Kapitel 37
Herma van Dyck hatte viele Stunden wach gelegen und sich in ihrem Bett hin und her gewälzt. Kopf- und Narbenschmerzen hatten sie um den Schlaf gebracht. Ibuprofen half ihr nicht mehr, sie brauchte etwas Stärkeres. Sie würde ihre Hausärztin aufsuchen und sie um einen starken Painkiller bitten. Es war noch stockdunkel, als Herma aufstand und zum Badezimmer schlurfte. Eine kalte Dusche und ein heißer Assam-Tee würden ihr guttun.
Die Ostfriesin musste an ihren Liebsten denken. Harm fehlte ihr so sehr. Gerade jetzt in ihrer Wiedereingliederungszeit hätte sie eine starke Schulter zum Anlehnen gebraucht. Mit ihrem Seebären konnte sie nächtelang quatschen; er gab ihr Halt. Ihm konnte sie ihre Sorgen anvertrauen, mit ihm über ihre Sehnsüchte und Träume reden.
Herma ließ eiskaltes Wasser über ihren Kopf laufen. Sie schüttelte sich, stöhnte laut auf und bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sie drehte den Hahn zu, stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und föhnte ihre blonden Haare. Für kurze Zeit hatte sie das Gefühl, als betäube die Kälte den Schmerz auf und in ihrem Kopf. Sie musste sich zusammenreißen, konnte sich keinem Kollegen anvertrauen. Brenner würde sie achtkantig aus dem Team werfen – davor hatte sie Angst. Als sie mit ihren müden blau-grünen Augen, die in guten Zeiten wie Sterne am Firmament funkeln konnten, in den Spiegel schaute, entdeckte sie einen grauen Streifen entlang des Scheitels. Immer wenn die warme Luft des Föhns ihre dünnen Haare verwirbelte, schien ihre Kopfhaut dort, wo die Narbe war, leuchtend rosa durch. „Shit“, seufzte sie und zupfte mit Daumen und Zeigefinger ihre Haare zu einer Frisur zurecht. Herma beschloss, so schnell wie möglich zum Salon Junge & Junge zu gehen und sich von Julia Junge-Griese den Ansatz färben zu lassen. Die Friseurmeisterin war die Ehefrau des Oberbürgermeisters – das Paar war in ihrem Alter, es zählte mittlerweile zu ihrem Freundeskreis. Aber erst einmal musste sie diesen Fall lösen.
Herma zog sich einen weißen Frottee-Bademantel über, ging in ihre kleine Küche, um sich einen Ostfriesentee aufzubrühen. Eine starke Assam-Mischung des Emder Teekontors Thiele & Freese würde ihre Lebensgeister wecken. Davon war sie überzeugt. Die Hauptkommissarin sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Sie hatte nicht einmal fünf Stunden im Bett gelegen. Sie musste gähnen. Als Herma ihren mit Kandis gesüßten und mit Sahne verfeinerten Tee in kleinen Schlucken getrunken hatte, verließ sie ihre Küche, um sich anzuziehen. Es zog sie ins Büro. Herma wollte vor der großen Morgenbesprechung noch eine Internet-Recherche über Insulin-Morde starten. Sie hatte die leise Hoffnung, im weltweiten Netz etwas über Tötungsdelikte, bei denen ein Freundschaftsbändchen eine Rolle gespielt hatte, zu finden.
Um halb sieben zog Herma die Tür ins Schloss. Sie ging hinunter zu ihrem Yeti, setzte sich hinter das Steuer und startete den Motor. Auf der Deisterstraße stellte sie fest, dass der Berufsverkehr eingesetzt hatte. Zum Glück war es nicht weit bis zum Gebäude des Zentralen Kriminaldienstes. Herma stellte ihren Škoda auf dem Polizeihof ab, öffnete zwei Türen mit einem Zahlencode – und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. Sie fuhr ihren Dienstcomputer hoch und wartete, bis ihr maritimer Bildschirmschoner zu sehen war. Herma musste sich zwingen, nicht an ihre Heimat zu denken. Ein paar Sekunden später öffnete sie den Firefox-Browser und googelte sich durchs Internet. Herma war gut in solchen Dingen.
Cyber-Ermittlungen waren ihre Stärke. Sie wertete mit Vorliebe Einträge in sozialen Netzwerken und Facebook-Profile von Tatverdächtigen aus. Ihre Erkenntnisse glich Herma mit den Informationen ab, die bestenfalls im Polizeicomputer gespeichert worden waren. Auf einer englischsprachigen Seite stieß Herma van Dyck auf einen interessanten Artikel, der im renommierten „Journal of The Royal Society of Medicine“ veröffentlicht worden war.
