12 Ein dreifacher Espresso
Anders wird er nicht wach. Während Leon zuschaut, wie die Kaffeemaschine gurgelt und zischt, versucht er, Mackenzie zu erreichen. Er weiß immer noch nicht, ob Jakob Richter die Dokumente an sie schicken konnte, bevor Neumayer III ins Meer gestürzt ist. Er braucht die Papiere. Wenn da drinsteht, was Mackenzie versprochen hat, wird es vielleicht doch noch was mit dem gesetzlichen Notstand. Im Hintergrund dreht sich Bruce Springsteen auf dem Plattenteller. »I’m On Fire«.
Der Blick aus Falks Wohnung im achten Stock des Kanzleramtes fällt auf den Hauptbahnhof, vor dessen Türen mehrere Dutzend Menschen auf Matratzen und in Schlafsäcken übernachten. In zwei Stunden wird die Polizei sie vertreiben. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotografien von Frauen, die zu Falks morgendlicher Erbauung beitragen. Angela Merkel, Oprah Winfrey, Jill Abramson, Malala Yousafzai. In den Regalen stehen neben den Biografien berühmter Politiker und Künstler, neben Sun Zu und Machiavelli auch Die Neapolitanische Saga und Harry Potter . Den weißen Kelim vor dem Regal hat sie aus Kasachstan mitgebracht, der Schreibtischstuhl ist antik. Alles hier ist genau ausgewählt und an seinem Platz. Der schwarze Schreibtisch ist penibel aufgeräumt. »VS-VERTRAULICH!« steht in fetten Buchstaben auf dem Deckel einer Mappe.
Mit dem Espresso in der Hand setzt Leon sich auf den Schreibtischstuhl. Das kalte Leder erschreckt ihn, wenn er sich zurücklehnt. Er könnte Unterhose und T-Shirt anziehen, aber dann müsste er zurück ins Schlafzimmer gehen, und vielleicht würde sie dann aufwachen. Er liest, was der BND in den letzten Tagen an Informationen zusammengetragen hat. Undine von Broch hat die rechtsradikalen Prepper zu einer bundesweiten Aktion aufgerufen. Sie wollen die Regierung stürzen. Wieder einmal. Die Brände im brasilianischen Regenwald greifen um sich. Als die Regierung gemerkt hat, dass sie die Kontrolle verliert, hat sie das Militär losgeschickt. Aber da war es bereits zu spät. Nach sechs Monaten Dürre ist das Feuer nicht mehr zu stoppen. Es frisst sich von innen nach außen wie die Druckwelle einer Atombombenexplosion. Die Hilferufe an die Amerikaner waren natürlich ein Witz, weil die ihrerseits damit beschäftigt sind, Los Angeles zu evakuieren. Die Stadt ist eingeschlossen. Zuerst war es der Feuertornado, jetzt kommt vom Meer her das Wasser.
Aus dem Schlafzimmer ist ein leises Rumoren zu hören. Leon hält inne, lauscht. Wahrscheinlich hat sie nur geträumt. Es wird wieder ein harter Tag werden. Endlose Telefonate, damit sie auf der World Climate, Environment und Economic Conference in Davos den gesetzlichen Notstand ausrufen können. Die Konzerne sollen einige der größten Dreckschleudern abschalten. Dafür sollen sie Entschädigungen in Milliardenhöhe erhalten. Wenn sie sich weigern, sollen sie verstaatlicht werden. Das ist natürlich nur die Ultima Ratio. Und ein Tabubruch. Die Polen haben auch prompt signalisiert, dass sie auf keinen Fall mitmachen. Wie auch, sie sind die größten Kohleproduzenten Europas. Die Russen, Amerikaner, Chinesen und Saudis erst recht nicht. Und Falk scheint manchmal selbst nicht mehr dran zu glauben, dass es noch zu einer Einigung kommt. Deswegen brauchen sie Richters Informationen.
»Leon? Bist du noch da?«
»Ja.«
»Komm zu mir.«
»Zu Befehl.«
Er geht zurück ins Schlafzimmer. Diana liegt halb bedeckt, das iPad in den Händen, und wischt durch die Nachrichten.
»Was hast du gemacht?«
»Ein paar Vitamine genommen, um mich von der Nacht zu erholen. In meinem Alter dauert es länger mit der Regeneration.«
»Ich weiß. Ich hab gelesen, dass Männer den Höhepunkt ihrer sexuellen Leistungsfähigkeit mit dreiundzwanzig überschritten haben.«
»Was man von Frauen über fünfzig wohl kaum sagen kann.«
Er legt sich zu ihr, versenkt den Kopf an ihrer Schulter, dort, wo das Schlüsselbein liegt und wo sie besonders gut riecht. Vielleicht kann er noch ein paar Minuten schlafen. Doch kaum hat er die Augen geschlossen, legt sie das Pad beiseite und steht auf.
