Kapitel 45
Mehr als fünf Stunden waren sie nun schon unterwegs. Die Fahrt mit dem klapprigen Interpol-Opel von der Millionenstadt Sofia im Westen des Landes nach Prolez, einem winzigen Provinznest an der bulgarisch-rumänischen Grenze, wollte nicht enden.
Mariya Boyanova war an den Ausläufern des schneebedeckten Balkangebirges vorbei in nordöstliche Richtung gefahren. Das kurze Stück Autobahn hatte sich irgendwo im grauen Nichts zu einer staubigen Landstraße verjüngt. Je weiter sie in Richtung Schwarzes Meer fuhren, desto schlechter schienen die Straßen zu werden. Von einigen Fahrbahnen hatten sich Teile der Asphaltdecke gelöst, in anderen Straßen klafften tiefe Schlaglöcher. Baustellen waren nur dürftig mit ein paar Ästen abgesichert worden und schlecht zu erkennen. Herma hatte auf eine kurze Autofahrt gehofft, doch Mariya hatte ihr die Hoffnung schon in Sofia auf dem breiten Boulevard Christopher Columbus genommen, milde gelächelt und gesagt. „Bulgarien ist ein großes Land. Der Weg ist weit, die Straßen sind schlecht und viele Autos alt. Wenn wir unterwegs keine Panne haben, können wir am späten Nachmittag das Meer erreichen. Wie gesagt: Wenn nichts dazwischenkommt. Wir werden vor der Rückfahrt also irgendwo übernachten müssen.“
Herma hatte nur genickt und sich ihrem Schicksal ergeben. Sie hatte immer noch einen Kater und zog es vor, zu schweigen. Kurz vor der Stadt Schumen nickte sie ein. Als sie aufwachte, fuhren sie in Sichtweite der Küste durch dichte Akazienwälder. Es dämmerte schon, als Mariya Boyanova von einer Walnussbaum-Allee auf eine Schlaglochpiste abbog, die in Richtung Prolez führte. „Na, hast du deinen Rausch ausgeschlafen?“, fragte die Interpol-Kommissarin. „Ich habe unterwegs einen doppelten Mokka getrunken. Du warst nicht wach zu kriegen.“
Herma rieb sich Schlafsand aus den Augen. Ihr Rücken schmerzte vom langen Sitzen auf dem durchgesessenen Beifahrersitz. Auch der Nacken tat ihr weh. „Ich bewundere dich, Mariya.“
Die Bulgarin schaute zur Seite. „Ich verstehe nicht. Was meinst du?“
„Na ja, du bist voller Energie, sitzt seit fast sieben Stunden hinter dem Steuer dieses uralten Opel Astra und bist immer noch fit wie ein Turnschuh. Jedenfalls scheint es so.“
Mariya musste lachen. „Du, das täuscht. Mir fallen auch gleich die Augen zu. Aber ich reiße mich zusammen. Wie heißt es doch so schön bei euch in Deutschland: Keine Müdigkeit vorschützen. Ich freue mich schon auf ein Glas Rotwein, einen Salat – und ein kleines Schnäpschen.“
Die deutsche Hauptkommissarin verzog das Gesicht. „Bäh, wenn ich an Alkohol denke, kommt es mir hoch. Ich rühre kein Glas mehr an.“
„Wie du meinst.“
Der Streifenwagen rumpelte über aufgerissene Betonpisten. Weil die Stoßdämpfer ausgeschlagen waren, schwankte das Auto zeitweise wie ein Schiff. Einmal stieß sich Herma den Kopf am Haltegriff des Wagens, was heftige Schmerzen im Narbenbereich verursachte. Unwillkürlich hatte Herma ihre Kopfhaut abgetastet, weil sie fürchtete, sie würde bluten. Endlich hatten sie Prolez, dieses Staubkörnchen auf der bulgarischen Landkarte, erreicht. Es war ein beinahe verlassenes Dorf. Herma fühlte sich an den Song der irischen Band U2 erinnert – Where The Streets Have No Name.
Als ihnen eine alte Frau, die ein paar Gänse über die unbefestigte Dorfstraße trieb, entgegenkam, stoppte Mariya Boyanova den Wagen. Sie grüßte die Alte freundlich und fragte nach dem Weg. Die Seniorin, die sich Baba Janka nannte, rückte ihr Kopftuch zurecht, fing zu erzählen an und zeigte hektisch mit einem Weidenstock in Richtung Osten. Mariya und Janka schienen sich gut zu verstehen. Die Seniorin wohnte seit vielen Jahren allein in dem Dorf und gehörte zu den letzten Einwohnern von Prolez. 32 Menschen, meist Frauen über 70, lebten noch hier – in the middle of nowhere. Die jungen Leute, erfuhr Mariya, hatten schon vor langer Zeit ihre Heimat verlassen, um Arbeit in den großen Städten oder im Ausland zu finden. Herma stieg aus, streckte sich und sah sich um. Viele Dächer waren eingestürzt. Dort, wo einst Familien gemeinsam am Herd zusammengesessen hatten, wuchsen jetzt Bäume. Es gab Ruinen, die sich die Natur zurückerobert hatte. Herma spürte eine Traurigkeit in ihrem Herzen. Wie mussten sich Baba Janka und die anderen Einwohner in diesem Dorf fühlen? Als Mariya die Alte ausgefragt und wieder hinter dem Steuer Platz genommen hatte, stieg auch Herma ein. „Der Ort sieht ja schlimm aus“, presste sie hervor. „Hm, viele Dörfer auf dem Land befinden sich in diesem Zustand. Leider.“
„Was hat dir die Frau erzählt? Hast du sie nach Petrov gefragt?“
„Ja, das habe ich. Sie hat gesagt, Petrov sei schon lange nicht mehr hier gewesen. Und dass die Eltern des Tatverdächtigen auf dem Friedhof liegen. Baba Janka meint, der ehemalige Dorflehrer Pancho könne wissen, wo sich Petrov aufhält. Wir fahren jetzt zu ihm.“
Mariya ließ den Motor an und steuerte den Opel Astra im Schritttempo durch das Dorf. Sie hatte Angst, dass der Streifenwagen in irgendeinem Schlagloch aufsetzt und die Ölwanne aufgerissen wird.
