15 Die Fahrt führt ins Märkische Viertel
Vorbei an endlosen Reihen von Autos, die an den Straßenrändern geparkt stehen und deren Kennzeichen erzählen, dass sie sich aus ganz Deutschland auf den Weg nach Berlin gemacht haben. Aufkleber mit den Flaggen des Deutschen Reiches, Hakenkreuze, das Zeichen der Reconquista Germanica kleben auf den Heckscheiben. Sie sehen aus wie die, die uns auf der Fahrt nach Berlin überholt haben. Als wir den Senftenberger Ring erreichen, stellt Mackenzie den alten Tesla in der Nähe eines Aldi ab und kauft Bier, Limonade, Käse und Brot. Ihre Wohnung ist groß. Bestimmt neunzig Quadratmeter. Schick eingerichtet. Ich bleibe in der Tür zum Wohnzimmer stehen.
»Was ist?«, fragt Mackenzie.
»Hier ist alles so ordentlich, hast du eine Putzfrau?«
»Die steht vor dir. Du kannst da schlafen«, sagt sie.
Sie deutet in ein Zimmer, in dem ein Schlafsofa, Tisch, Sessel und ein Schrank stehen. Alles funktional, kein Vintage, nichts auf edel gemacht. Unzählige Bücher füllen zwei Regale. Ich stelle den Rucksack neben dem Sofa ab. Mein Rücken fühlt sich an, als wäre er aus Stein. Jeder einzelne Muskel schmerzt. Ich berühre eine Stelle bei den Lendenwirbeln und zucke zurück. Die Haut ist gerötet und brennt bei der Berührung.
Mackenzie öffnet eine Flasche Bier und eine Flasche Limonade, reicht mir die Limo.
»Wieso trinkst du Bier und ich Limo?«, frage ich.
»Weil du schwanger bist, Herzchen.«
Wir stoßen an, trinken, stehen eine Weile am Fenster, wo uns ein fantastischer Ausblick Berlin zeigt.
»Es ist richtig schlimm, was mit Jakob passiert ist«, sagt Mackenzie.
»Wir haben uns gestritten«, sage ich. »So heftig, dass ich dachte, er kommt nie mehr zu mir zurück. Und so ist es ja auch. Nur anders, als ich es erwartet habe.«
Wir stehen lange einfach nur da. Erst als die untergehende Sonne das Zimmer so golden erstrahlen lässt, als stünde es in Flammen, wende ich mich ab. Ich bin müde von den Erinnerungen.
»Ruh dich aus«, sagt Mackenzie.
»Ja.«
Mackenzie geht in die Küche und räumt die Lebensmittel ein. Hantiert mit einem Topf und der Kühlschranktür.
»Ich mach dir was zu essen«, ruft sie.
Ich setze mich auf das Sofa. Es ist weich und bequem, und es ruft mich.
Als ich die Augen wieder öffne, ist es dunkel. Es dauert einen Moment, bis ich mich erinnere, wo ich bin. In der Küche brennt Licht. Ich taumele. Meine Beine sind noch in dem Traum unterwegs, in dem ich über meterhohe Schneeberge gerannt bin. Verschlafen taste ich mich dem Licht entgegen.
Mackenzie sitzt am Küchentisch, hat ihr Notebook aufgeklappt und liest. Der Stick, auf den ich die Dateien geladen habe, liegt daneben. Sofort bin ich hellwach.
»Was machst du da?«
»Lesen, was Jakob geschrieben hat. Wir haben nicht viel Zeit, Leela. Da ist was zu essen für dich.«
Sie deutet zu einem Topf auf dem Herd.
»Spaghetti Pomodoro à la Mac. Teller sind im Schrank links. Besteck
in der Schublade. Ist das alles, was Jakob dir geschickt hat?«
»Was meinst du?«
Ich setze mich Mackenzie gegenüber. Das Essen wärmt mich. Ich spüre die Energie der Kalorien wie eine Injektion von Kraft und Selbstvertrauen. Mackenzie freut sich offensichtlich, dass es mir schmeckt. Nach wenigen Stunden bin ich ihr schon so nahe, als wäre sie meine große Schwester.
