Kapitel 46

Herma lag auf der Intensivstation des Kreiskrankenhauses von Dobrich. Chirurgen hatten ihre tiefen Stich- und Schnittwunden genäht und ihren Kreislauf mit elf Blutkonserven stabilisiert. In ihrer rechten Armvene steckte eine feine Nadel, durch einen Schlauch lief eine wässrige Flüssigkeit in ihren geschwächten Körper. Ein piependes EKG-Gerät bildete die elektrischen Aktivitäten ihrer Herzmuskelfasern in zackigen grünen Kurven ab. Herma starrte apathisch an die Decke. Ihre Augen fixierten eine Spinne, die sich von einer Neonröhre abseilte. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate war sie dem Tod sehr nahe gewesen. Auf einem Stuhl neben ihr saß Mariya Boyanova. Sie hatte die ganze Nacht an ihrem Bett gewacht.

Als der Morgen graute, war die Interpol-Kommissarin vor Erschöpfung eingeschlafen. Gegen Mittag wachte Mariya auf. Sie sah in die erschöpften Augen ihrer deutschen Kollegin.

„Hallo, Herma. Na, wie geht es dir?“

„Ach ... Unkraut vergeht nicht“, antwortete van Dyck im Flüsterton. „Hast du das Schwein gefasst?“

„Ja, der Kerl ist tot.“ Mariya schnalzte mit der Zunge, strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Finaler Rettungsschuss. Ich musste es tun. Du wärst um ein Haar verblutet. Es war allerhöchste Zeit – du hattest bereits die Besinnung verloren.“

„Er ist wirklich tot?“

„Hm ... Der spritzt keinen Menschen mehr zu Tode. Darauf kannst du dich verlassen. Makarow hat gesprochen.“ Mariya lachte zufrieden und klopfte auf ihre Pistole.

Herma holte tief Luft und stöhnte. Die zusammengenähte Schnittwunde an ihrem Hals brannte wie Feuer. Sie machte Anstalten, sich aufzurichten. „Ich muss meinen Chef informieren. Meine Kollegen suchen den Scheißkerl doch noch.“

Die Interpol-Kommissarin legte ihre Hand auf die linke Schulter ihrer Freundin. „Bleibe ruhig. Ich habe schon mit dem Ersten Kriminalhauptkommissar Kurt Brenner gesprochen und ihm alles erzählt.“

„Wie hat er reagiert? War Kurt nicht sauer?“

„Nein, ganz im Gegenteil. Wir haben uns nett unterhalten und sehr gut verstanden. Er ist ein sympathischer Mann – und er trinkt gern trockenen roten Wein. Ich habe ihn eingeladen, den bulgarischen Mavrud zu kosten. Weißt du, diese Rebe gibt es nur auf dem wilden Balkan.“ Mariya lächelte verschmitzt. „Ach ja, ich habe mich bei Herrn Brenner im Namen von Interpol Sofia für die gute deutsch-bulgarische Zusammenarbeit bei der Lösung des Falles bedankt.“

„Für die gute Zusammenarbeit?“ Herma runzelte die Stirn. „Hä?“

„Ja, klar. Dein Chef weiß jetzt, dass es eine von Interpol Sofia gesteuerte geheime Festnahmeaktion gab und wir dich offiziell gebeten haben, uns bei der Identifizierung eines gefährlichen Subjekts zu helfen. So wird es jedenfalls in den Akten stehen. Ich habe schon mit dem zuständigen Staatsanwalt gesprochen. Er hat das so abgesegnet. Wir legalisieren den Vorgang im Nachhinein. So einfach ist das. Übrigens: Dieser Petrov hat in Hameln noch eine Frau getötet. Sein letztes Opfer war eine reiche Fabrikantenwitwe, wenn ich deinen Boss richtig verstanden habe. Jemand hat die Leiche der Frau an einem Berghang gefunden. Was für ein Arschloch. So, jetzt schlaf etwas. Ich muss mich jetzt frisch machen. Das wird eine lange Nacht werden.“

„Was ist denn nun schon wieder passiert?“

„Gar nichts. Kurt kommt mit der 17-Uhr-Maschine in Sofia an. Ich werde ihn en détail ins Bild setzen – und danach gehen wir aus.“ Mariya zwinkerte Herma zu. „Du weißt schon: Rakia, Rotwein, rustikales Essen und ein Tänzchen. Das wird bestimmt schön. Und morgen wird dich dein Chef besuchen kommen und dir für deinen erfolgreichen Undercover-Einsatz danken. Vielleicht bekommst du sogar einen Orden. Warten wir’s ab. Vertrau mir.“

Van Dyck leckte sich über ihre spröden Lippen und sah Mariya erstaunt an. „Ach, ihr seid schon per du.“

„Ja, warum denn nicht? Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden – und wir sind neugierig aufeinander.“

Herma grinste. „Aha ...“

Mariyas Augen funkelten – sie strahlten mit der Sonne, die ins Krankenzimmer schien, um die Wette. Herma winkte Mariya näher zu sich. „Du musst mir noch etwas verraten. Wie kann es sein, dass eine dunkelhaarige Schönheit vom Balkan, wie du eine bist, blaue Augen hat? Das geht doch gar nicht ...“

„Da irrst du dich aber, meine Liebe“, antwortete Mariya triumphierend. „Die Deutschen glauben immer, sie wüssten alles. Aber das stimmt nicht.“ Die Bulgarin schüttelte den Kopf. „Du musst wissen: Die geografische Region, in der die ersten blauäugigen Menschen lebten, lag im Nordwesten des Schwarzen Meeres. Und wo bist du hier?“ Mariya hob die Augenbrauen. „Richtig. In einem wunderschönen Land am Schwarzen Meer.“

Herma schaute Mariya ungläubig an. Die Interpol-Kommissarin nickte nur. „Ja, so ist es.“

Herma schloss die Augen und stieß einen Seufzer aus. „Okay, dann weiß ich das“, flüsterte sie beim Ausatmen. „Beinahe hätte ich vergessen, mich bei dir zu bedanken.“

„Wofür?“, wollte Mariya wissen.

„Dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.“

„Ist schon okay“, sagte Mariya und winkte ab. „Jetzt schlaf dich erst einmal gesund. Du hast viel Blut verloren. Die Klinge hat deine Oberarmarterie durchbohrt. Unsere Ärzte haben dich wieder zusammengeflickt. Du wirst wieder ganz gesund, musst dich nur etwas schonen.“ Mariya erhob sich aus dem Stuhl und streckte sich. „So, bis morgen, meine Liebe. Ich muss los.“ Sie strich Herma mit der Hand über die Wange. „Mach’s gut.“

„Ja, tschüss.“

Herma ließ ihre Augen geschlossen. Sie konnte immer noch nicht fassen, was vor ein paar Stunden geschehen war. Zu zweit hatten sie einen Serienmörder zur Strecke gebracht. Van Dyck war erschöpft, aber überglücklich. Ein Disziplinarverfahren schien der Mordermittlerin erspart zu bleiben. Kommissarin Boyanova regelte Dienstverstöße auf ihre Art. Ein Lächeln huschte über Hermas Gesicht. „Undercover-Ermittlungen – auf was für Ideen diese findigen Bulgaren doch kommen.“ Keine zehn Sekunden später fiel Herma in einen mehrstündigen Erschöpfungsschlaf. Sie träumte von Harm Harmsen, ihrem bärtigen Seewolf, den sie so sehr vermisste.