KAPITEL 2
Als ich die Augen aufschlug, war es Nacht, ich lag in einem riesigen Bett, mein Kopf schmerzte, und mir war übel. Die einzige Lichtquelle war eine Laterne vor dem Fenster. Was zum Teufel war passiert, und wo war ich? Ich versuchte aufzustehen, aber mein Körper war bleischwer und ich so schwach, dass ich nicht einmal den Kopf vom Kissen heben konnte. Ich schloss die Augen und schlief wieder ein.
Als ich das nächste Mal erwachte, war es immer noch oder schon wieder Nacht. Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte oder wie spät es war. Ich hob den Kopf. In dem Raum gab es keine Uhr, und ich sah weder meine Handtasche noch mein Telefon. Wieder wurde mir schwindelig, aber immerhin gelang es mir, mich aufzurichten. Ich setzte mich auf den Bettrand und wartete einen Moment, bis das Karussell in meinem Kopf zum Stillstand kam. Dann schaltete ich die kleine Lampe auf dem Nachttisch ein und stellte fest, dass ich mich offenbar in einem sehr alten und mir vollkommen unbekannten Gebäude befand.
Das Zimmer war elegant und sehr italienisch. Gegenüber dem massiven Holzbett befand sich ein imposanter Kamin, wie ich ihn bisher nur in Filmen gesehen hatte. An der Decke zogen sich alte Holzbalken entlang, die farblich mit den reich geschmückten Rahmen der raumhohen Fenster harmonierten. Ich erhob mich und trat hinaus auf den Balkon, von dem sich mir ein atemberaubender Blick auf einen großen Garten bot.
»Schön, dass Sie aufgewacht sind.«
Ich erstarrte, das Herz schlug mir bis zum Hals. Als ich mich umdrehte, stand ein junger Mann vor mir – offenbar ein Italiener, wie an dem leichten Akzent, mit dem er Englisch sprach, unschwer zu erkennen war. Langes dunkles Haar fiel ihm auf die Schultern, er hatte feine Gesichtszüge und volle Lippen. Ein hübscher Junge, so viel konnte man sagen. Er war kräftig und durchtrainiert, aber nicht sonderlich groß, und obwohl er einen tadellos sitzenden, teuren Anzug trug, wirkte er wie ein Teenager.
»Wo bin ich, und warum bin ich hier?«, blaffte ich ihn wütend an.
»Bitte machen Sie sich zurecht. Im Badezimmer finden Sie vor, was Sie brauchen. Ich komme gleich wieder zu Ihnen, dann werden Sie alles erfahren«, erwiderte er und verließ eilig das Zimmer. Fast hatte ich den Eindruck, dass er vor mir flüchtete, dabei wäre ich selbst am liebsten schreiend davongerannt.
Ich stürzte hinter ihm her, zur Tür, aber er hatte abgeschlossen. Ratlos fluchte ich in mich hinein.
Neben dem Kamin führte eine weitere Tür in ein herrschaftliches Badezimmer. Mitten im Raum stand eine große Wanne, in einer Ecke war die Toilette, daneben ein breites Waschbecken mit Spiegel, in der anderen Ecke befand sich eine mit Mosaikfußboden ausgelegte ebene Duschkabine, in der locker eine Fußballmannschaft Platz gefunden hätte. Das Bad war so groß wie Martins gesamte Wohnung. Martin … bestimmt machte er sich Sorgen. Oder vielleicht freute er sich auch, dass ich ihm endlich nicht mehr auf die Nerven ging. In meine Panik mischte sich Wut.
Wie mir der Blick in den Spiegel zeigte, sah ich außergewöhnlich gut aus, sonnengebräunt und ausgeruht. Die tiefen Augenringe waren verschwunden. Immer noch trug ich meine geblümte Tunika und meinen Bikini, die Sachen, die ich bei meiner überstürzten Flucht aus dem Hotel angehabt hatte. Wie sollte ich mich zurechtmachen ohne meine Kosmetiktasche? Ich zog mich aus und stieg unter die Dusche, danach hüllte ich mich in einen flauschigen weißen Bademantel und befand, dass müsste reichen.
