Kapitel 28

Die Sonne brannte kleine Löcher in die dunkelgraue Wolkendecke, die an diesem trüben Vormittag wie ein riesiger Deckel über dem Wesertal lag. Einige Strahlen erreichten die Erde und zauberten kreisrunde Licht­spots auf Dächer und Straßen. Marina Lenze genügte ein kurzer Blick nach oben, um die Wetterlage einschätzen zu können. Auf Vorhersagen gab sie nichts. Sie hatte eine Wetter-App auf ihrem Handy, studierte morgens vor dem Frühstück zunächst die Isobaren-Karte und schaute sich dann das Regenradar an. Für die Kriminaltechnikerin war bereits ausgemacht, wer heute den Kampf am Himmel für sich entscheiden würde – sie interessierte sich seit ihrer Jugend für die Meteorologie und wusste, dass Nimbostratus-Wolken ein sicheres Zeichen für schlechtes Wetter waren. Es würde gleich regnen – daran hatte sie keinen Zweifel. Marina Lenze schüttelte sich. Ihr war kalt. Sie wünschte sich den Sommer herbei.

Die Expertin vom Spurensicherungsteam der Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden war hochgewachsen, auffallend schlank und wirkte schlaksig. Die Hamelnerin hatte blonde Haare, trug einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt, eine Brille und konnte – wenn sie es wollte – einen Schmollmund ziehen wie keine andere. Marina Lenze galt als äußerst schlagfertig, sie konnte austeilen, aber auch einstecken, war humorvoll – und gewissenhaft bei der Spurensuche. Sie hatte den Ruf, jeden noch so kleinsten Blutfleck erspähen zu können. Mit speziellen Chemikalien konnte Lenze sogar unsichtbare Spuren sichtbar machen. Kollegen hatten ihr deshalb den Spitznamen „Adlerauge“ verpasst. Die Kriminaltechnikerin war Teamleiterin im Fachkommissariat 5.

In dieser Abteilung arbeiten Spezialisten, die sich auf das Sichern von Spuren verstanden – sowohl an den üblichen Tatorten als auch im Darknet, in dem sich Cyberkriminelle tummelten. Es war das dunkle Reich der Kinderschänder, Mafiabosse und Terroristen. Verbrecher tauschten in den unendlichen Weiten des verschlüsselten Netzes Kinderpornos und Anleitungen zum Missbrauch von Babys aus; dort wurden aber auch scharfe Schusswaffen und hochgefährliche Chemikalien zum Bau von Bomben angeboten und andere Geschäfte abgewickelt. Im FK 5 gab es IT-Experten, die in der Lage waren, diese dunklen Kanäle auszuspionieren – sie fahndeten sozusagen mit der Computermaus vom Schreibtisch aus.

Marina Lenze liebte ihren Job – ihr Beruf war für sie Berufung. Sie war Kriminaltechnikerin aus Leidenschaft. Wenn sie nach Blut- und Spermaspuren suchte, Fasern, Haare, Finger- und Schuhabdrücke sicherte, war sie in ihrem Element. Mit der EDV-Beweismittelsicherung und der elektronischen Auswertung von riesigen Datenmengen, die sich meist auf Festplatten oder auf irgendwelchen Servern in Übersee befanden, hatte sie allerdings wenig am Hut. Sie fuhr lieber raus und sah sich an Mordschauplätzen um, anstatt vom Büro aus in der virtuellen Welt zu ermitteln. Für ihren Geschmack verbrachte sie ohnehin zu viel Zeit im Kellergeschoss des ZKD-Gebäudes – am Schreibtisch und im Kriminallabor, angestrahlt von Deckenlampen und von Leuchtstoffröhren. Manchmal fühlte sich Marina in diesen Räumen wie ein Reptil im Terrarium. Kehrten sie und ihre Kollegen nach langer Spurensuche von einem Tatort zurück, ging die Arbeit der KT-Experten, die von den Kollegen, die in den oberen Etagen arbeiteten, spöttisch Kellerkinder genannt wurden, weiter, denn: Die mühsam gesicherten Spuren mussten zunächst aufbereitet und danach – in Plastiktüten verpackt – an das Kriminaltechnische Institut des Landeskriminalamts Niedersachsen in Hannover oder an das Bundeskriminalamt in Wiesbaden geschickt werden. Der Papierkram blieb meist an ihr hängen. Jede einzelne Spur musste zunächst genau erfasst, exakt zugeordnet und der Fundort präzise beschrieben werden. Erst danach konnte die Kriminaltechnische Assistentin einen Untersuchungsantrag stellen. Machte Marina Lenze dabei einen Fehler, konnte das im schlimmsten Fall dazu führen, dass eine Spur nicht gerichtsfest war und ein Verbrecher freigesprochen wurde. Die KT-Expertin war sich ihrer großen Verantwortung bewusst. Der Schreibkram musste sein – wohl oder übel. Dennoch hielt sie sich lieber dort auf, wo die Action war. Deshalb war sie froh, dass Moko-Chef Brenner ihr den Auftrag gegeben hatte, in der Wohnung eines Mordopfers nach Hinweisen auf den noch unbekannten Täter zu suchen – obwohl sie wusste, dass darauf viel Arbeit im Keller der Polizeiinspektion folgen würde.

