Verwirrt, da die Sonne bereits so hoch stand, erwachte Devin in ihrem eigenen Bett. Ihr erster panischer Gedanke galt Amelia. War ihr etwas passiert?
Als sie in das Zimmer des Babys rannte, fand sie das Kinderbettchen leer vor und fürchtete sofort, dass Lucas das Baby entführt hatte. Gleich darauf verwarf sie den Gedanken wieder und schüttelte den Kopf, um die letzten Reste von Schläfrigkeit loszuwerden. Wenn er mit einem Baby Richtung Grenze flüchten würde, könnte er unmöglich ein Milliarden-Dollar-Unternehmen leiten.
Immer noch durcheinander ging sie ins Wohnzimmer, zwang sich zur Ruhe und zu ein paar tiefen Atemzügen.
Das Wohnzimmer war leer.
Aber durch die Glastüren erspähte sie Lucas, Lexi und Amelia, unten am Strand. Die beiden Erwachsenen saßen auf einem Holzblock, und Amelia grub sich mit einer kleinen roten Schaufel und einem Eimer durch einen Sandhaufen.
Lucas war die Nacht über geblieben. Und er hatte sie ausschlafen lassen.
Diese Erkenntnis brachte sie fast zum Weinen. Wie dumm. Jeder Mensch hatte ein paar gute Eigenschaften, auch Lucas. Sie hatten letzte Nacht Wein getrunken. Vermutlich hatte er danach nicht mehr nach Hause fahren wollen. Offensichtlich hatte er hier geschlafen und war mit Amelia zusammen aufgewacht, hatte dafür gesorgt, dass das Baby ruhig blieb, damit sie, zum ersten Mal seit drei Monaten, ausschlafen konnte.
Sie schniefte und fuhr sich frustriert mit der Hand über die Augen.
Gute Güte. Es war ja nicht so, als hätte der Mann ein Heilmittel für Krebs entdeckt.
Sie stolperte in die Küche, suchte sich eine Tasse und füllte sie mit Kaffee, tat einen gehäuften Löffel Zucker hinein. Sie war sich sicher, dass Lexi den Kaffee gebrüht hatte. Lucas war ja letzte Nacht kaum in der Lage gewesen herauszufinden, wo Spülmittel und Heißwasser waren.
Sie zog sich einen dünnen Pullover über das T-Shirt und die Shorts, in denen sie geschlafen hatte, und lief über die Terrasse und die lange Holztreppe hinab zum Strand.
Amelia entdeckte sie als Erste, grinste und krabbelte schnell auf sie zu. Lexi und Lucas drehten sich um. Sie lächelten zur Begrüßung und wirkten entschieden entspannt.
„Gut geschlafen?“, fragte Lexi grinsend.
„Wie spät ist es?“ Sie hatte nicht auf die Uhr gesehen. Sie wusste nur, dass sie sich erholter fühlte als seit Monaten.
„Elf“, sagte Lucas.
„Wirklich?“
Er nickte.
„Bist du mit Amelia aufgestanden?“ Sie fand es immer noch ein wenig beunruhigend, dass sie die beiden nicht gehört hatte.
„Ja, bin ich.“ Er gähnte. „Gegen vier. Sie hat dann noch ein bisschen auf meiner Brust weitergeschlafen, aber ich hab nicht mehr viel Schlaf bekommen.“
Devin konnte es kaum glauben. „Du hast ihre Windel gewechselt?“
„Da war eine Anleitung auf der Verpackung.“
„Er hat sie ihr verkehrt herum angezogen“, führte Lexi aus.
Devin kniete sich neben sie in den Sand. „Und du hast sie gefüttert?“
Lucas verdrehte die Augen. „Hör auf, so erstaunt zu klingen.“
„Aber es ist erstaunlich.“
Amelia patschte mit ihren sandigen Händen auf Devins nackte Schenkel.
„Ich hab ihr etwas Saft und ein paar Flocken gegeben, und dann ist Lexi vorbeigekommen.“
„Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass ihr mich habt ausschlafen lassen“, bedankte Devin sich bei den beiden und brachte ihren Kaffeebecher in Sicherheit vor Amelias Händen. „Ich fühl mich großartig.“
„Lexi wird für uns babysitten“, sagte Lucas.
