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Fast vierzig Jahre sind es jetzt her, dass wir zum ersten Mal nach Mallorca kamen, Piers und ich und unsere Eltern, in ein Ferienhaus, das unser spanischer Cousin uns zur Verfügung stellte, weil meine Mutter krank gewesen war. Sie litt an einer Depression, an Gefühlen allgemeiner Niedergeschlagenheit und Lethargie, aber der eigentliche Grund war, dass sie durch Fehlgeburt ein Kind verloren hatte. Schon damals, bevor es ihnen wirklich nötig erschien, wollten meine Eltern unbedingt mehr Kinder haben, hatten sich bemüht, weitere zu bekommen, wovon ich natürlich nichts wusste, denn meine eigene Geburt lag erst dreizehn Jahre zurück. Sie schienen auf geheimnisvolle Weise zu ahnen, dass sie ihr Täubchenpaar nicht ewig behalten würden.

Ich erinnere mich an den Brief, den José-Carlos meinem Vater schrieb. Sie hatten Seite an Seite im spanischen Bürgerkrieg gekämpft, blieben eng befreundet und wechselten seither sporadisch Briefe, obwohl er der Cousin meiner Mutter war, nicht der meines Vaters. Die Tante meiner Mutter hatte einen Spanier aus Santander geheiratet, und José-Carlos war ihr Sohn. Dadurch kannten wir Santander gut, hatten aber von Mallorca nie gehört und mussten es erst auf der Landkarte suchen. Das heißt, Piers ausgenommen. Piers hätte den Namen gekannt. Piers hätte uns sagen können, dass es sich um die größte der balearischen Inseln handelte, die im westlichen Mittelmeer eine Provinz bilden; vielleicht auch, dass sie über dreieinhalbtausend Quadratkilometer groß ist. Aber zu den vielen liebenswerten Eigenschaften meines klugen Bruders, dem Glückskind, gehörte auch Bescheidenheit. Sich als Besserwisser vorzudrängen war nicht seine Art. Er schaute gern meinem Vater über die Schulter, wenn der im Goodall-and-Darby’s-Atlas blätterte, einer Vorkriegsausgabe, die dem British Empire noch alle Ehre machte, während das Mittelmeer als unbedeutender Binnensee präsentiert wurde. Wie wir anderen sah er schweigend zu.

Die winzigen Balearen schwammen grün-golden auf hellblauem Hintergrund und wurden wie Säuglinge in den Armen des Festlands gewiegt, deren linker Barcelona und deren rechter Valencia hieß. Mallorca war ein Planet mit Nebenmonden namens Formentera, Cabrera, aber auch Menorca und Ibiza. Wie merkwürdig es heute klingt, dass wir von Ibiza nie gehört hatten und Menorca nur kannten, weil man nach dem Ort eine Hühnerart benannt hat.

Das Haus von José-Carlos lag in einem Ort namens Llosar. Er schilderte es samt Umgebung als sehr anspruchslos, erwähnte nichts von der Schönheit der Landschaft und hob vielmehr die rustikale Schlichtheit hervor. Es lag mit Blick aufs Meer nur einen Steinwurf vom Dorf entfernt, an der Nordwestküste, aber es gab noch nicht viel Dorfleben, nur ein paar Kramläden und das Hotel. José-Carlos sei so perfekt im Englischen, dass wir uns schämen müssten, sagte mein Vater, meine Mutter und er würden ihr Spanisch aufpolieren müssen.

Das Haus sollte uns im Juli und August zur Verfügung stehen, was wegen unserer Schulferien praktisch war. Wir hätten unsere Ruhe dort, man könne nicht viel mehr unternehmen als schwimmen, in der Sonne liegen und gegrillten Fisch essen, und meine Eltern könnten, wenn ihnen danach war, in der Taverne am Ort einen guten Wein trinken. Im Südosten der Insel gab es Marmorsteinbrüche und unterirdische Seen, die einen Ausflug lohnten, falls wir uns einem der Vorkriegswagen anvertrauen wollten, die man dort vermietete. Es seien auch schon Touristen da, aber in Llosar konnten es nicht viele sein, da es nur das eine Hotel gab.