»Keine Passwörter?«
»Jakob hat in seiner Mail geschrieben, dass du die Dateien öffnen kannst. Oder jemanden kennst, der es kann.«
»Okay, dann muss Manuel ran«, sagt Mackenzie.
»Wer ist Manuel?«
»Ein Freund.«
»Und der kann Passwörter knacken?«
»Die einzigen Passwörter, die Manuel nicht knacken kann, sind seine eigenen.«
»Das muss er ja auch nicht.«
»War ein Witz.«
Mackenzie verschickt die Dateiordner mit einem Verschlüsselungsprogramm, dann klappt sie das Notebook zu.
»Was ist?«, frage ich.
Ich sehe in Mackenzies Blick ein riesiges Fragezeichen.
»Du weißt, was Jakob in den letzten Wochen und Monaten gemacht hat, oder?«, fragt Mackenzie.
»Was meinst du? Er war in der Antarktis.«
»Ja, aber nicht nur.«
»Sondern?«
»Okay, du weißt es nicht. Also, die ersten zwei Jahre hat Jakob auf Neumayer III einen Artikel nach dem anderen veröffentlicht.«
»Ich weiß, ich hab die alle gelesen«, sage ich.
»Dann hast du vielleicht auch gemerkt, dass er seit ein paar Wochen
keinen einzigen Artikel mehr veröffentlicht hat.«
»Es ist mir durchaus aufgefallen, aber ich habe gedacht, er hatte zu viel mit seiner Forschung zu tun und deswegen keine Zeit, Artikel zu schreiben.«
»Weißt du, Leela, seit mehr als dreißig Jahren warnen wir Wissenschaftler davor, dass es zur Klimakatastrophe kommen wird. Selbst die Ölindustrie weiß, dass die Atmosphäre sich aufheizt. Exxon hat 1977 Studien erstellen lassen, die zeigen, dass das Verbrennen fossiler Stoffe den CO2-Gehalt in der Atmosphäre ansteigen lässt und wie das zur Erwärmung der Erde führt. Aber als sie das gesehen haben, sind die Studien schnell im Giftschrank verschwunden.«
Als der Wasserkessel zu pfeifen anfängt und wir beide gleichzeitig erschrecken, müssen wir lachen.
»Was für einen Tee willst du?«
»Was hast du?«
»Pfefferminz und Pfefferminz.«
»Dann nehme ich Pfefferminz.«
»Gute Wahl.«
»Ich weiß.«
Etwas unbeholfen stopft Mackenzie grüne Blätter in ein Teesieb, gießt vorsichtig Wasser darüber und wedelt den Duft in meine Richtung.
»Braucht ein paar Minuten«, sagt sie und setzt sich wieder an den Küchentisch. »Wo war ich?«
»Bei Exxon.«
»Jakob hat sich gefragt, was er tun kann. Wie er dafür sorgen kann, dass der ungleiche Kampf gegen die Energiekonzerne weniger ungleich wird. Also ist er bei denen eingebrochen.«
»Er ist bei Exxon eingebrochen? Wieso hat er mir das nicht geschrieben?«
»Weil ich ihm den Tipp gegeben habe.«
»Und wo hast du die Information her?«
»Von einem Whistleblower.«
»Wer ist das? Wie heißt der?«
»Weiß ich nicht. Er arbeitet für Exxon, und er will nicht, dass irgendjemand seinen Namen kennt.«
Mackenzie nimmt zwei Tassen aus einem Schrank und gießt Tee ein. Der Tee ist heiß, ich zucke zurück, als ich mir die Lippen verbrenne. Ich bin wütend, weil Jakob mir etwas verschwiegen hat. Als wäre ich ein dummes Mädchen, das nichts von den Dingen versteht, mit denen er sich befasst. Um mich nicht zu beunruhigen? Ich überlege, ob ich Mackenzie von der Begegnung mit Henry Fonda erzählen soll.
Ein kurzer Pfeifton weckt mich aus den Gedanken. Mackenzie öffnet die Mail.
Dateiordner angekommen. Kassandra hab ich geknackt. Wenn Du Deinen süßen Arsch hierher bewegst, wirst Du staunen.
»Na also«, sagt Mackenzie.
Ich beschließe, die überstandene Verfolgungsjagd erst mal für mich zu behalten.