Kapitel 38

»Zach?«

»Hier.«

Er zog Kate hinter dem Baum hervor, wo sie still und reglos abgewartet hatte. Beide hielten sich stumm aneinander fest. Schließlich fuhr er mit der Hand über ihren Kopf, über die feuchten Haare, die ihr am Schädel klebten. »Alles in Ordnung?«

»Mehr oder weniger.«

Sie hielt sich tapfer, aber ihre Zähne klapperten, wahrscheinlich eher wegen der Nachwirkungen des traumatischen Erlebnisses als wegen der Kälte. Er strich ihr über die Wange. »Mehr oder weniger ist im Moment verdammt gut.«

Sie blickte in Richtung des Felsspalts und schauderte. »Und was machen wir jetzt?«

»Wir gehen zurück zum Haus. Benachrichtigen die Behörden. Ich habe kein Festnetztelefon. Wir müssen entweder Cals oder Theos Handy benutzen, um die Morde zu melden.«

»O Zach.«

»Ich weiß. Sie hatten keine Chance. Wir hätten nichts tun können. Trotzdem …«

Auf einmal verwandelte sich der Nebel in ein wallendes, blendend weißes Laken.

»Keine Bewegung!«

Beide blieben stehen. Beide hoben eine Hand und schirmten ihre Augen ab. Zach konnte die Umrisse eines Mannes ausmachen. In seiner linken Hand hielt er eine starke Taschenlampe. In der rechten eine Pistole.

»Morris?«, fragte Zach. »Machen Sie die verdammte Lampe aus.«

»Werfen Sie die Waffe weg.«

»Ich habe keine Waffe.« Zach trat von Kate weg und hob langsam die Hände.

»Können Sie den Lichtstrahl bitte von uns wegrichten?«, fragte Kate. »Er blendet.«

»Damit Bridger im Nebel abhauen kann? Das glaube ich nicht.«

»Ich habe nicht die Absicht, abzuhauen.«

»Sie sind vom Ort eines Verbrechens weggelaufen. Ich habe Schüsse gehört. In Ihrem Haus liegen zwei Tote.«

»Deshalb bin ich auch weggerannt.« Zach wollte schon die Hände senken, aber der Deputy richtete die Waffe wieder auf ihn.

»Die Hände bleiben oben!«

»Sie glauben doch nicht etwa, dass Zach die beiden Männer umgebracht hat!«, rief Kate aus. »Das war Eban Clarke!«

»Clarke? Was hätte der hier oben zu suchen? Wissen Sie was? Sparen Sie sich das. Ich nehme Sie beide fest. Vielleicht gibt mir der Sheriff dann meinen Job zurück.« Er machte einen Schritt auf sie zu.

»Stehen bleiben!«

»Nicht weitergehen!«

Er reagierte auf ihre alarmierten Rufe und blieb stehen.

»Da ist ein Felsspalt«, sagte Kate.

»Ein Felsspalt?«

»Ein ziemlich tiefer«, erläuterte Zach. »Direkt vor Ihnen.«

Der Deputy leuchtete mit der Taschenlampe nach unten und ließ den Strahl über den Boden gleiten, bis er den Rand des Abgrunds erfasst hatte. Die Dunkelheit am Grund wurde von einer dichten Nebeldecke überlagert.

»Da unten liegt Eban Clarke.«

»Heilige Scheiße. Wie tief ist das hier?«

»Tief genug, und er ist ungebremst aufgeschlagen.«

»Tot?«

»Das wäre meine Vermutung.«

Morris wagte sich eine Handbreit vor und rief nach unten. Es kam keine Antwort, kein Stöhnen, kein Geräusch, nicht einmal ein Atemzug. »Jesus. Was ist denn passiert? Und ich möchte die Geschichte von Kate hören, nicht von Ihnen, Bridger.«

»Eban Clarke hat seine zwei Freunde hierher verfolgt.« Sie erklärte ihm, wie sie hießen und wieso sie zu ihr gekommen waren. »Dann überraschte Eban uns alle.« Sie beschrieb seine Ankunft und die brutalen Morde. »Er hatte so ein …« Sie sah Zach Hilfe suchend an.