Llosar lag nach unserer Landkarte an einem Nordkap der Insel. Von der Hauptstadt Palma dachten wir erst, sie sei groß, aber ihr Name war lediglich in der gleichen Größe gedruckt wie etwa Alicante auf dem Festland. Piers und ich waren nie im Ausland gewesen. Wir waren Kinder des Krieges, kurz vor seinem Ausbruch geboren und von ihm eingekerkert auf unserer eigenen umkämpften Insel. Seit Ende des Krieges waren wir dazu verurteilt, auf eine günstige Gelegenheit wie diese zu warten, die nicht allzu große Löcher in den Etat riss und keinen ausgetüftelten Plan erforderte.

Ich sehnte mich nach diesen Ferien. Ich war nie krank gewesen, aber jetzt befürchtete ich, irgendein Leiden könne mich heimsuchen, wenn sich die Schulzeit ihrem Ende zuneigte. Möglich wäre es gewesen. In der Zeit vor der allgemeinen Impfpflicht bekam jeder früher oder später die Masern. Mich hatten sie nie erwischt. Piers war im Jahr zuvor wegen einer Operation im Krankenhaus gewesen, aber mir hatte man noch nicht einmal die Mandeln herausgenommen. Doch es konnte einem alles Mögliche blühen. Ich fühlte mich verletzlich, lebte in unerklärlicher Angst vor Bauchschmerzen, Hautausschlägen und Husten. Ich fing sogar an, allmorgendlich beim Aufwachen die Temperatur zu messen, wie meine arme Mutter auch, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Sie würden ohne mich reisen. Warum auch nicht? Es wäre unfair, um eines Familienmitglieds willen die drei anderen zum Dableiben zu verdammen. Man würde mich, sobald ich auf dem Damm war, bei meiner Tante Sheila einquartieren.

Aber es kam ganz anders. Die Reisegesellschaft sollte sich nicht verkleinern, sondern um eine Person erweitern. Der zweite Brief von José-Carlos war noch kleinlauter, aber dieses Mal, jedenfalls so wie ich das sah, zu Recht. Er habe noch eine Bitte. Wir könnten natürlich Nein sagen, wenn sein Vorschlag unannehmbar sei. Rosario wäre gern im Ferienhaus mit dabei. Sie sei begeistert von diesem Ort und verbringe alle ihre Sommerferien dort.

»Wer ist er denn?«, entfuhr es mir.

»Er ist ein Mädchen«, korrigierte meine Mutter. »José-Carlos hat eine Tochter. Sie muss jetzt wohl fünfzehn sein, oder sechzehn.«

»Das ist einer dieser spanischen Namen«, erklärte mein Vater, »die Kurzform für Maria von Soundso, Maria del Pilar, Maria del Consuelo, in diesem Fall Maria vom Rosenkranz.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich wollte keine weitere Person dabei haben. Der Gedanke, ein spanisches Mädchen würde uns Gesellschaft leisten, erfüllte mich mit Widerwillen. Ich konnte sie mir schon ausmalen: Sie war groß und dunkelhäutig, mit schwarzem, wallendem Haar, in dem ein Kamm steckte, beim Tanzen schwingenden Stufenröcken und Mantilla. Allerdings ging ich nicht so weit, mir eine Rose zwischen ihren Zähnen vorzustellen.

