13 Ich habe mich über Mackenzie
informiert
Studium der Ozeanografie an der TU Dresden. Da hat sie Jakob kennengelernt und war eine Weile mit ihm zusammen. Dozentin am PIK, dem Potsdamer-Institut für Klimafolgenforschung, mehrfach wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte von der Polizei festgenommen. Zusammen mit fünfzig anderen höre ich Mackenzies Vortrag zu.
»Auf der Klimakonferenz in Glasgow hieß es, dass sich im Jahr 2050 die globale Durchschnittstemperatur auf 2,5 Grad erhöht haben wird. 75 Prozent des Regenwaldes im Amazonas werden gerodet und durch Ackerflächen ersetzt sein. Dadurch wird der Niederschlag verringert, und die Ackerflächen werden unbrauchbar. Es hieß, dass dann die Brände in Alaska, Kanada und Sibirien dazu führen, dass 30 Millionen Quadratkilometer Permafrostboden auftauen und dadurch 2000 Milliarden Tonnen Kohlenstoff freigesetzt werden. Ölleitungen würden bersten und Industrieanlagen und ganze Städte im Morast versinken. Es hieß, dass sich bis zum Jahr 2050 die Eisschmelze in Grönland dramatisch beschleunigen und 30 Zentimeter zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen würde. Dass dann der Gangotri-Gletscher im Himalaja verschwunden sein wird und achthundert Millionen Menschen in Indien, Nepal, Bhutan, China das Wasser ausgeht, weil der Ganges nur noch ein Bach sein wird. Dass die Arktis ganzjährig eisfrei sein wird. Dass die Gletscher in den Bayrischen Alpen komplett
verschwinden. Das alles wurde für das Jahr 2050 vorhergesagt. Und es waren falsche Vorhersagen. Es ist jetzt schon so weit. Hier und heute.«
Ich schaue mich um. Die Leute hängen förmlich an Mackenzies Lippen.
»Das wissen wir doch alles. Was schlägst du vor, was wir tun sollen?«, fragt ein junger Mann ein paar Plätze neben mir.
»Das weiß ich nicht«, antwortet Mackenzie. »Ich bin Wissenschaftlerin, keine Politikerin.«
»Wir können aber doch nicht einfach weiter auf die Straße gehen und noch Jahre demonstrieren«, regt sich eine Frau auf. »Die Zeit läuft uns davon, und die Politik tut so, als würde sich das Problem von selbst lösen.«
»Das ist richtig«, sagt Mackenzie. Wir wissen, dass hinter dem Scheitern aller bisherigen Klimakonferenzen, angefangen 1995 in Berlin über ’97 in Tokio, 2009 in Kopenhagen, 2015 in Paris und 2025 in Istanbul die Arbeit einer Lobbygruppe steckt, die mit Hunderten Millionen Dollar Druck auf Regierungen ausübt. Es ist schwer zu verstehen, wie diese Leute funktionieren. Wieso sie, um Profit zu machen, die Zerstörung der Erde vorantreiben. Ich habe versucht, es zu kapieren, aber es gelingt mir nicht.«
Die Diskussion geht noch eine Stunde weiter. Je länger ich zuhöre, umso mehr gerate ich in eine eigenartige Unruhe. Ich habe Bücher über den Klimawandel gelesen, habe mit Jakob nächtelang diskutiert. Aber noch nie hat mich jemand mit den Schilderungen einer nahen Katastrophe derart berührt und in Angst versetzt.
»Wir werden das Sterben der Erde, so wie wir sie kennen, nicht aufhalten, wenn wir nicht begreifen, dass es eine Verschwörung gegen das Leben, gegen die Natur, gegen die Tiere und gegen uns gibt. Wir müssen erkennen, wer diese Verschwörung betreibt, wer unser Feind ist. Wir müssen endlich die Wahl der Waffen annehmen. Danke, dass ihr mir zugehört habt.«
Sie verbeugt sich knapp, und ihre Zuhörer applaudieren wie wild. Ich klatsche auch, aber ich hätte gerne noch gehört, was das heißt, die Wahl der Waffen anzunehmen. Hat das mit den Dateien zu tun, die Jakob mir geschickt hat? Als der Applaus abebbt und einige aus dem Publikum Selfies mit Mackenzie gemacht haben, kommt sie auf mich zu.
