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5. Kapitel

Lily Morton brachte das Feuerholz ins Haus und spürte, wie sich Splitter in die Haut ihrer Unterarme bohrten. Sie legte ein paar Scheite in das bereits lodernde Kaminfeuer. Als die Flammen den Rauchfang hinaufschossen, erreichte die Hitze auch ihr Gesicht. Claire und ihr Mann Frank waren in der Stadt, und Lily hatte nicht viel Zeit.

Die staubigen, an den Ecken zusammengeklebten Kisten lösten sich bereits auf. Zuerst nahm sie die alten Fotos, warf sie ins Feuer und sah zu, wie die sepiafarbenen Ecken braun wurden und sich zusammenrollten. Die Gesichter zerschmolzen. Ein Schluchzen entfuhr ihr, und ihre Hände zitterten. Verschwindet!

Sie hob einen Karton auf und schüttete den ganzen Inhalt in die Flammen: Briefe, alte Schuldscheine und Wechsel und vollgekritzelte Zettel. Verschwindet! Mit vor Tränen zugeschnürter Kehle vertrieb sie die Geister, die sie heimsuchten, die das alte Haus besetzten und ihr im Schlaf erschienen. Am liebsten hätte sie auch ihr Kleid ins Feuer geworfen und wäre nackt in den Wald gerannt, um vor all ihren Erinnerungen zu flüchten.

Die Papiere – die kurze, hässliche Geschichte ihrer Familie – verwandelten sich in Asche und beschmutzten den Teppich. Lily war eine geborene Hanson, die mit der Heirat ihrer Schwestern eine Morton geworden war. Beide Namen waren wie Brandzeichen, die sich in ihre Haut fraßen und Narben hinterließen. Verschwindet! Hanson. Morton. Die furchtbaren Männer und ihre Lügen schmolzen nun im Feuer.

Lily nahm den Schürhaken, stocherte in den Flammen und schob die Aschereste unter die brennenden Holzscheite. Jetzt waren ihre Tränen versiegt. Rauch drang ihr in die Nase und schmeckte wie verbrannte Zeder.

Sie setzte sich vor den Kamin, ohne zu blinzeln, bis ihre Augen trocken waren. Sie hatte die Tränen satt. Menschen trauerten um Verwandte, um ihre Liebsten. Bei Lily jedoch war es anders. Sie trauerte nicht um das, was ihr genommen, sondern um das, was ihr nie gegeben worden war.

Der alte Ford bog in die Einfahrt, der in die Jahre gekommene Motor brummte und schnaufte. Lily strich sich eine lose Strähne hinters Ohr, legte noch ein Holzscheit ins Feuer und ging in die Küche, um Abendessen zu machen.