Während ich noch im Zimmer nach Hinweisen suchte, die mir Aufschluss über meinen Aufenthaltsort geben konnten, ging die Tür wieder auf, und der junge Italiener trat ein. Mit einer schwungvollen Geste wies er mir den Weg. Das Haus lag im Halbdunkel, erhellt nur vom Licht der Laterne, das durch die vielen Fenster hereinfiel. Wir gingen durch endlose, mit Blumenvasen geschmückte Korridore und stiegen Marmortreppen hinab, bis der junge Italiener schließlich eine Tür öffnete, mich eintreten ließ und die Tür hinter mir wieder schloss. Offenbar handelte es sich um die Bibliothek, Bücherregale zogen sich die Wände entlang, hier und dort hingen Gemälde. In der Zimmermitte brannte ein Feuer im Kamin, davor standen weiche dunkelgrüne Sessel mit goldenen Kissen. Auf einem Beistelltischchen wartete eine Flasche Champagner in einem Kühler. Bei diesem Anblick schüttelte es mich; nach meinen jüngsten Exzessen war Alkohol nun wirklich nicht das, was ich brauchte.
»Bitte nimm Platz. Du hast das Beruhigungsmittel nicht vertragen, ich wusste nicht, dass du ein Herzproblem hast.« Auf dem Balkon stand ein Mann und drehte mir den Rücken zu.
Ich rührte mich nicht einen Millimeter.
»Laura, setz dich in den Sessel. Ich werde dich nicht zweimal bitten, sondern dich mit Gewalt in den Sessel verfrachten, wenn du nicht gehorchst.«
Mein Herz pochte überlaut, und mir wurde schwarz vor Augen.
»Verdammt nochmal, warum hörst du nicht auf mich?!«
Bevor ich zu Boden sinken konnte, eilte der Mann zu mir und fing mich auf, setzte mich in den Sessel und schob mir einen Eiswürfel zwischen die Lippen.
»Lutsch das. Du hast fast zwei Tage geschlafen, der Arzt hat dir eine Infusion gelegt, damit du nicht dehydrierst. Vermutlich hast du Durst und fühlst dich noch nicht wieder topfit.«
Diese Stimme kannte ich, vor allem dieses britische Englisch mit italienischem Akzent.
Ich öffnete die Augen, und da traf mich wieder dieser eisige, animalische Blick. Vor mir kniete der Mann, den ich im Restaurant, im Hotel und … oh Gott, am Flughafen gesehen hatte. Er war genauso gekleidet wie an dem Tag, als ich auf Sizilien gelandet und dem Schrank von Security fast in den Rü cken gelaufen war. In seinem schwarzen Anzug und dem weit aufgeknöpften schwarzen Hemd war er der Inbegriff von Eleganz – und unerträglich arrogant. Wütend spuckte ich ihm den Eiswürfel direkt ins Gesicht.
»Wieso bin ich hier, wer sind Sie, wieso halten Sie mich hier fest?«
Er rieb sich das Wasser aus dem Gesicht, hob den Eiswürfel vom Teppich auf und feuerte ihn in den Kamin.
»Antworten Sie!«, schrie ich und vergaß vor lauter Wut, wie elend ich mich noch einen Moment zuvor gefühlt hatte. Als ich versuchte, mich vom Sessel zu erheben, drückte er mich an den Schultern wieder in die Polster und blieb drohend über mir stehen.
»Ich habe gesagt, du sollst dich hinsetzen. Sonst fällst du wieder in Ohnmacht.«
Ich holte aus und schlug ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Wilde Wut flammte in seinen Augen auf, und ich krümmte mich vor Angst in meinem Sessel zusammen. Langsam richtete er sich wieder auf und sog laut hörbar die Luft ein. Innerlich kochte ich vor Entrüstung, aber ich wollte ihn lieber nicht weiter reizen – wer konnte schon wissen, wie schnell er die Nerven verlor. Er trat an den Kamin und stützte sich mit beiden Händen über der Feuerstelle ab. Weitere Sekunden vergingen in eisigem Schweigen.
»Ungehorsam ertrage ich nicht und werde ihn nicht tolerieren, Laura.«
Er drehte sich um, seine Augen loderten immer noch, da ging plötzlich die Tür auf, und es erschien der junge Mann, der mich hergeführt hatte .
»Don Massimo …«, begann er. Das kurze Gespräch wurde auf Italienisch geführt, dann verschwand der junge Mann wieder und schloss die Tür hinter sich. Massimo lief im Zimmer auf und ab und trat dann auf den Balkon.