„Ich hab gehört, ihr habt ein Date“, fügte Lexi fröhlich hinzu.
„Es ist kein Date“, korrigierte Devin sie eilig. Hatte sie letzte Nacht wirklich zugestimmt, ihn zu dem Ball zu begleiten? Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? „Lucas versucht mich zu ködern, mit gutem Essen und einem traumhaften Tanz, damit ich Steve nicht unterstütze.“
„Verstehst du jetzt, was ich meine?“, fragte Lucas Lexi.
Lexi nickte verständnisvoll.
„Was?“ Sie blickte zwischen den beiden hin und her.
„Er denkt, du bist misstrauisch“, sagte Lexi.
„Natürlich bin ich misstrauisch“, erwiderte sie. „Genau wie du. Und unser Misstrauen ist berechtigt.“ Wieder blickte sie hin und her. „Was hab ich hier eigentlich verpasst?“
Lucas erhob sich von dem Holzblock und strich sich den Sand von der geliehenen Jogginghose. „Ich habe eine Besprechung“, verkündete er. „Und ich denke mal, ich ziehe mich vorher besser zu Hause um.“ Er blickte zu Devin. „Seh ich dich nachher?“
„Klar.“ Sie sollte sich noch einmal bei ihm für das Ausschlafen bedanken. Aber sie wollte ihm nicht den Eindruck vermitteln, dass sie ihn mochte. Denn sie mochte ihn nicht. Nun, an diesem Morgen vielleicht schon. Irgendwie. Aber das war nicht von Dauer.
Alles schien plötzlich so verworren.
Er beugte sich nach unten, tätschelte Amelias Kopf und winkte ihnen dann allen lässig zu, während er über den Strand zur Holztreppe schlenderte.
„Also“, sagte Lexi atemlos. „Was ist das mit diesem Ball?“
„Er hat irgendwas vor.“ Ihr war klar, dass sie verärgert darüber sein sollte, wie er sie manipuliert hatte. Trotzdem konnte sie bei dem Gedanken an eine schicke Party das Lächeln nicht unterdrücken. „Es wird bestimmt nett, sich mal wieder rauszuputzen“, gab sie zu. „Und ich hab ihm das Versprechen abgenommen, dass er mich nicht küssen wird.“
„Ernsthaft?“
„Ja.“
„Du hast das wirklich laut ausgesprochen?“
Devin nickte. Sie wollte jedem Missverständnis vorbeugen. Und es wäre ein katastrophaler Fehler, Lucas noch einmal zu küssen.
Okay, technisch gesehen lag sie wieder in Lucas’ Armen. Aber sie tanzten, und es ging alles sehr anständig zu. Sie hielten gut zwanzig Zentimeter Abstand. Lucas Verhalten war angemessen, und er führte sie galant und selbstbewusst über die Tanzfläche. In seinem Smoking sah er verheerend gut aus. Was keine Überraschung war.
Eine Längsseite des Ballsaales führte hinaus auf eine Terrasse mit Blick auf den Puget Sound. Vom Ozean wehte eine frische Brise herein. Kreuzfahrtschiffe, Frachter und kleinere Boote glitten vorüber, und die Lichter von Bainbridge Island leuchteten in der Ferne.
Nach Monaten voller Spucke und Windeln fühlte Devin sich wie eine Märchenprinzessin. Sie hatte sich sogar ein neues Kleid gegönnt – obwohl sie Lucas gegenüber niemals zugeben würde, dass sie shoppen gegangen war. Es war trägerlos, aus kupferfarbenem Satin, mit einem maßgeschneiderten Oberteil, das auf ihrer Haut schimmerte, und es endete in einem Tellerrock, der an ihren Knien raschelte. Sie trug die mit Strasssteinen besetzten High Heels und hatte sich von Lexi eine silberne Kette mit passenden Ohrringen geliehen. Die Ohrringe strichen sanft an ihrem Hals entlang, während sie tanzte.
Es tat gut, sich schön zu fühlen.
