KAPITEL 18
Die direkt ins Zimmer scheinende Sonne und heftige Kopfschmerzen weckten mich.
»Hilfe«, stöhnte ich und stand auf.
Ich sah mich um und stellte fest, dass ich nicht in meinem Elternhaus war. Ich ging in den Salon hinüber, der Anblick des Tisches erinnerte mich an die Ereignisse der vergangenen Nacht; Massimo über das Kokain gebeugt, das Gespräch mir Piotr, und später nichts mehr. Ich nahm das Handy und wählte Massimos Nummer. Er ging nicht ran. Das sind die Konsequenzen, dachte ich, obwohl ich mich tief im Innern darüber freute, in meinem verkaterten Zustand nicht mit ihm sprechen zu müssen.
Ich ging ins Bad und stellte mich lange unter die Dusche. Dann ging ich zum Fenster und sah unten einen schwarzen SUV
und daneben Paulo, der eine Zigarette rauchte. Ich sah dorthin, wo gestern noch der Ferrari geparkt hatte, aber er war weg. Ich zog mich an und ging nach unten.
»Wo ist Don Massimo?«, fragte ich Paulo, der gerade seine Zigarette ausdrückte.
Er antwortete nicht, sondern hielt mir schweigend die
Autotür auf. Wir fuhren zum Haus meiner Eltern, und Paulo stieg aus und öffnete für mich die Tür.
»Ich warte hier draußen«, sagte er und setzte sich wieder ins Auto.
Mit den Schuhen in der Hand ging ich die Auffahrt entlang. Ich klingelte, meine Mutter öffnete die Tür.
»Einfach davonschleichen, um am Morgen wiederzukommen«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Komm, ich habe Frühstück gemacht.«
»Ich komme gleich«, sagte ich und ging in mein Zimmer, um mich umzuziehen.
Als ich mich an den Küchentisch setzte, reichte mir meine Mutter einen Teller Rührei mit Schinken.
»Lass dir’s schmecken.«
Von dem Geruch wurde mir übel, und ich rannte ins Bad.
»Laura, geht es dir gut?«, fragte sie und klopfte an die Tür.
»Ich hatte eindeutig zu viel Wein gestern«, sagte ich, als ich wieder in die Küche kam. »Weißt du vielleicht, wo Massimo ist?«
Meine Mutter sah mich fragend an. »Ich dachte, er ist bei dir. Wie bist du hergekommen?«
»Massimos Fahrer hat mich hergebracht. Aua, mein Kopf tut weh«, jammerte ich und ließ mich auf meinen Stuhl fallen.
»Ich seh schon, dass die Party nach eurem Tanz woanders stattgefunden hat.«
Ich saß da, sah sie an und versuchte, mich zu erinnern, was passiert war. Vergeblich. Dann sammelte ich meine Sachen ein, trank noch einen Tee mit meinen Eltern und machte mich auf den Weg
.
»Wann kommst du wieder?«, fragte meine Mutter in der Tür.
»Nächste Woche fliege ich wieder nach Sizilien, also wird es eine Weile dauern. Aber ich rufe dich an.«
»Pass auf dich auf, Liebling«, sagte sie und umarmte mich.
Ich schlief die ganze Fahrt nach Warschau über. Nur zweimal wachte ich auf und versuchte erfolglos, Massimo anzurufen.
»Wir sind da, Signorina Laura.« Paolos Stimme riss mich aus dem Schlaf.
Ich öffnete die Augen und entdeckte, dass wir am Terminal für VIP
-Flüge am Warschauer Chopin-Flughafen waren.
»Wo ist Massimo?«, fragte ich.
»Auf Sizilien. Das Flugzeug wartet schon«, sagte er und reichte mir die Hand.
Als ich das Wort Flugzeug hörte, durchwühlte ich hektisch meine Handtasche nach Tabletten, schluckte zwei und ging zur Abfertigung. Eine halbe Stunde später saß ich betäubt in der Privatmaschine und wartete, dass sie startete. Ein Kater ist nicht gut, wenn man reisen will, aber in Verbindung mit den Beruhigungstabletten wirkte er einschläfernd.