»Clarke hatte eine fest montierte .45er Automatik.«

»Zach und ich konnten entkommen«, fuhr sie fort. »Aber Eban blieb uns auf den Fersen. Rief nach uns. Schoss immer wieder. Fast hätte er uns eingeholt.« Sie schluckte schwer und sagte dann: »Den Spalt hat er nicht gesehen.«

Die Pistole immer noch auf Zach gerichtet, beugte Morris sich leicht vor und spähte über den Rand in den Abgrund. »Er ist reingefallen?«

»Ja«, antwortete Kate.

»Er wurde nicht gestoßen, falls Sie das andeuten wollten«, sagte Zach.

»Ganz ruhig, Bridger. Und wie haben Sie beide es auf die andere Seite geschafft?«

»Wir sind gesprungen«, sagte Kate.

Morris schnaubte. »Und das soll ich glauben?«

Ehe Zach begriff, was Kate vorhatte, nahm sie mehrere Schritte Anlauf, rannte los und sprang. Sie landete sicher, trotzdem wäre Zach fast das Herz aus der Brust gesprungen. Er hätte sie nicht auffangen können. Morris hatte beide Hände voll. Er wäre zu perplex gewesen, um sie festzuhalten, falls sie aus dem Tritt gekommen wäre, und er war ein zu großer Trottel, um sie zu retten. Jesus!

»Alles, was ich erzählt habe, entspricht der Wahrheit«, sagte sie gerade zu dem Deputy. »Eban Clarke wollte uns umbringen.«

»Erschießen Sie mich, wenn ich rüberkomme?«, fragte Zach. Ohne Morris’ Erlaubnis abzuwarten, sprang auch er und meinte schließlich: »Stecken Sie die Waffe weg. Kate und ich sind keine Gefahr für Sie.«

»Nein, nur für meinen Job. Sie verhindern, dass ich wieder arbeiten darf.«

»Das habe nicht ich entschieden, sondern der Sheriff.«

»Aber Sie …«

»Tun Sie jetzt Ihren Job, dann hat er keinen Grund mehr, Sie noch länger zu beurlauben. Haben Sie schon gemeldet, was Sie in meinem Haus entdeckt haben?«

Morris schob sichtlich genervt die Waffe in seine Jacke. »Ja. Die Kollegen sind bestimmt vor uns dort. Aber ich muss dem Sheriff Bescheid geben, dass er einen Bergungstrupp für Clarke losschickt. Ein Hubschrauber kommt nicht infrage.« Er schaute durch den Nebel nach oben. »Der Handyempfang ist zwar schwach, aber vielleicht kann ich ihn erreichen.«

Morris rief an und sprach gleich darauf mit dem Sheriff, in einzelnen kurzen Wortwechseln, unterbrochen von der wiederkehrenden Frage: »Können Sie mich verstehen?«

Kate schob die Hand in Zachs Ellenbeuge, drehte ihn zu sich her und flüsterte: »Der vierte und letzte Angriff. Jetzt weiß ich, wie du das gemeint hast. Du hast Eban eine Abseitsfalle gestellt.«

»Ein beliebter Trick, wenn dir nur noch Inches zum ersten Touchdown fehlen. Meistens funktioniert er nicht. Diesmal schon.«

Sie legte die Hand auf seine Brust. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«

»Danke, dass du in meines getreten bist.«

Was ihnen auch sonst noch auf dem Herzen liegen mochte, blieb unausgesprochen. Morris kehrte zu ihnen zurück. »Die Verbindung war mies, aber das Wichtigste ist durchgegangen. Der Sheriff stellt eine Rettungsmannschaft zusammen. Will sie möglichst schnell runterschicken, falls Clarke noch am Leben sein sollte. Aber sie werden nicht wissen, wo sie nach ihm suchen müssen. Er sagt, wenn ich sie hierher führe, habe ich meinen Job wieder.«

»Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Bleiben Sie in der Nähe.« Zach verlangte Morris’ Taschenlampe und beleuchtete den Boden, während er den anderen voran den Pfad bergauf ging, Kates Hand fest in seiner. Morris bildete die Nachhut.

