Kapitel 26

Für die letzten zehn Meter hatte er eine gefühlte Ewigkeit gebraucht. Mehrmals war ihm schwarz vor Augen geworden, war er kurz davor gewesen, sich aufzugeben. Aber irgendetwas, das tief in ihm drin war, hielt ihn am Leben. Kurz vor dem Ziel musste er sich noch einmal übergeben. Auf allen vieren kroch er durch die übelriechende dunkelbraune Flüssigkeit, die seinen rebellierenden Magen verlassen hatte und aus seinem Mund gesprudelt war.

Sein Gehirn schien nun vollends die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren. Peter Petrov konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Sein Bauch, auf dem er lag, war bretthart geworden und schmerzte höllisch. Er hatte Atemnot, sog die Luft ein, so tief er konnte. Mit seinen Lippen formte er dabei ungewollt einen Kussmund. Petrov sah aus wie ein gestrandeter Karpfen, der verzweifelt versuchte, nach Sauerstoff zu schnappen. Petrov mobilisierte seine letzten Energiereserven. Es gelang ihm gerade noch, seine Ellenbogen aufzustützen. Stark schwitzend, keuchend und mit weit aufgerissenen Augen bewegte er sich wie ein schwerverletzter Soldat vorwärts. In tiefster Gangart, wie das beim Militär hieß. Von panischer Angst ergriffen, robbte er durch die Kotze, die direkt vor ihm in den schneeweißen Hirtenteppich sickerte, und zog sich mit seiner rechten Hand an dem kleinen Nachtschrank hoch, auf dem das lag, was sein Leben retten würde. Petrov schaffte es, das Etui zu greifen. Er hatte Panik in den Augen. Als er mit zittrigen Händen die dünne, eng anliegende Folie von dem Dextro-Energy-Plättchen entfernte und den Traubenzucker hastig in seinen Mund steckte, kam er sich vor wie ein Junkie, der gerade einen Affen schob und Ecstasy-Pillen einwarf, um die Entzugserscheinungen loszuwerden.

Dem zuckerkranken Mörder war es in allerletzter Sekunde gelungen, sich selbst zu retten. Erschöpft fiel er auf den Rücken und stöhnte. Er verspürte den Drang, sich zu erleichtern, schlief aber darüber ein. Als er einige Zeit später aufwachte, hatte er sich eingenässt. Immerhin hatte er überlebt. Im Schlafzimmer roch es säuerlich und seltsam streng – es war eine Mischung aus Magensaft, Urin, Aceton und Alkohol, die ihm beinahe den Atem raubte. Übelkeit stieg in ihm auf. Petrov rappelte sich hoch. Angewidert sah er an sich herunter. Er roch wie ein Iltis. Auf wackeligen Beinen ging er ins Bad, zog seine stinkenden Klamotten aus und stellte sich unter die Dusche. Petrov stützte sich mit beiden Händen an den ockerfarbenen Fliesen ab. Minutenlang verharrte er in dieser Position und ließ das warme Wasser über seinen Körper laufen. Er musste möglichst schnell wieder einen klaren Kopf bekommen. Verflucht, ich habe richtig Scheiße gebaut, dachte er und schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. Triple-Petrov war wütend auf sich selbst. Er hatte sich gehen lassen, nicht auf sich achtgegeben, bei aller Euphorie vergessen, sich um seinen Blutzuckerspiegel zu kümmern. Als Diabetiker hätte er wissen müssen, was passieren wird. Sein Stoffwechsel war entgleist. Das hätte ihn beinahe umgebracht. Es war kurz vor knapp gewesen. Der Tod hatte schon bei ihm angeklopft. Hätte er es nicht geschafft, an Zucker zu kommen, wäre er in ein tiefes diabetisches Koma gefallen und ganz sicher gestorben.