Die Ermittlerinnen wurden ganz schön durchgeschüttelt. Mariya hatte das Lenkrad fest umklammert, Herma hielt sich mit beiden Händen am Haltegriff fest. Sie wollte nicht noch einmal mit dem Kopf anstoßen. „Was bedeutet eigentlich Baba?“, wollte die deutsche Kommissarin wissen.
„Mütterchen“, antwortete Mariya kurz.
„Die Frau nennt sich selbst Baba Janka? Also, das würde in Deutschland keine Seniorin machen.“
„Baba ist kein Schimpfwort und auch nicht abwertend gemeint. Du kennst doch bestimmt Babuschka, oder?“
Herma nickte. „Siehst du. Babuschka ist die russische Verkleinerungsform des Wortes Baba. Im Russischen bedeutet Babuschka so viel wie Großmutter. In Bulgarien wird Baba gern auf ältere Frauen im Allgemeinen angewendet. Da ist nichts dabei. Das ist liebevoll gemeint. Echt jetzt ... Denk an Baba Marta – Großmütterchen März.“
Herma wusste nicht, was Mariya meinte. Sie war wohl zu erschöpft.
„Ich sehe Fragezeichen auf deiner Stirn, Herma. Das müssen Spätfolgen des Alkohols sein“, frotzelte Mariya. „Die rot-weißen Bändchen, die sich Bulgaren zu Baba Marta schenken – und die in Deutschland an Leichen baumeln. Schon vergessen?“
Herma ärgerte sich, dass sie schwer von Kapee war und dass sie in der Nacht zu viel Schnaps getrunken hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg.
Die Freundinnen erreichten ein aus Natursteinen und Lehm erbautes Haus, dessen Vorderseite erst kürzlich hellblau angestrichen worden war. Eine nackte Glühbirne über der grob aus rohem Holz gezimmerten Eingangstür erhellte den Hof, auf dem ein paar Hühner gackernd umherliefen. Von den verwitterten Rahmen der Sprossenfenster blätterte lindgrüne Farbe ab. Ein verwahrloster Kettenhund fing an zu bellen, als das Ermittlerteam vorfuhr. Die Tür wurde langsam von innen geöffnet. Ein buckeliger alter Mann mit Schiebermütze und einem karierten braunen Sakko steckte seinen Kopf durch den Spalt, um zu sehen, wer ihn überraschend besuchte.
„Ah, Pancho ist zu Hause“, sagte Mariya.
Herma zog die Augenbrauen hoch. „Wo sollte er auch sonst sein?“
Die Kommissarinnen stiegen aus und begrüßten den alten Mann. Mariya zeigte ihren Polizeiausweis vor, entschuldigte sich für die späte Störung und bat Pancho, eingelassen zu werden. Der ehemalige Grundschullehrer winkte die Frauen zu sich und brabbelte etwas auf Bulgarisch. „Er sagt, er freue sich, Besuch zu empfangen – und dazu noch von zwei schönen Damen“, übersetzte Mariya. „Er ist bestimmt ein sehr einsamer Mann.“
Pancho Marinov führte die Polizistinnen in eine kleine Küche. Herma musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf gegen ein Ofenrohr zu stoßen, das mit ein paar Schellen an der niedrigen Zimmerdecke befestigt worden war und als Heizkörper fungierte. Ein alter Holzofen brannte. Er lieferte Wärme und wurde als Herd genutzt. In dem vielleicht elf Quadratmeter großen Raum, der dem ehemaligen Lehrer offenbar als Küche, Wohn- und Schlafzimmer diente, gab es einen Tisch, vier alte Stühle, ein zerschlissenes braunes Klappsofa, einen Küchenschrank, auf dem ein kleines Röhrenfernsehgerät stand, und ein aus Backsteinen gemauertes und mit gelben Fliesen beklebtes Waschbecken. Auf einem dreibeinigen Holzschemel flackerte eine Kerze. Ihr Schein erhellte ein Schwarz-Weiß-Foto, das eine alte Frau mit einem faltigen Gesicht zeigte. Mit einer einladenden Handbewegung bat Pancho die Polizistinnen, sich zu setzen.
Die Bulgarin ahnte, was jetzt kam. Pancho würde ein Glas mit Essiggemüse öffnen, mit einem Löffel daraus ein paar eingelegte Tomaten, Gurken und Zwiebeln, die er selbst geerntet hatte, angeln, auf einen Teller legen und das Gemüse seinen Gästen anbieten. Mariya wusste, dass es zwecklos war, die karge Speise abzulehnen. Die Bulgaren waren sehr gastfreundlich und teilten das Wenige, das sie im Haus hatten, gern mit ihren Gästen. Pancho reichte ein paar daumendicke Scheiben Weißbrot und stellte Wassergläser auf den Tisch. Mariya Boyanova grinste wissend. Der Alte würde eine Flasche mit Selbstgebranntem hervorkramen und den Hochprozentigen zur Verkostung anbieten. Seinen Pflaumenschnaps bewahrte Pancho in einer alten Zwei-Liter-Fanta-Flasche aus Kunststoff auf. Er schenkte ein, setzte sich und sah die Polizistinnen erwartungsvoll an.