„Die Bewerbungsgespräche mit den Kindermädchen sind morgen früh um zehn“, erinnerte Lucas sie, als er sie in eine Drehung führte.
Sie runzelte die Stirn. „Du verdirbst die Stimmung.“
„Die Stimmung?“
„Ja, die Stimmung: Musik, gutes Essen, Champagner …“
„Und schöne Frauen.“ Seine Augen leuchteten auf, als er anerkennend lächelte.
„Gut aussehende Männer“, gab sie zurück und weigerte sich, auf sein Lächeln zu reagieren.
„Danke.“
„Mehrzahl“, korrigierte sie ihn. „Ich hab ganz allgemein gesprochen.“
„Tja, ich nicht.“
Ihre Schritte kamen ins Stocken. Sie hatte nicht gewollt, dass das Gespräch diese Richtung nahm.
„Du siehst wunderschön aus, Devin.“
Obwohl sie wusste, dass sie von ihm wegschauen sollte, brachte sie es nicht fertig, und sie musste darum kämpfen, das Gleichgewicht zu behalten. Er war nur höflich, sonst nichts. Es war angemessen, einer Frau Komplimente zu machen, wenn man ihre Abendbegleitung war. Er wollte bestimmt nicht sagen, dass sie wunderschön war im Vergleich zu den Topmodels und Vorzeige-Ehefrauen, die in Kleidern, die mindestens zehntausend Dollar gekostet hatten, über die Tanzfläche schwebten.
Er beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich glaube, das Wort, nach dem du suchst, ist danke.“
Ihre Kehle war trocken, aber sie schluckte und räusperte sich. „Danke.“
Er lächelte und richtete sich auf.
„Das war nicht fair“, wies sie ihn zurecht.
Ein vergnügtes Funkeln lag in seinen Augen. „Nicht fair?“
Dieses Mal lehnte sie sich zu ihm vor. „Du hast es versprochen.“
„Dir keine Komplimente zu machen?“
„Mich nicht …“ Sie suchte nach den richtigen Worten. „Das hier sollte kein Date werden.“
„Du wolltest nicht über Kindermädchen sprechen“, antwortete er mit einem Schulterzucken, als gäbe es nur diese zwei Themen.
„Also gut. Sprechen wir über Kindermädchen.“
„Und verderben uns die Stimmung?“
„Bitte. Tu es, verdirb die Stimmung.“ Es kümmerte sie nicht, dass sie launisch klang.
Das Gefährliche daran, sich als Prinzessin zu fühlen, war, dass Lucas dabei zum Prinzen wurde. Und es würde sehr leicht sein, diese Fantasie ausufern zu lassen.
Sie waren in einer Limousine zum Ball gefahren. Später würden sie nach Hause in sein Schloss gehen. Und wenn sie nicht vorsichtig war, würde sie anfangen, über einen Gutenachtkuss nachzudenken.
„Die Bewerbungsgespräche beginnen um zehn“, sagte er.
Sie schüttelte ihre hartnäckigen Fantasien ab. „Aber bitte keine Gefängniswärterinnen.“
„Ich habe die Anforderungen von uns beiden an die Agentur weitergegeben. Sie schicken uns Bewerberinnen, die sofort anfangen können.“
Damit musste sie sich vermutlich zufriedengeben.
Sie tanzten ein paar Schritte, wiegten sich unter den schimmernden Lichtern der Kronleuchter.
„Hattest du ein Kindermädchen?“ Die Frage hatte sie gar nicht stellen wollen.