Petrov drehte das Wasser ab und schnappte sich ein Handtuch, um sich abzutrocknen. Danach legte er es lässig um seine Hüften und ging hinunter zur Küche. Der Mörder fühlte sich schwach. Ihm war schwindelig, er hatte Durst. Wasser tropfte von seinen klitschnassen Haaren. Der Flüssigkeitsmangel bereitete ihm Kopfschmerzen. Vorsichtshalber hielt er sich mit einer Hand am Geländer fest. Er wollte nicht auch noch stürzen. In der kleinen Vorratskammer, die sich neben der geräumigen Küche befand, entdeckte er eine volle Kiste mit Mineralwasser. Er zog zwei Flaschen heraus, ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Eine 0,7-Liter-Flasche Pyrmonter Brunnen trank er auf ex, den Inhalt der anderen kippte er innerhalb von weniger als fünfzehn Minuten in sich hinein. „Ahhhhh, das tut gut“, stellte er fest und schaute sich laut rülpsend das Etikett an. Er musste nachdenken – über seine Zukunft. Er hatte zwar reiche Beute gemacht, aber keinen Plan, wie es jetzt weitergehen sollte. Während er so dasaß, kam ihm eine Idee. Er würde die Beute verpacken, sich mit Vorräten eindecken, seine Spuren im Haus verwischen und den Oldtimer mitsamt der Leiche verschwinden lassen. Das würde ihm zumindest einen zeitlichen Vorsprung verschaffen. Sollten die Heinis von der Bullerei doch denken, was sie wollten. Sie würden erst einmal nach Erika Modder suchen, die Ermittlungen würden letztlich im Sand verlaufen. Davon war er fest überzeugt.

In Deutschland hatte er noch keine Bekanntschaft mit der Polizei gemacht. Seine Fingerabdrücke befanden sich nicht im Fahndungscomputer – jedenfalls nicht in diesem Land. Nur einmal war er in Verdacht geraten. Aber das war fast 20 Jahre her. Ein Mädchen hatte ihn damals beschuldigt, sie am Goldstrand bei Varna sexuell bedrängt zu haben. Das Ermittlungsverfahren wegen versuchter Vergewaltigung war nach ein paar Monaten eingestellt worden. Aussage hatte gegen Aussage gestanden. Und sämtliche Taten, die er danach während seiner Raubzüge begangen hatte, waren allesamt unentdeckt geblieben.

Er verzog sein Gesicht zu einer fiesen Fratze – Petrov war stolz auf das, was er getan hatte. Es waren perfekte Morde gewesen. Er hielt sich für ein Genie auf dem Gebiet des Tötens. Ja, er hielt sich für einen Künstler. Weder die kryptischen Zeichen und die rot-weißen Stoffbändchen an den Handgelenken seiner Opfer noch die unzähligen Finger-, Schuh-, Faser- und DNA-Spuren, die er absichtlich und unabsichtlich an den zahlreichen Tatorten hinterlassen hatte, konnten die Fahnder deuten. Dazu waren sie nicht in der Lage. Er lachte laut. „Was für Deppen“, flüsterte er grinsend. Er kratzte sich über seine schwarzen Bartstoppeln, rieb sich das Kinn, das sich wie grobes Schmirgelpapier anfühlte, und dachte nach. Er konnte unmöglich länger in der Villa der Modders bleiben. Irgendwem würde irgendwann auffallen, dass die Witwe nicht mehr unter die Leute ging, dass ihr Auto in der Garage blieb. Ihm fiel ein, dass ihn auf der Fahrt zum Haus auf dem Ohrberg ein gebrechlich wirkender alter Mann mit Krückstock gesehen hatte. Er bezweifelte, dass der Senior ihn beschreiben konnte, dennoch würde er der Polizei mitteilen können, dass Erika Modder in Begleitung eines fremden Mannes war, als sie heimkehrte.