»Wir können José-Carlos schreiben, dass wir nicht einverstanden sind.« Mir erschien das vollkommen akzeptabel. »Er bietet es uns schließlich selbst an, also tun wir das auch. Wir können gleich hinschreiben, damit sie früh genug weiß, dass sie nicht kommen kann.«

Meine Mutter lachte, nicht so mein Vater. Jetzt, wenn ich nach so langer Zeit zurückblicke, glaube ich, dass er verstand, wie ich war, und sich Sorgen um mich machte. Er widersprach freundlich, aber ohne Ironie: »Das meint er nicht ganz so ernst. José-Carlos will nur höflich sein. Wir können auf gar keinen Fall ablehnen.«

»Außerdem«, wandte Piers ein, »ist sie vielleicht ganz nett?« Das war allerdings eine Eventualität, die ich auf keinen Fall wahrhaben wollte. Damals war ich fast gegen jeden Fremden argwöhnisch und habe mich seitdem nur wenig geändert. Ich bin schnell bereit, andere abzulehnen oder selbst abgelehnt zu werden. Ich rechne mit Rücksichtslosigkeit, Heimtücke und Neid. Wenn jemand mich zum Abendessen einlädt und anschließend erklärt, es käme noch dieser oder jener gute Bekannte dazu, den ich unbedingt kennenlernen müsse, egal ob Mann oder Frau, sage ich unweigerlich ab. Vor solchen Treffen fürchte ich mich. Die neue Bekanntschaft wird sich, nach meinem vorauseilenden Ermessen, unterkühlt, selbstgefällig oder scheinheilig verhalten, mich absichtlich kränken oder mir wehtun. Sie oder er wird im Zweifelsfall gut aussehend oder atemberaubend hübsch sein, schick angezogen und hochintelligent, mich aber unattraktiv oder dumm finden, mit mir entweder nicht reden wollen oder mich nur ansprechen, um mich herabzusetzen oder auszunutzen.

Ich kann dagegen nichts machen. Ich habe alles versucht. Ebenso meine Psychotherapeuten. Das ist einer der Gründe, weshalb ich, obwohl so vermögend, wie die meisten nicht zu träumen wagen, und einigermaßen ansehnlich, hinreichend klug und nicht eben auf den Mund gefallen, bis vor einiger Zeit ein einsames Leben führte – nicht unbedingt vernachlässigt, sondern vielmehr Gegenstand von Bemerkungen wie: »Petra wird nicht mitmachen, da lohnt sich gar nicht erst, sie zu fragen«, oder: »Petra muss man so früh im Voraus anrufen oder ihr schreiben und komplizierte Verabredungen treffen, bevor man auch nur mal eine Tasse Tee zusammen trinken kann. Da verliert man die Lust.«

Dabei bin ich gar nicht mal schüchtern, eher gleichgültig, und habe deshalb viel Verständnis für die Verachtung und das Desinteresse der anderen Herzlosen. Bloß will ich mich dem nicht aussetzen. Ich will nicht durch Seitenblicke, Gelächter oder verletzende Bemerkungen kleingemacht werden. Das ist es nämlich, was der Ausdruck ›kleinmachen‹ sagen will: jemandem das Gefühl geben, ein Zwerg zu sein. Und noch eine andere Redensart ist mir wohlvertraut: am liebsten im Erdboden zu versinken – das ist nichts, wonach ich mich sehne, aber so geht es mir praktisch andauernd. Erst im vergangenen Jahr setzte in dieser Hinsicht Tauwetter ein, und mein Herz beginnt sich zaghaft zu öffnen.

Deshalb hat mir damals die Aussicht auf Rosarios Gesellschaft die Tage vor der Abreise nach Spanien verdorben. Dass sie ein hübscheres Mädchen war als ich, verstand sich von selbst. Schon, weil sie zu den Großen gehörte. Später im Leben mag man einen Vorteil daraus ziehen, wenn andere Frauen älter sind als man selbst, nicht, wenn man dreizehn ist. Rosario war älter und allein deshalb viel raffinierter, weltklüger, allen Kleineren überlegen und sich dessen bewusst. Was mir überdies zu schaffen machte, war der schreckliche Gedanke, dass sie kein Englisch konnte. Sie würde sich mit meinen Eltern auf Spanisch unterhalten und an der großen Erwachsenenverschwörung beteiligen gegen diejenigen, die noch als Kinder gelten.