Don … so wurde das Oberhaupt der Mafiafamilie genannt, das Marlon Brando in Der Pate spielte. Plötzlich fügte sich alles zusammen: die Securitymänner, die Autos mit den getönten Scheiben, dieses mittelalterliche Castello, das Beharren auf bedingungslosem Gehorsam. Ich hatte die Cosa Nostra immer für eine Erfindung Francis Ford Coppolas gehalten, und jetzt befand ich mich offenbar mitten in einer solchen sizilianischen Geschichte.
»Massimo …?«, sagte ich leise. »Soll ich Sie mit Ihrem Vornamen anreden, oder soll ich Don sagen?«
Der Mann drehte sich um und kam auf mich zu. So viele Gedanken auf einmal stürmten durch meinen Kopf, dass mir der Atem wegblieb. Panik stieg in mir auf.
»Denkst du, dass du jetzt alles verstehst?«, fragte er und setzte sich aufs Sofa.
»Ich denke, dass ich jetzt weiß, wie Sie heißen.«
Er lächelte leicht. »Mir ist bewusst, dass du Erklärungen erwartest. Aber ich weiß nicht, wie du auf das reagieren wirst, was ich dir zu sagen habe. Also trink erst mal was.« Er stand auf, goss Champagner in zwei Gläser, reichte mir eines, aus dem anderen trank er einen Schluck und setzte sich dann wieder auf das Sofa.
»Vor fünf Jahren«, begann er, »änderte sich mein ganzes Leben. Mein Vater starb direkt vor meinen Augen. Die Kugel durchschlug sein Herz und traf auch mich. Ich dachte, ich würde auch sterben ...« Hier brach er ab, stand auf, ging ein paar Schritte bis zum Kamin und atmete schwer. »Was ich dir jetzt erzähle, ist so unglaublich, dass ich es selbst nicht glauben konnte, bis ich dich am Flughafen sah. In diesem Augenblick habe ich begriffen, dass ich mir das alles nicht nur eingebildet hatte. Schau dir das Bild über dem Kamin an.«
Ich hob den Blick und erstarrte. Ich sah das Porträt einer jungen Frau, genauer gesagt mein Porträt. Ich griff nach dem Glas und leerte es in einem Zug. Beim Geschmack von Alkohol schüttelte es mich, aber der Champagner wirkte beruhigend, also griff ich nach der Flasche und schenkte mir nach. Massimo fuhr fort.
»Als mein Herz aufhörte zu schlagen, sah ich … dich. Nach Wochen im Koma erlangte ich das Bewusstsein wieder, und nach vielen Monaten wurde ich auch wieder gesund. Sobald ich in der Lage war zu sprechen, ließ ich einen Künstler kommen und beschrieb ihm die Frau, die mir die ganze Zeit vor Augen gestanden hatte. Er hat dich gemalt.« Massimo machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich habe dich auf der ganzen Welt gesucht. Und ganz tief in meinem Innern wusste ich, dass du eines Tages vor mir stehen und nur mir gehören wirst. Und so ist es auch gekommen. Als ich dich am Flughafen sah, war ich drauf und dran, dich sofort zu entführen, aber das wäre zu riskant gewesen. Seitdem hatten meine Leute dich im Blick. Die Vorsehung meinte es offenbar gut mit mir. Das Tortuga, das Restaurant, in dem ihr gegessen habt, gehört mir, aber ihr seid nur durch Zufall am ersten Abend dort gelandet, und nur durch Zufall hast du dich in die Abstellkammer verlaufen. Weil du aber schon einmal da warst, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, dich anzusprechen. Auch das Hotel, das ihr gebucht hattet, gehört mir …«
In diesem Moment verstand ich, wo mein Gefühl herrührte, ständig beobachtet zu werden. Ich wollte ihn unterbrechen und ihn mit tausend Fragen bombardieren, aber ich hielt mich zurück.
»Auch du musst mir gehören, Laura.«
Jetzt ging er wirklich zu weit. »Soll das ein Witz sein? Ich bin kein Objekt, niemand kann mich besitzen. Sie denken wirklich, Sie können mich kidnappen, und dann gehöre ich einfach Ihnen?«
»Nein. Deswegen werde ich dir die Chance geben, dich in mich zu verlieben. Nicht, weil ich dich dazu zwinge, sondern weil du es selbst willst.«
Ich brach in hysterisches Lachen aus, dann erhob ich mich langsam von meinem Sessel und trat an den Kamin. Ich trank mein Glas aus und drehte mich zu Massimo um.