»Komm frühstücken«, sagt sie, während sie das Schlafzimmer verlässt. Er sieht ihr hinterher. Sie ist schlank, muskulös, und ihre Haut ist für ihr Alter überraschend fest. Eine Kämpferin, die so leicht nichts erschüttern kann. Wenn andere müde werden, holt sie von irgendwoher ungeahnte Energien, als hätte sie ein paar versteckte Akkus. Er ist gerne mit ihr zusammen. Und er hat gerne Sex mit ihr. Er beobachtet, wie sie ein paar tänzelnde Schritte zu »My Hometown« macht.
Eine Viertelstunde später hat er einen Power Smoothie aus Rucola, Spinat, Pfefferminze, Brennnessel, Chia-Samen und Himbeeren zubereitet. Krebszellen mögen keine Himbeeren, sagt Diana. Vor acht Jahren hatte sie Brustkrebs. Sie wurde operiert und hat es überstanden. Sie ist zäh. Wahrscheinlich würde sie auch einen Sturz von einem Hochhausdach überleben. Sie trägt ihre Kampfuniform. Dunkelblauer Hosenanzug von Armani. Sie trinkt den Smoothie aus, reicht ihm das Glas und deutet auf die Geschirrspülmaschine. Er räumt das Glas ein.
»Ich hab da so eine komische Notiz gefunden«, sagt Leon. »Was ist Decamerone?«
Sie sieht ihn skeptisch an.
»Spionierst du mir hinterher?«
Was soll er darauf antworten? Und wieso klingt sie so aggressiv?
»Nein, ich spioniere dir nicht hinterher.«
»Sicher?«
»Wird das ein Verhör?«
»Verhört haben die Nazis. Ich foltere.«
Sie lächelt, gibt ihm einen Kuss und rutscht wortlos von dem Hocker herunter. Er wischt die schmale Theke sauber. Wieso weicht sie ihm aus, wenn er sie nach Decamerone fragt?
»Hast du das über Sibirien gelesen?«, fragt Falk. »Heute Nacht sind schon wieder mehr als 50 000 Tonnen Dieseltreibstoff und Chemikalien aus zwei geborstenen Tanks bei Nornickel ausgelaufen.«
Auf ihrem iPad schauen sie die Videos an, die zeigen, wie sich ein breiter roter Fluss seinen Weg durch den schlammigen Boden bahnt.
»Die Brühe hat den Ambarnaja erreicht«, sagt Leon. »Das heißt, die Scheiße macht sich auf den Weg in Richtung Nordpolarmeer.«
Im Sekundentakt werden Videos von Amateurfilmern hochgeladen, in denen der Katastrophenschutz mit schwerem Gerät anrückt. Hochleistungspumpen, schwimmende Ölsperren, aufblasbare Ballons, um die übrigen Tanks zu stützen. Lastwagen, in deren Bauch Tonnen von Beton gemischt werden, holpern über verschlammte Straßen in Richtung des Kraftwerkes. In einem wackligen Video taucht ein Junge ein Stück Stoff in den Ambarnaja, nimmt es wieder heraus und hält ein Feuerzeug darunter. Sofort steht der Stoff lichterloh in Flammen.
»Popkow hat in den Nachrichten getobt. Aber auch wenn das jetzt zynisch klingt. Es kann sein, dass die Katastrophe uns hilft, weil sie ihm jetzt zu Hause noch mehr Feuer unterm Hintern machen«, sagt Falk.
»Du denkst, dass er in Davos auf unsere Seite wechselt?«
»Keine Ahnung. Vielleicht solltest du jemanden losschicken, der die sibirischen Wälder in Brand setzt.«
Wie bitte? Meint sie das ernst? Sie scheint seinen entsetzten Blick zu bemerken.
»Beruhig dich wieder. Es war ein Scherz«, sagt sie.
Ein Scherz. Und trotzdem sind das die Momente, in denen sie ihn erschreckt. Er ist in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem es sehr moralisch zuging. Der Vater Polizist, die Mutter Lehrerin. Das Gute kann nur durch das Gute erreicht werden, predigte sein Vater bei jeder Gelegenheit. Leon hat ihn für diese Haltung bewundert. Es ist der einzige Weg, um nicht korrumpiert zu werden. Egal, was du tust, egal, wo du bist. Vor allem, wenn du in die Politik gehst, musst du etwas haben, woran du dich festhalten kannst, weil an jeder Ecke ein Teufel wartet, der dir in der Frustration die Hand reicht. Für Leon ist es die Erinnerung an seinen Vater, der es vorzog, lieber keine Karriere zu machen, als jemandem hinten reinzukriechen. Das Wort »Kompromisse« kam in seinem Wortschatz nicht vor. In Diana Falk glaubt Leon eine Schwester im Geist gefunden zu haben.
»Was ist mit diesen Dokumenten, von denen du gesprochen hast?«, fragt sie.
»Noch nichts Neues. Mein Kontakt antwortet nicht.«
»Dann ruf ihn an. Leon, wir haben keine Zeit. In knapp sechs Wochen beginnt die Konferenz. Wenn wir bis dahin nicht genügend Regierungen auf unserer Seite haben, brauchen wir erst gar nicht hinzufahren.«
Er wählt Mackenzies Nummer. Wieder nichts. Warum geht die Frau nicht ans Telefon? Sieht sie seine Nummer auf dem Display und lässt ihn deswegen verhungern?