„Ja, sogar mehrere.“
„Und mochtest du sie?“
„Manchmal.“
„Was soll das heißen?“
„Ich war ein kleiner Junge. Kindermädchen mögen es nicht, wenn kleine Jungs auf Bäume klettern, Steine schmeißen, mit Fahrrädern Sprünge machen oder aufs Garagendach steigen.“
Angesichts dieser Bilder konnte Devin sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ich geh mal davon aus, dass du all das trotzdem getan hast?“
„Das und mehr. Genau wie Konrad. Rückblickend würde ich sagen, dass das der Grund war, warum wir so viele Kindermädchen hatten.“ Das kleine Orchester spielte ein langsameres Stück, und Lucas zog Devin ein wenig näher an sich heran. „Was ist mit dir?“
Sie schüttelte den Kopf. „Bei den Hartleys gab es keine Kindermädchen.“
„Wie warst du als Kind?“
„Ich weiß nicht. Normal, nehme ich an.“
„Bist du in Lake Westmire aufgewachsen?“
„Im selben Haus, in dem ich jetzt wohne. Mit meiner Mutter und Monica. Wir sind geschwommen, haben Sandburgen gebaut, Kekse gebacken und aufwendige Puppenhäuser im Garten entworfen.“
Sie war von Lake Westmire weggezogen, um aufs College zu gehen. Vor fünf Jahren, als bei ihrer Mutter Krebs festgestellt wurde, war sie zurückgekommen. Aber heute Abend war nicht die richtige Zeit, um darüber nachzudenken.
Stattdessen konzentrierte sie sich in ihren Erinnerungen auf ihre Teenager-Jahre. Monica war ein Jahr jünger gewesen als sie, und die Nachbarschaft war voll mit Kindern in ihrem Alter.
„Als wir Teenager waren“, fuhr sie fort, sich zurückerinnernd, „hockten Monica und ich am Wochenende mit Freunden am Lagerfeuer, unten beim Park, in Sunny Bay.“
„Und habt ihr die Jungs geküsst?“, fragte Lucas neckend.
„Tommy McGuire“, gestand Devin. „Neunte Klasse. Es war eine Mutprobe, und er hat mich mit seiner Brille an der Nase verletzt.“
Lucas lachte.
„Ich wette, dein erster Kuss war auch nicht perfekt.“
„Kannst du selbst beurteilen. Ich hab es auf Video.“
„Machst du Witze?“
„Steve hat es heimlich aufgenommen. Er hat damit gedroht, das Band meiner Mutter zu zeigen, bis ich ihn ordentlich verprügelt und ihm die Kamera weggenommen hab.“
„Du hast Steve verprügelt?“
„Er war ein Spanner. Ich wundere mich noch immer darüber, dass er nicht Teil der Paparazzi-Meute geworden ist.“
„Er war ein Kind.“
„Er hat sich nicht geändert.“
Devin schmunzelte, auch wenn sie den Kopf schüttelte. „Ich werde mir kein Video mit deinem ersten Kuss anschauen.“
„Warum nicht? Vielleicht kannst du mir ein paar Tipps geben.“
„Ich bin mir sicher, dass deine Technik sich wesentlich verbessert hat seit … Wie alt warst du?“
„Daran erinnere ich mich nicht mehr.“ Sein Blick schweifte zu ihren Lippen ab, und angesichts des Leuchtens in seinen Augen wusste sie genau, woran er sich erinnerte.
Auch sie erinnerte sich daran.
Die Band legte eine Pause ein, und aus den Lautsprechern klang sanfte Rockmusik.
„Durstig?“, fragte Lucas und legte ihr eine Hand auf den Rücken, als die Menge die Tanzfläche verließ.
„Ja.“ Sie folgte ihm zurück zu ihrem Tisch.
Devin steckte das Babyfon in den Bund ihrer Jeans, als sie die Tür zwischen Amelias Kinderzimmer und dem Bad schloss, das es mit ihrem Schlafzimmer verband. Sie hatte Lucas versprochen, dass sie sich über die Kindermädchen austauschen würden, die sich heute Morgen vorgestellt hatten, sobald Amelia ihren Mittagsschlaf hielt.
Als sie am Spiegel vorbeikam, prüfte sie kritisch ihr Aussehen. Ihr Haar, mit dem Amelia gespielt hatte, war verwuschelt, und sie hatte einen Fleck auf einer Wange. Die linke Schulter ihres blauen T-Shirts war nass, weil Amelia daran gesaugt hatte, während sie in den Schlaf gewiegt worden war.
Sich selbst versichernd, dass sie es nicht aus Eitelkeit tat und bestimmt auch nicht, weil ihr Lucas’ Urteil irgendetwas bedeutete, nahm sie eine Bürste aus dem Schränkchen über dem Waschbecken und fuhr sich damit durch die Haare. Dann wusch sie schnell ihr Gesicht und rieb sich mit Feuchtigkeitscreme ein. Nur wegen des Sonnenschutzfaktors darin, falls sie beschlossen, das Gespräch auf die Terrasse zu verlegen.