Während die Spurensucherin den Hof des Zentralen Kriminaldienstes überquerte, steckte ihr rechter Zeigefinger in einem Schlüsselring aus Edelstahl. Marina Lenze ging auf einen silberfarbenen VW T5 mit Hochdach zu, der aussah wie ein Wohnmobil, und ließ den Autoschlüssel lässig um ihren Finger kreisen. Nur Eingeweihte wussten, dass der VW-Transporter ein ganz besonderes Innenleben hatte. Von außen war er nicht auf Anhieb als Polizeidienstfahrzeug zu erkennen – sah man einmal von dem Kennzeichen ab. Die mittleren Buchstaben lauteten PD. Das war die Abkürzung für Polizeidirektion. Die Inspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden gehörte zur PD Göttingen. Aber das wussten die wenigsten. Nur wer genauer hinschaute, entdeckte die beiden zwischen den schwarzen Lamellen des Küh­lergrills versteckt angebrachten Blaulicht-Frontblitzer. Ansonsten machte der 70000 Euro teure Tatortwagen einen unauffälligen Eindruck. Er hatte es aber in sich.

In Fächern, Schubladen und Koffern war so ziemlich alles verstaut, was die KT an einem Tatort benötigte – die Ausrüstung reichte von diversen forensischen Lichtquellen und hochwertigen Spiegelreflex- und Video­kameras, Dosen mit Chemikalien, Kisten mit Werkzeug, Säcken mit Gips, DNA-Spurenbeuteln und Nummernkarten bis hin zu einer kompletten Laborausstattung mit Scheren, Pinzetten, Pipetten, Tupfern, Skalpellen und Messern, mit deren Hilfe die gesicherten Spuren noch an Ort und Stelle weiterbearbeitet werden konnten.

Marina Lenze schloss den Tatortwagen auf, setzte sich hinter das Steuer, legte den Gurt an und steckte schon einmal den Schlüssel ins Schloss. Voller Ungeduld wartete sie auf Kriminaloberkommissar Axel Kerner und Kommissarin Marie Beermann, die ebenfalls beim FK 5 arbeiteten. Zu dritt wollten sie die Dachwohnung von Nadja Stern unter die Lupe nehmen.

Dicke Regentropfen fielen vom Himmel, der nun
seine Farbe gewechselt hatte. Das triste Grau hatte sich innerhalb weniger Minuten in ein bedrohliches Schwarz verwandelt. Marina Lenze schaltete das Radio an.
NDR 2 spielte „Ain’t Your Mama“ von Jennifer Lopez. Die Kriminaltechnikerin mochte die Lieder von J.Lo – sie summte die Melodie leise mit. Wie auf Knopfdruck schüttete es wie aus Eimern – unzählige Tropfen fielen auf das aus Glasfaser-Kunststoff hergestellte Hochdach des Tatortwagens. Gegen das laute Prasseln, das der Regen verursachte, konnte selbst J.Lo nicht ansingen.

Marina schaltete das Autoradio aus und die Scheibenwischer an. Durch den dichten Regenschleier konnte sie Kerner und Beermann sehen. Lenzes Kollegen stiegen gerade eine Kellertreppe hoch und liefen durch den Wolkenbruch zum Laborwagen. Oberkommissar Kerner hatte einen großen und schweren Hartschalen-Koffer dabei. Darin befand sich ein Wunderwerk der Technik – eine 120000 Euro teure Sphäronkamera. Mit diesem Hightech-Gerät konnten Kriminaltechniker Tatorte dreidimensional abbilden und später mit einer speziellen Software auf einem Computer-Bildschirm für Ermittler virtuell begehbar machen. Ein computeranimierter Rundgang am Tatort ließ in vielen Fällen eine Rekonstruktion des Tathergangs zu. Kerner sah aus wie ein begossener Pudel – er riss die Schiebetür auf, schob den Kamerakoffer hinein, setzte sich auf einen Klappsitz und zog schwungvoll die Seitentür zu. Er blickte an sich herunter. „Mist ... Ich bin klitschnass. So eine Scheiße, ey.“ Beermann hatte bereits auf dem Beifahrersitz Platz genommen. „Ja, was für ein Schietwetter“, sagte die Kommissarin von der KT. Lenze drehte den Schlüssel im Schloss um und startete den Vierzylinder-Dieselmotor des knapp drei Tonnen schweren Fahrzeugs. Sie war froh, es noch trockenen Fußes in den Tatortwagen geschafft zu haben. Glück gehabt, dachte sie, sprach diese Worte aber nicht laut aus.

