Plum, Pennsylvania – 1916
Lily Morton tauchte aus dem Wald auf, das Haar voller Kiefernnadeln. Ein paar zupfte sie eilig heraus, die restlichen ignorierte sie und trottete durch den leichten Schnee heimwärts.
Allerdings nahm sie nicht den kürzeren Weg durchs Tal, sondern stieg das alte Maisfeld hinauf, dessen grüne Stängel längst braun und faserig geworden waren. Das offene Land war geprägt von gleichmäßigen Ackerfurchen, einem Heer aus verwelkten Maishalmen und vertrocknetem Stroh. Mit ihren alten Stiefeln suchte sie sich konzentriert einen Weg zwischen den brüchigen Stängeln, Feldsteinen und dornigen Ranken. Sie stellte sich vor, wie ein Soldat über ein Schlachtfeld zu schreiten und sich ihren Weg durch die feindlichen Linien zu bahnen. Dann lachte sie über dieses kindische Spiel, denn sie war kein Kind mehr. Sie war eine junge Frau, die durch ein welkes Maisfeld stapfte, das für eine Million anderer Felder im ländlichen Pennsylvania stand. Als sie jetzt die Kälte auf ihren Wangen spürte, wandte sie sich eilig Richtung Tal.
Lily war ein Kind dieser Landschaft. Sie veränderte sich mit den Jahreszeiten, spürte den Wechsel der Mondphasen, folgte dem Lauf der Wolken und der Sonne. Sie kannte den Boden, der unter ihren Schritten knirschte und schmatzte, kannte den Himmel, der sich über ihr spannte. Sie kannte den Gesang der Vögel und die Geheimsprachen von Bienen und Grillen. Vom Tal aus erklomm Lily einen weiteren steilen Hügel und schritt weit aus, als sie den Schotterweg erreichte – und von dort aus den Trampelpfad, den sie auswendig kannte und den die Natur zurückerobert hatte.
Sie kam an der Farm der Sullivans vorbei. Das weiße Farmhaus wirkte in der Dämmerung still und verschlafen. Ein dünner, weißer Rauchfaden stieg aus dem Schornstein empor. Ein paar Meilen weiter würde sie an der Farm der Muellers vorbeikommen, und der Gestank ihrer Schweine würde den Geruch von gefrorener Erde und verwehten Holzfeuern überlagern. Und wenn sie immer weiter ginge, würden sich die Bilder solcher Farmen in einem unregelmäßigen Muster wiederholen: weites Land, ein einsames Haus, unsichtbare Bewohner.
Der Wind fuhr scharf durch Lilys fadenscheinige Strickjacke. Sie bedauerte es, keinen Mantel angezogen zu haben, und rannte die letzte Meile nach Hause. Dort zog ihre Schwester Claire sie vor den Kamin, machte ihr einen starken Tee und zupfte ihr die vielen Kiefernnadeln aus den Haaren.
Das Kaminfeuer knackte und sprühte Funken, wenn die Flammen an ein feuchtes Holzscheit leckten. Lily saß im Schneidersitz auf dem Flickenteppich und betrachtete ungerührt die Linien ihrer Handflächen, selbst als ihre Schwester ihre langen zerzausten Haare heftig mit der Bürste traktierte.
»Tut es nicht weh, Lily?«, fragte sie.
»Wieso hast du überhaupt überall Kiefernnadeln?«
Lily zuckte die Achseln. »Ich bin wieder auf den Baum geklettert, und das Harz ist so klebrig.«
»Na, wenigstens riechst du gut. So frisch wie der Wald.« Leise lachend nahm sich Lilys ältere Schwester ein paar weitere zerzauste Strähnen vor. »Weißt du noch, wie ich dich mit zu den Bäumen nahm, als du noch ganz klein warst? Nur du und ich? Wir saßen dort oft stundenlang und schliefen ein paarmal sogar ein.« Sie verstummte. Immer langsamer bürstete sie Lilys Haar und hörte dann ganz auf.
Lily drehte sich um. Ihre Schwester hatte den Kopf gesenkt. Lily nahm ihr die Bürste ab und legte sie zur Seite. Als Kinder hatten sie sich immer wieder in diesen Bäumen versteckt und sich auf der Suche nach Trost und Wärme eng aneinandergeschmiegt. Ganz still waren sie dort oben gewesen und hatten so getan, als wäre es ein Spiel. Doch wenn sie seine Schritte im toten Laub hörten und seine wütende Stimme, die im Tal widerhallte, dann hatten sie sich noch enger aneinandergeklammert und stundenlang gewartet, bis er endlich fort war.
Diese Erinnerungen quälten Claire, sie suchten sie heim wie ein bitterkalter Wind und ließen sie frösteln. Lily umfasste ihre schmalen Schultern. »Das ist schon lange vorbei«, flüsterte sie. Doch Claire konnte die Erinnerung nicht abschütteln, die vertrauten Dämonen hatten sie wieder in ihrer Gewalt.
Lily hob das Kinn ihrer Schwester. »Wir sind in Sicherheit, Claire. Niemand wird uns mehr weh tun. Das verspreche ich.«
Claire blinzelte, neigte den Kopf zur Seite und fragte fast verzweifelt: »Wieso versteckst du dich dann immer noch in den Bäumen?«