So war mir meine Vorfreude vom drohenden Ungemach vergällt worden, wie es mein ganzes Leben lang nie anders gewesen ist.

Wenn man heute von Großbritannien nach Mallorca reist, gibt es Direktflüge, die von Heathrow und Gatwick und, wenn ich recht informiert bin, auch von Stansted starten. Es trifft wohl zu, dass mehr Menschen nach Mallorca in Urlaub fahren als irgendwohin sonst. Als wir uns damals aufmachten, mussten wir den Zug nach Paris nehmen und dort in einen anderen umsteigen, der uns nachts durch Frankreich fuhr. Bei Sonnenaufgang passierten wir die mittelalterlichen Mauern von Carcassonne und kamen am Morgen über die Grenze nach Spanien. Ein kleines, leichtes und vermutlich schlecht gewartetes Flugzeug brachte uns von Barcelona nach Palma, ein Leihwagen von der nicht vertrauenswürdigen, knatternden Sorte, vor der uns José-Carlos gewarnt hatte, von dort in den Norden der Insel.

Ich schlief im Wagen, den Kopf an die Schulter meiner Mutter gelehnt. Daher bekam ich nichts mit von der Landschaft, die uns so vertraut werden, mit ihrer Schönheit begeistern und uns am Ende auseinanderbringen würde. Das Meer war das Erste, was ich zu Gesicht bekam, als ich wach wurde – ein tiefes, samtenes Pfauenblau, Spiegelbild des hellen, wolkenlosen Himmels. Die Hitze hüllte mich ein wie ein Tuch, als ich ausstieg; auf den trockenen, steinigen Boden fiel der gesprenkelte Schatten von Wacholder.

Nie zuvor war ich in einer so schönen Gegend gewesen. Der Strand rings um die Bucht war dicht bewaldet, ein dunkles, undurchdringliches Grün vor einem silbrigen Streifen Sand. Eine Häuserzeile zog sich die Küste entlang – weiße Hütten mit flachen Ziegeldächern, dazu die Kirche mit dem viereckigen Campanile und das alte Hotel. Seine Terrasse, die mit Weinlaub überwachsen war und bis aufs Meer hinausreichte, war eine Mischung aus Baumhaus und Landungssteg. Jenseits davon, hinter dem Weg, den wir gekommen waren, erstreckten sich gelbe Hügel, mit grauen Bäumen und Felsen gesprenkelt, die in die Bergkette übergingen. Und überall standen Zypressen, Bäume, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, schwärzer als Stechpalmen und mit hohen Stämmen, wie Ansammlungen von Säulen oder isoliert wie vereinzelte Obelisken, die ihren Schatten in der Dämmerung als endlos wiederholtes Flechtwerk auf das Gras zeichneten. Über all dem lastete eine trockene, weiße, gnadenlose Hitze.

Kinder sehen sich alles genau an. Sie haben nichts Besseres zu tun. In späteren Jahren ist nicht nur das Leben schuld, das voller Sorgen und deshalb wertlos ist, weil wir keine Gelegenheit mehr haben, stehen zu bleiben und uns sattzusehen. Wir finden keine Zeit, wir können nicht mehr zurück, das ist nun mal so. Solange wir ganz jung sind, bevor wir studieren oder uns verlieben, bevor wir einen Beruf ergreifen und in der eigenen Wohnung leben, wird alles für uns erledigt. Jedenfalls, wenn wir eine unbeschwerte Kindheit haben und liebevolle Eltern. Uns werden die Mahlzeiten vorgesetzt und die Betten gemacht, die Kleider gewaschen und neue gekauft; unser Lebensunterhalt wird verdient, wir werden herumgefahren und haben ein Dach über dem Kopf. Wir brauchen uns keine Sorgen deshalb zu machen oder Vorkehrungen zu treffen. Die Zeit hängt uns noch nicht mit ihrem heißen Atem im Nacken, um uns ins Ohr zu wispern, schnell, schnell, beeil dich, du hast viel zu tun, du kommst zu spät, los, los, mach schnell!