Schließlich, auf dem Weg in ihr Zimmer, griff sie den Saum ihres T-Shirts, um es auszuziehen …
Sie stoppte abrupt. „Steve?“
Der Kerl stand vor dem Fenster in ihrem Schlafzimmer.
„Hi, Devin.“ Er wandte sich zu ihr um.
„Du hast mich erschreckt.“
Und er hatte sie verärgert. Was dachte er sich dabei, einfach so in ihrem Schlafzimmer herumzulungern?
Und er hatte die Tür hinter sich geschlossen.
Das war schlicht unheimlich.
„Ich muss mit dir reden.“ Der kalte Ausdruck in seinen Augen sorgte nicht dafür, dass sie sich besser fühlte.
„Können wir das auf dem Flur fortsetzen?“, fragte sie und ging auf die Schlafzimmertür zu. „Amelia ist gerade erst eingeschlafen.“
Sie fürchtete sich nicht wirklich, aber es war definitiv beunruhigend, wie er in ihren Bereich eindrang.
„Ich würde mich lieber unter vier Augen unterhalten“, sagte er.
Nun, sie würde ein Gespräch in der Öffentlichkeit bevorzugen. Sie ging weiter auf die Tür zu.
„Was ist passiert, nachdem ich weg war?“ Ungeduld lag in seiner Stimme.
Devin hielt inne, eine Hand schon auf dem Türknauf. „Nachdem du von wo weg warst?“
„Deinem Haus. Letztens. Ich weiß, dass er dort übernachtet hat.“
„Lucas?“
„Ja, Lucas.“
„Er war vollkommen durchnässt.“
„Er war die ganze Nacht da“, sagte Steve anklagend, Wut stand in seinen dunklen Augen.
Verärgert drehte sie den Türknauf. „Ich denke, du gehst jetzt besser.“
Steve machte ein paar Schritte auf sie zu und hob seine Hand, um sie daran zu hindern, die Tür zu öffnen. „Das hier ist nicht dein Haus, Devin.“
Sie machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.
„Du bist eine kluge Frau. Dir muss klar sein, was er tut. Dir muss klar sein, dass du verletzt werden wirst.“
„Das geht dich nichts an.“ Was immer er vermutete, sie würde sich nicht vor ihm rechtfertigen.
Er blieb neben ihr stehen, blickte sie kalt und unbewegt an. „Ich hab versucht, es dir leicht zu machen. Ich hab dir meine Hilfe angeboten. Ich habe deine Anwälte bezahlt.“
„Lucas hat auf dem Sofa geschlafen, Steve.“ Sie wusste nicht, warum sie ihm das sagte. Von jetzt an würde sie keinerlei Hilfe mehr von ihm annehmen.
Er schüttelte den Kopf. „Es hätte funktioniert, Devin.“
Sie war versucht zu fragen, was funktioniert hätte, aber je schneller dieses Gespräch vorbei war, desto besser. „Das hier ist zwar nicht mein Haus …“, sie stählte sich und blickte ihm geradeheraus in die Augen, „… aber zurzeit ist das hier mein Zimmer, und ich will, dass du gehst.“
Er starrte auf sie hinunter. Die Kälte in seinen braunen Augen ließ sie erschauern.
Doch nach einem langen Schweigen trat er zurück und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Devin schloss die Tür fest hinter ihm. Sie stand einfach nur da, ihre Hand zitterte.
Dann hörte sie einen startenden Motor von der Einfahrt her. Sie ging zum Fenster hinüber und beobachtete, wie Steve davonfuhr. Sobald seine Rücklichter unter den Baumkronen der Eichen verschwunden waren, seufzte sie erleichtert auf und zog das T-Shirt über ihren Kopf.
Sie entschied sich für eine ärmellose weiße Bluse, schlüpfte in ein Paar Sandalen und ging dann nach unten.