Die Autoren beschäftigten sich mit dem ersten dokumentierten Insulin-Mord der Kriminalgeschichte. Der Fall Elizabeth Barlow spielte in der nordenglischen Stadt Bradford. Die Leiche der 30 Jahre alten Frau, die Betty genannt wurde, war am 4. Mai 1957 zu mitternächtlicher Stunde im Badezimmer ihres Hauses, das sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Krankenpfleger Kenneth Barlow, bewohnt hatte, gefunden worden. Der Bericht beschrieb ausführlich die Umstände des Todes und die aufwendige Suche nach der Todesursache. Herma konnte es nicht fassen, dass ein Insulin-Mord erstmals vor nicht einmal 63 Jahren als solcher erkannt worden war. Sie fragte sich, wie viele Morde wohl unentdeckt geblieben waren. Auch der Fall Nadja Stern wäre um ein Haar nicht als Tötungsverbrechen erkannt worden. Herma verschlang die Zeilen förmlich. Auch im Fall Barlow waren es Gerichtsmediziner gewesen, die den entscheidenden Hinweis auf ein Tötungsdelikt gefunden hatten – allerdings erst fünf Tage später bei einer zweiten Leichenschau. Mithilfe einer starken Lupe hatten die Mediziner vier Einstichstellen im Gesäß der Frau entdeckt. Das hatte die Forensiker angespornt. Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, etwas zu beweisen, was Wissenschaftler bis dahin für unbeweisbar gehalten hatten – nämlich das Vorhandensein von Fremdinsulin in einer Leiche.
„Donnerwetter“, entfuhr es der Mordermittlerin. „Es gibt Parallelen“, flüsterte sie. Im Fall Barlow war es den sechs Ärzten, die sich mit Bettys rätselhaftem Ableben beschäftigt hatten, gelungen, zu beweisen, dass der Frau Insulin gespritzt worden war. Herma fand den Originalbericht der Forensiker – sie hatten Ende der 1950er-Jahre stolz ihr kriminalistisches Vorgehen und ihre wissenschaftliche Detektivarbeit im British Medical Journal beschrieben und waren damit in die Kriminalgeschichte eingegangen. Herma las die Artikel konzentriert und machte sich Notizen. Sie wollte den Kollegen von dem Fall berichten. Der Nachweis, dass der nicht zuckerkranken Betty Barlow Insulin verabreicht worden war, hatte sich außerordentlich schwierig gestaltet. Zahlreiche Versuchstiere mussten ihr Leben für die Beweisführung lassen. Herma erschrak, als sie im Online-Archiv des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ las, dass es 1020 Mäuse, 90 Ratten und 24 Meerschweinchen gewesen waren. Am Ende gab es zwar keinen glasklaren Beweis dafür, dass sich Fremdinsulin im Körper der Toten befunden hatte, allerdings hatten sie jetzt eine geschlossene Indizienkette. Die Mediziner hatten im Tierversuch zweifelsfrei herausgefunden, dass die Leiche einen Stoff enthalten hatte, der allen bekannten Eigenschaften des Insulins entsprach.
Herma schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht fassen, was dort geschrieben stand. Sie hätte niemals gedacht, dass es so schwer sein würde, Insulin im Körper nachzuweisen. Rechtsmediziner Doktor Mertens musste ein Meister seines Fachs sein. Ihm war im Fall Stern der Nachweis von Insulin gelungen. „Respekt, Respekt, Doc“, murmelte die Mordermittlerin und scrollte mit dem Rädchen der Computermaus weiter nach unten. Sie wollte wissen, ob die Indizien ausgereicht hatten, Kenneth Barlow zu verurteilen. Sie wurde fündig. Die zwölf Geschworenen waren damals nach anderthalbstündiger Beratung einstimmig zu einem Urteil gelangt. Ein gewisser Richter Diplock wurde mit den Worten zitiert: „Sie sind eines kalten, grausamen, wohlberechneten Mordes für schuldig befunden worden.“ Kenneth Barlow wurde 1957 zu lebenslanger Haft verurteilt; er kam 1984 – 26 Jahre später – frei. Bis zuletzt hat er seine Unschuld beteuert. Herma entdeckte noch eine Information, die ihr Interesse erregte. Obwohl der Fall Barlow als erster nachgewiesener Insulin-Mord galt, sei das Opfer gar nicht an einer Überdosis des Hormons gestorben, wurde behauptet. Die Insulinspritzen hätten zwar eine entscheidende Rolle gespielt, allerdings sei Betty Barlow letztlich ertrunken. Es bleibe im Dunkeln, ob die Frau an dem Insulin gestorben wäre. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass das Verbrechen nicht entdeckt worden wäre, wenn das Opfer im Bett und nicht in einer Badewanne gefunden worden wäre. Elizabeth Barlow wäre nach einiger Zeit an der Überdosis gestorben oder hätte zumindest einen Hirnschaden davongetragen. Das Insulin, das ihr injiziert wurde, wäre dann aber definitiv nicht mehr nachweisbar gewesen. Es hätte sich zu Lebzeiten im Körper der Frau abgebaut.
