34 Aniela Wozniak und Paulus Moses
Um sechs Uhr haben auch die Fernsehnachrichten den Namen des angeblichen Opfers genannt. Wo sie sich derzeit aufhält, ist nicht bekannt. Warum sie die Vergewaltigung erst jetzt anzeigt, auch nicht. Vertreten wird sie von Paulus Moses. Leon kennt ihn. Ein unangenehmer Typ. Sie hatten schon ein paarmal Kontakt mit ihm. Zum letzten Mal, als es um das EEG ging. Er hat damals gedroht, die Bundesregierung auf Milliarden zu verklagen. Um sechs Uhr fünfzehn hat Leon eine kurze Nachricht erhalten. Mein Büro, 8:00.
Wenn Diana Falk Höflichkeiten beiseitelässt, ist die Kacke am Dampfen. Als Leon das Eingangsfoyer des Kanzleramts betritt, erwartet ihn eine von Falks Sekretärinnen. Sie ist noch nicht lange dabei. Falls sie ihm ihren Namen genannt hat, kann er sich nicht mehr erinnern. Sie ist groß, schlank, asketisch. Wahrscheinlich läuft sie jeden Morgen einen Marathon. Ihr Begrüßungslächeln schwankt zwischen Freundlichkeit und Hinrichtung.
In den letzten Stunden ist es im Kanzleramt äußerst ungemütlich geworden, und sie weiß, dass er an dem Desaster schuld ist. Er folgt ihr vorbei an der Bronzefigur mit dem übergroßen Kopf und dem Namen Die Philosophin.
Ob Philosophie jetzt noch hilft, ist fraglich. Sie gehen die breite Treppe hinauf, an der Gemäldegalerie der Bundeskanzler vorbei. Die acht Bundeskanzler-Porträts füllen die Wand. Leon fragt sich, wo Falks Porträt hängen wird. Nach den Ereignissen der letzten
Tage vielleicht im Keller. Der Aufzug bringt sie in die siebte Etage. Die Sekretärin klopft an die Kirschholztür und öffnet sie.
»Guten Morgen«, sagt Leon, während er auf Samtpfoten eintritt.
Der Gruß wird nicht erwidert. Er scheint noch nicht mal eines Blickes wert. Also wartet er darauf, dass sie ihm Platz anbietet. Aber auch dazu kommt es nicht. Er muss die Bestrafung im Stehen ertragen. Falk wird das Desaster auf ihn abwälzen, um ihren eigenen Kopf zu retten. Soweit es da noch etwas zu retten gibt. »Eine Kanzlerin braucht Staatssekretäre und wissenschaftliche Mitarbeiter als Lieferanten von Informationen und als Kanonenfutter«, hat Diana ihm beim Einstellungsgespräch gesagt. »Sie werden zuerst geopfert, dann der Unterstaatssekretär, dann der Staatssekretär. Wenn das nicht reicht, biete ich meinen Rücktritt an. Ich werde aber deutlich machen, dass ich von den Vorgängen nichts wusste. Sind Sie einverstanden?« Damals waren sie noch beim Sie.
Er war einverstanden. Allerdings hat er nicht erwartet, dass es so schnell zur Exekution kommen würde.
»Stimmen die Vorwürfe, die gegen Jakob Richter erhoben werden?«, fragt Falk.
Was soll er darauf antworten? Jakob Richter war ein angesehener Glaziologe. Er gehörte zum Team der Polarforschungsstation Neumayer III. Er hat unzählige Artikel in Nature
und Science
veröffentlicht. Hat er diese Aniela Wozniak tatsächlich vergewaltigt? Woher soll Leon das wissen? Er hat keine eigenen Recherchen angestellt. Was ein Fehler ist. Er hat Leela und Mackenzie vertraut. Weil er dachte, dass die Liste mit den Namen und den Summen, die darin genannt werden, authentisch ist. Weil er wollte, dass sie authentisch ist.
»Ich habe mit Rousseau, Hobbes, Gasset und Annunzio telefoniert. Ich habe ihnen gesagt, dass es Fotos und Videos gibt und dass sie meinen Vorschlag unterstützen sollen, weil es sonst sein kann, dass die Liste an die Öffentlichkeit gelangt, was für ihre Regierungen das Ende bedeuten würde. Sie haben zähneknirschend die Schwänze eingezogen.
Ich hatte sie so weit, dass sie in Davos einem internationalen gesetzlichen Notstand zustimmen wollten. Und jetzt muss ich hören, dass dieser Jakob Richter ein mutmaßlicher Vergewaltiger ist.«
Mit ihrer Stimme könnte man Marmor schneiden.
»Das ist doch nur eine Kampagne, um ihn und die Liste zu diskreditieren«, sagt Leon.
»Das weiß ich auch. Aber die Nachricht ist draußen. Und selbst wenn sie dementiert wird, bleibt etwas hängen. Du weißt, was das heißt.«
Ja, er weiß, dass Kotzer, Fuchs und Becker ihr den Rücktritt nahelegen werden.