Lucas war auf der Terrasse, die von dem großen Wohnzimmer abging. Er saß auf einem gepolsterten Stuhl an einem der runden Tische, von denen aus man auf den Garten blickte. Obst und Croissants waren aufgedeckt worden, dazu eine Kanne mit Kaffee. Lucas nippte an einer Tasse.
„Schläft sie?“, fragte er und stand kurz auf, als Devin sich ihm gegenübersetzte.
Sie nickte und überlegte hin und her, ob sie ihm von dem seltsamen Gespräch mit Steve erzählen sollte. Obwohl sie inzwischen eher dazu neigte, Lucas zu vertrauen als Steve, war sie noch lange nicht bereit, irgendwem in dieser Familie wirklich über den Weg zu trauen.
„Für mich hatte Kindermädchen Nummer drei Potenzial“, sagte Lucas und hob fragend die Kaffeekanne hoch.
Devin schob ihre Kaffeetasse in seine Richtung. „War das die mit dem Zopf?“
„Nein. Die mit dem Hut.“
„Keine Uniformen“, sagte Devin und gab Zucker in ihren Kaffee.
Lucas hielt ihr die Platte mit den Croissants hin. „Was ist so verkehrt an Uniformen?“
Sie nahm sich ein Croissant. „Ich mag sie nicht.“
„Du willst also Kleidervorschriften einführen?“
„Nein, eine Uniform wäre eine Kleidervorschrift. Ich will nicht, dass Amelia sich fühlt, als wäre sie in einer Anstalt.“
„Eine Uniform ist nur eine Kleidervorschrift, wenn man sie tragen muss. Wenn du Uniformen verbietest, führst du eine Kleidervorschrift ein.“
„Jetzt machst du absichtlich auf begriffsstutzig. Meinetwegen kann das Kindermädchen tragen, was es will.“
„Es sei denn, es ist eine Uniform.“
Devin riss ein Stück von ihrem Croissant ab. „Niemand mag es, eine Uniform zu tragen.“
Ein Knistern klang aus dem Babyfon.
Eine gedämpfte Männerstimme klang aus dem Lautsprecher. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber Devin wurde eiskalt.
Der Mann sprach erneut.
Steve.
Sie fluchte, sprang auf und stieß ihren Stuhl zur Seite. Er fiel polternd auf den Boden. Sie sprintete durch das Wohnzimmer, den Flur entlang in die Eingangshalle und zur Treppe, während Lucas ihr folgte, ihren Namen rief.
Sie stürmte die Treppe hinauf und rannte den Flur entlang. Dann bog sie um die Ecke und sah zwei Hausangestellte, die sich vor Amelias Zimmer unterhielten. Beide Zimmertüren waren geschlossen, und die zwei Männer sahen überrascht auf, als sie auf sie zustürzte.
Eilig drängte sie sich zwischen ihnen durch und zog die Tür des Kinderzimmers auf.
Amelia schlief tief und fest und war allein.
„Ist alles in Ordnung, Ma’am?“, fragte einer der Männer.
„Devin?“, erklang Lucas’ Stimme vom anderen Ende des Flurs.
Ihr Herz raste, und sie atmete tief ein. Sie riss sich zusammen. „Alles in Ordnung.“
Lucas kam auf sie zu.
„Würden Sie uns entschuldigen?“, fragte er die beiden Männer.
Schnell zogen sie sich zurück.
„Was zum Teufel …?“, wollte Lucas wissen, seine Stimme klang tief. „Du bist bleich wie ein Gespenst.“
„Ist schon in Ordnung.“ Sie keuchte. Offensichtlich hatte das Babyfon auf die Stimmen der zwei Männer vor Amelias Tür reagiert.
„Was ist passiert?“
„Ich dachte …“, begann sie und fragte sich, wie viel sie ihm erzählen sollte. Sie würde wie eine hysterische Idiotin klingen. Aber ihr fiel nichts ein, was sie anstelle der Wahrheit vorbringen könnte.
