4 Drei Mal lang, drei Mal kurz,
drei Mal lang
Der Morsecode für Save Our Souls . 1909 wurde damit zum ersten Mal ein Schiff in Seenot gerettet. Der Titanic hat es 1912 nichts genützt, weil die nahen Schiffe den Notruf für einen Scherz gehalten haben. Hier ist es kein Scherz. Jakob sieht, wie der Riss zu einem Spalt anwächst, der nun einen Meter breit ist. Dann zwei, drei. Er sieht, wie die Motorschlitten, Pistenbullys und schwere Kettenfahrzeuge, die alle neben den Dieseltanks geparkt sind, in den Spalt stürzen, der Sekunde um Sekunde größer wird. Ein metallisches Kreischen erfüllt die kalte Luft. Die Station ächzt wie eine gequälte Kreatur. Noch steht sie im Lot, aber nicht mehr lange, und sie wird sich zu dem Riss hin neigen. Das darf unter keinen Umständen passieren. Jakob weiß, was er tun muss. Genügend Schnee unter die sechzehn Stelzen packen, die die Forschungsstation tragen.
Unter der Station steht die Raupe, mit der sie den Schnee bewegen. Jakob rennt los. Der Mann auf dem Bully ist vergessen. Jetzt geht es nur noch darum, Neumayer III zu retten. Zum einen, weil sie von unschätzbarem Wert für die Forschung ist, zum anderen, weil bei minus 45 Grad kein Mensch mehr als drei, maximal vier Stunden im Freien überleben kann. Der Schlüssel steckt. Der Motor springt sofort an. Die beiden nördlichen Stelzen N1 und N2 fangen bereits an, sich zu verformen. Also muss er N3 und N4 stabilisieren, sonst werden sie unter den 2300 Tonnen Stahl wie Streichhölzer brechen. Er kennt das Prozedere. Hat es schon hundertmal gemacht. Mit der Fernsteuerung zwei Stelzen hochfahren, mit der Raupe Schnee darunterschieben, die Stelzen absenken. Dann die nächsten zwei. Hochfahren, Schnee darunter, absenken. Das macht ihm keine Probleme, weil seine Konstitution auf körperliche Arbeit ausgelegt ist. Weitere Stelzen werden instabil. Das ist unvermeidlich, weil der diagonale Druck zu groß wird. Wenn er sich nicht beeilt, wird die Station ihn unter sich begraben. Aber noch ist es nicht so weit. Noch stehen vierzehn Stelzen.
Schon eine Weile kann er seine Hände am Lenkrad der Schneeraupe nicht mehr spüren. Es sind die ersten Anzeichen von Erfrierungen. Wenn er es schafft, die Station zu retten, wird Aniela warmes Wasser über seine Hände gießen müssen, damit er sie öffnen und vom Lenkrad lösen kann. Das dauert dann mindestens zehn Minuten. Wenn er Glück hat, tauen die Finger wieder auf. Allerdings kommen dann auch Schmerzen, die kaum zu ertragen sind.
Von irgendwoher, er kann die Richtung nicht lokalisieren, hört er aufgeregte Rufe. Es ist Aniela. Er reagiert nicht. Hektik bringt nichts. Hektik verursacht Fehler, die in solchen Situationen tödlich enden. Jakob macht seine Arbeit ruhig, gründlich und gefasst. So war es schon immer. Je lauter es um ihn herum wird, umso ruhiger wird er. Je ängstlicher seine Begleiter werden, umso gelassener bleibt er. Er weiß nicht, wieso das so ist. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die Möglichkeit zu sterben ihn nicht erschreckt. Er nimmt es als Geschenk des Lebens. Daher versteht er die Angst vor dem Tod nicht so ganz, und das trennt ihn von den meisten Menschen. Wenigstens war es so bis zu diesem Morgen. Bis er das Ultraschallbild gesehen hat.
»Jakob, hör auf! Du musst unter der Station raus. Sofort!«, brüllt Aniela.
Sie ist so nahe, dass er zusammenzuckt. In dem Gestöber aus Schnee und kleinen Eispartikeln kann er sie kaum erkennen. Sie hat die Kapuze ihrer grünen Jacke tief ins Gesicht gezogen. Nur ihre silberne Skibrille und darunter die rot glühenden Wangen sind noch zu sehen. Und der Mund mit den blassen Lippen, die von den Schneeflocken umkreist werden. Sie hat Angst.
»Lass die verdammte Schneeraupe, und komm!«, schreit sie. »Wir sind bei sechs Grad Neigung!«
Dass die Station sich neigt, weiß er auch ohne sie, und er kennt die Folgen.
»Ruf die Südafrikaner an oder die Engländer«, brüllt er. »Die sollen einen Hubschrauber schicken. Los, geh schon!«
Aniela weicht zurück. Er schaut ihr nach, wie sie die Rampe erklimmt und ins Freie klettert. Der Fremde ist nirgends zu sehen. N6 und N7 biegen sich schneller, als er gedacht hat. Er muss die Stelzen sofort entlasten. Das heißt, N8 und N9 hochfahren, Schnee darunterschieben, absenken. Er jagt die Schneeraupe zwischen den Stelzen hindurch, als würde er ein Slalomrennen fahren.
Und dann wird es inmitten des Chaos mit einem Mal still. Er hört nur noch, wie das Blut in den Ohren pulst, die Luft in den Bronchien kreischt. Die nördlichen Stelzen brechen. Die Station über ihm sackt herab. Der Boden kommt näher und näher, bis er seine Schultern berührt. Neun Grad.
Wenn ich Atlas wäre, denkt er, würde ich dich tragen. Wie Leela damals in den Davoser Bergen. Jakob schüttelt die Erinnerung ab. Er beugt sich. Geht in die Hocke. Er müsste aus der Schneeraupe aussteigen, aber er weiß nicht, wie er das mit den festgefrorenen Händen machen soll.
Zehn Grad.
Elf Grad.
Als die Station die Schneeraupe unter sich wie ein Modell aus Streichhölzern zerknickt, brechen auch Jakob Richters steif gefrorene Finger. Seltsamerweise fühlt er keinen Schmerz. Er hört nur das majestätische Geräusch von berstendem Eis.