Fast vier Stunden später kamen wir auf Sizilien an, wo am mir schon bekannten Flughafen ein Auto auf mich wartete. Als wir beim Castello ankamen, begrüßte mich Domenico vor dem Eingang.
»Hallo, Laura, wie schön, dass du schon da bist«, sagte er und umarmte mich.
»Domenico, du hast mir so gefehlt! Wo ist Don Massimo?
«
»Er ist in der Bibliothek. Du sollst dich frisch machen. Ihr seht euch beim Abendessen.«
»Ich wusste nicht, dass wir so schnell abreisen. Sind meine Sachen aus Polen schon da?«
»Sie kommen morgen. Aber ich habe deine Garderobe vervollständigt. Dir wird nichts fehlen.«
Ich ging den Flur entlang und hielt vor der Tür an, hinter der Massimo saß. Ich hörte Stimmen, eine laute Diskussion. Also ging ich weiter, obwohl ich ihn gerne gesehen hätte.
Ich duschte und machte mich fürs Abendessen fertig. Weil ich nicht genau wusste, was gestern passiert war, beschloss ich, mich ein wenig herauszuputzen, für alle Fälle. Ich wählte meine Lieblingsunterwäsche aus roter Spitze aus. Dazu ein schwarzes Kleid, das mir bis zu den Knöcheln reichte. Schließlich schlüpfte ich in Sandalen mit hohem Absatz und ging zur Terrasse. An einem Tisch mit Kerzen saß Massimo, in ein Telefongespräch vertieft.
Ich ging zu ihm, küsste ihn auf den Hals und setzte mich ihm gegenüber. Er sah mich kalt an, ohne sein Telefonat zu unterbrechen. Das verhieß nichts Gutes. Schließlich legte er sein Handy hin und nahm einen Schluck aus dem Glas vor ihm.
»Was weißt du noch von letzter Nacht, Laura?«
»Ich denke, an das Wichtigste erinnere ich mich – an den Tisch voller Kokain«, sagte ich mit einem möglichst offenherzigen Lächeln.
»Und später?«
Ich überlegte ein Weilchen, dann bekam ich Angst. Ich hatte keine Ahnung, was nach der zweiten Flasche Wein mit Piotr passiert war
.
»Ich habe mich unterhalten und Wein getrunken«, antwortete ich und zuckte die Schultern.
»Du erinnerst dich an nichts?«, fragte er und kniff die Augen zusammen.
»Ich weiß, dass ich zu viel getrunken habe. Verdammt, Massimo, mach’s nicht so spannend. Sagst du mir jetzt, was passiert ist, oder nicht? Ich hatte einen Filmriss, ist das so schlimm? Ich war wütend auf dich und auf das, was ich gesehen hatte. Dann bin ich in den Garten gegangen und habe Piotr getroffen. Er wollte reden, wir haben Wein getrunken, und das war’s. Außerdem hast du mich wieder ohne ein Wort sitzen gelassen, und mir reicht es langsam, dass du einfach kommst und gehst, wie es dir in den Kopf kommt.«
Massimo lehnte sich zurück. »Das ist nicht alles, Kleines. Als dein Bruder zurückkam, hat er mir erzählt, warum du so auf Kokain reagierst. Ich bin losgegangen, um dich zu suchen, und dann habe ich euch gesehen. Ich bin in der Nähe geblieben, um dich zu beschützen. Am Anfang habt ihr tatsächlich geredet, aber später hat er deine Schwäche und deinen Zustand ausgenutzt.«
Er stand auf und warf sein Glas auf den Steinboden. Es zersprang in tausend Stücke.