»Aber ich habe einen Freund, der nach mir suchen wird, Familie, Freunde, ich habe mein eigenes Leben. Stecken Sie sich Ihr krankes Angebot sonst wohin!« Meine Stimme war laut und schrill, mein Blick hasserfüllt. »Und jetzt lassen Sie mich freundlicherweise gehen, verdammt.«
Massimo stand auf, holte zwei Umschläge aus einem Schrank am anderen Ende des Zimmers, kehrte zurück und blieb direkt vor mir stehen. Sein Duft – eine unwiderstehliche Mischung aus Macht, Geld und einem sehr teuren Eau de Toilette – verdrehte mir vollkommen den Kopf. Er reichte mir einen der beiden Umschläge und sagte: »Bevor du ihn aufmachst, erkläre ich dir, was …«
Aber ich wartete seine Erklärungen nicht ab, sondern riss ihm den Umschlag aus der Hand und so heftig auf, dass alle darin enthaltenen Fotos auf den Fußboden flogen.
»Oh mein Gott …« Das Gesicht in den Händen verborgen, sank ich auf die Knie.
Mein Herz zog sich zusammen, Tränen liefen mir über die Wangen. Auf den Fotos war Martin mit einer Frau zugange, die ich nicht kannte.
»Laura …« Massimo kniete sich neben mich. »Wenn ich dir sage, dass du etwas tun sollst, und du machst das Gegenteil, dann endet das schlecht für dich. Sieh das ein und hör auf, gegen mich anzukämpfen, denn im Moment bist du in der schlechteren Position.«
Der Blick aus meinen verweinten Augen war so hasserfüllt, dass Massimo vor mir zurückwich. Ich war wütend, tief enttäuscht und mit den Nerven vollkommen am Ende.
»Weißt du was? Fick dich!« Ich drückte ihm den Umschlag in die Hand, sprang auf und rannte zur Tür.
Mit einer blitzschnellen Bewegung griff Massimo nach meinem Bein, und ich stürzte rücklings auf den Fußboden. Massimo zog mich über den Teppich, bis ich unter ihm lag, und hielt meine Handgelenke fest. Im Versuch, mich zu befreien, warf ich mich wild hin und her.
»Lass mich los, verdammt!«, schrie ich.
Während wir rangen, glitt plötzlich eine Pistole aus Massimos Hosenbund und fiel auf den Fußboden. Ich erstarrte, aber Massimo blieb vollkommen ungerührt. Er nahm seine Augen nicht eine Sekunde von mir und umklammerte meine Handgelenke noch fester. Schließlich hörte ich auf, mich zu wehren, hilflos und verweint lag ich unter ihm, und er durchbohrte mich mit seinem eisigen Blick. Der Bademantel, den ich trug, war bei unserem Kampf ziemlich weit hochgerutscht. Bei diesem Anblick zog Massimo scharf die Luft ein und biss sich auf die Unterlippe. Mit seinem Mund kam er meinem ganz nahe, und ich hielt den Atem an – es war, als sauge er meinen Geruch ein, und im nächsten Moment würde er herausfinden wollen, wie ich schmeckte. Er ließ seine Lippen über meine Wange streifen und flüsterte: »Ich werde nichts ohne deine Einwilligung tun. Ich warte, bis du mich willst, mich begehrst und freiwillig zu mir kommst«, sagte er sehr leise und ganz ruhig. »Das heißt aber nicht, dass ich keine Lust hätte, tief in dich einzudringen und deinen Schrei mit meiner Zunge zu ersticken.«
Mir wurde heiß.
»Halt still und hör mir zu. Ich habe eine ziemlich lange Nacht vor mir, die letzten Tage waren nicht leicht, und du machst mir noch zusätzlich Ärger. Ich bin es nicht gewohnt, dass man mir nicht gehorcht, ich kann nicht sanft sein, aber ich will dir nicht wehtun. Das heißt, entweder fessele ich dich an einen Stuhl und knebele dich, oder ich lasse dich los, und du befolgst gehorsam meine Anweisungen.«
Er lag jetzt mit seinem ganzen Gewicht auf mir, und ich meinte, jeden einzelnen Muskel seines Körpers spüren zu können. Als ich beharrlich schwieg, schob er sein linkes Knie zwischen meinen Beinen nach oben. Ich stöhnte auf und unterdrückte einen Schrei, als er mit seinem Knie meine Schenkel immer weiter spreizte und sich Zugang zu der empfindlichsten Stelle meines Körpers verschaffte. Unwillkürlich bog ich meinen Rücken durch und wandte den Kopf von ihm ab. Mein Körper verriet mich – seiner Aggressivität zum Trotz war ich ganz eindeutig erregt.
