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6. Kapitel

Achtundneunzig Bergarbeiter kamen an diesem Tag ums Leben. Brandursache waren die Kerosinfackeln, die an den Felswänden der Minen befestigt waren. Kijek hatte Heuballen in den Schacht geworfen, um die Tiere unter Tage zu füttern, wie er es jeden Tag machte. Nur hatte sich dieses Mal eine Fackel aus ihrer Halterung gelöst, und das Heu hatte Feuer gefangen. Der Fluchtweg der Minenarbeiter wurde dadurch versperrt, das Dynamit explodierte. Die Bergleute erstickten entweder oder wurden in tausend Stücke gerissen. Kijek starb bei dem Versuch, seine Maultiere zu retten. James und Donald McGregor und einige andere junge Männer kamen ums Leben. Und Frederick Houghtons sterbliche Überreste konnten nur noch mithilfe  seiner Erkennungsmarke identifiziert werden.

Noch am Tag des Grubenunglücks wurden im ganzen Land neue Minenarbeiter angeworben. Die Witwen und Mütter der Verstorbenen hatten dreißig Tage Zeit, ihre Häuser zu räumen, es sei denn, ein anderes männliches Familienmitglied war alt genug, um den freien Platz unter Tage einzunehmen. Und so hängte sich Andrew Houghton eine Woche nach der Beerdigung seines Vaters seine neue Erkennungsmarke um den Hals, über die verbogene seines Vaters, und trat in Frederick Houghtons Fußstapfen.

»Ich lasse nicht zu, dass du nach Kohle schürfst. Verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Du wirst nie wieder hier runtergehen. Versprochen?«

»Ja, Sir.«

Die Worte seines Vaters hallten in Andrews Kopf nach, als er den Schwur brach, den er seinem Vater vor so langer Zeit gegeben hatte. Und er wusste bei jedem Schritt, den er tiefer in die Grube setzte, dass Frederick Houghton dieses Leben nie für seinen Sohn gewollt hätte.

Wochen und Monate vergingen in der undurchdringlichen Dunkelheit. Da unten fiel das Atmen schwer, und Andrews Lungen gierten nach frischer Luft. Das Gewicht der Erde über ihnen machte ihm Platzangst und trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er arbeitete neben den neuen Grubenarbeitern, wortkargen Männern, die unter sich blieben, und schürfte an den endlosen schwarzen Wänden, die im Licht der Laterne glänzten wie Öl. Andrew schaufelte die schimmernden schwarzen Steine in die Loren. Sie rochen giftig und zerbröselten zu einem feinen Staub, der sich in der Kehle festsetzte. Aber am schlimmsten setzte ihm der Mangel an Luft zu. Wenn er den Mund aufriss, um mehr zu bekommen, schnürte ihm der Kohlestaub die Kehle zu, und wenn er den Mund geschlossen hielt, hatte er das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Also zog er sich sein Hemd vor den Mund und konzentrierte sich auf jeden Atemzug, einen nach dem anderen, bis seine Zehnstundenschicht beendet war.

Er würde dem Bergbauunternehmen nicht gehören – das hatte er sich seit seiner Kindheit immer wieder versprochen. Und doch war er nun hier, unter Tage. Aber er würde nicht in dieser Grube bleiben. Er schaufelte schneller und kämpfte trotzig gegen den Kohlestaub. Er hatte etwas Besseres verdient. Mit einer derartig eintönigen und düsteren Zukunft würde er sich nicht zufriedengeben; eine Zukunft, die fast nur aus schwarzem Stein, auf Schürfen und Schaufeln, aus Bücken und Beugen bestand, aus viel zu wenig kostbarem Sonnenlicht in einer Welt der Dunkelheit. Nur mit dieser Gewissheit hielt er durch, wenn er immer tiefer in die Grube hinabgeriet.

Über der Erde erreichte der Winter das Fayette County, als hätte die allumfassende Trauer nach dem Grubenunglück ihn angelockt. Die Luft war kalt, doch fiel kein Schnee. Stattdessen blies ein eisiger Wind über einen schotterfarbenen Himmel. Wenn Andrew seine Schicht beendete und heimkam, ließ er Mantel und Stiefel auf der schmalen Veranda stehen, bevor er das Haus betrat. Seine Mutter sprach kaum noch, höchstens über Belanglosigkeiten wie Essen oder Rechnungen.

In der Küche wartete die Zinkwanne, aus der Dampf aufstieg. Andrew zog sich das Hemd aus und kniete sich hin. Seine Mutter beugte sich über seinen Rücken und schrubbte ihm sanft mit der Bürste und Seife Schultern und Nacken ab. Seit Andrew sich erinnern konnte, hatte sie das schon für seinen Vater getan.