»Dieser Typ wollte dich vögeln, verstehst du?«, sagte er hitzig und ballte die Hände zu Fäusten. »Du warst schon so betrunken, dass du dachtest, ich wäre es. Du hast dich ihm einfach hingegeben, also bin ich eingeschritten.«
Erschrocken saß ich da und versuchte fieberhaft, mich zu erinnern. In meinem Hirn war aber nur ein Schwarzes Loch
.
»Meine Mutter hat gar nichts gesagt. Was hast du mit ihm gemacht? Hast du ihn verprügelt?«
Massimo lachte auf, kam zu mir, drehte meinen Stuhl zu sich um und beugte sich über mich.
»Ich habe ihn umgebracht, Laura«, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Aber vorher hat er zugegeben, was er mit dir gemacht hat, wenn er high war. Hätte ich das früher gewusst, hätte ich dein Zimmer nie betreten.«
Ich sah, wie die Emotionen ihn fast zerrissen. »Warum hast du mir nichts davon gesagt und zugelassen, dass ich mit diesem Dreckskerl an einem Tisch esse?«
Versteinert und erschrocken, versuchte ich Luft zu holen. Gleichzeitig betete ich, dass er log.
»Ich denke, dass er schon vorher geplant hatte, dich zu verführen, aber weil ich dabei war, konnte er nicht. Deshalb hat er auf einen passenden Moment gewartet. Er hatte Drogen dabei und hat sie dir mit dem Alkohol gegeben. Damit du mir glaubst, werden wir eine Blutuntersuchung machen.«
Er trat einen Schritt zurück und stützte sich auf dem Tisch ab.
»Wenn ich daran denke, was dieser Hurensohn mit dir gemacht hat, würde ich ihn gerne nochmal umbringen.«
Ich wusste nicht, was ich fühlte. Angst mischte sich mit Zorn und Machtlosigkeit. Wegen mir war ein Mensch gestorben. Oder vielleicht bluffte Massimo auch nur und wollte mir eine Lektion erteilen und mich erschrecken? Langsam stand ich auf. Massimo kam auf mich zu, aber ich streckte die Hand aus, um ihn abzuwehren. Dann ging ich auf zitternden Beinen zum Haus. Ich stützte mich an der Wand ab, um zu
meinem Zimmer zu gelangen. Dort angekommen, schloss ich die Tür von innen ab. Ich wollte nicht, dass er hereinkam, ich wollte ihn nicht mehr sehen. Damit sich mein Herz etwas beruhigte, schluckte ich eine Tablette. Dann zog ich mich um und legte mich ins Bett. Ich konnte nicht glauben, was er getan hatte. Als die Tablette wirkte, schlief ich ein.
Am nächsten Morgen weckte mich ein Klopfen.
»Laura«, hörte ich Domenico. »Mach auf!«
Ich ging zur Tür und drehte den Schlüssel. Er kam ins Zimmer und sah mich mitfühlend an.
»Domenico, ich habe eine Bitte. Aber Don Massimo darf nichts davon wissen.«
Er sah mich verwirrt an und überlegte, was er antworten sollte.
»Das hängt von der Bitte ab«, sagte er schließlich.
»Ich will zum Arzt. Mir geht es nicht so gut, aber ich will Massimo nicht beunruhigen.«
»Aber du hast doch einen Arzt. Er kann herkommen.«
Ich gab mich nicht geschlagen. »Ich will zu einem anderen. Kannst du das für mich tun?«
Domenico sah mich forschend an. »Natürlich kann ich das. Wann willst du los?«
»In einer Stunde«, sagte ich und ging ins Bad.
Ich wusste, dass Massimo es sowieso erfahren würde, aber ich musste wissen, ob er mir die Wahrheit gesagt hatte, oder ob ich vor zwei Tagen tatsächlich nur Alkohol getrunken hatte
.
Kurz vor eins setzten wir uns ins Auto und fuhren zu einer Privatklinik in Catania. Doktor Di Vaio empfing mich fast sofort. Er war kein Kardiologe, sondern Allgemeinmediziner. Ich erklärte ihm, worum es ging. Während wir auf die Ergebnisse warteten, lud mich Domenico zu einem späten Frühstück ein. Um drei Uhr waren wir wieder in der Klinik. Der Arzt bat mich in sein Sprechzimmer, setzte sich hin und sah in die Akten.
