60 Der Himmel ist grau
Afeni hört das hohe Singen einer Maschine. Deswegen ist sie aufgewacht. Sie hat gedacht, es wäre ihr Herz, das so laut singt, aber es kommt eher von einer Art Bohrmaschine. Viermal bohren, dann Pause, dann wieder viermal bohren. Die Bettdecke ist weiß. Ihr Kopf liegt auf einem weichen Kissen. Da sind ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, eine Kommode. Über der Kommode hängt ein weißes Plakat, das einen Mann mit runder Brille und eine asiatische Frau zeigt. Darauf steht »The War Is Over«. Die Lampe an der Decke über ihr ist aus Papier. Vielleicht stimmt es nicht, was ihre Großmutter über das Schattenreich gesagt hat, vielleicht ist es dort nicht dunkel, sondern hell.
Afeni erinnert sich, dass sie vor einer Tür gesessen hat und dachte, sie würde sterben. Und dann war da ein Mann, der sie an die Hand genommen und geführt hat. Er hat ihr zu trinken und zu essen gegeben. »Jakob ist tot«, hat er gesagt. Bei einem Unglück in der Antarktis ums Leben gekommen. Afeni ist schockiert gewesen. Die ganze Reise über hat sie ein Ziel gehabt. Sie hat sich vorgestellt, wie Jakob ihnen hilft, in Deutschland zurechtzukommen. Dass er auf ihre Anrufe und Nachrichten nicht geantwortet hat, war beunruhigend. Aber sie hat gedacht, dass es ja die Adresse gibt und dass jemand ihr helfen wird.
Da ist wieder das Bohren. Sie schlägt die Bettdecke zurück und sieht, dass sie ein sauberes T-Shirt und einen Slip trägt. Wer hat ihr das angezogen? Auch ihr Körper ist sauber, das Gesicht, die Haare sind gewaschen. Hat der Mann sie gewaschen? Sie kann sich nicht erinnern. Leise steht sie aus dem Bett auf. Auf dem Fußboden stehen Hausschuhe. Sie wird sich bei ihm bedanken und dann weiterziehen.
Vorsichtig geht sie die Treppe hinunter. Der Mann hantiert in der Küche. Er ist derselbe, der sie gestern ins Haus geführt hat. Er trägt Jeans und ein Unterhemd. Die Haare hat er ordentlich nach hinten gekämmt. Seine Arme sind muskulös, sein Bauch hängt über der Hose. Auf dem Herd steht ein großer Topf, aus dem Dampf aufsteigt, es riecht säuerlich nach Äpfeln.
»Na, ausgeschlafen?«, fragt er.
»Wo bin ich?«, fragt sie.
»In Sicherheit. Willst du Kaffee? Tee?«
»Nein, danke.«
»Du hast sechzehn Stunden geschlafen. Jetzt hast du bestimmt Hunger und Durst«, sagt er.
Er wirkt freundlich.
»Ich würde gerne meine Sachen wieder anziehen.«
»Die sind in der Waschmaschine. Oben liegen Klamotten von Leela, die müssten dir passen. Aber du kannst auch warten, bis deine Sachen trocken sind. Du gehörst zu denen, die vorgestern hier vorbeigezogen sind, stimmt’s? Wo kommst du her?«
»Aus dem Tschad.«
»Tschad! Ich war mal in N’Djamena. Meine Firma wollte euch ein Kohlekraftwerk verkaufen. Aber es ist nichts daraus geworden.«
Während er zu ihr spricht, weicht sein Blick immer wieder zur Seite. Als wollte er nicht, dass sie ihm in die Augen sieht. Irgendwas ist merkwürdig an ihm.
Er nimmt eine Kanne und gießt Kaffee in einen Becher. Es duftet verführerisch. Soll sie den Becher nehmen? Wäre es nicht besser, sie würde sich anziehen und sofort verschwinden? Sie könnte aber auch warten, bis ihre Sachen trocken sind, Kaffee trinken, etwas essen. Sie setzt sich. Er setzt sich ihr gegenüber und beobachtet, wie sie trinkt und von dem Brot und der Marmelade nimmt.
»Als ich dich ins Haus geholt habe, bist du zusammengebrochen und hast ewig geweint. Ich hab dich gefragt, ob du Schmerzen hast, und du hast mich angeschaut, als wäre ich ein Geist.«
Er lacht. Sie lacht mit ihm. Sie spürt, wie ihr Körper sich wieder mit Kraft füllt.
»Du warst ganz schön schmutzig. Um deinen Mund herum war Blut. Ich hab dich ausgezogen und geduscht. Aber ich hab dich nicht angefasst. Nicht so, wie du vielleicht denkst. Du hast dich sogar selbst eingeseift. Dann habe ich Tee gemacht und eine dünne Suppe gekocht und dir Zwieback zu essen gegeben. Ich hab gedacht, dass du es vielleicht nicht verträgst, wenn ich dir Fleisch oder Nudeln gebe. Ich habe dich gefüttert, so wie ich früher Leela und Christa gefüttert habe. Das sind meine Töchter.«
Er deutet auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Darauf sind zwei Mädchen. Die eine scheint sechzehn oder älter zu sein, sie hält ein kleines Mädchen auf dem Arm.