Daher können wir stehen bleiben und die Aussicht genießen. An eine Mauer gelehnt, das Kinn in die Hand gestützt, die Ellbogen auf dem warmen, rauen Stein, und in aller Ruhe betrachten, was unter uns liegt: das samtblaue Meer, das Wellen an den Strand wirft und schaumige Spitzenmuster hinterlässt, die Felsen, wie roher Achat in den silbrigen Streifen Sand gebettet. Wir können uns in eine Wiese hocken, durch tausend Grashalme hindurch das winzige Leben beobachten, das sich da unten rührt, oder im Wald zwischen die Baumstämme. In wenigen Jahren wird uns diese Chance plötzlich entrissen, wenn sich die Alltagssorgen dazwischendrängen, die den Geist ablenken und die Feinde der Kontemplation – Langeweile, Kälte, Starre und Angst – herbeirufen.

Mit dreizehn stand ich am Scheideweg zwischen damals und heute. Ich konnte noch immer stehen bleiben und mich sattsehen, herumtrödeln und träumen; die Zeit war mein Spielzeug und noch kein Zuchtmeister, aber schon meldete sich der Erwachsenenkummer. Menschen waren keine Traumgestalten, sondern bereits die einzige wirkliche Bedrohung. Wenn ich am allerliebsten ewig hier stehen geblieben wäre, an die Mauer gelehnt, von der die purpurne Kletterpflanze herabhing, die ich später als Bougainvillea kennenlernte, lag es nicht nur daran, dass ich mich nicht von dem überwältigenden Panorama trennen mochte, sondern ebenso an der bedrohlichen Aussicht, José-Carlos, seiner Frau Micaela und Rosario, ihrer Tochter, zu begegnen. In diese Betrachtung versunken, nahm ich bereits in Gedanken ihre Bemerkungen vorweg, mit denen sie mich herabsetzen würden.

»Petra!« Mein Vater rief mich von dem weißen Haus her, dessen erster Stock ringsum von einer Balkongalerie umgeben war. Vor den Mauern und im Garten dahinter ragten Zypressen wie die Spitzen dunkler Stalagmiten empor. Ein Mädchen stand neben ihm, kleiner als ich, wie ich schon aus der Ferne sah, mager und zierlich und mit einem winzigen Gesicht, das durch eine Fülle dunklen Haars hervorlugte wie durch die Öffnung einer Pforte. Statt gleich zu erraten, um wen es sich handelte, hielt ich sie für die Tochter des Hausmeisters oder der Putzfrau, die mir nicht vorgestellt werden würde. Sie war mir nur einen flüchtigen Blick wert, denn ich riss mich bereits wegen der bevorstehenden Begegnung zusammen und wappnete mich innerlich. Durch das blendend weiße Sonnenlicht lief ich die Schwelle zum Haus empor und stieß die Tür auf, als er mir ihren Namen sagte.

»Komm her und begrüß deine Cousine!«

Ich musste mich umdrehen und genauer hinschauen. Rosario war ganz und gar nicht, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Das sind die Leute nie, das weiß ich – vermutlich wusste ich es damals auch schon –, aber dieses Wissen kann an meinem Verhalten nichts ändern. Abwarten und die Dinge auf mich zukommen lassen, Vorurteile und Widerstand erst einmal zurückstellen, diese Kunst war mir schon immer fremd. Schließlich hob ich den Blick und sah ihr in die Augen. Wir gaben uns nicht die Hand, sahen uns nur an und sagten uns Hallo. Sie hatte Probleme mit der Aussprache des »H«. Und als ich direkt vor ihr stand, stellte ich fest, dass ich ein paar Zentimeter größer war als sie. Ihr Körperbau war elfenzart, die Haut von einem hellen Olivton; sie schien geradezu von innen heraus zu leuchten. Nur mit der Frisur erwiesen sich meine Befürchtungen als berechtigt, wenn auch nicht ganz. Rosarios Haar war ungefähr zehnmal so lang wie meines und glänzte wie das polierte Ebenholz antiker Möbel. Später würde sie mir zeigen, wie sie sich draufsetzen oder ganz darin einhüllen konnte. Meine Mutter sagte im Scherz, sie könne in einem Schauspiel die Lady Godiva damit geben. Natürlich musste Piers, der die Legende besser kannte, anschließend erklären, wer Lady Godiva war.

