36 Am Morgen haben sie eiskalt geduscht
Undine hat ihre Haare zu einem Zopf geflochten, den sie um den Kopf herumgelegt und mit feinen Klammern befestigt hat. Sie sieht aus wie die Heroinnen auf den Gemälden von Heymann aus den Vierzigerjahren. Sie haben Marta Görner an die Wölfe und Wildschweine verfüttert, die seit Tagen hungrig hinter dem Haus herumschleichen. Es ist sehr lehrreich, Wölfe in einem Rudel zu beobachten. Sie überleben, weil sie eine klare Familienstruktur haben. In freier Wildbahn gibt es keine fortgesetzten Streitigkeiten um die Rangordnung oder das Recht auf Fortpflanzung. So etwas entsteht nur dort, wo eine Abwanderung nicht möglich ist. Im Gefängnis eines Zoos oder in einer Gesellschaft, die jedes Mitglied zu unnatürlichen Arbeitsweisen zwingt. Etwa in einem Büro oder einer Fabrik. Oder wenn zu viele Menschen auf einem Haufen leben.
Das Frühstück besteht aus selbst gebackenem Sauerteigbrot, Käse, Gemüse und Obst. Wie immer schweigen sie während der Nahrungsaufnahme. Undine hat einen Namen für ihr Schweigen gefunden. Sie nennt es Kriegsmeditation.
»Wir kennen das Ziel«, sagt sie, als das Frühstück beendet ist. »Was wir nicht kennen, ist der genaue Weg dorthin. Weil jede Planung in dem Augenblick, wenn der erste Schuss fällt, hinfällig ist. Also konzentrieren wir uns auf die Etappen, die wir erreichen wollen. Sie heißen erstens Bewaffnung, zweitens Mobilisierung der Bevölkerung, drittens
Zusammenschluss der Kräfte, viertens Liquidierung der Regierung, fünftens Installation einer Regierung des Volkes und für das Volk.«
Auf ein knappes Zeichen von Undine hin geht Daniel zu einem Lageplan, der mit Reißzwecken an eine Wand gepinnt ist. Sie hat ihn als ihren Adjutanten ausgesucht. Sie weiß, er würde alles für sie tun. Vielleicht, weil er eine Ähnlichkeit zu seiner Mutter in ihr findet. Er hat so etwas angedeutet. Auf alle Fälle ist er der Ritter, der sich vor sie stellen wird, sollte jemand sie angreifen. Und davon gibt es einige, wie sie weiß.
»Das ist die BePo Oranienburg, Direktion Besondere Dienste
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. Habe ich von einem Kameraden erhalten, der sich uns anschließen wird, wenn es so weit ist«, sagt Daniel. »Derzeit ist die Anlage nur unzureichend gesichert, weil die Kameraden zum Einsatz an die südliche Landesgrenze beordert worden sind. Zugang möglich über die B 273 und rückwärts über die Hans von Dohnanyi. Südöstlich liegt ein Übungsfeld, das ebenfalls für das Eindringen in die Anlage geeignet ist. Die Waffenkammer befindet sich unter dem Hauptgebäude.«
»Wie ist die gesichert?«, fragt Jenny.
»Stahltür. Dahinter die Ausgabestelle«, sagt Daniel.
»Das könnte kompliziert werden.«
»Ja, aber wie es der Zufall will, hat unser Freund einmal pro Woche Posten in der Waffenkammer.«
Allgemeines Gelächter, Hände klopfen anerkennend auf den Eichentisch. Daniel genießt die Zustimmung sichtlich. Er hat sich gut vorbereitet. Undine kennt ihn nicht anders, schenkt ihm vollstes Vertrauen, und Daniel weiß das Geschenk zu nutzen.
»Was holen wir da ab?«
»Zweihundert Heckler Koch SFP9, einhundert HK MP5 und MP7. Vierzig SIG MCX und zehn belgische FN Scar. Wird auch von den Amerikanern genutzt. Durfte mehrmals daran trainieren. Sehr gute Waffe.«
»Munition?«
»Fünfzigtausend Schuss 5,56×45 Millimeter NATO für die Gewehre. Einhunderttausend 4,6×30 Millimeter Action und Penetrator für die MPs. Die können einen Körperpanzer auf einhundert Meter durchschlagen. Neunhundertfünfzig Schuss pro Minute sind möglich. Pistole 9×19 Parabellum.«
Er antwortet knapp und präzise. Undine schätzt das an den Leuten, die sie für die Mission ausgesucht hat.
»Wie viele Parabellum?«, fragt sie.
»Hat unser Freund mir nicht mitgeteilt. Ich schätze mal, es sind genug, um der Regierung einen Besuch abzustatten.«
Wieder erhält Daniel Beifall.
»Danke«, sagt Undine. »Gute Arbeit. Wir fahren morgen früh fünf dreißig ab.«
Dieses Mal werden sie nicht wie 2021 scheitern. Die Zeit ist reif für den Umsturz. Während die anderen das Haus für den Abmarsch vorbereiten, geht Undine auf den Balkon, um zu den Tausenden zu sprechen, die so gierig auf ein Wort von ihr warten. Anton reicht ihr ein Megafon.
»Freunde«, brüllt sie. »Seid ihr bereit?«
Ein tausendfaches Ja
schallt ihr entgegen.
»Das habe ich mir gedacht«, sagt sie grinsend und erntet Gelächter.