»Provozier mich nicht, Laura«, stieß Massimo zwischen den Zähnen hervor.
»Gut, ich werde ruhig bleiben, und jetzt runter von mir.«
Massimo ließ mich los, stand auf und legte die Pistole auf den Tisch. Dann zog er mich an den Händen hoch und setzte mich in einen der Sessel.
»Viel besser!«, stellte er fest und nahm auf dem Sofa Platz. »An deinem Geburtstag habe ich beobachtet, wie du dich mit deinem Freund am Pool gestritten hast. Als du aus dem Hotel gerannt bist, wusste ich, das ist der Tag, an dem ich dich in mein Leben holen werde. Dein Freund hat dich nicht verdient, Laura. Euer Streit hat ihn vollkommen kaltgelassen, und er wird dir bestimmt nicht lange hinterhertrauern. Als du weg warst, sind deine Freunde essen gegangen, als wäre nichts gewesen. In der Zeit haben meine Leute deine Sachen aus dem Hotel geholt und eine Nachricht für Martin hinterlassen, in der steht, dass du nach Polen zurückfliegst, ausziehst und aus seinem Leben verschwindest. Nach dem Essen ist er aufs Zimmer gegangen, er muss den Brief also gefunden und gelesen haben. Abends kamen die drei in glänzender Laune an der Rezeption vorbei. Ein Mitarbeiter vom Empfang hat sie angesprochen und ihnen einen der besten Clubs auf der Insel empfohlen, der ebenfalls mir gehört. Was da passierte … nun ja, sie tranken, sie feierten, schließlich fa nd Martin an einer der Tänzerinnen Gefallen – den Rest hast du schon gesehen. Die Bilder sprechen vermutlich für sich.«
Ungläubig starrte ich ihn an, ich traute meinen Ohren nicht. Nach nicht einmal vierundzwanzig Stunden auf Sizilien lag mein ganzes Leben in Trümmern.
»Ich will nach Hause. Bitte lass mich gehen. «
Massimo erhob sich und blickte ins Feuer, das schon halb heruntergebrannt war und das Zimmer in ein warmes Halbdunkel tauchte. Dann holte er tief Luft, wandte sich mir zu und sagte: »Leider wird das für die nächsten 365 Tage nicht möglich sein. Ich will, dass du mir das nächste Jahr schenkst. Ich werde nichts unversucht lassen, um deine Liebe zu gewinnen. Denkst du an deinem nächsten Geburtstag noch genauso, bist du frei. Das ist kein Vorschlag, ich lasse dir nicht die Wahl, ich sage dir nur, wie es sein wird. Ich werde nichts ohne deine Einwilligung tun, ich werde dich zu nichts zwingen, ich werde dich nicht anrühren, ich werde dich nicht vergewaltigen, wenn es das ist, wovor du Angst hast … Ich warte, bis du mich willst, mich begehrst und freiwillig zu mir kommst. Ich werde dir Ehre und Respekt erweisen, dir mein Leben widmen. Alles in meiner Residenz steht zu deiner Verfügung, du bekommst Bodyguards, aber nicht um dich zu kontrollieren, sondern um deine Sicherheit zu gewährleisten. Du hast Zutritt zu allen meinen Immobilien, ich habe nicht vor, dich einzusperren, wenn du also feiern oder ausgehen willst, sehe ich kein Problem …«
Ich unterbrach ihn. »Das meinst du nicht ernst, oder? Du hast mich entführt, und ich soll hier ein Jahr lang seelenruhig rumsitzen? Was sollen meine Eltern denken? Du kennst meine Mutter nicht, die heult sich die Augen aus, wenn sie erfährt, dass ich entführt wurde, die wird den gesamten Globus nach mir absuchen. Weißt du, was du ihr antust? Da solltest du mich besser gleich jetzt und hier erschießen, dann muss ich mir nicht die Schuld geben, wenn sie meinetwegen vor die Hunde geht. Sobald du mich aus diesem Zimmer lässt, laufe ich weg, und du siehst mich nie wieder. Ich habe nicht vor, dein oder irgendjemandes Eigentum zu sein.«
Schweigend reichte mir Massimo den zweiten Umschlag, aber ich schreckte davor zurück, ihn zu öffnen. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass mich eine weitere furchtbare Enttäuschung erwartete, ich befürchtete das Schlimmste. Prüfend schaute ich Massimo an, aber der hatte den Kopf abgewandt und blickte ins Feuer.