„Na, dann lasst uns mal starten“, sagte Marina Lenze und fuhr langsam auf ein massives Rolltor aus verzinktem Stahl zu. Als der T5 eine Lichtschranke passiert hatte, schien sich das Tor einen Ruck zu geben. Zitternd gab es den Weg frei, während ein orangefarbenes Rundumlicht zu blinken anfing. Kommissarin Beermann drückte die Sprechtaste ihres Handfunkgeräts, um sich bei der Leitstelle anzumelden. „Süntel von 70-95!“

Es dauerte nur ein paar Sekunden, da war die dunkle Stimme eines Mannes zu hören. „Hier ist Süntel, kommen Sie.“

„Der 70-95 ist unterwegs im Stadtgebiet von Hameln“, sagte Beermann kurz und knapp – und schob zur Begründung noch das Wort „Ermittlungen“ hinterher.

„Das ist verstanden, 70-95“, quittierte der Kommissar vom Lagedienst. „Viel Erfolg!“

Das KT-Team ließ das im Raum stehen. Die Kriminaltechniker hofften, am Leichenfundort etwas zu finden, das der Mordkommission weiterhalf. „Wo hat diese Frau Stern eigentlich gewohnt?“, wollte KOK Kerner wissen. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wo wir jetzt hinfahren.“ Lenze blickte über ihre rechte Schulter: „Im Himmelreich“, rief sie nach hinten. „Ah, wie passend“, kommentierte der bis auf die Haut nasse Oberkommissar. „Hm“, stimmte ihm Lenze zu. „Der Höpfner hat sich in der Moko-Besprechung auch schon darüber lustig gemacht. Das ist bei den Chefs aber gar nicht gut angekommen ... Hüte also lieber deine Zunge.“ Kerner winkte ab. „Ist mir doch egal.“

Marina Lenze bog von der Zentralstraße nach rechts auf die Lohstraße ab und brachte den T5 abrupt zum Stehen. Direkt vor ihr war die Ampel, die den Verkehr auf der Kreuzung Kaiserstraße/Lohstraße/Wittekindstraße am Laufen hielt, auf Rot gesprungen. Kerner wurde durch das Bremsmanöver unsanft in den Gurt gepresst. „Verflucht, Marina. Was machst du?“ motzte der KOK.

„Ich fahre Auto, mein Lieber. Und ich halte mich an die Straßenverkehrsordnung. So, und jetzt Ruhe da hinten auf den billigen Plätzen.“

„Mannomann. Frau am Steuer“, ätzte Kerner.

Lenze und Beermann schauten sich nur kurz an. Die KT-Expertinnen zogen die Augenbrauen hoch. Sie verstanden sich auch ohne Worte. Kerner war offenbar auf Krawall gebürstet.

Der Oberkommissar ärgerte sich, dass er durch den Platzregen gelaufen war und nun aussah wie ein begossener Pudel. Er wollte nur noch raus aus den Klamotten. Am Tatort würde er sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und in einen dieser weißen Einweg-Overalls schlüpfen. Das war sein Plan. „Mach doch die Fackeln an“, forderte er Marina auf. Mit Fackeln meinte Axel Kerner die beiden Blaulichter, die auf das Hochdach des Tatortwagens gesetzt werden konnten. „Ja, ne, ist klar. Mit Blaulicht und Sirene zur Spurensicherung düsen. So siehst du aus. Es besteht ja auch Gefahr für Leib und Leben oder so.“ Marina entglitten die Gesichtszüge. Sie zeigte Kerner einen Vogel. „Also, da fällt mir ja nix mehr ein. Was ist denn bei dir kaputt, du Scherzkeks?“

KOK Kerner schwieg. Er schaute während der Fahrt aus dem Fenster.