„Wie kann ich helfen? Was wollt ihr wissen? Oder habe ich auf meine alten Tage etwa was ausgefressen? Ich lebe nun schon 89 Jahre in diesem Haus, noch niemals zuvor hat jemand von der Polizei seinen Fuß über diese Schwelle gesetzt. Heute ist Premiere.“
Pancho lächelte verschmitzt, seine Augen funkelten im Schein der Glühbirne, die den Raum in gelbes Licht tauchte.
„Stoßen wir erst einmal auf die Gesundheit an.“ Pancho ergriff das Glas und prostete den Kommissarinnen zu. „Nazdrave!“ Der Alte leerte das zur Hälfte gefüllte Glas in einem Zug. Während Mariya an dem Schnapsglas nippte, roch Herma nur an dem Glas mit Selbstgebranntem und stellte es dann angewidert zurück auf den Tisch.
Mariya ergriff das Wort. „Wir interessieren uns für Peter Petrov Petrov. Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“ Panchos Miene verfinsterte sich abrupt. „Petrov ist kein guter Mensch. Er ist mit dem Teufel im Bunde“, flüsterte der Alte. „Er ist böse.“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, wie soll das schon gemeint sein?“, motzte der ehemalige Dorflehrer. „Er hat schlimme Dinge getan. Ich will mit ihm nichts zu tun haben.“
„Was hat er getan?“, hakte Kommissarin Boyanova nach.
„Als ob das die Polizei nicht wüsste. Er hat ein Mädchen überfallen, und er hat viele von uns bestohlen. Alle in Prolez und in Gorichane, ach, was sage ich, in der ganzen Dobrudscha wissen das. Er soll dorthin zurückgehen, woher er gekommen ist.“
Mariya horchte auf. „Zurückgehen? Was meinen Sie damit? Ist er hier im Dorf?“
Panchos Augen bewegten sich in Richtung Herma.
„Wer ist sie? Kann man ihr vertrauen? Sie trinkt nicht von meinem Rakia. Was ist mit ihr? Ist sie etwa mit diesem Petrov verwandt?“
Mariya machte eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein. Keine Sorge. Das ist meine Kollegin aus Deutschland. Sie ist meine Freundin und heißt Herma.“
„Herrrmah“, machte Pancho nach. „Aha ...“
Die bulgarische Ermittlerin wusste, dass sie bei der inoffiziellen Befragung des Zeugen Pancho Marinov behutsam vorgehen musste. Nur ein falsches Wort von ihr – und der alte Mann würde womöglich für immer schweigen und sein Wissen mit ins Grab nehmen. Mariya spürte, dass es dem ehemaligen Dorfschullehrer unangenehm war, über Peter Petrov Petrov zu reden. Gerade die Älteren waren abergläubisch und ängstlich. Einige glaubten an schwarze Magie, andere lasen täglich im Kaffeesatz.
„Niemand wird erfahren, dass wir mit Ihnen gesprochen haben“, beruhigte Mariya Boyanova den Buckeligen. „Danke, das ist mir wichtig.“
„Sie sagten, Petrov solle wieder dorthin gehen, wo er herkam. Wann ist er denn zurückgekommen?“
Der betagte Senior musterte zunächst Herma, dann sah er Mariya in die Augen. „Kann man ihr wirklich vertrauen?“
„Ja, ganz gewiss.“
„Gut, also, gesehen habe ich Petrov nicht, aber in seinem Elternhaus brannte vorhin Licht. Ich habe in der Nacht ein Auto gehört. Es könnte sein, dass dieser Teufel zurück ist. Er hat sich früher häufig im Nachbardorf Gorichane aufgehalten.“
„Ja, ich weiß. Seine Freundin wohnte dort.“
Der Alte riss seine Augen auf, beugte sich mit dem Oberkörper über die Tischplatte und flüsterte Mariya zu: „Seine Freundin? Nein, sein heimliches Idol lebte früher einmal dort.“ Pancho Marinov ließ sich zurückfallen. Mit dem dürren Zeigefinger seiner zittrigen rechten Hand malte er umständlich drei Striche in die Luft. Es waren die drei I, die der Mörder in Hameln auf Badezimmerspiegeln hinterlassen hatte.
Herma war wie elektrisiert. Sie stieß Mariya mit ihrem linken Ellenbogen an. „Was hat das zu bedeuten? Frag ihn bitte, was er meint. Das könnte bedeutsam für den Fall sein.“
Mit der flachen Hand bedeutete Mariya der deutschen Kommissarin, sich in Geduld zu üben. „Bleibe ruhig! Lass mich das machen. Ich weiß, wie man Zeugen befragt.“
Kommissarin Boyanova wandte sich wieder Pancho zu. Sie war nicht glücklich darüber, dass Herma den Mann durch ihre Fragerei unterbrochen hatte.