»Die große ist Leela, die kleine heißt Christa. Christa ist mit ihrer Mutter zu einer Sekte gegangen. Sie denken, dass Gott sie vor dem Unglück rettet, das über uns reingebrochen ist. Aber das wird er nicht. Du musst für dich selbst sorgen, wenn du überleben willst. Das weißt du bestimmt auch von zu Hause. Ich hab jedenfalls genug Lebensmittelvorräte für zwei. Und als du geschlafen hast, bin ich zum Baumarkt rüber und hab Pressspanplatten für die Fenster gekauft und um die Tür zum Garten zu verstärken. Ich zeig dir nachher mal, wie ich die mit zwei Ladenbändern und zwei zusätzlichen Schlössern gesichert habe. An die Haustür habe ich noch eine zwei Millimeter starke Metallplatte geschraubt.«
Er redet wie ein Wasserfall. Als ob er seit Wochen mit niemandem gesprochen hätte und die Worte in seinem Mund nur darauf warten würden, endlich befreit zu werden. Das Küchenfenster ist mit einer Holzplatte verbarrikadiert. Das war das Geräusch. Ein Akkuschrauber liegt auf dem Tisch neben den Gläsern. Soll sie ihn fragen, warum er das Fenster verrammelt hat? Er scheint ihren Blick zu bemerken.
»Falls du dich wunderst. Das sind Vorsichtsmaßnahmen. Wenn noch mehr von euch kommen, müssen wir gewappnet sein. Verstehst du? Das ist nicht persönlich gemeint, aber ich kann euch nicht alle aufnehmen. Ich weiß, dass es euch da unten ziemlich dreckig geht. Nur haben wir hier auch ganz schön zu kämpfen. Du hast sicher die Überschwemmungen gesehen. Du kannst natürlich bleiben. Und du musst dir auch keine Sorgen machen. Wenn es gefährlich wird, habe ich vorgesorgt. Ich hab eine Sig Sauer 516 Patrol und ein altes AK-47.«
Was eine Sig Sauer ist, weiß Afeni nicht. Aber AK-47 kennt sie. Das sind die Maschinenpistolen, die auch die Männer von Boko Haram benutzen.
»Wir haben genug zu essen, Filme, Alkohol, Zigaretten. Das reicht für die nächsten Wochen, vielleicht sogar Monate, um hier zu überleben. Weißt du, während die Nachbarn noch überlegt haben, ob sie auswandern sollen, hab ich mir die Liste, die das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe bereitgestellt hat, runtergeladen. Man muss vorbereitet sein. Schneller sein als die anderen. Nicht warten, bis die Regale im Supermarkt leer sind.«
Er sieht sie an, als würde er auf ein Lob warten. Dafür, dass er alles richtig gemacht hat.
»Du kannst mir helfen«, sagt er. »Als Gegenleistung, wenn du dich schon nicht bedanken willst.«
Sie spürt seinen eindringlichen Blick, der wie eine raue Hand über ihre Haut streicht. An Armen und Beinen stellen sich die feinen Härchen auf.
»Ich koche Apfelmus ein. Du kannst mir helfen, das Mus in die Gläser zu füllen.«
Mit einer lässigen Handbewegung deutet er zum Tisch, auf dem zwanzig oder mehr Gläser stehen.
»Tut mir leid«, sagt sie. »Ich bin … ich weiß auch nicht. Danke auf alle Fälle. Es ist sehr nett, dass Sie mich aufgenommen haben.«
»Na klar. Ist doch selbstverständlich. Hier bei mir ist es trocken, und wenn es Winter wird, ist es warm. Ich hab im Keller vier Kubikmeter Holz für den Kamin eingelagert. Außerdem acht Zentner Briketts. Damit kommen wir locker über den Winter. Weißt du, ich habe mich die letzten Tage immer wieder gefragt, was ich hier mache. Und dann hast du vor der Tür gesessen. Da habe ich es gewusst. Ein Mann allein kann eine Krise überleben. Das kann er. Aber es ist nicht richtig. Er geht daran seelisch zugrunde. Von meinen früheren Kollegen gibt es einige, die nach der Scheidung oder dem Tod der Frau sich sofort eine neue Frau gesucht haben. Und wenn das mit der neuen Frau nicht geklappt hat, haben sie sich zurückgezogen und angefangen zu saufen und im Internet schlimme Dinge gemacht. Ein Mann braucht einfach ein Gegenüber, in dem er sich spiegeln kann. Sein Denken, sein Handeln. Er existiert nicht für sich, sondern für andere. Das ist schon immer so gewesen. Jetzt bist du da, und alles fügt sich zu einem Zweck hin.«
Er senkt den Kopf. Wischt mit der linken Hand die Tränen aus den Augen.
»Wir können doch so was wie eine Familie sein. Ich will nichts von dir. Du sollst einfach nur bleiben.«
So wie er sie ansieht, weiß sie nicht, ob sie Mitleid mit ihm haben oder sofort aufspringen und das Haus verlassen soll.
»Ich verstehe alles, was Sie sagen. Aber ich kann nicht bleiben«, sagt Afeni. »Ich bin mit meinem Mann verabredet. Er wartet bestimmt schon auf mich. Und er weiß, dass ich hier bin. Vielleicht macht er sich Sorgen. So wie ich ihn kenne, ist er bestimmt schon zur Polizei gegangen.«
»Dein Mann?«
»Ja.«
»Ist er auch … schwarz?«
»Ja, warum?«
»Dann wird die Polizei ihm nicht glauben. Mal abgesehen davon, dass er tot ist. Du hast im Traum von ihm gesprochen. Er ist in München am Bahnhof unter den Zug gekommen. Er hieß Nelson.«
Er lächelt. Das gleiche Lächeln wie in dem Moment, als sie in die Küche gekommen ist. Afeni springt vom Stuhl auf. Greift nach einem der Einmachgläser, schlägt es auf die Tischkante und hält ihm die Scherbe in ihrer Hand entgegen.
»Lassen Sie mich gehen. Bitte!«