Herma atmete tief durch. Tja, zum Glück machen Mörder Fehler, dachte sie. Auf dem Flur waren Schritte und Stimmen zu hören. Langsam kehrte im Hauptquartier des Zentralen Kriminaldienstes Leben ein. Herma erhob sich aus ihrem Stuhl und streckte ihre Arme von sich und stieß ungewollt einen Schrei aus. Ihr Nacken hatte sich beim Lesen verspannt, ihre Narbe schmerzte wieder. Herma stieß einen tiefen Seufzer aus: „Ach, alles Scheiße ...“ Wieder musste sie gähnen. Während sie mit offenem Mund dastand, steckte Brenner seinen Kopf durch die nur angelehnte Tür. Ihr Chef lächelte. „Na, wer ist denn da so müde?“
Herma nahm unbewusst Haltung an – sie winkte ab. „Ich habe im Halbschlaf darüber nachgedacht, was uns gestern dieser kriminologisch geschulte Psychiater mit auf den Weg gegeben hat. Mit dem Täterprofil können wir im Moment wenig anfangen. Wir haben nicht einmal einen Verdächtigen oder einen Spurentreffer. Es ist zum Mäusemelken.“
Brenner schnäuzte sich. Dann musterte er Herma vom Kopf bis zu den Füßen. „Ich finde es auch beschissen. Aber wir dürfen jetzt nicht aufgeben und den Kopf in den Sand stecken. Wir müssen den Spritzenmann schnappen, bevor er ein weiteres Mal zusticht. Als Leiter der Moko stehe ich ganz schön unter Druck. Das kannst du mir glauben.“
Die Mordermittlerin senkte ihren Kopf. „Ja, das mag ich wohl glauben. Du, Kurt, ich habe mal wieder eine kleine Internet-Recherche gemacht. Wusstest du, dass es Rechtsmedizinern 1957 zum ersten Mal gelungen ist, einen Insulin-Mord nachzuweisen?“
Der Leiter des 1. Fachkommissariats sah sie ungläubig an. „Nein. Echt jetzt?“
Herma lächelte triumphierend. „Hm ... Ja, das ist unglaublich, aber wahr.“
Brenner zwinkerte ihr anerkennend zu. „Gut gemacht, Herma. Erzähl bitte nachher den Kollegen in der Konferenz davon, ja?“
Die Ostfriesin legte zum Spaß die gestreckten Finger ihrer rechten Hand an ihre Schläfe, so als wollte sie Brenner militärisch grüßen. „Jawoll, Chef, wird gemacht“, sagte sie und ließ unterm Schreibtisch die Hacken ihrer Schuhe knallen.
Brenner schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Bis nachher, du verrücktes Huhn.“
Während Brenner in sein Büro ging, um E-Mails und Post zu checken, taperte van Dyck in die Teeküche, um sich einen ostfriesischen Broken Silber aufzubrühen. Sie brauchte jetzt einen Muntermacher. Was viele nicht wussten: Auch schwarzer Tee enthielt Koffein. Ließ man die Blätter nur drei Minuten ziehen, wirkte der Tee anregend, weil das darin enthaltene Koffein, das von Teetrinkern auch Tein genannt wurde, das zentrale Nervensystem stimulierte.
Als Herma mit ihrem dampfenden Teepott in ihr Büro zurückkehrte, klingelte ihr Dienstapparat. An der Vorwahl 0511 erkannte sie, dass es ein Anschluss aus Hannover war.
Noch bevor sie sich setzte, hob die Mordermittlerin ab und meldete sich: „Herma van Dyck, Mordkommission. Moin ...“
Am anderen Ende der Leitung räusperte sich ein Mann. Es war der Leiter des Sozialpsychiatrischen Zentrums. „Ja, einen wunderschönen guten Tag, Frau Kommissarin. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Hier ist Doktor Seifert. Aber sagen Sie doch bitte Mark.“
„Hallo, Herr Doktor ... äh ... Mark. Ist Ihnen noch etwas eingefallen?“
„Nun, vielleicht möchte ich ja nur Ihre Stimme hören“, säuselte der Psychiater.