„Was haben die Striche zu bedeuten?“
Pancho grinste. „Ja, habt ihr denn noch nichts von Triple-Ivan gehört? Das sind seine Initialen.“
„Nein, da muss ich passen. Wer war dieser Ivan?“
Marinov presste seine Lippen zusammen, schüttelte mit dem Kopf und griff nach der Schnapsflasche. Es war seine Art, Unverständnis zu signalisieren. Der Alte goss sein Glas halb voll und gönnte sich einen kleinen Schluck Rakia, bevor er zu erzählen begann.
„Triple-Ivan war ein Massenmörder – vielleicht der grausamste auf dem Balkan. Seine Eltern und er sind 1941 von Rumänien nach Bulgarien gekommen, sie haben sich in Gorichane angesiedelt.“ Marinov schaute hoch und zeigte in Richtung Westen. „Man könnte auch Ivan der Schreckliche zu ihm sagen. Er ist viele Jahre mordend und raubend durch die Dobrudscha gezogen – mal war er ganz allein, mal mit seiner Bande unterwegs. Die Polizei hat ihn erst spät geschnappt.“ Während Pancho Marinov das sagte, schaute er die Interpol-Kommissarin strafend an.
Mariya Boyanova fühlte sich zu Unrecht angegriffen, aber sie verkniff sich jeden Kommentar. Herma hörte zwar zu, verstand aber nicht ein einziges Wort. Sie hoffte, dass Mariya den Monolog des Alten irgendwann unterbrechen und ihr berichten würde, was er gesagt hatte. Doch Kommissarin Boyanova ließ ihn reden. Ab und zu sagte sie nickend „Da, da, da ...“, was übersetzt „Ja, ja, ja ...“ bedeutete. Pancho Marinov bekam plötzlich feuchte Augen. Tränen liefen über seine faltigen Wangen. Er schluchzte und rang nach Fassung. Der Alte stand auf, öffnete eine Schublade und zog ein Taschentuch heraus. Er wischte sich die Tränen fort und schnäuzte sich. „Er erzählt jetzt von einem ganz besonders grausamen Vierfachmord. Dieser Triple-Ivan hat eine ganze Familie ausgelöscht. Es waren seine Verwandten. Ich erzähle dir alles später“, flüsterte Mariya Herma zu.
Die deutsche Kommissarin stand auf dem Schlauch. Triple-Ivan, wer ist das denn?, fragte sie sich.
Der Alte kehrte an den Tisch zurück, setzte sich und zerknüllte mit seiner Rechten das Taschentuch.
„Es geht um Peter Marinov. Er war mein Onkel. Er, seine Frau, seine Tochter und sein Sohn wohnten in einem kleinen Haus im Dorf Bozhurets. Peter hatte nur ein Auge, deshalb haben die Leute ihn Blindpeter genannt. Aber das ist eine andere Geschichte.“ Pancho winkte ab, nahm das Taschentuch und wischte sich eine Träne, die an seinem Kinn hing, fort. „Es geschah Anfang November 1946. Eines Abends klopfte dieser Mörder an Peters Tür. Seine Frau ließ ihn ein. Sie gaben ihm Brot und Sirup – und einen Platz zum Schlafen. Sie waren gastfreundlich, herzensgute Menschen. Verstehen Sie?“
Die bulgarische Kommissarin nickte. „Peter hat Triple-Ivan erzählt, dass er gerade eine Kuh für 20000 Leva verkauft habe. Damit hatte er – ohne es zu ahnen – sein eigenes Todesurteil gesprochen.“ Wieder weinte Pancho. Mariya Boyanova schaute betreten zu Boden.
Schluchzend erzählte der Buckelige weiter. Herma begriff, dass ihr Besuch bei Marinov alte Wunden aufgerissen hatte. „Irgendwann hat dieser Ivan Peters Frau gebeten, ihm den Weg zum Plumpsklo zu zeigen. Sie hat eine Laterne angezündet und ihn zu dem Örtchen geführt. Draußen war es stockfinster, der Weg vereist, der Wind schneidend kalt. Das Schwein wollte gar nicht pinkeln. Dieser verfluchte Mörder hat nur gucken wollen, ob die Luft rein ist. Als er zurück ins Haus kam, stand Peters Frau mit dem Rücken zu ihm. Er hat ihr ins Genick geschossen. Ohne Vorwarnung. Einfach so. Eiskalt. Eine Hinrichtung war das. Peter hatte sich schon hingelegt. Ivan ist in das Schlafzimmer gegangen und hat ihn mit zwei Schüssen getötet. Die Tochter ist von dem Krach wach geworden. Ihr kleinerer Bruder, der neben ihr im Bettchen lag, schlief tief und fest. Dieses skrupellose Arschloch hat dem Mädchen erzählt, es müsse ihm rasch sagen, wo sein Vater das Geld versteckt hat. Er würde es dann seinem Papa unter den Kopf legen, Peter werde dadurch von den Toten auferstehen. Die Kleine ist rasch zu einer Kommode gegangen und hat eine Schublade geöffnet. Darin lagen die 20000 Leva. Ivan hat das Kind wieder zu Bett geschickt. Er ist dem Mädchen gefolgt, hat der Kleinen zweimal ins Gesicht geschossen. So ein Unmensch.“ Pancho Marinov brach in Tränen aus. „Danach hat Triple-Ivan in den Kopf des schlafenden Jungen geschossen. Weil der Kleine nicht sofort tot war, hat er ein Messer gezückt und ein paar Mal auf ihn eingestochen.“