Zach fragte über die Schulter hinweg: »Morris? Was haben Sie überhaupt hier oben getrieben?«

»O Jesus. Das hatte ich ganz vergessen. Ich habe eine wichtige Nachricht für Sie.«

Sie stiegen so schnell auf, wie es gefahrlos möglich war. Weil Zach klar war, dass Dr. Gilbreath ihm etwas über Rebeccas Zustand mitteilen wollte, wartete er mit dem Rückruf, bis der Empfang gesichert war. Er erklärte Kate, dass er dieses Gespräch nicht abgehackt führen wollte.

Danach sprach er kaum noch, sondern warnte sie und Morris nur noch ab und zu vor Hindernissen auf dem Weg. Die Taschenlampe half zwar, aber bis sie das Plateau erreicht hatten, fühlten sich Kates Muskeln wie Gelee an, und ihre Lunge brannte wie Feuer.

Auf dem Platz vor Zachs Haus war ihr SUV das einzige Fahrzeug ohne Blaulicht. Der Nebel legte einen leuchtenden Schein über die Fahrzeuge und illuminierte alles mit einer pulsierenden Aura, durch die der Anblick noch unwirklicher erschien.

Uniformierte Einsatzkräfte in reflektierenden Westen standen herum und berieten sich. Einige spannten Absperrbänder zwischen den Bäumen.

Zach ging auf einen Deputy zu, lieh sich dessen Handy aus und setzte sich damit auf den Stumpf, auf dem er seinen Kaffeebecher abgestellt hatte, als Kate ihn vor wenigen Tagen morgens aus seiner friedlichen Existenz gerissen hatte.

Sheriff Meeker, der bereits über ihre Ankunft informiert war, kam angelaufen und erwartete sie und Morris an den beiden Steinpfeilern vor dem Weg zur Veranda. Er stellte sich ihr vor. Ein Deputy an seiner Seite reichte Kate eine Wasserflasche, die sie dankbar entgegennahm. Ein zweiter Deputy legte eine Wärmefolie über ihre Schultern, die sie um ihren Körper wickelte.

Das Rettungs- und Bergungsteam war schon abmarschbereit. Morris leerte gierig eine Flasche Wasser, nahm eine zweite mit und marschierte dann erneut den Pfad hinab, gefolgt von dem Rettungstrupp. Er tat ihr tatsächlich leid. Sie würde diesen Marsch kein zweites Mal antreten wollen, vor allem angesichts der schwierigen Aufgabe, die sie am Felsspalt erwartete, selbst wenn Eban noch am Leben war.

»Hier drüben, Ms. Lennon.« Der Sheriff deutete auf einen Krankenwagen, in dessen offener Tür eine Sanitäterin wartete.

»Es geht mir gut.«

Er deutete auf ihr Knie. Ihre Hose war zerrissen. Das Blut war noch frisch. »Ich bin hingefallen und habe mir das Knie aufgeschürft. Ist nicht schlimm.«

»Sie soll es sich trotzdem ansehen.«

Sie hatte das Gefühl, dass er ihr keine Wahl ließ. Unter dem wachsamen Auge des Sheriffs ging sie zum Krankenwagen, bestand aber darauf, sich auf die Türkante zu setzen, statt auf die Trage gehoben zu werden.

Sie sah an dem Sheriff vorbei und hielt nach Zach Ausschau. Er war immer noch am Telefon und kniff sich in die Nasenwurzel, während er sich darauf konzentrierte, was die Ärztin ihm mitteilte. Als der Sheriff sich umdrehte, um festzustellen, was sie so in Bann schlug, sagte sie: »Es ist ein Notfall.«

»Das hat Morris mir erzählt.«

Die Sanitäterin pinselte ihr Knie mit einem brennenden Desinfektionsmittel ein. »Brauchen Sie Sauerstoff?«, fragte die junge Frau.

»Nein. Ich komme schon wieder zu Atem.«

Ihr Blutdruck wurde gemessen. Als sich die junge Frau überzeugt hatte, dass Kate nur erschöpft war, ließ sie sie mit Sheriff Meeker allein.

