38 Noch drei Wochen bis Davos
Wie Leon erwartet hat, sind die Regierungschefs von Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien zurückgetreten. Falks diplomatischer Frontalangriff hat acht weitere Regierungschefs auf ihre Seite gebracht. Sie musste bei einigen noch nicht mal mit der Liste drohen. Die Dänen waren die Ersten, die ihre Unterstützung zugesagt haben. Sie haben die Katastrophe ja vor der Haustür. Das Eis in Grönland reflektiert das Sonnenlicht. Wenn das Eis schmilzt, kommt der dunkle Boden zum Vorschein. Der absorbiert das Sonnenlicht, es wird wärmer, und das Eis taut noch schneller. Die Portugiesen und Griechen haben nach den gewalttätigen Ausschreitungen in Lissabon und Athen ihre Meinung geändert und ihre Unterstützung zugesagt.
Falk ist seit mehr als vierzig Stunden wach. Leon hat versucht, sie zu überreden. »Leg dich hin. Schlaf wenigstens ein paar Stunden.« Aber sie ist zu aufgekratzt, um auf seine vernünftigen Ratschläge zu hören. Sie liegt auf dem Sofa, die Schuhe hat sie von den Füßen geschleudert. Ihr Gesicht glänzt fahl, feine Schweißperlen stehen auf der Stirn. Es ist erschreckend, sie so zu sehen.
Ein schier endloses Gewitter von Horrornachrichten läuft über den Bildschirm. Leon hat den Ton ausgeschaltet, aber auch stumm sind die Bilder schwer zu ertragen. Die Trinkwasserversorgung in Schwerin ist zusammengebrochen. Die Bewohner haben begonnen zu plündern, es gibt Tote und Verletzte. In einem Altenheim in Oldenburg sind vierzig
Menschen ertrunken, weil sie sich allein nicht fortbewegen konnten.
Während sie in Richtung Davos erfolgreich waren, brodelt es zu Hause. Sie haben Kotzer unterschätzt. Sie haben gedacht, er wäre einfach nur ein machtgeiler Beamter. Aber ein Briefing des BND erwähnt drei Reisen nach Washington. Zweimal hat er Paulus Moses getroffen, den Cheflügner der Black Seven. Gibt es einen schlimmeren Finger als diesen König der Desinformation? Der Mann hat die moralische Integrität einer Hyäne, falls man damit nicht alle Hyänen der Welt beleidigt. Auf Nachfrage hat Kotzer erklärt, dass er sich über die amerikanische Energiepolitik informieren wollte. Warum er Moses dafür dreimal treffen musste, konnte er nicht sagen.
»Er wird nicht aufgeben«, sagt Diana. »Er wird alles daransetzen, mich aus dem Amt zu drängen.«
Sie richtet sich auf, stützt sich ab, als sie in die Küche geht. Sie wankt ein wenig, weil die Muskeln nicht so schnell sind, wie das Zentralnervensystem es verlangt.
»Hast du gelesen, was der Verfassungsschutz zu dieser Undine von Broch schreibt?«, fragt sie. »Eine beeindruckende Frau. Ich habe mir ein paar von ihren Videos angeschaut. In einem sagt sie, dass sie mich bewundert. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder erschrecken soll.«
Sie kommt mit zwei Flaschen Bier zurück, öffnet sie mit einem Feuerzeug, reicht eine davon Leon.
»Erschrecken, würde ich sagen«, antwortet Leon.
Falk trinkt einen Schluck und sieht ihn erwartungsvoll an. Der Verfassungsschutz hat sie darüber informiert, dass verschiedene rechtsnationale Gruppen sich für einen Marsch auf Berlin vereinen.
»Kotzer meint, dass das Spinner sind, die sich unterwegs gegenseitig fertigmachen«, sagt Leon.
»Ja, das meint er offiziell.«
Leon ahnt, worauf sie hinauswill. Inoffiziell baut Kotzer auf Undine
von Broch. Dabei versteht er aber ihre Ambitionen nicht. Und dass die sich weder von ihm noch von einem Amerikaner sagen lässt, was sie zu tun hat. Es ist kompliziert, es ist wie dreidimensionales Schach, und Leon droht den Überblick zu verlieren.
»Glaubst du, dass dieser Moses seine Finger da drin hat?«, fragt Leon.
»Was denn sonst?«
Falk trinkt ihr Bier aus.
»Aber sie haben nichts gegen dich in der Hand, oder?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Also kann dir auch nichts passieren.«
»Weiß man das? Es gibt da diese Geschichte von dem kleinen Jungen und seinem Opa«, sagt sie. »Der Junge bekommt an seinem sechzehnten Geburtstag ein Pferd geschenkt. Er freut sich, und alle in der Familie sagen, dass er bestimmt ein guter Reiter werden wird. Sein Opa sagt: ›Warten wir es ab.‹ Zwei Jahre später fällt der Junge vom Pferd und bricht sich ein Bein. Und alle jammern darüber, wie schrecklich dies doch sei. Der Opa aber sagt: ›Warten wir es ab.‹ Dann werden die meisten jungen Männer in einen Krieg geschickt, nur der junge Mann nicht, weil er sich ja das Bein gebrochen hat. Und die Familie sagt: ›Was für ein Glück!‹ Und der Opa sagt wieder: ›Warten wir es ab.‹ Dann kommen die jungen Männer aus dem Krieg zurück und werden als Helden gefeiert und kriegen eine Medaille umgehängt. Und die Familie und der junge Mann sind enttäuscht, weil er keine Medaille kriegt und kein Held ist. Und der Opa sagt: ›Warten wir es ab.‹«
Als sie geendet hat, sieht sie ihn prüfend an. Lange und ohne zu blinzeln. Das macht ihn nervös.
»Was hast du jetzt vor?«, fragt Leon.
»Ich mache einen Deal mit Watson.«
»Wie bitte? Was für einen Deal?«
»Das erfährst du noch früh genug.«
Sie führt etwas im Schilde, und er weiß nicht, was es ist.