»Aber ich muss auch sagen, dass ich enttäuscht bin. Viele von euch sind in den letzten Jahren selbstzufrieden, träge und fett geworden. Ihr habt verlernt, was ihr tun müsst, um in der Gefahr zu überleben. Ihr habt euch nach eurem eigenen Wohl gerichtet und vergessen, dass wir ein einig Volk sein müssen, um zu überleben.«
Sie spürt, wie die Masse an ihren Lippen hängt. Sie hat sie in der Hand und kann sie zu einem heroischen Brand entzünden.
»Es ist also höchste Zeit, zu erwachen und zu erkennen, was auf uns zukommt. Wo wir auch hinschauen, sehen wir die Zerstörung unserer
Heimat. Und warum ist das so? Weil die Regierung sich an die großen Konzerne verkauft hat.«
Jubel schallt ihr entgegen. Sie hebt die Hände, um sich wieder Ruhe zu verschaffen.
»Ihr habt sicher in der Zeitung gelesen, dass die Herren und Damen in Berlin bestochen worden sind. Dass sie unser Deutschland verkauft und verraten haben. Deswegen steht die Nordseeküste unter Wasser, sind Elbe, Donau und Rhein zu Bestien geworden, die das Land verwüsten. Deswegen können die Bauern nicht mehr ernten, sterben die Wälder und ertrinken Kühe und Schweine. Diesen Mord an der Natur müssen wir beenden!«
Wieder Zustimmung. Lauter und ekstatischer noch als zuvor.
»Und wir werden ihn beenden. Ich habe euch in den vergangenen Wochen Ratschläge gegeben, wie ihr euch auf diesen Tag vorbereiten könnt. Ich wiederhole es noch einmal. Es ist damit zu rechnen, dass eure Bankkarten nicht mehr funktionieren, sobald wir losschlagen. Also muss so viel Bargeld wie möglich von Konten abgehoben und an sicheren Orten versteckt werden. Die Tanks eurer Fahrzeuge müssen mitsamt Reservekanister gefüllt sein. Es müssen Treffpunkte vereinbart werden, wenn die Kommunikation gestört wird. Habt ihr das verstanden?«
Der Jubel steigert sich noch einmal. Undine nimmt es mit tiefer Genugtuung wahr. Wenn ihr Vater sie jetzt sehen könnte, wäre er stolz. Er würde sogar staunen, weil sie größer und radikaler ist, als er es je gewagt hat. Sie hat eine Meute von fanatischen, blutdürstigen Wahnsinnigen um sich geschart, die auf ihr Kommando hin bereit sind, jeden Feind zu zerfleischen. Und sie wird dazu das Kommando geben. Schon bald.
»Wir haben hier unsere heiligsten Güter, unsere Familien, unsere Männer, Frauen und Kinder, die Schönheit und Unberührtheit unserer Landschaft, unsere Städte und Dörfer, das zweitausendjährige Erbe
unserer Kultur und alles, was uns das Leben lebenswert macht, zu verteidigen. Seid ihr dazu bereit?«
Sie sind bereit. Wie eine riesige Sprengladung, an die sie die Zündschnur gelegt hat und die nur auf die Flamme wartet, um ihre Bestimmung zu erfüllen. Undine geht zurück in den Salon und winkt Anton zu sich.
»Wir müssen die 1400 Schützenvereine und ihre 1,3 Millionen Mitglieder ansprechen und rekrutieren. Bisher zieren diese Feiglinge sich immer noch.«
Caroline hat recherchiert, dass es in Deutschland mehr als fünf Millionen Waffen in privaten Haushalten gibt.
Ein kurzes Klopfen reißt Undine aus ihren Gedanken.
»Wir sind so weit«, sagt Daniel. »Brandbeschleuniger in den Zimmern ausgelegt, Zündschnüre, um Feuer zu verteilen.«
»Rucksäcke und Ausrüstung?«
»In die G-Klassen verladen.«
Ein letzter Blick auf das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, in dem sie ihre Mutter hat sterben sehen, in dem sie gelernt hat, was es heißt, eine Deutsche zu sein und eine Geschichte zu haben. Und dass sie eine Aufgabe hat, die größer ist als sie selbst. Sie gibt Daniel das Zeichen zum Aufbruch und wendet sich ab. Sie will nicht zusehen, wie ihr Haus mitsamt den zweieinhalbtausend Büchern von den Flammen gefressen wird. Als sie den ersten Mercedes erreicht, sieht sie, dass nur Jost, Anton und Daniel darin sitzen.
»Wo ist Jenny?«, fragt sie.
Im selben Moment hört sie, wie das Haus in Flammen aufgeht.
»Jenny ist noch da drin«, schreit Caroline.
Daniel sieht sie entsetzt an. Als er aus dem Auto herausspringt und zurück zum Haus laufen will, hält Undine ihn fest.
»Bleib hier. Du kannst sie nicht mehr retten.«
»Woher willst du das wissen? Lass mich los!«
Daniel versucht, sich von ihr zu befreien, aber Undines Griff ist wie eine eiserne Klammer um das Handgelenk.
Jenny taumelt hinter dem Haus hervor. Eine menschliche Fackel. Schreiend vor Schmerzen.
In die Gesichter steht das nackte Entsetzen geschrieben.
»Niemand kann sie mehr retten. Das ist der erste Schritt«, sagt Undine und klopft hart auf Daniels Brust. »Du musst die Brücken hinter dir abbrechen. Hart werden. Gegen dich selbst und dann gegen andere. Deine Sinne schärfen zu kaltblütiger Entschlossenheit.«
Sie sieht Daniel an. Sieht, wie er mit sich ringt, bis er endlich den Impuls, Jenny zu retten, bezwingt.