„Was hast du gedacht?“
„Steve war hier“, gestand sie. Dann redete sie weiter, hatte plötzlich das Verlangen, die ganze Geschichte loszuwerden. „Er hat gesagt, er hätte versucht, mir das alles leichtzumachen. Es klang so, also ob er es mir ab jetzt nicht mehr leichtmachen wollte. Ich hab nicht verstanden, was er damit gemeint hat. Aber dann hörte ich eine Männerstimme.“ Sie schwieg kurz. „Aus dem Babyfon. Da dachte ich …“
„Du dachtest, Steve würde Amelia etwas antun?“
„Ich hab gedacht, er wäre zurückgekommen. Darüber hinaus hatte ich keine Ahnung, was ich denken sollte.“
Lucas drückte sanft ihre Schulter. „Steve wird Amelia nichts antun.“
Devin nickte, aber nur, um nett zu sein. Sobald Steve im Spiel war, schrillten ihre Alarmglocken. Wenn es nach ihr ginge, würde er sich Amelia nie wieder nähern dürfen.
„Ich meine, selbst wenn er wollte, er könnte das nicht, glaub mir. Er ist ein Idiot, aber so weit würde er nicht gehen. Wir können die Sicherheit erhöhen, Devin. Wir können Amelia einen Bodyguard statt einem Kindermädchen besorgen, wenn du dich dann besser fühlst.“
Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
„Besser?“, fragte er.
Sie nickte.
Sein Griff um ihre Schulter wurde fester, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, zog er sie in eine Umarmung.
„Alles wird gut“, versprach er ihr mit rauer Stimme.
Seine Arme fühlten sich wundervoll stark an, als er sie um sie legte. Sie schmiegte die Wange an seine breite Brust. Und obwohl sie wusste, dass sie nichts Gefährlicheres tun konnte, als sich auf Lucas zu verlassen, stützte sie sich, nur für einen Moment, auf seine Stärke.
Lucas konnte nicht glauben, dass Steve wirklich zu einer Gefahr für Amelia werden könnte. Aber die Dreistigkeit dieses Kerls kannte einfach keine Grenzen.
Lucas hatte unverzüglich Theodore Vick, seinen Sicherheitschef, kontaktiert, und für zusätzlichen Schutz für Devin und Amelia gesorgt. Er hatte sich außerdem mit Byron darüber unterhalten, was es bedeuten mochte, dass Steve nun Devin seine Unterstützung entzog. Trotz seines bodenständigen Verhaltens war Byron ein gerissener Stratege mit einem beeindruckenden Netzwerk an Kontakten und der Gabe, Informationen zu beschaffen. Wenn einer hinter Steves neuen Plan kommen konnte, war es Byron.
Der betrat gerade Lucas’ Büro im Erdgeschoss des Hauses.
„Irgendwas rausbekommen?“, fragte Lucas ohne weitere Einleitung.
Byron trat ein und schloss die Tür. „Hat Steves Mama ihn auf den Kopf fallen lassen, als er noch ein Kind war?“, fragte er beiläufig. „Wenn nicht, hätte sie es tun sollen“, sagte Byron. „Irgendwas ist ernsthaft schiefgelaufen bei dem Jungen.“
„Was hast du herausgefunden?“
„Erinnerst du dich an das hier?“ Byron warf ein rot beschriftetes Videoband auf den quadratischen Konferenztisch, der eine Ecke des Zimmers einnahm.
„Ist es das von Großvaters Testament?“
Byron nickte kurz angebunden. „Lass uns deine Erinnerung kurz auffrischen, ja?“ Er legte das Band in das alte Videogerät ein, das mit Lucas’ Fernseher verbunden war. Dann nahm er die Fernbedienung und deutete auf die Stühle am Konferenztisch.
„Haben wir beim ersten Anschauen was übersehen?“, fragte Lucas, als er sich auf einem der dunkelgrauen Lederstühle niederließ.
„Es war direkt vor unserer Nase, die ganze Zeit.“ Byron drückte eine Taste auf der Fernbedienung, und eine schlecht ausgeleuchtete Szenerie erschien auf dem Bildschirm.
Das Bild zeigte einen jüngeren Großvater, der in genau diesem Büro saß, mit Fotografien von alten Eisenbahnen an der Wand hinter ihm.
Byron spulte das Band vor.
„Hier ist es“, sagte er und ließ die Aufnahme abspielen.