»Ich habe viel über Sie gehört, Ms. Lennon«, sagte er. »Und nur Gutes. Ich bedauere, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen müssen.«

Sie nickte geistesabwesend, denn sie konzentrierte sich auf Zach, der jetzt auf sie zukam. Er sah Kate an und schüttelte ernst den Kopf. »Die Infektion hat sich verschlimmert. Doug will weiter Antibiotika geben. Abwarten. Vielleicht die Dosis erhöhen. Dr. Gilbreath wollte meine Meinung hören.«

Kate griff nach seiner Hand. »Was hast du ihr gesagt?«

»Sie soll nichts unternehmen, bis ich komme. Ich muss gleich morgen früh hinfliegen.«

»Wenn das so ist«, schaltete der Sheriff sich ein, »werde ich Sie so bald wie möglich gehen lassen. Morris hat mir kurz geschildert, was Sie ihm über die Ereignisse hier erzählt haben. Die Kriminaltechnik hat die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen. Sie werden beide getrennt befragt.« Er sah auf ihre verschränkten Hände. »Sie werden bestimmt verstehen, warum wir korrekt vorgehen sollten, Ms. Lennon.«

»Natürlich.«

»Wir haben die Opfer anhand ihrer Führerscheine als Theodore Simpson und Calvin Parsons identifiziert. Wem gehört die .22er?«

»Die hat Parsons mitgebracht«, sagte Zach.

»Ich dachte mir schon, dass sie einem der beiden gehört. Ich konnte mir halbwegs zusammenreimen, warum die zwei nicht besonders gut auf Sie zu sprechen sein würden«, sagte er zu Kate. »Aber Morris sagte, Sie hätten ihm erzählt, die beiden seien hergekommen, um zu gestehen?«

»Einen Meineid. Sie haben bei der Verhandlung gegen Eban Clarke gelogen. Seither haben sie aber Gewissensbisse bekommen.«

»Clarke hat sie erschossen, ehe sie ihre Geschichte abändern konnten.«

Kate bestätigte das mit einem leisen »Ja«, hielt sich an den Ellbogen fest und schaute zum Haus. »Sind sie immer noch da drin?«

»Der eine landet auf dem Tisch vom Gerichtsmediziner«, sagte Meeker. »Den anderen haben wir so schnell wie möglich vom Berg runtergeschafft. Wir wissen nicht, ob er es schaffen wird. Es steht Spitz auf Knopf.«

Bing und Melinda sprachen nur wenig auf der langen Fahrt von Atlanta nach North Carolina. Bing musste sich aufs Fahren konzentrieren, während sie angespannt auf dem Beifahrersitz saß und durch die Windschutzscheibe starrte, als könnte sie den Wagen durch bloße Willenskraft ihrem Ziel näher bringen.

Bing konnte es nicht erwarten, endlich anzukommen. Andererseits wusste er nicht, was sie dort erwartete. Wenn er sich vorstellte, was sie dort vorfinden könnten, begannen seine Hände zu schwitzen, und seine Eingeweide verkrampften sich. Immer wieder sagte er sich, dass er sich nicht nur den schlimmsten Fall ausmalen durfte. Dennoch konnte er an nichts anderes denken.

Sie waren eben am Ortsrand angekommen, als sein Handy läutete. Er zog es aus dem Becherhalter, wo es am Ladekabel hing. Als er die fremde Nummer im Display sah, knurrte er: »Schlafen diese Telefonverkäufer denn nie?«

»Vielleicht sollten Sie trotzdem rangehen?«, schlug Melinda vor.

Er grunzte, nahm das Gespräch aber an. »Wer ist da?«

»Ich.«

»Zach!« Bing sah zu Melinda, die sich auf die Lippe biss und ihn ängstlich ansah. »Und wessen Nummer ist das?«, fragte Bing.

»Bist du immer noch bei Melinda?«

»Ja, ja, sie sitzt direkt neben mir.«

»Du musst sie herbringen. Fahrt sofort los. Ohne zu packen oder sonst was zu tun. Ihr müsst so schnell wie möglich herkommen.«

»Wir sind schon fast da.«

»Was?«

»Wir konnten keinen von euch erreichen. Dann kreuzte Sid Clarke bei ihr zu Hause auf und …«

»Sid Clarke?«

»Lange Geschichte. Ich erzähl sie dir, wenn wir da sind.«

»Du kannst nicht zum Haus fahren. Sie haben die Straße abgesperrt.«

»Wer sind sie?«

»Fahr Melinda ins County-Krankenhaus. Cal wurde angeschossen, aber er lebt noch.«