»Signorina Laura, in Ihrem Blut befinden sich tatsächlich Drogen, vor allem Ketamin. Das ist eine psychoaktive Substanz, die einen Gedächtnisverlust hervorruft. Und genau das besorgt mich sehr. Sie müssen sich noch einmal untersuchen lassen und vor allem einen Gynäkologen aufsuchen.«
»Einen Gynäkologen? Warum das denn?«
»Sie sind schwanger. Und wir müssen nachprüfen, ob dem Kind nichts passiert ist.«
Ich schloss die Augen und versuchte, das Gehörte zu verdauen.
»Wie bitte?«
Der Arzt sah mich überrascht an. »Wussten Sie das nicht? die Blutuntersuchung zeigt, dass Sie schwanger sind.«
»Aber ich habe vor ein paar Wochen einen Test gemacht, und außerdem hatte ich meine Tage. Wie kann das sein?«
Der Arzt lächelte wohlwollend und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Sehen Sie, während der ersten drei Monate können Sie Ihre Periode noch bekommen. Das Testergebnis hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem davon, wann die Befruchtung stattgefunden hat. Wir untersuchen Sie und machen einen Ultraschall, dann kann Ihnen der Gynäkologe mehr sagen. Wir brauchen nur noch ein wenig Blut.
«
Ich spürte, wie mir schlecht wurde. »Sind Sie wirklich sicher?«, fragte ich noch einmal.
»Dass Sie schwanger sind? Ja.«
Ich versuchte zu schlucken, aber mein Mund war ausgetrocknet. »Herr Di Vaio, Sie sind an das Arztgeheimnis gebunden, oder?«
Er nickte.
»In diesem Fall möchte ich, dass absolut niemand außer mir von den Untersuchungsergebnissen erfährt.«
»Ich verstehe. Natürlich. Gehen Sie zur Rezeption. Dort wird man Ihnen zeigen, wo Sie hinmüssen, und für Sie einen Termin beim Gynäkologen machen.«
Ich gab ihm die Hand und verließ auf zittrigen Beinen das Zimmer. Erst ging ich zur Schwester, die mir Blut abnahm, und dann ins Wartezimmer, wo Domenico saß.
Wortlos ging ich an ihm vorbei. Als er mich eingeholt hatte, sah er mich fragend an. Alles, was in den letzten Tagen passiert war, mein ganzer Ärger, war bedeutungslos. Ich war schwanger.
»Und, Laura? Ist alles in Ordnung?«
Ich nahm all meine Kraft zusammen, setzte ein Lächeln auf und antwortete: »Alles okay. Ich habe eine Anämie und bin deshalb die ganze Zeit müde. Ich muss Eisen nehmen, dann wird es besser.«
Ich war wie in Trance und wusste zwar, was los war, verstand es aber nicht. In meinem Kopf hörte ich ein Pochen, mich überlief es erst heiß und dann so kalt, dass ich eine Gänsehaut bekam. Ich versuchte, ruhig zu atmen, schaffte es aber nicht
.
Im Auto zog ich das Handy aus der Tasche und rief Olga an.
»Hallo, du Hure«, kam als Begrüßung aus dem Telefon.
»Olga, bist du nächste Woche sehr beschäftigt?«
»Was weiß ich … Wenn ich Blondie nicht zähle, der mich rund um die Uhr bumst, dann wohl nicht. Mein Liebhaber ist unterwegs, um irgendwelche neuen Märkte zu erobern, also wird es sicher langweilig. Worum geht es denn?«
Domenico sah mich an. Er verstand kein Wort, und ich versuchte, mich natürlich zu verhalten.
»Kommst du zu mir nach Sizilien?«
Im Telefon wurde es still.