Innerlich krümmte er sich, wusste er doch, dass ihr Rücken vom heftigen Schrubben schmerzte und ihre Hände von der Seife brannten. Er wandte den Kopf zu ihr und versuchte es noch einmal: »Das musst du nicht  …«, aber sie legte ihm sanft die Hand auf den Kopf und machte weiter. Dann stand sie auf, gab ihm die Seife und spannte das Laken vor ihm, das ihm ein wenig Intimsphäre gewährte.

Andrew zog seine restlichen Kleider aus, stieg nackt in die Wanne und machte sich so klein wie möglich, um mit seinen einen Meter achtzig hineinzupassen. Sofort färbte sich das durchsichtige Wasser schwarz und betonte die Blässe seiner Haut unter dem Ruß.

Im heißen Wasser entspannten sich seine Muskeln, und der Schmerz ließ nach, der sich vom ständigen Bücken in den engen Tunneln zwischen Schulterblättern und Lendenwirbeln eingenistet hatte. Er fuhr mit den mittlerweile schwieligen Händen über die sich kräuselnde Wasseroberfläche. Seine Finger waren immer noch schmal – sein Vater hatte behauptet, es wären die Finger eines Chirurgen. Doch jetzt waren seine Nägel gesplittert und die Nagelhäute schwarz.

Er rieb sich mit der Seife Hals und Gesicht ein, tauchte mit dem Gesicht in das dunkle Wasser und wusch sich die Haare. Obwohl seine Arm- und Bauchmuskeln stark waren, fühlte er sich schwach. Es waren die verhärteten Muskeln von elender Plackerei, die den Körper schädigten, statt ihn zu stärken. Er rieb sich über die Arme; fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Haare. Betrachtete sich in der spiegelnden Wasseroberfläche. Von dem Geruch des Essens, das seine Mutter zubereitete, knurrte ihm der Magen. Aber der Drang zu schlafen war stärker.

Er stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Seine Haut spannte von der scharfen Seife. Er zog sich frische Kleider an, entfernte das Laken und leerte das schwarze Badewasser Eimer für Eimer vor dem Haus aus.

Am Küchentisch warteten gebratenes Kaninchen und glasierte Karotten auf ihn. Als er, überrascht über dieses Festessen, zu seiner Mutter blickte, sah er, dass sie geweint hatte. Zwar befand sie sich seit dem Unglück in einem Zustand dumpfer Trauer, doch sah er sie nun zum ersten Mal weinen. Kopfschüttelnd zog sie die Nase hoch und starrte auf das gebratene Kaninchen, dessen Fleisch appetitlich glänzte. Zwischen ihnen breitete sich die Dunkelheit der Nacht aus, und die kalte Winterluft drang durch die von Termiten durchlöcherten Wände.

Carolin hob den Kopf und sah ihn bedeutsam an. »Ich habe Vorkehrungen für uns getroffen, Andrew.«

Er wartete ruhig, umklammerte aber unter dem Tisch angespannt sein Knie.

»Ich habe meiner Schwester Eveline in Pittsburgh geschrieben.« Erneut blickte sie auf, als wäre damit klar, worauf sie hinauswollte. Mit ihren blauen, verweinten Augen überflog sie den Raum, als würde sie ihn zum letzten Mal sehen. »Wir können hier nicht bleiben.« Ihre Stimme erstarb. »Ich kann so nicht weiterleben.«

Der Wind pfiff durch die Ritzen. Der Geruch des Essens verflüchtigte sich. Seine Mutter faltete die Hände auf dem Tisch. »Evelines Mann, Wilhelm Kiser, hat eine gute Stellung bei der Eisenbahn. Er ist bereit, dich als Lehrling aufzunehmen.«

Das Zimmer drehte sich, während gleichzeitig die ganze Welt um ihn herum stillstand. »Aber die Universität …«, brach es aus ihm hervor. »Ich – ich habe mich beworben.«

Sie verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. »Universität?« Ungläubig lachte sie auf. »Bist du verrückt, Andrew? Du wirst niemals auf die Universität gehen können.« Er erkannte ihre Stimme nicht wieder, sie klang fremd und schroff. »Das war doch immer nur ein Hirngespinst deines Vaters.«

»Aber wir haben doch gespart«, sagte Andrew mit brennenden Ohren. »Wir haben …«

»Gar nichts haben wir!«, schrie sie und griff nach der Blechdose, in der Andrew sein Geld gesammelt hatte, drehte sie um und schüttelte sie heftig. »Du hattest nie die Möglichkeit zu studieren, Andrew! Es war grausam von deinem Vater, dir solche Flausen in den Kopf zu setzen.«

Seine Mutter verschränkte ihre Finger. Mit ihren müden Augen wirkte sie plötzlich alt. »Entweder schürfst du den Rest deines Lebens unter Tage nach Kohle, oder du machst eine Lehre bei der Eisenbahn. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Vor seinem inneren Auge verschwammen die Studienbewerbung und die zerlesenen Tiermedizinbücher neben seinem Bett plötzlich und lösten sich in Luft auf.