Die Ermittlerin zog die Augenbrauen hoch. „Hört, hört ... Flirten Sie etwa mit mir, Mark?“
„Vielleicht“, antwortete der Arzt zuckersüß. Wieder räusperte er sich. Herma schloss daraus, dass sie Seifert verlegen gemacht hatte. „Also, was haben Sie auf dem Herzen, Doc?“, wollte die Kommissarin wissen.
„Mir ist tatsächlich noch etwas eingefallen, Herma. Sie müssen wissen, vor zehn, fünfzehn Jahren habe
ich Urlaub am Goldstrand gemacht. Das liegt in Bulgarien ...“
„Ich weiß, wo der Goldstrand ist“, fiel sie Seifert schroff ins Wort. „Bulgarischer Ballermann, jede Menge Alkohol, eine Woche all-inclusive zum Schnäppchenpreis, schwerer Kopf und leichte Mädchen ...“
„Na, na, na. Ich muss doch sehr bitten. Ich war im Rahmen einer Studienreise dort. Wir waren eine zehnköpfige Gruppe von Akademikern und haben seinerzeit das ganze Land bereist“, stellte Doktor Seifert klar.
„Ja, gut. Sorry, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Tut ja auch nichts zur Sache. Ich muss um Entschuldigung bitten, ich habe Sie unterbrochen, Mark. Erzählen Sie bitte weiter ...“
„Ähm ... Während dieser Rundreise hat mir unsere Reiseleiterin von einem Brauch erzählt. Ich bekomme das jetzt nicht mehr so ganz genau zusammen. Auf jeden Fall ging es um rot-weiße Stoffbändchen. Gestern Abend bin ich nicht darauf gekommen, aber heute Nacht ist es mir dann eingefallen. Das ist so ein Brauch, und diese Bändchen sind Glücksbringer, so eine Art Talisman. Ich habe schon im Internet nachgeschaut, aber nichts darüber gefunden. Ich dachte, das könnte wichtig sein. Wenn es sich um bulgarisches Brauchtum handelt, könnte der Mörder, den wir suchen, vom Balkan stammen. Die älteren Menschen sprechen dort Russisch. Bulgarisch ist dem Russischen sehr ähnlich. Verstehen Sie, was ich damit meine?“
Herma notierte sich die Angaben des Psychiaters auf einem Schmierzettel. Deshalb kam ihre Antwort zeitverzögert. „Ich glaube, ich weiß, auf was Sie hinauswollen. Frau Stern und unser Mörder könnten sich auf Russisch unterhalten haben. Vielleicht hat der Spritzenmann sogar vorgegeben, aus Russland zu stammen.“
„Exakt, das waren meine Gedanken“, sagte Doktor Seifert. „Es ist zwar nur eine Hypothese, aber je länger ich darüber nachdenke ... Also diese Annahme erscheint mir jedenfalls aus kriminalpsychiatrischer Sicht sehr plausibel. Unser Mörder schenkt seinen Opfern etwas aus seiner Heimat – warum auch immer. Das könnte doch so sein.“
„Ja, möglich wäre das schon. Vielen Dank für den Hinweis, Mark. Vielleicht hilft uns das weiter. Ich hätte gern noch mit Ihnen geplaudert, aber ich habe leider sehr viel zu tun“, würgte Herma den Arzt ab. Sie mochte das Süßholzraspeln nicht. Außerdem war sie vergeben.
„Ja, äh, gut, wir hören sicher noch voneinander.“
Herma antwortete auf Plattdeutsch. „Jo, bet annermal.“
Zu ihrer Überraschung antwortete der Psychiater ganz norddeutsch. „Holl di munter“, was nichts anderes als „Auf Wiedersehen“ bedeutete. Van Dyck und Seifert legten auf. Die Mordermittlerin dachte nach. Konnte das des Rätsels Lösung sein? Ein Serienmörder, der Glücksbringer verteilt ... Was für eine absurde Vorstellung. Aber möglich wär’s. Herma beschloss, die These des Psychiaters den übrigen Mitgliedern der Mordkommission vorzustellen. Sie hatte vor ein paar Jahren bei einem Europol-Seminar in Wiesbaden eine bulgarische Polizistin kennengelernt. Sie hatten sich gut verstanden. Wenn ihr Chef es für richtig hielt, dieser Spur nachzugehen, würde sie versuchen, die Kollegin anzurufen, um sich nach dem Sinn und Zweck dieses in Deutschland unbekannten Brauches zu erkundigen. Schaden konnte es jedenfalls nicht.