»Was ist passiert, Laura? Warum bist du so schnell abgereist, ist alles okay?«
»Olga, sag mir einfach, ob du kommst oder nicht«, sagte ich mit letzter Kraft. »Ich organisiere alles, sag mir nur, dass du kommst, bitte.«
»Natürlich komme ich, schick mir eine Nachricht, wann ich wo sein soll. Hat dir dein Halbgott Massimo etwas angetan? Wenn ja, bringe ich ihn um, und seine Scheiß-Mafia gleich mit.«
Mir ging es sofort ein wenig besser. Amüsiert lehnte ich mich zurück.
»Nein, er hat mir nichts angetan. Ich brauche dich einfach hier. Ich melde mich wieder. Pack schon mal deine Sachen.«
Ich steckte das Handy in die Handtasche und sah Domenico an. »Ich will, dass mich morgen meine Freundin besucht. Kannst du den Flug aus Polen organisieren?«
»Sie bleibt dann bis zur Hochzeit?
«
Verdammt, die Hochzeit hatte ich angesichts der Ereignisse komplett vergessen.
»Haben es alle gewusst, nur ich nicht?«
Domenico zuckte entschuldigend die Schultern und tippte auf seinem Handy herum.
»Ich organisiere alles«, sagte er und hielt sich das Gerät ans Ohr.
Als der Wagen in der Einfahrt hielt, stieg ich aus, ohne darauf zu warten, dass mir der Fahrer die Tür öffnete. Ich ging die Flure entlang zur Bibliothek. Massimo saß mit mehreren Männern am Tisch. Sie verstummten, als ich hereinkam. Massimo sagte etwas zu ihnen und stand auf.
»Wir müssen reden«, sagte ich zu ihm und presste die Lippen aufeinander.
»Kleines, ich kann jetzt nicht, das siehst du doch. Geht das auch am Abend?«
Ich sah ihn an und versuchte, meine Nerven zu beruhigen. In meinem Zustand sollte ich mich nicht aufregen.
»Ich brauche ein Auto, aber ohne Fahrer. Ich will ein bisschen herumfahren, um nachzudenken.«
Er sah mich fragend an. »Domenico bringt dir ein Auto, aber du kannst nicht ohne Schutz fahren«, flüsterte er dann. »Laura, ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich will nachdenken, und zwar weit weg von hier.« Ich machte auf dem Absatz kehrt und schloss die Tür hinter mir.
Dann ging ich zu Domenico. »Ich brauche ein Auto, und Massimo hat gesagt, dass du mir eins gibst. Also bitte, die Schlüssel.« Ich hielt die Hand auf.
Er drehte sich wortlos um und ging voran. Als wir nach
draußen zur Einfahrt kamen, bedeutete er mir, an der Tür stehen zu bleiben.
»Warte hier, ich bringe den Wagen.«
Kurz darauf hielt ein kirschfarbener Porsche Macan vor mir.
Domenico stieg aus und gab mir den Schlüssel. Er sagte: »Das ist die Turbo-Version. Der Motor ist sehr leistungsfähig, er fährt fast zweihundertsiebzig. Aber es ist besser, wenn du das nicht ausprobierst.« Er lachte. »Warum willst du allein fahren? Willst du nicht lieber hierbleiben und mit mir plaudern? Don Massimo muss heute lange arbeiten, aber wir zwei können ein Glas Wein zusammen trinken.«
»Ich kann nicht«, sagte ich und nahm ihm die Schlüssel aus der Hand.
Ich setzte mich ins cremefarbene Innere des prachtvollen Gefährts und erstarrte: Knöpfe, Hunderte Knöpfe, Schalter und Griffe. Als bräuchte man Lenkrad, Pedale und Schaltung überhaupt nicht. Domenico kam zum Auto und klopfte an die Scheibe.
»Eine Anleitung ist im Handschuhfach, aber ich geb dir die Kurzversion: Das da ist die Klimaanlage, der Wagen ist ein Automatik, doch das hast du ja bestimmt schon bemerkt.« Nacheinander zählte er alle Funktionen des Wagens auf, und ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
»Gut, jetzt weiß ich alles, tschüss«, unterbrach ich ihn und startete den Motor.
