Uniontown, Pennsylvania – 1916
Andrew Houghton wappnete sich gegen die Kälte, die in der weiten, von Kohlenminen zerklüfteten Landschaft Pennsylvanias den Winter ankündigte, und legte der jungen Frau an seiner Seite einen Arm um die Schultern. »Frierst du auch nicht?«, fragte er.
»Nein.« Sie lächelte gezwungen, klapperte dabei aber mit den Zähnen.
»Doch, dir ist kalt.« Andrew blieb stehen, zog seinen Mantel aus und hüllte sie damit ein. »Besser?«
Sie seufzte leise und nickte. »Aber jetzt wirst du frieren.«
»Ich? Nein! Mir ist warm wie im Sommer«, erwiderte er und legte erschauernd seinen Arm um sie. Sein Ärmel rutschte hoch, und darunter zeichnete sich ein blauer Fleck auf seiner Haut ab.
Sie verzog das Gesicht. »Du siehst viel zu gut aus, um dich bei diesen Kämpfen so zurichten zu lassen.« Sanft berührte sie seine geschwollene Wange, worauf er erstarrte. »Und wie willst du mich mit diesen aufgeplatzten Lippen küssen?«
Andrew lachte gequält auf und ließ sie los. Was hatte er erwartet, wenn er sie in den Arm nahm? Sie blieb ebenfalls stehen, zog den langen Wollmantel enger um sich und sah ihn bittend an. »Wieso hast du mich noch nie geküsst?«, fragte sie ernst.
Die Kälte drang schneidend durch sein dünnes Leinenhemd. »Wenn mich der Polizeichef dabei erwischen würde, wie ich seine Tochter küsse, käme ich nicht nur mit ein paar blauen Flecken davon.«
»Jetzt mach keine Witze«, erwiderte sie. »Du hast vor meinem Vater genauso wenig Angst wie vor deinen Gegnern im Boxring. Was ist also der wahre Grund?«
Andrew atmete geräuschvoll aus und erwiderte den Blick aus ihren sanften, rehbraunen Augen. Er konnte sie küssen und sie in seine Arme schließen. Schließlich waren Vergnügungen im Kohlerevier selten. Aber mehr könnte daraus nicht werden: ein kurzes Vergnügen, eine süße Ablenkung. Er wollte ihr nichts vormachen.
»Ich kann dir nichts bieten«, sagte er schließlich.
Sie reckte ihr Kinn und fragte spöttisch: »Was soll das denn heißen?«
»Hör mal«, setzte er an und suchte nach einer Erklärung. Sie machte es ihm nicht leicht. »Zurzeit bin ich nicht auf der Suche nach einer Freundin«, sagte er so behutsam wie möglich. »Meine Gefühle reichen einfach nicht. Tut mir leid.«
Überrascht öffnete sie den Mund, ihre Lider flatterten. »Weißt du eigentlich, wie viele Männer sich auf die Gelegenheit stürzen würden, mit mir zusammen zu sein?«
»Das glaube ich ja«, versuchte er, sie zu beschwichtigen. »Du bist wunderschön –«
»Hast du eine Ahnung, wie viele Männer mich anflehen, mich küssen zu dürfen?«, schrie sie unvermittelt. »Hast du?«
Seine Glieder waren bereits taub vor Kälte, und er war erschöpft. Die Wunden in seinem Gesicht pochten. Plötzlich verspürte er Erleichterung, dass er sie nie geküsst hatte. »Dann dürftest du ja leicht einen Ersatz für mich finden.«
Sie schnaubte verächtlich, riss sich den Mantel herunter und schleuderte ihn gegen seine Brust. »Ich hätte es besser wissen und mich nicht mit dem Sohn eines Bergmanns herumtreiben sollen.«
»Herumtreiben?«, wiederholte er, amüsiert von ihrem Wutausbruch. »Wir treiben uns herum?«
»Du hältst dich wohl für sehr schlau, wie?« Als sie erneut schnaubte, bildeten sich kleine Atemwölkchen vor ihrer Nase. »Dabei solltest du mir die Füße küssen, weil ich auch nur mit dir rede! Und jetzt hab ich mich sogar von dir nach Hause bringen lassen.«
Andrew schlüpfte in seinen Mantel und genoss die Wärme. Er stellte seine Ohren auf Durchzug und wandte sich zum Gehen.
»Du hättest mich sowieso nie küssen dürfen, Andrew Houghton«, keifte sie. »Ich hätte Stunden gebraucht, mir den Ruß aus dem Mund zu spülen!«
Er grinste nur, machte eine abschätzige Geste und ging einfach weiter. Ihre Worte verhallten in der Nacht. Gerade noch mal davongekommen, dachte er und stieß erleichtert eine weiße Atemwolke aus.
Der Heimweg verlief still. Der Himmel über ihm war pechschwarz. Nur noch aus wenigen Fenstern drang Licht heraus. Ein streunender Hund huschte vorbei und trank aus einer schmutzigen Pfütze. Andrew kniete sich hin. »Komm her, Kleiner«, sagte er und schnalzte mit der Zunge.
Mit gesenktem Kopf und eingekniffenem Schwanz wagte sich der Hund zu ihm, bereit, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr die Flucht zu ergreifen. Andrew streckte die Hand aus, worauf der Streuner mit zurückgelegten Ohren seine Finger beschnüffelte. Lächelnd kraulte Andrew ihm den Nacken, worauf der Hund überraschend vorstürzte und ihm ein-, zweimal übers Gesicht leckte. »He, Kleiner!«, wehrte er lachend ab. »Wollen mich denn heute Abend alle küssen?«
Irgendwo kippte krachend ein Mülleimer um. Als eine wilde Katze aufkreischte, schoss der Hund davon und verschwand in der Dunkelheit. Andrew stand auf und wischte sich mit dem Ärmel über die geschwollene Wange. Er bog von der Hauptstraße in den zerfurchten, gewundenen Weg, der zur Bergarbeitersiedlung führte. Eine plötzliche Melancholie erfasste ihn: die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht existierte, nach einer Frau, die es nicht gab. Seiner Erfahrung nach gab es nur zwei Typen von Frauen: die verwöhnten Damen aus der Stadt und die erschöpften, gebrochenen Mädchen aus dem Kohlerevier.