Mit zitternden Fingern riss ich den Umschlag auf. Auch er enthielt Fotos. Was zum Teufel …?, schoss es mir durch den Kopf. Die Bilder zeigten meine engste Familie: meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder, aufgenommen im Garten vorm Haus, auf dem Weg zur Arbeit, beim Mittagessen mit Freunden, im Pyjama im Schlafzimmer.
»Was soll das?«, fragte ich, gleichzeitig verwirrt und maßlos wütend.
»Das ist meine Versicherung, dass du mir nicht wegläufst. Du wirst die Sicherheit und das Leben deiner Angehörigen nicht aufs Spiel setzen. Ich weiß, wo sie wohnen, wie sie leben, wo sie arbeiten, wann sie schlafen gehen und was sie zum Frühstück essen. Ich habe nicht vor, dich zu bewachen, das kann ich gar nicht, da ich viel unterwegs bin. Ich werde dich nicht fesseln, einsperren oder wegschließen. Aber ich stelle dir ein Ultimatum: Du gibst mir ein Jahr, und deiner Familie wird nichts geschehen.«
Auf dem kleinen Tisch zwischen uns lag seine Pistole. Ob ich wohl in der Lage wäre, ihn zu töten? Ich griff nach der Waffe und richtete sie auf Massimo. Der blieb ruhig sitzen, nur in seinen Augen brannte Feuer.
»Laura, du treibst mich in den Wahnsinn. Leg die Pistole weg, oder willst du, dass ich ungemütlich werde?«
Noch bevor er seinen Satz beendet hatte, schloss ich die Augen und zog den Abzug. Nichts passierte. Massimo warf sich auf mich, nahm mir die Pistole ab, riss mich vom Sessel und warf mich aufs Sofa. Er drehte mich auf den Bauch und band mir die Hände auf dem Rücken zusammen. Danach setzte er mich wieder in den Sessel.
»Die musst du erst entsichern! Willst du unsere Unterhaltung so führen? Ist das deine Vorstellung von Gesprächskultur? Willst du mich wirklich umbringen? Daran sind schon ganz andere gescheitert. Oder meinst du, das hat vor dir noch keiner probiert?«
Er fuhr sich durch die Haare, seufzte und musterte mich mit seinem eisigen, wütenden Blick.
»Domenico!«, brüllte er dann.
In der Tür erschien der junge Italiener, als hätte er die ganze Zeit auf dem Flur vor der Tür gewartet.
»Bring Laura auf ihr Zimmer, aber schließ die Tür nicht ab«, sagte Massimo auf Englisch, damit auch ich ihn verstand. Dann wandte er sich direkt an mich: »Ich werde dich nicht einsperren, aber willst du wirklich versuchen zu fliehen?«
Massimo steckte sich die Pistole in den Hosenbund, warf mir einen warnenden Blick zu und verließ das Zimmer.
Vollkommen unbeeindruckt von der ganzen Situation, wies mir Domenico mit einer ausladenden Geste den Weg und führte mich durch die endlosen Korridore in das Zimmer, in dem ich wenige Stunden zuvor erwacht war. Dort löste er meine Fesseln, nickte mir zu, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich wartete einige Sekunden, dann drückte ich die Türklinke nach unten. Diesmal war nicht abgeschlossen, aber ich zögerte trotzdem, über die Schwelle zu treten. Stattdessen setzte ich mich auf den Bettrand, in meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Hatte Massimo das wirklich alles ernst gemeint? Ein Jahr ohne Familie, ohne Freunde, ohne Warschau? Bei diesen Gedanken stiegen mir die Tränen in die Augen. Wie konnte er mir und meinen Liebsten nur etwas derart Grausames antun? Ich glaubte seinen Worten nicht, aber ich wollte auch nicht prüfen, ob er nur bluffte. Ich weiß nicht, wie lange ich weinte, aber schließlich weinte ich mich in den Schlaf.