Als ich vom Anwesen fuhr, bemerkte ich einen schwarzen SUV
hinter mir. Ich hatte keine Lust auf Gesellschaft und erst recht nicht, dass man mich kontrollierte. Sobald ich auf der Autobahn war, ging ich aufs Gas. Sofort spürte ich die Kraft
des Wagens und raste wie eine Irre los. Ich überholte einige Autos, bis der SUV
aus dem Rückspiegel verschwunden war. An der ersten Ausfahrt fuhr ich Richtung Giardini-Naxos. Ich wusste, dass sie nicht damit rechneten, dass ich in die Stadt zurückfahren würde.
Ich parkte an der Promenade und stieg aus. Dann schob ich mir die Sonnenbrille auf die Nase, ging zum Strand und setzte mich in den Sand. Tränen rollten mir über die Wangen. Was sollte ich jetzt tun? Vor zwei Monaten hatte ich hier Urlaub gemacht, dann war ich die Auserwählte des Mafiabosses geworden, und jetzt bekam ich ein Kind! Ich heulte; das war kein Weinen, sondern ein verzweifeltes Brüllen. Dann saß ich lange einfach nur regungslos da, ich wusste nicht, ob es Stunden waren, die ich da hockte, oder nur Minuten. Gedanken rasten mir durch den Kopf, auch solche, wie ich das Problem loswerden konnte. Was sollte ich meiner Mutter sagen, was sollte ich Massimo sagen? Wie hatte ich so dumm sein können, einfach so mit ihm ins Bett zu gehen, ja, wie hatte ich ihm vertrauen können?
»Verdammt, verdammt, verdammt«, stöhnte ich auf Polnisch und ließ den Kopf zwischen meinen hochgezogenen Knien herabhängen.
»Das Wort kenne ich.«
Ich hob den Kopf und sah, wie sich Massimo neben mir in den Sand setzte.
»Kleines, du kannst den Securityleuten nicht abhauen. Sie machen das nicht, um dich zu ärgern, sondern um dich zu beschützen.« Seine Augen waren voller Sorge und sahen mich fragend an
.
»Entschuldige, aber ich musste allein sein.«
»Sie werden Probleme bekommen, weil sie dich verloren haben, das muss dir klar sein. Wie kann ich ihnen noch vertrauen, wenn sie dich einfach durchbrennen lassen?«
»Wirst du sie umbringen?«, fragte ich erschrocken.
Massimo lachte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Nein, Laura, das ist kein Grund, jemanden umzubringen.«
»Ich bin erwachsen und kann selbst auf mich aufpassen.«
Er umfasste mich und zog mich an sich. »Das bezweifle ich nicht. Aber jetzt erzählst du mir, was los ist und warum du beim Arzt warst.«
Danke, Domenico, dachte ich. Seine Diskretion war wirklich vorbildlich.
Ich ließ mich weiter umarmen und schmiegte mich an Massimos Brust. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen, oder fürs Erste lügen?
»Es war alles zu viel. Ich war in der Klinik, um prüfen zu lassen, ob du recht hattest. Hattest du übrigens. In meinem Blut war Ketamin, deshalb erinnere ich mich an nichts. Massimo, hast du ihn wirklich umgebracht?« Ich stand auf und nahm die Sonnenbrille ab.
Massimo stand auch auf und nahm mein Gesicht in beide Hände. »Ich habe ihn verprügelt. Und dann habe ich ihn zum Teich beim Stall gebracht, ich wollte ihn nur erschrecken, aber als ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Er hatte alles zugegeben. Ja, Laura, ich habe ihn umgebracht. Den Rest haben Karlos Leute erledigt.«
»Oh mein Gott«, flüsterte ich, während sich meine Augen mit Tränen füllten. »Wie konntest du nur? Warum?
