Herma van Dyck, die Brenner anlächelte. „Moin, Kurt, na, so früh schon bei der Arbeit?“ Der Kommissariatsleiter hatte mit allem und jedem gerechnet, aber nicht mit Herma. Wie vom Donner gerührt und mit geöffnetem Mund saß er einen Moment lang regungslos da. „Hallo, Herma. Mensch, das ist ja eine Überraschung. Ich dachte, du bist noch in Ostfriesland und lässt es dir gutgehen.“ Herma runzelte die Stirn und zog dabei ihre perfekt gezupften und leicht nach oben geschwungenen Augenbrauen hoch. „Also, Wiedersehensfreude sieht anders aus ...“, protestierte sie. „Ich habe dir doch gestern gesagt, dass ich mich ins Auto setze und nach Hameln komme. Schon vergessen?“
Brenner sprang auf, machte eine wegwerfende Handbewegung. „Quatsch. Natürlich erinnere ich mich daran – und ich freue mich. Sehr sogar. Ob du es glaubst oder nicht: Ich habe erst vor wenigen Minuten an dich gedacht. Echt jetzt ... Kein Scherz.“ Der 1,94-Meter-Mann ging mit weit ausgebreiteten Armen auf Herma zu. Er wirkte wie ein Teddybär. „Komm, lass dich erst mal umarmen.“ Brenner drückte seine Kollegin fest an sich und strich ihr sekundenlang mit der flachen rechten Hand über den Rücken. Danach schaute er ihr tief in die Augen. „Wie geht es dir? Musst du dich nicht noch schonen? Nimm bitte Platz und erzähl mal. Magst du vielleicht ausnahmsweise mal einen Kaffee trinken? Ich habe gerade einen frischen gekocht.“
Herma schüttelte lächelnd den Kopf und lehnte dankend ab. Sie bevorzugte echten Ostfriesentee mit ein paar Brocken Kandis und einem Schuss Sahne. „Das sind aber viele Fragen auf einmal. Soll ich sie der Reihe nach beantworten?“
Brenner zog sein linkes Ohrläppchen lang. „Nun sag schon: Bist du wieder fit?“ Die Mordkommissarin
kramte einen Brief aus ihrer Handtasche und reichte ihn ihrem Chef. „Da, lies selbst. Ist vom Polizeipsychologischen Dienst.“ Sie schenkte ihm ein sanftes,
schiefes Lächeln.
Brenner nahm den Umschlag, öffnete ihn und zog den Inhalt heraus. Er faltete das Schreiben auseinander und las, was Psychologe Doktor Rixinger geschrieben hatte. „Ab sofort eingeschränkt dienstfähig ... hm ... vorerst halbtags ... hm ...“, murmelte Brenner und rieb sich dabei nachdenklich das Kinn. „Tja, das hört sich doch gut an, Herma. Ich freue mich, dass du dich so schnell von der ganzen Scheiße erholt hast. Mannomann, das war ja was ...“ Brenner musterte van Dyck. „Ich kann es noch gar nicht glauben, dass du hier vor mir sitzt und mich anlächelst. Weißt du, als ich dich am Nachmittag des Heiligabends in der MHH besucht habe, das war der Tag, an dem du aus dem Koma erwacht bist, da hätte ich nicht darauf gewettet, dass du dich so schnell erholen würdest ...“ Brenner hatte plötzlich Tränen in den Augen. „Gehirnblutung, Hirnschwellung und haste nicht gesehen ...“ Der Chefermittler war kurz davor, in Tränen auszubrechen – Brenner musste seinen Redeschwall unterbrechen. Herma kannte diese Seite von Kurt nicht. Offenbar hatte ihr Boss unter der harten Schale einen weichen Kern. Sie war peinlich berührt und hätte losheulen können, aber es gelang ihr, sich zusammenzureißen. Herma wollte keine Schwäche zeigen. „Nun bin ich ja wieder da – voller Schaffenskraft und Tatendrang“, redete sie ruhig auf Brenner ein und zwinkerte ihm zu. „So schnell lässt sich eine van Dyck doch nicht unterkriegen.“
Der FK-1-Leiter hatte sich wieder gefangen. Aus Verlegenheit nippte er an seinem kalten Kaffee. „Fein, fein ... Und wann möchtest du wieder loslegen?“
Herma hatte mit dieser Frage gerechnet. „Na, sofort. Steht doch da in dem Brief von diesem Seelenklempner. Also, ich für meinen Teil bin einsatzbereit ...“
EKHK Brenner verzichtete darauf, Herma Ratschläge zu erteilen. Er kannte die sture Ostfriesin gut und wusste: Es hätte sowieso nichts genützt. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, zog sie auch durch. Davon ließ sich Herma nicht abbringen. „Gut, das ist ja toll. Du kommst genau zur rechten Zeit.“ Er sah, dass Herma Fragezeichen auf der Stirn hatte und schaute auf seine Armbanduhr. „Um zehn, also in gut drei Stunden, wird unser ZKD-Chef eine Mordkommission einsetzen. Ich habe dir ja schon gestern bei unserem Telefonat angedeutet, dass wir ein Tötungsdelikt haben, dessen Aufdeckung leider nicht den Kollegen von der TOG, sondern einem mit allen Wassern gewaschenen Rechtsmediziner zu verdanken ist. Leider gibt es keine Hinweise auf den oder die Täter. Absolut null. Und die Substanz, die der Mörder benutzt hat, um Nadja Stern zu töten, wird uns auch nicht weiterbringen. Die kommt nämlich im Körper vor.“ Kurt Brenner atmete tief ein. Der Ton, der dabei entstand, hörte sich wie ein Seufzer an. „Tja, das ist eine ganz harte Nuss, die wir da zu knacken haben.“
Brenner wies Herma ausführlich in die Lage ein. Dabei schaute er ab und zu auf seinen Spickzettel, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. In der Zwischenzeit trudelten die Kollegen ein, gingen in immer mehr Büros die Lichter an. Brenner und van Dyck wussten: Es würde ein langer und arbeitsreicher Tag werden. Herma hoffte, dass ihr Chef sie nicht am Mittag nach Hause schicken würde.