»Aber ich weiß nichts über die Eisenbahn.« Mehr fiel ihm nicht ein. Seine Stimme klang tonlos.

»Das ist egal. Du bist klug und wirst alles lernen. Eine Stelle bei der Eisenbahn bringt gutes Geld.« Ihr Blick huschte über den leeren Stuhl am Tisch. »Sie ist sicher.« Seine Mutter reckte den Hals, als wollte sie etwas schlucken, das ihr in der Kehle feststeckte. »Meine Schwester und ich stehen uns nicht besonders nahe, Andrew. Wir haben seit über zehn Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Aber sie ist ein guter Mensch und hat versprochen, sich während meiner Abwesenheit um dich zu kümmern.«

»Deiner Abwesenheit?«

Da fiel sie in sich zusammen und fing an zu schluchzen, legte den Kopf in die Hände und schlug sich mit den Händen gegen die Stirn, um sich zu beruhigen. Mühsam versuchte sie zu sprechen. »Ich kann … kann nicht hierbleiben.« Mit dem Handballen rieb sie sich über die geröteten Augen. »Ich kehre zurück nach Holland. Dein Vater hat genug gespart, um eine Schiffspassage zu kaufen.«

Wieder stieg Hitze in Andrew auf. »Das hat er für meine Ausbildung gespart!«

»Genug jetzt!«, rief seine Mutter und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Davon will ich nichts mehr hören, Andrew.« Sie betrachtete die winzige Küche. »Ohne deinen Vater kann ich hier nicht mehr leben. Ich halte es nicht mal mehr in diesem Land aus. Ich will nur noch nach Hause. Es tut so weh.« Ihre Miene wurde flehentlich. »Ich muss nach Hause.«

Ihr Weinen verebbte, und nun, da der Entschluss gefasst und verkündet war, wurde sie sachlich.

Energisch schnitt sie den Hasenbraten an. »Meine Schwester hat dir das Geld für die Zugfahrkarte geschickt. Sobald ich genug gespart habe, kannst du nachkommen.« Als sie ihm das blasse Fleisch auf den Teller legte, zitterte das Messer in ihrer Hand. »Es dauert doch nur ein paar Jahre.«

Andrew schnürte sich die Kehle zu. Sein Vater hatte ihm vom Kriegsausbruch in Europa erzählt, von den erbitterten Schlachten und dem vielen Blutvergießen.

»Aber dort herrscht doch Krieg«, sagte er leise und fragte sich, ob seine Mutter das vor lauter Trauer vergessen hatte. »Das ist viel zu gefährlich.«

»Die Niederlande sind neutral geblieben. Also ist es dort sicher.«

»Belgien war auch neutral«, wandte er ein. »Bis Deutschland eine Invasion gestartet hat. Jetzt strömen unzählige Flüchtlinge von Belgien nach Holland. Es ist zu gefährlich«, wiederholte er. Er wollte stark und entschieden klingen, doch seine Stimme brach.

»Ich muss einfach nach Hause, Andrew. Dort finde ich Arbeit. Die Niederländer versorgen Belgien und sogar England mit Nahrungsmitteln. Deshalb suchen sie noch mehr Arbeiter.«

»Dann lass mich mit dir fahren«, bat er. »Nimm das Geld von deiner Schwester, und ich komme mit. Zu zweit können wir doppelt so viel arbeiten.«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Dann wirst du einberufen.«

»Aber die Niederlande sind neutral, das sagtest du doch eben!«

»Verdammt noch mal, Andrew!« Wieder schlug sie mit der Faust auf den Tisch. »Sie haben die stärksten Jungen genommen und an den Grenzen aufgestellt. Wenn die Deutschen einfallen, sterben sie als Erste.«

Andrew schob seinen Teller fort. Das Fleisch erschien ihm jetzt nur noch wie ein verwesender Kadaver. Er spürte die Erkennungsmarke seines Vaters schwer auf seiner Brust. Sein Vater war tot. Seine Mutter verließ ihn. Er würde nach Pittsburgh ziehen, um bei der Eisenbahn zu arbeiten. Er würde niemals zur Universität gehen. Sein Leben – seine Zukunft – löste sich vor seinen Augen auf, und er konnte nicht das Geringste dagegen tun.