Ich erwachte zusammengerollt, nach wie vor in den weißen Bademantel gehüllt. Vor dem Fenster war es dunkel, und erneut wusste ich nicht, ob es immer noch dieselbe schreckliche Nacht war oder schon die nächste.
Vom Flur hörte ich undeutlich Stimmen, doch als ich auf den Balkon trat, war nichts zu sehen. Offenbar befand sich niemand in unmittelbarer Nähe, dafür waren die Stimmen auch zu leise. Vorsichtig drückte ich die Türklinke hinunter, es war nach wie vor nicht abgeschlossen. Ich trat über die Schwelle und zögerte, ob ich einen weiteren Schritt wagen oder ins Zimmer zurückkehren sollte. Aber schließlich gewann meine Neugier die Oberhand, und so folgte ich den gedämpften Stimmen. Das Haus war dunkel und still, die leichten Vorhänge vor den Fenstern bauschten sich im Meereswind. Ohne Domenico an meiner Seite war es nur eine Frage der Zeit, bis ich mich in den endlosen Fluren verlaufen hatte und nicht mehr wusste, wo ich war. Allmählich wurden die Stimmen lauter und deutlicher. Ich bog um die nächste Ecke und stand plötzlich in einer riesigen Halle mit bodentiefen Fenstern, die auf die Einfahrt hinausgingen. Gebückt schlich ich ans Fenster und spähte hinaus.
Im Halbdunkel erkannte ich Massimo, neben ihm standen mehrere Männer, einer kniete vor ihm auf dem Boden. Panik und Entsetzen verzerrten sein Gesicht, er schrie etwas auf Italienisch. Die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben, stand Massimo unbewegt vor ihm und musterte ihn mit seinem eisigen Blick. Schließlich schwieg der schluchzende Mann, Massimo sprach mit ruhiger Stimme ein, vielleicht zwei Sätze, zog seine Pistole aus dem Hosenbund und schoss dem Mann in den Kopf. Dumpf fiel sein Körper auf die Pflastersteine der Auffahrt.
Ich schrie auf. Sofort presste ich die Hände auf den Mund, dennoch musste Massimo mich gehört haben, denn er drehte sich zu mir um. Sein Blick war ruhig und gleichgültig, als machte das, was er eben getan hatte, nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Ich sah noch, wie er einem der neben ihm stehenden Männer seine Waffe reichte, dann fiel ich zu Boden.
Mein Magen revoltierte, das Blut pulsierte in meinen Schläfen, verzweifelt rang ich nach Luft, dann wurde mir schwarz vor Augen. Mit zitternden Händen versuchte ich, den Gürtel des Bademantels zu lösen, der mir plötzlich viel zu eng erschien und mir die Luft abschnürte. Ich war Zeugin einer Hinrichtung geworden, in einer endlosen Wiederholung sah ich vor meinem inneren Auge immer wieder die grauenvolle Szene. Bevor ich vollständig das Bewusstsein verlor, nahm ich gerade noch wahr, dass der Gürtel meines Bademantels sich plötzlich lockerte und zwei Finger an meinem Hals meinen schwächer werden Puls suchten. Dann wurde ich hochgehoben und getragen. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, doch es gelang mir nicht.
Durch das Rauschen in meinen Ohren hörte ich plötzlich eine Stimme ganz deutlich heraus.
»Laura, atme!«
Diesen italienischen Akzent kannte ich inzwischen. Es war Massimo, der mich in den Armen hielt, mich in mein Zimmer trug und mich aufs Bett legte, Massimo, der nur Sekunden zuvor einen Menschen getötet hatte. Immer noch rang ich verzweifelt nach Luft. Mein Atem ging zwar langsam wieder regelmäßiger, aber weiterhin zu flach, und ich hatte das Gefühl zu ersticken.
Mit einer Hand öffnete Massimo meinen Mund, mit der anderen schob er mir eine Tablette unter die Zunge.
»Ruhig, Kleines, das ist ein Herzmittel. Das hat dir der Arzt genau für solche Fälle verschrieben.« Im nächsten Moment beruhigte sich mein Atem wieder, ich bekam ausreichend Luft, und mein wild pochendes Herz fand wieder zu seinem gemäßigten Rhythmus zurück. Der Schwächeanfall schien vorüber.