Herma legte ihre rechte Hand auf den Arm des Alten. Er ließ sie gewähren. „Wissen Sie, was dieser gottlose Mörder dann gemacht hat? Ich werde es Ihnen sagen: Er hat in aller Ruhe die Leichen gefleddert und die Zimmer durchsucht. Triple-Ivan hat aus dem Haus Wollstoff gestohlen und sich daraus ein Sakko nähen lassen.“
Mariya Boyanova hatte schon an vielen Mordschauplätzen gestanden. Aber diese furchtbare Geschichte nahm auch sie mit. Sie musste mit den Tränen kämpfen. „Es tut mir sehr leid, Herr Marinov, dass wir zu Ihnen gekommen sind und durch meine Fragerei alles wieder hochgekommen ist. Ich danke Ihnen, dass sie dennoch bereit sind, mit uns zu reden.“
Der Alte schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. Durch die Erschütterung kippten zwei der drei Schnapsgläser um. „Ach was, es tut zwar weh, aber zugleich gut, darüber zu reden. So viele Jahrzehnte habe ich geschwiegen.“
Pancho Marinov fuchtelte mit seinem knorrigen, von Arthrose gezeichneten Zeigefinger aufgeregt in der Luft herum. „Fangen Sie diesen Petrov. Er ist ein Jünger dieses Massenmörders. Er bewundert ihn. Jedes Jahr kommt er heimlich zurück nach Gorichane. Dort, wo Triple-Ivan gewohnt hat, an der Ulitsa Peta 26, schleicht er nachts herum. In der Ruine zündet er zum Gedenken an Ivan Ivanov Ivanov Kerzen an. Nur der Teufel weiß, was er sonst noch dort treibt.“ Pancho Marinov schaute zur niedrigen Zimmerdecke und bekreuzigte sich.
„Herr Marinov, ich habe noch ein paar Fragen an Sie.“
„Ja, nur zu.“
„Woher wissen Sie das alles so genau?“
Pancho Marinov schaute Mariya zwei, drei Sekunden in die Augen. Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel. Er zitterte. „Der Mörder konnte acht Jahre lang sein Unwesen treiben. Erst dann hat ihn die Polizei verhaftet. 1953 war das, glaube ich. Aber so genau weiß ich das nicht. Ivanov hat zehn Morde und zahlreiche Raubüberfälle und Diebstähle gestanden. Er hat die Taten, vor allem die Tötungen, sehr detailreich geschildert. Ich kannte den Chefermittler, der Triple-Ivan tagelang verhört hat. Von ihm weiß ich, was dieser Scheißkerl lächelnd ausgesagt hat. Er war wohl noch stolz auf das, was er getan hat.“
„Aha, verstehe. Woher wissen Sie, dass dieser Peter Petrov diesen Serienmörder anhimmelt?“
„Das weiß hier jeder im Dorf. Außerdem wurde dieser Petrov mehrmals in Gorichane in der Ivanov-Ruine gesehen. Das sagte ich ja bereits.“
„Sie erwähnten eben, dass das Haus in Gorichane, in dem dieser Ivan Ivanov Ivanov und dessen Eltern gewohnt haben, eine Ruine ist. Wieso ist es kaputt?“
Marinov lächelte gehässig. „Die Dorfbevölkerung hatte Angst, dass das Monster eines Tages an diesen dunklen Ort zurückkehrt. Also haben sie das Haus eingerissen, die Steine mitgenommen und Ställe oder was weiß ich daraus gebaut.“ Der Alte zuckte mit den Schultern.
„Eine letzte Frage, dann lassen wir Sie in Ruhe. Wären Sie bereit, uns zu zeigen, wo sich das Elternhaus von Peter Petrov Petrov befindet?“
„Selbstverständlich. Jetzt?“, wollte Pancho Marinov wissen.
„Ja, wenn es Ihnen keine Mühe bereitet.“
Der alte Dorflehrer erhob sich von seinem Holzstuhl. Mit seinen Händen stützte er sich an der Tischplatte ab. „Warten Sie bitte einen Moment. Ich ziehe mir nur einen Mantel über.“
Während Pancho Marinov gebückt zum Flur schlurfte, nutzte Herma die Gelegenheit, Mariya eine Frage zu stellen. „Was hat der Mann erzählt? Was passiert jetzt?“
„Er führt uns zu Petrovs Elternhaus. Er hat dort vorhin Licht gesehen. Vielleicht ist das Arschloch gerade auf Heimatbesuch und wir können ihn uns pflücken wie eine reife Tomate.“
Herma schaute Mariya ungläubig an. „Du meinst, wir sollen ihn festnehmen. Nur wir beide. Hier, mitten in der Pampa. Du weißt schon, dass ich unbewaffnet bin ...“
Mariya lächelte und kokettierte mit ihrer 9-Millimeter-Makarow. „Ich habe meinen kleinen Freund dabei. Du, wir peilen mal die Lage. Und wenn dieser Typ im Haus ist, nutzen wir den Überraschungseffekt. Der ahnt doch nicht, dass wir ihn am Ende der Welt aufgespürt haben.“
Die Interpol-Leiterin in Sofia war fest entschlossen, den Serienmörder zur Strecke zu bringen. Gemeinsam mit Herma van Dyck, notfalls auch allein. Es war ihr lang gehegter Traum, Leiterin eines Morddezernats zu werden. Mariya hoffte, dass ihr ein spektakulärer Fahndungserfolg zu Ruhm und Ehre verhelfen würde. Ihre Vorgesetzten würden ihr nach einer solchen Festnahme jeden Wunsch von den Augen ablesen. Davon war sie überzeugt. Der Ehrgeiz trieb sie an.