Durch die Lautsprecher erklang Lucas’ Großvaters vertraute, raue Stimme. „Der Grund dafür ist, dass ihr Jungs den Unterschied zwischen Arbeit und Familie verstehen müsst. Das Fundament, auf dem dieses große Unternehmen gegründet wurde, ist die Familie. Die Namen eurer Großmütter und Urgroßmütter stehen zwar nicht auf dem Papier, aber sie haben immer eine zentrale Rolle beim Aufbau des Unternehmens gespielt, das ihr nun als Pacific Robotics kennt.“
Ein sanfter Ausdruck lag in seinen alten Augen, als er weitersprach. „Lucy war mein Fels in der Brandung. Sie war da in guten wie in schlechten Zeiten, bei Erfolgen wie bei Niederlagen, sie glaubte immer daran, dass ich das Unmögliche schaffen konnte. Und ihr Jungs, ihr müsst eure eigenen Felsen finden.“
Er faltete seine Hände und lehnte sich vor. „Und wenn ich euch damit dazu inspirieren kann, loszuziehen und auf die Suche zu gehen, dann vererbe ich mein Vermögen gern einem zukünftigen Urenkel. Dann sei es so. Damit kann ich leben.“
Byron stoppte das Band.
„Ich verstehe nicht, was das soll“, sagte Lucas und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Das haben wir alles schon gesehen. Worauf willst du hinaus?“
„Du musst es wollen“, sagte Byron. „Lies zwischen den Zeilen. Genau das hat Steve auch getan.“
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
„Steve und seine Anwälte haben ein paar Präzedenzfälle aufgespürt, in denen Videoaufzeichnungen als Präambel zu einem Testament akzeptiert wurden.“
Lucas deutete auf den Bildschirm. „Großvater hat nur wiederholt, dass sein erstgeborener Urenkel erben wird.“
Byron nickte. „Tja, euer Großpapa hat gehofft, dass ihr Jungs ein paar Mädels finden, euch verlieben, heiraten und Kinder kriegen würdet.“
„Ja, das hat er.“ Lucas seufzte verzweifelt. Es war lächerlich, eine Erbschaft an solche Bedingungen zu knüpfen. Sein Großvater hätte seine Anteile demjenigen hinterlassen sollen, der die besten Fähigkeiten bei der Unternehmensführung zeigte. Dieser Blödsinn über die Familie als Fels in der Brandung im Leben eines Mannes war doch nur das Gerede eines alten Idealisten.
„Und Steve hat einen neuen Antrag eingereicht, in dem er darum bittet, dass diese Aufzeichnung als die Absicht zugelassen wird, mit der dein Großpapa sein Testament verfasst hat.“
„Das kann er tun?“
„Es scheint ganz so“, sagte Byron. „Es sieht so aus, als könne ein Gericht die Absicht, die hinter einem Testament steht, gegen seinen Wortlaut abwägen.“
„Aber die Anteile wurden längst auf Amelia überschrieben.“
„Das funktioniert wie bei einer Berufung.“
„Er kann das Testament anfechten?“
„Könnte sein. Er schwört, Konrad hätte Monica nur geheiratet, um das Mädchen zu schwängern. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Absicht des Testaments. Und Steve hat viele Anwälte darauf angesetzt, Präzedenzfälle zu seiner Unterstützung zu finden.“
„Amelia könnte ihre Anteile verlieren?“
Byron nickte.
„Ernsthaft?“
„Ja.“
„Hat er auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg?“
„Mir wurde versichert, dass er die hat. Und es wird noch schlimmer.“
Lucas schwieg.
„Seine Starzeugin?“, fragte Byron. „Die Person, die dort stehen und aussagen wird, dass Konrads und Monicas Ehe ein Betrug war?“
Lucas fluchte laut und schlug mit der Faust so fest auf den Tisch, dass die Wassergläser klirrten.
Byron nickte.
„Devin“, sagte Lucas.
„Devin“, bestätigte Byron. „Bei der Verhandlung über das Sorgerecht wird diese Lady im Zeugenstand sitzen und Steve die Beweise auf einem Silbertablett servieren.“