Sie erhebt sich, geht zur Tür. Dort wartet sie, bis Leon und die Neue ihr folgen. Zu dritt gehen sie die Treppe hinunter in die sechste Etage. Im amerikanischen Strafvollzug wird der Todeskandidat auf dem Weg zu seiner Hinrichtung als Dead man walking
annonciert. Während seines Jurastudiums war er bei einer Hinrichtung dabei. Es lässt sich nicht vergleichen, und trotzdem fühlt es sich so an.
Das Erste, was Leon im Kabinettssaal auffällt, sind die leeren Plätze, auf denen normalerweise die Protokollanten sitzen. Die Minister und Staatsminister haben sich um den ovalen Tisch herum verteilt. Sie haben nicht die übliche Sitzordnung eingenommen. Siegmar Kotzer hat sich direkt gegenüber dem Kanzlerinnenplatz postiert, Helga Fuchs mit zwei Plätzen Abstand rechts davon, Andreas Becker mit einem Platz Abstand links. Kotzer wird die Kanzlerin frontal angreifen, Fuchs und Becker werden von der Seite zustechen. Es ist eine so offensichtliche Angriffsformation, dass Leon grinsen muss.
Er hat viele Sorten Politiker kennengelernt. Die Dummköpfe, bei denen man sich fragt, wie sie es so weit gebracht haben. Die Faulen, die ihr Team die Arbeit machen lassen und selbst die Lorbeeren kassieren. Die Verschlagenen, die Karrieristen, die Nazis, die Hasser, die Schürzenjäger. Der Fehler ist, dass wir die Aussagen der Politiker als Produkte vernünftiger Überlegungen annehmen, denkt er manchmal.
Man müsste sich stattdessen ihre Kindheit anschauen, wie sie leben, wie sie mit ihren Partnern, ihren Kindern umgehen. Das sagt hundertmal mehr über ihren Charakter aus. Sie haben wie wir alle Ängste, Wut, Sehnsüchte, Gier. Nimm die sieben Hauptlaster, und du hast den Durchschnitt durch das Parlament.
Falk begrüßt die Runde, legt den Stapel Papiere und Dokumente auf dem Tisch ab und setzt sich. Leon und die Neue in der zweiten Reihe ebenso.
Wer wird die Schlacht eröffnen? Kotzer? Fuchs? Die Tagesordnung wird kurz besprochen, dann beginnt Kotzer mit dem Lagebericht. Er öffnet auf seinem iPad eine Seite, geht auf die Überschwemmungen an der Nordseeküste ein und die erbärmliche Lage der Menschen, die in Notunterkünften untergebracht worden sind. In einem Video sind Drohnenaufnahmen zu sehen, wie auf der Elbe ein völlig überladenes Boot kentert. Bilder, die bisher nur von den Flüchtlingsbooten im Mittelmeer zu sehen waren.
»Wir mussten die gesamte Bevölkerung aus den überschwemmten Gebieten in Hamburg evakuieren. Ähnliches kann ich aus Wilhelmshaven, Bremerhaven, Cuxhaven, Flensburg und Lübeck melden.«
Während die Gesichter in der Runde professionelle Sorge und Bestürzung zeigen, vergisst Kotzer nicht, zu betonen, wie hervorragend sein Stab arbeitet, womit er hauptsächlich sich selbst meint. Dann geht es um eine Einschätzung seitens des Verfassungsschutzes zu einem Interview, in dem Undine von Broch das Abdanken der Regierung fordert.
»Broch ist seit Kurzem ein führender Kopf in der rechten Szene, und sie stellt eine reale Gefahr dar«, sagt Kotzer. »Bisher war das Kanzleramt da sehr nachsichtig.«
Auf einigen Gesichtern taucht kurz ein Lächeln auf. Sie wissen, dass dies nur das Vorspiel zur eigentlichen Attacke ist.
»Aber das haben wir unter Kontrolle. Nicht unter Kontrolle haben wir den Tross der Flüchtlinge, weil sowohl unsere italienischen als auch die österreichischen Freunde die Menschen einfach zu uns durchwinken. Wir, das heißt Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben hier den entscheidenden Moment verpasst, in dem Sie die Grenzen hätten schließen können. Ich muss das leider so deutlich sagen. Sie haben dadurch den vorherbestimmten Tod von Millionen unserer Mitbürger auf dem Gewissen.«
Er legt das iPad beiseite, lehnt sich in seinem Sessel zurück und scheint die Schockwellen, die der letzte Satz ausgelöst hat, wirken zu lassen.
Falks Blick ruht auf ihm. Sie lässt sich nichts anmerken. Ein leichtes Zucken im Mundwinkel verrät, dass sie eigentlich reagieren möchte, sich aber noch zurückhält.
Sie wendet den Blick zu Helga Fuchs. Ein kurzes Nicken.
Fuchs schlägt einen Ordner auf.