Der alte Dorfschullehrer winkte die Kommissarinnen zu sich. „Kommt. Ich zeige euch den Weg. Aber behaltet bitte für euch, dass ich es war, der euch zu dem Petrov-Haus geführt hat. Ich möchte keinen Ärger haben im Dorf.“
„Ja, gewiss, das sichere ich Ihnen zu. Darauf können Sie sich verlassen.“
Als Pancho Marinov, Mariya Boyanova und Herma van Dyck vor das Haus traten, wehte ein scharfer Wind durch die menschenleeren Gassen. Irgendwo in der Ferne waren Kuhglocken zu hören, meckerten ein paar Ziegen. Hinter mannshohen Mauern bellten Kettenhunde. Wolken verdeckten den Mond. Ein paar Goldschakale streiften heulend durchs Dorf. Laternen erhellten die Straßen. Herma wunderte sich, dass das unbedeutende Kaff überhaupt beleuchtet wurde. Vermutlich gab es in dieser Einöde mehr Betonmasten als Einwohner. Herma schlug den Kragen ihrer Jacke hoch. „Ganz schön kalt hier“, zischte sie. Mariya stimmte ihr zu. „Ja, vor allem, wenn man bedenkt, dass das Schwarze Meer nicht weit ist. Ich hoffe nur, dass wir keinen Marsch machen müssen.“ Mariya zeigte auf ihre hochhackigen Schuhe. „Nicht gerade das ideale Schuhwerk“, sagte sie.
Der Alte ging in Zeitlupe. Herma bemerkte erst jetzt, dass er sein rechtes Bein nachzog und schwer atmete. Plötzlich blieb Marinov stehen. Keuchend zeigte er mit seinem Stock, den er von irgendeinem Baum abgeschnitten hatte, in Richtung Waldrand. „Dahinten ist es“, sagte er. „Das kleine Haus am Ende der Straße, auf der rechten Seite. Da, wo das Licht brennt.“ Er sah sich verstohlen um. „Ich werde mich jetzt von Ihnen verabschieden, wenn ich darf, meine Damen.“ Er lächelte. „Ich bin schon alt und muss jetzt zu Bett gehen.“
Mariya und Herma spürten, dass dem Alten nicht wohl in seiner Haut war. Vermutlich hatte er Angst vor Peter Petrov. Vielleicht wollte er auch nur verhindern, dass sich seine Nachbarn die Mäuler über ihn zerrissen. Die Ermittlerinnen verabschiedeten sich von Pancho Marinov und bedankten sich bei ihm für seine Hilfe. „Bleiben Sie gesund“, rief Mariya und winkte ihm nach. Marinov drehte sich nicht um. Er verschwand in der Dunkelheit.
Herma zupfte Mariya am Ärmel ihrer Jacke. „Was hast du vor?“
„Wir schleichen uns an, finden heraus, ob es einen Hinterausgang gibt. Falls nicht, klopfen wir an der Tür und täuschen eine Autopanne vor. Ich locke Petrov nach draußen und dort nehmen wir ihn dann fest. Ein Kinderspiel ist das.“
Herma rieb sich nachdenklich das Kinn. „Soso, ein Kinderspiel also. Sollten wir nicht besser auf Verstärkung warten?“
„Wer soll uns denn verstärken? Bevor ich dem Chef der Kriminalpolizei in der Kreisstadt Dobrich erklärt habe, worum es geht, ist dieser Petrov schon längst über alle Berge. Die Kollegen wollen einen Haftbefehl oder so was sehen. Sonst werden die gar nicht tätig. Herma, denk doch mal nach: Unsere ganze Mission steht auf tönernen Füßen. Du hast in Deutschland ein wichtiges Beweisstück in einem Mordfall geklaut, und ich ermittle ohne Auftrag im Zuständigkeitsbereich der örtlichen Kriminalpolizei. Niemand weiß, dass wir in diesem Dorf auf eigene Faust Nachforschungen anstellen. Es gibt nicht einmal ein offizielles Fahndungsersuchen von Interpol Wiesbaden. Wir sind also gar nicht legitimiert, diesen mutmaßlichen Serienmörder zu fangen. Wenn es Petrov ist, stehen wir am Ende als Helden da, falls nicht, sind wir am Arsch. Aber so was von ...“
Herma sah ein, dass Mariya recht hatte. „Okay. Stimmt. Wer A sagt, muss auch B sagen. Also, dann ziehen wir es durch. Ich hoffe, du weißt, was du tust.“
Die Frauen gingen die letzten Meter auf Zehenspitzen. Das Petrov-Haus war nicht besonders groß. Es sah aus wie ein quadratischer Klotz mit Spitzdach, hatte auf der Vorderseite eine niedrige Tür und zwei kleine Fenster. Flackerndes Licht verriet den Polizistinnen, dass in einem Zimmer eine Kerze oder ein Ofen brannte. Mariya drückte langsam das Gartentor auf. Es quietschte. Zum Glück gab es keinen Hund, der anschlug. Die beiden Kommissarinnen behielten Eingangstür und Fenster im Auge. Nichts tat sich. Entweder war niemand zu Hause – oder Petrov hatte sie nicht gehört. Die Ermittlerinnen teilten sich auf. Sie verständigten sich mit Handzeichen. Mariya beobachtete die Vorderseite, Herma sah sich auf der Rückseite um. Der Garten schien schon lange nicht mehr gepflegt worden zu sein. Herma konnte zwar nicht viel sehen, aber ihre Kleidung verfing sich immer wieder im dichten Dornengestrüpp. Unter ihren Schuhen knackten Zweige. Herma erschrak. Es raschelte im Unterholz. Offenbar hatte sie ein Tier aufgeschreckt. Als die Ermittlerinnen wieder Blickkontakt hatten, bedeutete Herma ihrer bulgarischen Freundin, dass es keine Hintertür gab. Mariya hatte verstanden, sie quittierte mit einem Kopfnicken und zeigte in Richtung Eingangstür. Die Frauen stiegen eine kleine Treppe hinauf. Vor der Tür zog Mariya ihre Dienstpistole aus dem Holster und legte mit ihrem Daumen einen kleinen Hebel um – die Makarow war jetzt entsichert und schussbereit. Die Kommissarin behielt die Waffe in der Hand.