Damals, als wir einander kennenlernten, haben wir nicht viel geredet. Ich war zu überrascht, und wie ich zugeben muss, auch voller Genugtuung, denn ich hatte eine junge Lady erwartet, eine Mischung aus Carmen und Nonne, und stattdessen traf ich ein Kind mit Alice-im-Wunderland-Haar und Ringelsöckchen. Sie trug ein kurzes Kleid und an einem Kettchen um den Hals ein Perlmuttmedaillon mit dem Bild ihrer Mutter. Sie hüpfte vor mir ins Haus und lächelte über die Schulter zurück, unmissverständlich in der Absicht, mich willkommen zu heißen. Langsam begann ich aufzutauen, und zitterte ein wenig, wie immer. Ihre Eltern waren drinnen bei meiner Mutter und Piers, sollten aber nicht mehr lange bleiben. Sobald sie uns gezeigt hatten, wo alles zu finden und Hilfe zu bekommen war, falls wir Hilfe benötigten, brachen sie nach Barcelona auf.

Unsere Reise hatte einen Tag, eine Nacht und einen weiteren halben Tag gedauert. Meine Mutter ging nach oben, um sich auf dem breiten Bett unter einem Moskitonetz auszuruhen. Mein Vater nahm eine Dusche im Badezimmer, das keine Wanne hatte und wo das Wasser nicht gerade kalt, aber doch von einer köstlichen kühlen Frische war.

»Wollen wir zuerst ans Meer?«, schlug Piers vor.

»Wenn du möchtest.« Rosario sprach ein korrektes, sonderbar akzentuiertes Englisch wie jemand, der die Sprache zwar sorgfältig gelernt, aber selten gehört hat, wie sie im Alltag von Engländern benutzt wird. »Hier gibt es kein Ebbe und Flut. Du kannst schwimmen, wann immer du willst. Soll ich es dir zeigen?«

»An einem solchen Ort«, gab mein Bruder zurück, »gehe ich jeden Tag ans Meer, den ganzen Tag lang. Davon kann ich nie genug bekommen!«

»Vielleicht nicht.« Sie legte den Kopf schräg. »Wir werden sehen!«

Natürlich hatten wir irgendwann genug. Oder vielmehr, das Meer war nicht immer das heitere, kurzweilige Badevergnügen, wie sich an jenem ersten Nachmittag zeigte. Eine Quallenplage stellte sich ein; an einem anderen Tag glaubte jemand, einen Riesenhai gesehen zu haben. Die Fischer beklagten sich, dass Schwimmer ihren Fang verscheuchten. Und wie jedes andere sich täglich wiederholende Freizeitvergnügen wurde es irgendwann öde. Aber beim ersten Mal und noch oft danach haben wir uns gern ins tiefblaue Wasser gestürzt und in den jadegrünen Tiefen das wimmelnde submarine Leben betrachtet, die Fische und Muscheln und die glühenden Tentakel der Unterwasserpflanzen – alles war perfekt und überstieg unsere kühnsten Träume.