»Wir werden die Goldreserven in Anspruch nehmen müssen, um Geld für die Hilfsmaßnahmen in die Kasse zu bekommen«, sagt sie. »Neun Millionen Arbeitslose bei sinkenden Steuereinnahmen, mehr als vierzehn Millionen Hilfsbedürftige aufgrund der Überschwemmungen sind nicht zu finanzieren. Das heißt …«
»Ich weiß, was das heißt«, schneidet Falk ihr das Wort ab. »Sonst noch jemand?«
Wirtschaftsminister Andreas Becker räuspert sich.
»Sie wissen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie in mir immer einen loyalen Mitstreiter hatten.«
»Das ist mir neu, aber fahren Sie fort.«
»Ich habe von meinem französischen und britischen Amtskollegen erfahren, dass Sie sowohl mit Rousseau als auch mit Hobbes über diese ominöse Liste, die seit Tagen kursiert, gesprochen haben. Es heißt, Sie haben Paris und London unter Druck gesetzt?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Becker wird nervös. Feine Schweißperlen wachsen auf seiner Stirn. Er sieht zu Kotzer hin, will vermutlich Unterstützung von ihm haben.
»Ich, das heißt meine Kolleginnen und Kollegen«, stottert er, »sind der Meinung, dass Ihnen angesichts der Ereignisse um diese Liste und Jakob Richter keine andere Wahl bleibt, als zurückzutreten.«
Jetzt ist es ausgesprochen. Rücktritt. Den Weg frei machen für die Riege der Verräter, die sich von den Black Seven bezahlen lassen. Leon blickt die übrigen Minister an. Sven Caspar, Bildung, Johanna Klopp, Familie, Helga Baum, Umwelt. Werden sie mit wehenden Fahnen überlaufen und das Komplott perfekt machen?
Diana Falk fixiert den Kopf der Intrige.
»Ich weiß, wie sehr Sie sich den Stuhl wünschen, auf dem ich sitze, Herr Kotzer. Es war schon bei der ersten Koalitionsverhandlung deutlich zu spüren. Leider hat Ihre Partei die Wahl verloren, und Sie haben es nur zum Vizekanzler gebracht. Es braucht moralische und charakterliche Stärke, sich mit dem zweiten Platz zufriedenzugeben. Aber Sie sitzen auf glühenden Kohlen und warten ungeduldig auf den Moment, in dem Sie endlich das Schwert über meinem Haupt senken können. Das Problem ist nur, dass Sie es falsch angefangen haben. Sie haben sich mit den Leuten gemein gemacht, die unser Land ausrauben und die Luft vergiften. Ich weiß nicht, was man Ihnen dafür versprochen hat. Auf alle Fälle wird es nicht genug sein. Ich werde nicht zurücktreten. Denn im Gegensatz zu Ihnen kenne ich die Liste genau, und ich weiß, welche Namen darauf stehen. Auch Namen der hier anwesenden Personen.«
Der Schrecken, den Falk mit diesem Satz auslöst, ist wie eine Schockwelle spürbar. Stühle werden gerückt, nervöses Lachen, stille Empörung. Man sieht sich an und schüttelt die Köpfe.
»Der Überbringer dieser Liste ist ein Vergewaltiger. Und diesem Mann sollen wir vertrauen?«, fährt Kotzer die Kanzlerin an. »Die Liste
ist so falsch, wie dieser Richter ein Lügner ist.«
»Sind Sie da so sicher? Meine Nachforschungen haben etwas anderes ergeben«, sagt Falk leise, ohne jemanden dabei anzusehen.
Sie blättert durch einen Stapel Papiere. Schaut konzentriert auf ein Blatt. Leon weiß, dass es eine Finte ist. Es stehen sechs Namen darauf, darunter Grothe vom Außenministerium, Wirtschaftsminister Becker und Fuchs. Kotzer steht nicht darauf. Doch das weiß Kotzer nicht, und so, wie er Falk anschaut, scheint er damit zu rechnen.
»Sie sagen, dass eine Botschaft keinen Wert hat, wenn der Überbringer diskreditiert ist«, fährt Falk fort. »Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass dann, wenn man mit Dreck wirft, immer etwas hängen bleibt. Deswegen möchte ich an die Kollegen die Frage richten, wer mit Herrn Becker der Meinung ist, ich sollte zurücktreten.«
Kotzer hebt die Hand. Als Einziger. Er schaut zu Helga Fuchs. Sie starrt auf den Tisch. Becker hebt die Hand so zögerlich, als wollte er sich Luft zufächeln. Alle anderen Hände verschwinden unter dem Tisch, wohl um zu verhindern, dass sie nicht doch noch aus Versehen hochschnellen.
Falk hat das Komplott abgewehrt. Die Sitzung ist beendet. Die eigentliche Schlacht beginnt erst jetzt. Leon hat einen Plan. Sie müssen die Liste veröffentlichen und hoffen, dass Hobbes, Rousseau, Gasset und Annunzio zurücktreten. Wenn das passiert, wird es Neuwahlen geben. Bis dahin werden ihre Vize die Regierungsgeschäfte übernehmen. Die werden Falks Initiative zustimmen, weil sie Angst haben, bei den Wahlen zu verlieren. Es ist also ganz einfach. Alles, was er erreichen muss, ist, dass Falk ihm wieder vertraut.