Herma klopfte dreimal. Eine Klingel gab es nicht. Hinter einer Milchglasscheibe war ein Schatten zu sehen. „Es ist jemand zu Hause“, flüsterte Mariya.
„Ja, ich hab’s gesehen.“
Die deutsche Mordermittlerin kam sich vor wie in einem schlechten Agentenfilm. Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Unbewaffnet trat sie gleich einem skrupellosen Serienmörder gegenüber. Das war völliger Irrsinn.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Schattenmann zur Tür kam. Er sperrte auf und öffnete. Das Knarren der Holztür hörte sich unheimlich an. Bei Herma stellten sich die Nackenhaare auf. Sie war hellwach. Adrenalin floss durch ihre Adern. Ein Mann steckte seinen Kopf durch den Türspalt. Seine Hände waren nicht zu sehen. Herma erkannte ihn sofort wieder – es war Petrov. Er sah genauso aus, wie auf den Fotos in der Verbrecherkartei, nur älter. „Guten Abend, entschuldigen Sie bitte die Störung. Wir sind mit unserem Auto liegen geblieben“, log Mariya und machte auf hilflos. „Können Sie uns bitte helfen?“ Die Kommissarin war eine gute Schauspielerin. Petrov öffnete die Tür. „Oh, là, là. Je später der Abend, desto schöner die Gäste. Wo steht denn der Wagen?“
Mariya drehte sich zur Seite und zeigte auf die Straße. „Dort, etwa hundert Meter entfernt am Straßenrand. Sie sind doch ein Mann, Sie kennen sich bestimmt mit Motoren aus, nicht wahr?“
Petrov setzte ein feistes Grinsen auf. „Na ja, ich kann mir die Kiste ja mal ansehen. Wo liegt denn das Problem?“
„Der Motor hat gestottert und ist ausgegangen. Nun springt er nicht mehr an.“
„Hm.“ Petrov wagte einen Rundumblick. Niemand außer den Frauen war zu sehen. „Einen kleinen Moment, bitte. Ich hole nur mein Werkzeug.“ Petrov ging wieder ins Haus und kam nach einer Minute mit einem Eimer, der mit Zangen, Schraubendrehern und öligen Lappen gefüllt war, zurück. Seine rechte Hand ruhte auf einem Adlerkopf, der sich am oberen Ende eines Flanierstocks befand. Ging in diesem Dorf jeder am Stock – oder hatte Petrov ihn als Schlagwaffe mitgenommen? Herma beschloss, auf der Hut zu sein. Sie witterte Unheil. Petrov ging die Stufen hinab. Das Werkzeug klapperte. In der Ferne bellte ein Hund. Herma und Mariya folgten dem Verbrecher. „So, wo steht denn euer Auto? Ich sehe keins.“ Peter Petrov wurde misstrauisch. Es war allerhöchste Zeit, zu handeln. Mariya richtete die Makarow auf Petrov. „Halt, stehen bleiben. Polizei! Peter Petrov Petrov, ich nehme Sie fest und beschuldige Sie des mehrfachen Mordes. Nehmen Sie die Hände hoch und drehen Sie sich langsam zu mir um. Sie haben das Recht ...“
Weiter kam Kommissarin Boyanova nicht. Petrov drehte sich blitzschnell um und schlug ihr mit dem Spazierstock die Pistole aus der Hand. Mariya schrie vor Schmerz auf, geriet ins Taumeln und stürzte zu Boden. Noch ehe Petrov nach der Schusswaffe, die in ein Schlagloch gefallen war, greifen konnte, hatte sich Mariya wieder die Waffe geschnappt. Der Spritzenmann erkannte, dass er keine Chance hatte, in den Besitz der Makarow zu gelangen. Er schraubte den Griff des Gehstocks ab, zog das Stilett heraus, trat wie ein Stierkämpfer einen Schritt nach vorn – und stach zu. Im selben Augenblick durchbohrte die schlanke Klinge Hermas Oberarm. Bevor sich Mariya aufgerappelt hatte, stand Petrov hinter der deutschen Kommissarin und hielt ihr die Stichwaffe an die Halsschlagader. „Eine Bewegung – und deine Kollegin stirbt“, zischte Petrov wie eine Schlange. Mariya schaute entsetzt auf ihre Freundin, die offenbar unter Schock stand und zitterte. Hermas rechter Arm hing schlaff herunter, Blut lief in Strömen über ihre Hand. Es tropfte von ihren Fingerspitzen zu Boden. Van Dyck schaute ihre Kollegin mit weit aufgerissenen Augen an. Sie war wie gelähmt. Eine Bilderflut schoss durch ihren Kopf. Böse Erinnerungen wurden wach. Erst vor ein paar Monaten war sie in der Gewalt eines Serienmörders gewesen und seinerzeit dem Tod nur knapp entkommen. War das jetzt das Ende? Würde sie in diesem Dorf ihr Leben lassen? Herma spürte, wie die spitze Klinge immer tiefer in ihren Hals eindrang, wie warmes Blut austrat. Es lief zwischen ihren Brüsten hinab bis zu ihren Beinen. Die Situation kam ihr surreal vor. Die tiefe Stichwunde in ihrem Arm, aus der pulsierendes Blut spritzte, schmerzte nicht. Der Schnitt an ihrem Hals brannte dagegen wie Feuer. Herma sah in die Augen von Mariya, die breitbeinig vor ihr stand und mit beiden Händen ihre Pistole umklammerte. Ihr rechter Zeigefinger lag am Abzug. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Bulgarin stahlblaue Augen hatte. Das konnte nicht sein. Halluzinierte sie? War der Blutverlust schon so groß, dass ihr das Gehirn Streiche spielte? Oder träumte sie das alles nur? War das ein beschissener Albtraum?