Petrov begriff zum ersten Mal, dass diesmal nicht alles glattgelaufen war. Er hatte Fehler gemacht. Es würde Ermittlungen geben. Das war klar. Aber daran konnte er jetzt nichts mehr ändern. Dafür war es zu spät. Er hätte sich nicht häuslich am Tatort niederlassen sollen. Aufräumen kam nicht mehr infrage. Alles in der Fabrikantenvilla deutete auf einen Einbruch hin – der aufgeschnittene Tresor, die Brandflecken im Teppich, die ganzen anderen Verwüstungen, die er hinterlassen hatte. Das war mehr als verräterisch. Erikas Verschwinden würde sogar den dümmsten Ermittler darauf stoßen, dass ihr etwas zugestoßen sein musste. „Fuck, fuck, fuck“, schrie er und ballte seine Hände zu Fäusten. Er musste untertauchen. Daran ging kein Weg vorbei. Der Boden unter seinen Füßen würde schon bald zu heiß werden. Lieber jetzt einen auf Kölnisch Wasser machen und verduften, als später übereilt flüchten zu müssen, dachte er. Sein Entschluss stand fest. Petrov musste jetzt rasch seine Gedanken ordnen, aber seine Augenlider wurden plötzlich schwer wie Blei. Sie senkten sich wie Bühnenvorhänge, nahmen ihm die Sicht. Sein Körper war erschöpft, er war todmüde. Zu müde zum Nachdenken. Der physisch angeschlagene Mörder beschloss, ein Nickerchen zu machen. Wie ein nasser Sack kippte er zur Seite und schlief augenblicklich ein.

Als Peter Petrov aufwachte, schmerzte ihn der Nacken vom unbequemen Liegen auf dem Sofa, stand die Sonne hoch am Himmel. Er kratzte mit der Trägheit eines Faultiers seinen Bauch, erhob sich schließlich, schlappte in die Küche und holte sich eine Flasche Mineralwasser. Petrov hatte einen Brand wie eine sibirische Bergziege. Schlaftrunken schraubte er den Verschluss auf, setzte den Flaschenhals an seine spitz geformten Lippen und ließ das Wasser durch seine Kehle rinnen. Gluck, gluck, gluck, gluck, gluck ... Als die Glasflasche leer war, schleuderte er sie krachend gegen die Wand, aber sie zersprang nicht. Petrov torkelte zurück ins Wohnzimmer. Er war noch nicht ganz wach, ließ sich in den Clubsessel fallen, dessen edles Leder unter seinem Gewicht knarzte; er reckte und streckte sich. Als er fertig war, begann Petrov damit, die antiken Möbel und Kunstgegenstände, die sich in dem Raum befanden, zu taxieren. Der silberfarbene Griff eines schwarz lackierten Gehstocks fiel ihm ins Auge. Er war kunstvoll aus Metall hergestellt worden und stellte den Kopf eines schreienden Adlers dar. Der Spritzenmann rappelte sich hoch, um sich den Stock zu holen, der sein Interesse geweckt hatte. Er nahm ihn in die rechte Hand, stützte sich darauf ab. „Nicht übel“, befand er. Der Griff war aus massivem Sterlingsilber gefertigt, der Schnabel vergoldet worden. Der Spazierstock machte einen stabilen Eindruck. Das Teil eignet sich hervorragend als Schlagwaffe, dachte er. „Dich nehme ich mit“, sagte er. Bei näherem Hingucken entdeckte er, dass sich der Adlerkopf abschrauben ließ.

Petrov hatte gehört, dass es Gehstöcke gab, die es in sich hatten. In einigen steckten Reagenzgläser, die sich mit Schnaps füllen ließen. Der Mörder hatte fürs Erste die Nase voll von Alkohol. Dennoch fand er ein solches Accessoire cool. Er würde damit bei seinen Freunden Eindruck schinden. Petrov gab gern an. Als er den Vogelkopf abgeschraubt hatte, staunte er nicht schlecht: Er hatte ein Stilett in der Hand. „Wow, wie geil ist das denn?“, flüsterte er begeistert. „Was für eine scharfe Waffe.“

Plötzlich war er hellwach. Seine Fantasie ging mit ihm durch. War Otto Modder womöglich nicht nur Fabrikant gewesen? Hatte er etwa für einen Geheimdienst gearbeitet? Petrov hatte einmal irgendwo gelesen, dass Agenten solche Stockdegen benutzten. Sie galten als verbotene Waffen. In Deutschland war sogar der Besitz strafbar. Ach was, dachte Petrov. Dieser Otto war sicher nur ein Sammler gewesen. Obwohl ... Dann hätte es noch weitere Stöcke mit Innenleben in diesem Haus geben müssen. Egal, dieser außergewöhnliche Flanierstock würde nun ihm gehören. Da er ohnehin noch etwas wacklig auf den Beinen war, kam ihm diese Gehhilfe gerade recht.