»Du bist Jakobs Freundin?«, sagt sie erstaunt.
»Ja, wieso?«
»Er hat gesagt, du bist eine tolle Schriftstellerin.«
»Hat er das wirklich gesagt?«, frage ich ungläubig.
»Ich schwöre es dir.«
»Aber ich habe doch noch nichts fertig geschrieben.«
Es berührt mich, dass er das von mir gedacht hat. Ich fange an zu weinen, Mackenzie umarmt mich, und ich bin so überrascht, dass ich mich nicht wehren kann. Es geschieht nicht oft, dass eine fremde Person mich so emotional empfängt. Aber ich lasse den Überfall über mich ergehen, weil ich spüre, dass er nicht geheuchelt ist. Nach einer Weile befreie ich mich dann doch von ihr.
»Sorry«, murmelt Mackenzie.
Sie wischt sich schnell über die Augen und lächelt.
»Es tut mir so leid. Weißt du, ich hab mich gefragt, wie die Frau wohl aussieht, die es länger als drei Monate mit ihm aushält. Und jetzt … Tut mir leid. Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll, dass er tot ist. Wart ihr gut miteinander? Ich meine, wolltet ihr …?« Sie bricht mitten im Satz ab.
»Ich bin schwanger«, sage ich.
Das wollte ich eigentlich nicht sagen. Ich wollte es niemandem sagen, und jetzt ist es mir herausgerutscht, als wollte ich beweisen, dass es ernst zwischen ihm und mir ist. War. Mackenzie sieht mich mit großen Augen an, so als hätte sich die letzte Schwangerschaft vor tausend Jahren ereignet.
»Du bist schwanger? Wievielter Monat?«
»Zweiter. Aber ich will nicht darüber reden. Und auch nicht mehr über Jakob. Okay?«, sage ich.
Mackenzie nickt. »Ja, verstehe ich.«
Sie greift ihre Jacke und Handtasche, ich meinen Rucksack.
»Mit dem Ding bist du unterwegs? Interessant. Schmuggelst du Waffen?«
Das wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee, nach der Begegnung mit Henry Fonda. Als mein Handy klingelt, zucke ich zusammen. Wie jedes Mal, weil ich immer noch hoffe, dass Jakob dran ist und sagt, dass er doch noch lebt. Aber es ist meine kleine Schwester.
»Chrissie, was ist los?«
»Die streiten sich total. Papa ist betrunken, und Mama hat sich im Schlafzimmer eingesperrt, weil er sie geschlagen hat.«
Nicht schon wieder!
»Chrissie, ich kann jetzt nicht nach Hause kommen. Ruf die Polizei an.«
»Hab ich schon. Wann kommst du?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Kann ich nicht zu dir kommen?«
»Das geht jetzt nicht. Aber ich komm dich holen. Ich verspreche es, okay?«
Stille.
»Chrissie?«
Sie hat das Gespräch beendet. Wann kommst du
. Die Frage trifft mich. Ich kenne die Situation. Ich weiß, was zu Hause los ist, wenn mein Vater getrunken hat. Wenn zuerst die ganze Welt, dann die Firma und dann Gita an seinem Elend schuld sind. Ich habe erlebt, wie er sich auf unsere Mutter gestürzt hat und ich ihn nur stoppen konnte, indem ich ein Messer genommen und gedroht habe, ihn umzubringen. Danach war monatelang Ruhe. Er war sogar zu den Anonymen Alkoholikern gegangen und hatte sich auf neue Jobs beworben. Aber als er auch da
entlassen wurde, ging es wieder von vorne los.
»Alles okay?«, fragt Mackenzie.
»Ja«, antworte ich.