«
Massimo nahm mich bei den Schultern. Seine Augen waren fast ganz schwarz, sein Blick eisig.
»Weil er dir wehgetan hat.«
»Lass mich in Ruhe, ich will noch ein bisschen hier sitzen bleiben. Ohne dich«, presste ich hervor und setzte mich wieder.
Ich wusste, dass er nicht gehen würde, also musste ich etwas sagen, was ihn dazu brachte, mich hier allein zu lassen. Paradoxerweise quälte mich nicht so sehr der Gedanke an Piotr, sondern die Tatsache, dass ich von dem Menschen, der hier vor mir stand, ein Kind bekam.
»Wegen mir musste ein Mensch sterben. Ich kann das kaum aushalten. Ich hätte jetzt gute Lust, mich ins Flugzeug zu setzen und für immer zu verschwinden. Also wirst du mich jetzt allein lassen, sonst ist das hier unsere letzte Begegnung.«
Er sah mich einen Moment lang an, dann drehte er sich um und ging zur Promenade.
»Olga landet morgen um zwölf Uhr«, sagte er im Weggehen. Kurz darauf setzte er sich in einen schwarzen SUV
und fuhr davon.
Die Sonne ging langsam unter, und ich bemerkte, dass ich den ganzen Tag praktisch nichts gegessen hatte. Jetzt konnte ich mir so etwas nicht mehr erlauben. Ich stand auf und ging auf der Promenade zu den bunten Bars. Dabei fiel mir auf, dass ich mich bei dem Restaurant befand, in dem ich Massimo zum ersten Mal gesehen hatte. Mir wurde heiß, ich begann zu zittern. Das war noch gar nicht so lange her, aber in der kurzen Zeit hatte sich so vieles, ja eigentlich alles, geändert
.
Ich ging hinein und setzte mich an einen Tisch mit Blick aufs Meer. Der Kellner kam sehr schnell, begrüßte mich auf Englisch und ließ mir die Speisekarte da. Ich blätterte sie durch und überlegte, was ich essen konnte und was in meinem Zustand nicht so gut war. Schließlich entschied ich mich für das sicherste Gericht: Pizza.
Ich schlug die Beine übereinander und nahm mein Handy. Eigentlich hätte ich jetzt mit meiner Mutter sprechen müssen. Unter anderen Umständen wäre sie die erste Person gewesen, die ich mit einer freudigen Botschaft angerufen hätte. Doch dass ich schwanger war, war keine freudige Nachricht, und ich hätte alle meine Lügen aufdecken müssen. Sie hätte einen Herzinfarkt bekommen.
Nachdem ich die Pizza gegessen und ein Glas Saft getrunken hatte, gab ich dem Kellner meine Kreditkarte und starrte auf das jetzt fast schwarze Wasser.
»Frau Biel, entschuldigen Sie«, hörte ich eine Stimme hinter mir. »Ich habe sie mit den blonden Haaren gar nicht erkannt.«
Ich drehte mich um.
Der junge Kellner stand neben mir und gab mir mit zitternder Hand die Kreditkarte zurück.
»Ich verstehe nicht ganz … Woher wissen Sie, wie ich früher ausgesehen habe?«
»Don Massimos Leute haben uns ein Foto von Ihnen geschickt. Sie sind hier VIP
-Gast. Entschuldigen Sie bitte nochmals, die Zahlung wurde natürlich nicht ausgeführt.«
»Ich hätte gerne noch einen Tomatensaft«, sagte ich und drehte mich weg
.
Beim Gedanken, dass ich zur Villa zurückkehren und Massimo sehen würde, zog sich mein Magen zusammen.
Die nächste Stunde verging, ohne dass ich es bemerkte, und ich beschloss loszufahren. Morgen kam Olga, dann würde alles gut, und ich könnte weinen, so viel ich wollte.