„Petrov, geben Sie auf. Werfen Sie das Messer weg, oder ich schieße.“
Herma hörte Mariyas Stimme wie durch Watte.
„Nimm das Maul nicht zu voll, du Schlampe“, schrie Petrov. „Eine Bewegung – und deine kleine Freundin ist tot. Schmeiß die Waffe weg, aber schnell. Ich meine es ernst. Los, Pistole weg!“
Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drückte der Mörder die Klinge des Stiletts tiefer in Hermas Hals. Blut spritzte schwallartig aus der Wunde. Kommissarin Boyanova hatte keine Wahl. Sie musste das Leben ihrer Kollegin retten. Aber sie durfte sich nicht entwaffnen lassen. Das hätte ihren und den Tod von Herma bedeutet.
Van Dycks Kreislauf brach zusammen. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Als sie die Augen schloss und ihr Kopf nach unten sackte, zog Mariya Boyanova den Abzug der Makarow durch. Ein Schuss zerriss die Stille. Das Projektil traf Petrov zwischen den Augen. Er war auf der Stelle tot. Der Mörder und seine Geisel fielen zu Boden. Mariya erkannte den Ernst der Lage. Sie zog ihre Jacke aus, riss sich ihre Bluse vom Leib und presste sie auf die Halswunde. „Herma, bleib bei mir. Wir haben das Schwein unschädlich gemacht. Wach auf.“ Mit ihrer linken Hand tastete die Interpol-Kommissarin ihre Jacke nach ihrem Smartphone ab. Sie fand es. Um das Handy bedienen zu können, brauchte sie ihre beiden Hände. Sie musste für einen Moment lang aufhören, die Bluse auf die stark blutende Wunde zu drücken. Mariya wählte den Polizeinotruf 166. Sie stellte das Telefon auf laut und legte es neben Hermas Kopf. Dann drückte sie wieder die Wunde zu. Dreimal klingelte es, bis sich die Zentrale der Polizei Dobrich meldete. „Hier ist die Polizei. Um welchen Notfall handelt es sich?“, fragte ein verschlafen klingender Mann.
„Hier spricht Kommissarin Boyanova, Leiterin des Nationalen Zentralbüros von Interpol Sofia. Ich befinde mich im Dorf Prolez – vor dem letzten Haus am Wald. Eine Polizistin wurde schwer verletzt. Schusswaffengebrauch. Täter liquidiert. Ich benötige dringend einen Rettungswagen und Verstärkung. Haben Sie das verstanden?“
„Ja, Frau Kommissarin. Was genau ist passiert?“
„Stellen Sie jetzt keine überflüssigen Fragen. Die Kollegin ist am Verbluten. Beeilen Sie sich. Los. Zack, zack! Das ist ein Befehl!“
Mariya Boyanova legte auf. Sie betete. „Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann hilf Herma. Bitte, lass meine Kollegin nicht sterben.“
Zwanzig Minuten später, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, hörte Mariya jaulende Sirenen, die rasch lauter wurden, blitzten Blaulichter auf, fuhr ein Rettungswagen auf sie zu.
„Endlich“, schrie Mariya. „Ich bin von Interpol. Helfen Sie bitte meiner Kollegin. Sie hat sehr viel Blut verloren“, schrie Mariya. Die Sanitäter sahen sie ungläubig an. Die Kommissarin stand im BH und mit einer Pistole in der Hand vor ihnen. „Ich, ich habe meine Bluse dazu benutzt, die Wunde zu verbinden“, stammelte die bulgarische Ermittlerin. Der Fahrer des Rettungswagens nickte nur – er hob die Jacke auf und reichte sie ihr. „Sind Sie auch verletzt?“
Mariya schüttelte mit dem Kopf. „Nein.“ Sie machte mit ihrem Kopf ein Zeichen in Richtung Peter Petrov, dessen Leiche auf der Straße lag. „Um den Mann müssen Sie sich nicht kümmern. Er ist tot. Ich habe ihn erschossen.“
„Okay. Setzen Sie sich auf den Beifahrersitz. Sie sind ja völlig unterkühlt“, sagte der Sanitäter. „Wir bringen Ihre Kollegin so schnell wie möglich nach Dobrich ins Krankenhaus. Sie können mitkommen.“
„Wird sie überleben?“
„Wir werden sehen“, sagte der Mann. „So Gott will.“