An Körper und Beinen waren wir noch weiß wie Fischbäuche, nur unsere Arme hatten die blasse Bräune, die der britische Sommer verleiht. Piers war seit seinem Klinikaufenthalt nicht mehr schwimmen gegangen, aber der Bund seiner Badehose reichte hoch genug, um die Operationsnarbe zu verdecken. Rosarios südländischer Teint hatte eine Farbe, die sich mit den Jahreszeiten nur wenig verändert, aber ihre Glieder wirkten schokoladebraun im Vergleich mit unseren. Wir lagen auf den Felsen in der Sonne, und sie warnte uns, den Strand nicht zu verlassen, ohne uns zu bekleiden. Im Dorf in Shorts herumzulaufen oder – das galt mir – mit nackten Armen oder ohne Kopftuch die Kirche zu betreten, war unmöglich.

»Ich glaube kaum, dass ich die Kirche betreten werde«, sagte ich.

Sie sah mich forschend an. Uns gegenüber war sie gar nicht schüchtern, und was wir sagten, brachte sie häufig zum Lachen. »Aber ihr werdet überall hingehen. Ihr werdet alles sehen wollen!«

»Gibt es denn so viel zu sehen?« Piers verließ sich wie immer lieber auf schriftliche Quellen. »Dein Vater schrieb, man könne hier nicht viel mehr als schwimmen oder Höhlen besichtigen.«

»Die Höhlen, natürlich! Wir müssen unbedingt einen Ausflug zu den Höhlen unternehmen. Hier kann man viele Dinge machen, Piers!«

Es war das erste Mal, dass sie seinen Namen sagte. Sie sprach ihn fast so aus, als wäre es ein Nachname, »Pearce«. Mir entging nicht, dass er sie jetzt freundlicher anblickte, mit mehr Wärme als zuvor. Und es stimmt ja auch, dass wir schneller warmwerden mit Leuten, die uns mit unserem Namen ansprechen. Manche tun das nie oder nur, wenn es unumgänglich ist. Sie schaffen es, sich durch Unterhaltungen zu manövrieren, Fragen zu stellen oder zu antworten, ohne andere je beim Namen zu nennen, und stoßen sie damit vor den Kopf. Jene anderen, die nicht begreifen, dass es nur Zurückhaltung ist, die sie davon abhält, den Namen auszusprechen. Man fürchtet, sich im Namen zu irren oder ihn zu oft zu gebrauchen, eine unberechtigte Intimität zu beanspruchen, direkt zu sein, aufdringlich oder anmaßend. Ich weiß das so genau, weil ich selber zu diesen Vorsichtigen gehöre.

Rosario nannte mich bald danach Petra, und Piers sagte Rosario zu ihr. Ich blieb natürlich auf der anderen Seite der Grenze, die ich mehrere Tage lang nicht zu überschreiten wagte.

Als wir wieder zum Haus hinaufgingen, erklärte Rosario: »Ich bin so froh, dass ihr hergekommen seid!«

Das war nicht als Höflichkeitsfloskel gemeint, sondern klang geradezu begeistert. Nie hätte ich mir so einen Satz auszusprechen erlaubt, nicht einmal Leuten gegenüber, die ich seit vielen Jahren kenne. Wie hätte ich je so kess sein können, mich auf diese Weise Spott und Verachtung auszusetzen? Doch spürte ich anderen gegenüber, wenn sie derlei sagten, keinerlei Geringschätzung, und ich hätte mich über die Betreffenden nie lustig gemacht. Rosarios Worte freuten mich, sie nährten das Gefühl, gebraucht, ja, gemocht zu werden. Dennoch war ich weit davon entfernt, selbst auf andere zuzugehen, wie es Rosario tat, und vierzig Jahre später bin ich in dieser Kunst immer noch Anfängerin.

»Ich bin so froh, dass ihr hergekommen seid!«

Sie sagte es wieder, diesmal in Hörweite meiner Eltern.

Piers erwiderte: »Und wir sind glücklich, hier zu sein, Rosario!«

Es versetzte mir einen Stich, wie er sie anlächelte, denn bis dahin hatte er keine Mädchen angeschaut außer mir.