Während er sich den Adler genauer anschaute, dachte er an seine Heimat. Die Menschen dort waren findig und gewieft, einige, die während der Zeit des Kommunismus im Dienste des Staates gestanden hatten, galten als besonders skrupellos. Ihm kam eine ganz spezielle Mordwaffe in den Sinn, die als „Bulgarischer Regenschirm“ in die Nachrichtendienst-Geschichte eingegangen war. Schon als Jugendlicher hatte er davon gehört, dass der bulgarische Geheimdienst einen Regimekritiker mit einem zur tödlichen Waffe umgebauten Schirm in London getötet haben soll.

Das Opfer, ein gefeierter und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller, hieß Georgi Markow und war am
7. September 1978 unter mysteriösen Umständen an der Bushaltestelle auf der Südseite der Waterloo Bridge ums Leben gekommen. Man erzählte sich hinter vorgehaltener Hand, dass ein als Antiquitätenhändler getarnter Agent des bulgarischen Geheimdienstes Darschawna Sigurnost dem unliebsamen Dissidenten mit einem vom KGB entwickelten Schirm eine winzige Kugel mit dem tödlichen Gift Rizin in die Wade injiziert hatte – am helllichten Tag und zudem auf einer belebten Straße. Angeblich auf Befehl des Staats- und Parteichefs
Todor Schiwkow. Obwohl Peter Petrov wusste, dass dieser Giftregenschirm vom sowjetischen Geheimdienst konstruiert worden war, erfüllten ihn solche Geschichten mit Stolz. Zeigten sie doch eindrucksvoll, wozu Agenten des Landes, in dem er zur Welt gekommen war, fähig gewesen waren. Lange war unklar gewesen, was stimmte – und was nicht. Doch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren in Sofia, der Hauptstadt von Bulgarien, zahlreiche präparierte Regenschirme im Keller des Innenministeriums gefunden worden. Sie enthielten einen ausgeklügelten Mechanismus, mit dem sich eine aus Platin und Iridium gefertigte Kapsel auf kurze Distanz abfeuern ließ. In der winzigen Kugel befanden sich zwei Hohlräume, die mit einem todbringenden Protein gefüllt waren, das Geheimdienst-Mitarbeiter aus den Samen des Wunderbaums gewonnen hatten. Das Loch in dem nur 1,5 Millimeter breiten Projektil war dann mit einer Zuckerlösung verschlossen worden, die sich im Körper binnen kürzester Zeit auflöste. Gegen Rizin, das auf dem Index der UN-Chemiewaffenkonvention stand, war kein Kraut gewachsen – gegen dieses Gift gab es kein Gegengift. War es einmal in die Blutbahn gelangt, war das Opfer dem Tod geweiht.

Peter Petrov hätte gern einen solchen Schießregenschirm besessen. Er hätte sich damit gefühlt wie James Bond. Der Serienmörder tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine mit Insulin gefüllte Spritze eine ebenso tödliche Waffe darstellte und das körpereigene Hormon im Gegensatz zum pflanzlichen Rizin gar nicht nachweisbar war. Petrov fühlte sich in solchen Momenten wie ein Geheimagent. Nur, dass er auf eigene Rechnung arbeitete und seine Waffe nicht von „Q“, dem Waffenmeister von 007, entwickelt worden war. Auf diese unauffällige Methode zu töten, war er selbst gekommen. Petrov beugte sich vor, griff nach der Flasche Wasser und trank sie in einem Zug aus. Die Blutzucker-Entgleisung hatte ihm zugesetzt, ihn schlapp gemacht. Er sah ein, dass er sich noch ein wenig Ruhe gönnen musste, bevor er seine Zukunft planen konnte. Während Petrov über seine nächsten Schritte nachdachte, tauchte er ganz langsam ein ins Reich der Träume.