»Wie ich sehe, ist dir langweilig. Erlaube mir, dir Gesellschaft zu leisten«, sagte ein dunkelhaariger junger Mann und setzte sich neben mich. »Wo kommst du her?«
Ich sah den fremden Mann zornig und frustriert an. »Ich will keine Gesellschaft.«
»Das denkt man meistens in solchen Situationen, aber manchmal erleichtert es ungemein, sich bei einer fremden Person auszuheulen, die dich nicht kennt und vor der du keine gute Figur machen musst.«
Er amüsierte und irritierte mich gleichzeitig. »Ich verstehe schon, du machst einen auf verständnisvoller Kumpel, aber erstens möchte ich wirklich allein sein, und zweitens könntest du Schwierigkeiten bekommen, weil du dich hier hingesetzt hast, also gebe ich dir einen Rat: Verschwinde.«
Der Mann sah nicht, in welcher Gefahr er schwebte, und rückte seinen Sessel näher zu mir heran. »Weißt du, was ich glaube?«
Mich interessierte einen Scheißdreck, was er glaubte. Aber er sagte es mir trotzdem.
»Ich glaube, der Typ, an den du denkst, hat dich nicht verdient.«
Ich unterbrach ihn: »Ich denke daran, dass ich schwanger bin und am Samstag heiraten soll, also sei so nett und verschwinde von hier.
«
»Schwanger?«, hörte ich eine Stimme hinter mir.
Der Typ sprang wie von der Tarantel gestochen auf und flüchtete vom Tisch. Massimo nahm seinen Platz ein.
Mein Herz klopfte wie verrückt, und er sah mich mit riesigen Augen an. Ich holte Luft und drehte mich zum Wasser, um diesem Blick zu entgehen.
»Was sollte ich ihm sonst sagen? Dass du ihn gleich umbringst? Lügen ist einfacher und besser. Außerdem, was machst du hier?«
»Ich wollte zu Abend essen.«
»War zu Hause nichts da?«
»Du warst nicht da. Ich muss morgen wegfahren und wollte mich verabschieden.«
Ich drehte mich zu ihm um und runzelte die Stirn. »Was heißt das, du fährst weg?«
»Ich muss arbeiten, Kleines, aber keine Angst, zur Hochzeit bin ich zurück«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Ich wollte dich eigentlich mitnehmen, aber jetzt kommt ja deine Freundin. Also macht ihr euch einen schönen Junggesellinnenabschied. Die Kreditkarte, die du mit den Wohnungsschlüsseln bekommen hast, gehört übrigens dir. Benutze sie endlich. Du hast noch kein Hochzeitskleid.«
»Wann kommst du zurück?«
»Ich muss mich mit der Familie, die Palermo hält, besprechen. Emilios Tod macht mir ein paar Probleme, aber du musst dir darüber nicht den Kopf zerbrechen«, sagte er, stand auf und küsste mich auf die Stirn. »Wenn du fertig bist, gehen wir, ich würde mich gerne zu Hause von dir verabschieden.
«
Wir gingen zum Wagen, ich gab ihm die Schlüssel des Porsche.
»Gefällt er dir nicht?«, fragte er und öffnete mir die Tür.
Ich stieg ein und wartete, bis er auch saß. »Darum geht es nicht«, sagte ich dann. »Er ist toll, aber wahnsinnig kompliziert. Außerdem mag ich es, wenn du fährst.«
Kurz zögerte ich mit dem Gurt. Ich hatte einmal gelesen, dass schwangere Frauen sich nicht anschnallen sollen.
Massimo fuhr mit quietschenden Reifen an, und einige Minuten später hielten wir auf der erneuerten Einfahrt, wo nichts mehr an die Hinrichtung erinnerte. Massimo stieg aus und öffnete mir die Tür.
»Ich gehe in mein Zimmer«, murmelte ich und strich ihm über den Arm.
»Mach das. Aber du hast ein neues Zimmer bekommen. Erlaube mir also, es dir zu zeigen«, sagte er und nahm mich bei der Hand.
»Mir hat das alte aber gefallen«, sagte ich, während er mich durch den Flur zog.